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Die Tabunen

Der Fürstin Tola Meschtscherski nacherzählt

Ich erinnere mich eines fernen Frühlings in meiner fernen Kindheit. Langsam löst er sich vom Staub so vieler Jahre.

Wenn ich nachsinne, erscheint mir ein derbes, farbiges Bild: die Tochter des Pferdehirten, ungeschlacht wie eine Jägerin der Steinzeit, inmitten der Ebenen des Don und Dnjepr, unter riesigen Herden, die man dort Tabunen nennt.

Ich sehe es wieder, das vierschrötige Mädchen – ihr braunes Gesicht mit der Stumpfnase, ihr brandrotes, strähniges Haar. Die Augen blicken hell und forschend – mongolisch geschlitzte Augen mit schwarzen Wimpern. Ich höre die Sprache wieder ihrer rauhen Kehle.

Sie hockt auf ihrem hohen Kosakensattel. Ein zerzaustes Schaffell ist ihr Kleid, ein sonngebleichter Wickel ist ihr Gürtel. In der Hand schwingt sie die schwarze Lederknute, ein langes Lasso hat sie um den Arm gerollt.

Das Pferdchen mager – wild hängt die Mähne ihm bis in die Knie.

Dieses Wesen, strotzend von Kraft, habe ich damals demütig beneidet.

Ich war acht oder neun Jahre alt, dürr wie ein Nagel, mit Muskeln wie Eisenfäden – und so menschenscheu – nervöser als ein Reiher, der schon auffährt, wenn ein Frosch ins Wasser taucht – empfindlich und empfänglich – das Ergebnis einer weltfernen Erziehung im Luxus des Ostens und seiner Barbarei.

Was waren unsre armseligen Ponykavalkaden, unsre Jagden aufwindschnellen, braven Pferden, unser Piaffieren in der Reitbahn neben dieser ungebärdigen Amazone? Sie nahm es kaltblütig auf mit dem Teufel im Pferd.

Mein Vetter hatte mich auf seine ukrainischen Güter geladen. Die Welt war erfroren in Eis und Stürmen – der Frühling dieses allmächtigen Klimas küßte sie wach und schwängerte sie zur Überfülle. Ein Wunder plötzlicher Verwandlung bedeckte diese unermeßlichen Ebenen mit dem Seidenteppich eines malachitgrünen Rasens, besäte sie mit blauen Hyazinthen und rot gesprenkelten Tulpen. Darüber spannte sich wolkenlos der Himmel, weit am Horizont, wie Zelte eines Heerlagers, die Grabhügel – letzte Andenken an den Tatarenkrieg.

Wir waren spät abend angekommen, nach einer langen Fahrt mit der Post. Ein niedriges Blockhaus, von Palisaden umgeben, war unsre Unterkunft. Rundum ein Obstgarten mit armseligen Bäumchen – nicht ein Halm wollte auf dem harten Lehm wachsen, der von der neuen Hitze schon gedörrt war. Vor dem Haus ein Ziehbrunnen mit riesigem Trog – zwei lange Schuppen – und dann Steppe – Steppe, soweit das Auge reichte.

Ich war heiß vor Neugier: man hatte mir die Tabunen zu zeigen versprochen – und das Wort allein ließ mein Herz vor Freude springen.

Am andern Morgen, kaum hatte sich der Vorhang des Nebels gehoben, bestiegen wir ein einfaches, niedres Fuhrwerk. Man nennt es ›Linejka‹: zwei lange Bänke für zehn Personen, mit einer Rückenlehne in der Mitte. Ein ungestümer Viererzug war vorgespannt von hochbeinigen Wallachen – Rammsnasen, harten Galoppierern. Das dürre Gras dämpfte das Rollen der Räder.

Nach einer Stunde rasender Fahrt sahen wir einen Hauch in der Ferne, der aus dunkelm Gewimmel stieg – Armeen von Pferden aller Größen und aller Farben. Als wir anfuhren, wandten sie sich uns zu: mit erhobenen Köpfen, glotzend, die Beine vorgespreizt, zitternd vor Staunen und Furcht.

Ein bärtiger Wilder, barhaupt, in Kanonenstiefeln, stapfte uns entgegen – und wortlos führte er uns auf einen der Grabhügel. Da konnten wir sie übersehen, die unzählbare, ruhelose Herde.

Es war ein Schauspiel ohnegleichen. Sie zogen gruppenweis vorüber – immer zwanzig, dreißig Stuten mit ihren Fohlen, dicht ineinandergekeilt, von ihrem Hengst überwacht; er, abseits, pflückte sich hie und da ein Gräschen vom Boden – mit dem eifersüchtigen Blick war er immer bei den Seinen. Sowie eine Stute sich entfernte, ein Fohlen wiehernd die Nachbargruppe grüßte – schon stürzte er herbei, um die Überläufer zurückzudrängen. Die Stuten mit den schlaffen Eutern weideten gierig das fette Gras, sie schwelgten im Segen nach einem Winter der Not.

Und all die einzelnen Rudel bildeten eine feste Masse. Ein majestätischer alter Schimmelhengst umschritt sie in hohen Gängen – apokalyptisch mager, ein wahrer Rosinante. Jede Faser an ihm war Herrentum und Pracht – kein Monarch ist jemals stolzer geschritten. Das war der Sultan der Tabune – hundert Sträuße hatten ihm die Herrschaft erstritten – ein Veteran der Liebe. Unzählige Narben auf dem stählernen Leib waren Zeugen seiner Siege. Zuweilen jagte er mit gesenkter Stirn davon, sprang auf einen Grabhügel und pflanzte sich dort auf seine vier sehnigen Beine – die Mähne prackte wie eine Standarte über ihm. So stand er da und stieß ein schmetterndes Gewieher aus. Die Morgenstille warf es zurück. Auf den einen Schrei standen die jungen Hengste wie gebannt und huldigten mit Gewieher – die schlanken Fohlen sprangen wie Hasen unter den satten Bäuchen der Stuten hervor.

Ein Dutzend Hirten, von den knappen Gürteln wie entzweigeschnitten, durchreitet gelassen die Rudel. Es sind halbwilde Männer mit breiten Backenknochen. Die Augen leuchten unter den hohen Pelzmützen.

Ich sitze auf dem Hügelchen, ich trinke mit den Augen diesen Ozean von Pferdeköpfen, der von braunen, schwarzen, roten Rümpfen wogt. Ich sitze mit offenem Mund, berauscht von Freude und Begehren.

Aus meiner Ekstase erweckt mich plötzlich das Doppelgestampf eines heranstürmenden Pferdes. Es hält knapp vor mir – und ein seltsames Wesen springt – nein, rollt aus dem Sattel.

Der alte Hirt stellt das Wesen meinem Vetter vor:

»Exzellenz, das ist meine Tochter Sascha. Ist mehr für mich als sieben Söhne; der beste Lassowerfer unter uns. Erlauben Sie ihr, zu zeigen, was sie kann.«

Sascha starrt uns unverwandt an – ihre Lippen sind halb offen und zeigen unwahrscheinlich weiße große Zähne.

Mein Vetter nickt ihr zu.

Sie ist auch schon zu Pferd und fliegt davon, vornübergebeugt, das Lasso flattert ihr vom Arm. Quer durch die Tabune sprengt sie, rafft das Lasso – man sieht, wie sie einen Hengst ins Auge faßt, der ein paar Schritte abseits weidet – und spielend wirft sie ihm die Schlinge um die Schultern.

Der Hengst tobt – wehrt sich – ermattet – läßt sich fortschleppen – springt noch ruckweis auf; im Zickzack geht es durch die Herde – und er sinkt röchelnd um. Im Augenblick hat sie sich auf ihn geworfen und zäumt ihn. Er erhebt sich mit einer Lançade – die Siegerin klebt schon auf seinem Rücken. Er buckelt und schüttelt sich, wirft sich hin, steigt wieder und überschlägt sich – endlich macht er sich davon in rasenden Bocksprüngen. Sie in ruhigem Trotz wie angewachsen an seinem Widerrist. Bald sind sie nur mehr ein Punkt in dunkler Ferne. – Nach einer Viertelstunde erscheinen sie wieder – er mit Schaum bedeckt, schnaubend, überwältigt, mit hohlen Flanken; sie die Ruhe selbst. Der zitternde Gaul ist wunderbar folgsam geworden. Sie sitzt ab und besteigt ihn wieder – nur um ein zweites, drittes Pferd zu holen – ebenso leicht, so sicher wie das erstemal. Und führt uns ihre drei Zöglinge langsam vor. Sie lächelt nun ein wenig.

Mich hatte die Wut des Neides ergriffen – Bewunderung und Demut vor den Taten dieses Steppenmädchens. Ich? Nicht einmal drei Hammel hätte ich so bändigen können.

Wir frühstückten auf dem Rasen: Stutenmilch, fette Pferdekotelettes, wilden Spargel, Zwiebel und gesalzene Pilze. Sascha mit ihren braunen, starken Händen bereitete uns das Mahl.

– – – Am Abend sank die Sonne, eine rubinrote Riesenscheibe. Die überhitzten Kräuter strömten aromatische Dünste aus.

Da erzitterte die Erde unter einem homerischen Schauspiel:

Von weitem war ein Wirbelwind dahergestrichen – Dröhnen, Schnauben, Wiehern klang daraus hervor. Eine andre, noch größere Tabune war's als unsre, die mit Sturmeswucht andonnerte. Auf viele Werft hatte sie die Rivalen gewittert. Unsre Herde fuhr im Nu herum und stand – die heranbrausende Flut mußte sich an dieser Mauer brechen. Doch auch die fremde Horde hielt wie auf ein Zauberwort.

Nur der große Hengst tritt vor, der Führer der eingedrungenen Schar. Er bäumt sich, bleckt das Maul und schlägt den Boden mit den Vorderhufen, stolz und stark wie ein fabelhaftes Einhorn. Mit einem Löwengewieher fordert er den Gegner heraus. – Unser Patriarch erwartet ihn mit vorgestrecktem Hals – in seiner gespenstischen Magerkeit wie eine Giraffe.

Der andre ist ein herrlicher Brandfuchs mit mächtigen Gliedern. Da wird Jugend und Stärke auf den Adel, das reine Feuer orientalischen Blutes stoßen.

Die Herden drängen sich wie erstarrt hinter den beiden Kämpen.

Lange Zeit messen sich die Hengste mit Stolz und Grimm, dann schlagen sie los.

Die Kinnbacken krachen, die eisenharten Hufe hämmern, die Wutschreie der Ringer erfüllen den Abend; ihre Schatten dehnen sich – der Nebeldampf der Ebene wallt. Es ist, als träten die beiden Rosse die Wolken nieder in dem furchtbaren Zweikampf.

Vergeblich alles Peitschen, die Verzweiflung der Hirten. Der Fuchs fällt, um nicht wieder aufzustehen; sein Schädel klafft zerbissen, zerschmettert.

Hoch reckt sich der Schimmel, und schlotternd, erschöpft von Haß, stellt er die Vorderbeine auf den formlosen Kadaver des Feindes. Sein Fell ist gescheckt von Blut, die riesigen Augen brennen in dem von Schweiß und Erde geschwärzten Kopf. Er schickt seinen Sterberuf in den sterbenden Tag. Denn auch er ist erlegen: der eine Schenkel hängt leblos hinter ihm.

Und nun das Gräßliche: die jungen Hengste unsrer Tabune schießen herbei; ihn, der sie soviel Jahre mit Schlägen und Bissen regiert hat – ihn überfallen sie alle auf einmal in rachsüchtigem Instinkt und zerren und reißen ihn nieder und stampfen auf seinem zuckenden Körper.

Ohne Gegenwehr, ohne Klage, fiel er hin.

Die Hirten der beiden Tabunen mit ihren Rüden hatten endlich die Herden getrennt, auseinandergejagt.

– – Ich verbrachte die Nacht in Fieber und Schluchzen.

Die lieblose Natur war mir zum erstenmal begegnet: wie sie die Urtriebe ihrer Geschöpfe benutzt, um unaufhörlich das Leben durch den Tod zu erneuern, den Tod durch das Leben; diese friedliche Natur, die gerade die edeln Rassen mit großen grausamen Begierden begabt – immer am Werk der Auslese und Zeugung.


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