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Großmutter

Swetosar Zorowitsch nacherzählt

Weitläufig, hell und stolz, mit einer ganzen Reihe von schmalen, grüngestrichenen Fenstern erhob sich über dem Garten der Altan. Da saß Großmutter mit gekreuzten Beinen auf dem Pfühl, drückte die Schultern in schwere Damastkissen, hielt die lange, gewaltige Pfeife in der Hand und blies schön langsam den Rauch durch die Nase. Um sie, zu beiden Seiten, hockten zwei brünette, wildlockige Enkelinnen, die Töchter ihres Sohnes Machmud-Beg. Die eine lag mit dem Kopf an Großmutters Knie und rieb sich daran wie eine schnurrende Katze. Die andre lehnte an Großmutters Schulter, und mit den Händen wehte sie sich den Rauch aus den Augen. Beide Großmutters Lieblinge, ihre Ziehkinder. Großmutter betreute sie, Großmutter hatte sie die ersten Schrittchen gehen gelehrt, Großmutter erzog sie. Sie hingen nur an der Alten, schliefen bei ihr, hörten gar nicht auf Vater und Mutter. Die Alte war ihre Beschützerin – niemand im Haus durfte auch nur ein Wörtchen dareinreden. Fatiha, die Größere, stopfte Großmutters Pfeife, begoß die Blumen am Fenster, fütterte die Tauben. Die Kleine, Slatija, schüttelte Großmutters Pfühl auf, richtete die Kissen und bereitete das Wasser fürs Bad, Früh und spät waren die Enkelinnen Großmuttern zu Diensten – und erst in der Dämmerung, wenn alle drei mit vielem Verbeugen und Murmeln den Segen gesprochen hatten, saßen sie in einem Klumpen beisammen; Großmutter erzählte Geschichten von Feen, Hexen, Gespenstern, Zaubereien – jede Geschichte zum dreißigsten, hundertstenmal. Doch man kann sich ja nie satt daran hören.

– – – Eines Abends, als Großmutter wieder ein besonders schönes Märchen erzählt hatte – von der Prinzessin, die den armen Sklaven liebte – da breitete Fata plötzlich die Arme aus, ließ sich in Großmutters Schoß fallen und fragte:

»Großmuttchen, hast auch du einmal geliebt? Hat es auch zu deinen Mädchenzeiten ein Stelldichein am Gartentor gegeben?«

Großmutter lächelte ein bißchen, hüstelte ein bißchen und sprach: »Das hat es immer gegeben und wird es immer geben, solang die Welt steht,«

»Und du … hast nach Jungen ausgeblickt?«

»Nun … nun, ich hatte doch Augen.«

»Und hast auch mit Jungen … gesprochen?«

»Dazu hat mir Allah den Mund gegeben.«

»Niemand hat dir's verwehrt?«

»Das läßt sich garnicht verwehren …«

Fata lachte auf, glättete sich das Haar, das sich über Großmutters Schoß ergossen hatte, und band es in das Kopftuch. Kichernd erhob sie sich, dehnte weit die Arme, und das Haar fiel ihr wieder in die Stirn und ins seltsam brennende braune Gesicht.

»Und die Jungen zu deiner Zeit waren auch so wie heute?«

»Glaub mir, Kind: sie waren kühner; stattlicher.«

»Ah?«

»Ja, kühner,« bekräftigte Großmutter und schwang kriegerisch ihr Pfeifenrohr. »So sehnsüchtig lieben wie sie konnte niemand. Sie gaben ihr Leben für die Liebe. Um geringeres ging's bei ihnen nicht.«

Sie schüttelte die Asche aus der Pfeife auf die Kupfertasse und senkte den Pfeifenkopf wieder auf den Teppich. Fata sprang auf und lief um Tabak, stopfte die Pfeife, brachte eilig in der Feuerzange eine lebendige Kohle herbei – die Alte sog und paffte.

»Als ich mit euerm Großvater bekannt wurde,« setzte sie fort – sie sprach nun lebhafter und riß das Seidenhemd auf über ihrer breiten, gewaltigen Brust – »als ich mit euerm Großvater am Gartenzaun zusammenkam, da war ich immer auf Händel gefaßt. Ich stand am Tor, vom Kopf bis zu Füßen dicht eingehüllt – er saß auf der Schwelle und hielt die Büchse auf den Knien. So redeten wir miteinander. ›Das Herz will mir zerspringen, wenn ich an dich denke,‹ sagte er – holte eine Patrone aus dem Gürtel und prüfte sie. ›Meine Seele verlangt nur nach dir,‹ flüsterte er und schob die Patrone in den Lauf. ›Ohne dich kein Leben, ohne dich kein Glück‹ – und betastete immer nur seine Patronen und zählte sie. Zu mir redete er, und seine Blicke waren am Verschluß der Büchse.«

»Was? Was?« fragte Slata erregt. »Wollt er denn jemand töten?«

Großmutter strich ihr zärtlich den Kopf. »Wenn ein andrer Junge sich an unser Tor gewagt hätte oder auch nur einen Blick auf mich sandte – wehe ihm! Dem seine Seele wäre durch ein enges Loch entschlüpft.«

»Und das nennt sich Liebe?« Fata schlug die Hände zusammen.

Großmutter fuhr ein wenig gereizt auf. »Ja, ja, ja,« rief sie, »das war Liebe. Solch einem Jungen konntest du vertrauen. Seine Liebe war fester, härter als Stein.«

»Härter als Stein ist die Liebe auch jetzt,« flüsterte Fata vor sich, und ihre Augen erglommen durch die Zotteln wie die Sterne durch Olivenlaub. »Niemals war Liebe stärker.«

»Nein,« unterbrach Großmutter scharf. »Die Welt heute versteht es nicht mehr.«

Fata schmunzelte und zischte herausfordernd durch die Zähne. »Pch! Heutzutage versteht man nicht zu lieben?«

»Nein. Alles ist kümmerlich und zahm.«

»Da irrst du dich, Großmutter.« Fata richtete sich jäh auf und rief trotzig, zum Widerstand bereit: »Man liebt heutzutag stärker als je. Alles brennt vor Liebe.«

Großmutter beschattete mit der Hand die Augen und sah die Enkelin lächelnd an. »Wie? … Brennst auch du? Du wirst doch nicht?« Und zwinkerte ihr schelmisch zu.

»Nein, Großmutter,« versicherte Fata rasch, verschämt – warf die Zöpfe über die Schulter und versteckte ihr Gesicht dahinter. »Ich nicht, ich nicht.«

»Du lügst.«

»Gewiß nicht. Meiner Treu, nein.« Sie lehnte sich rasch an Großmutters Rücken und schlang ihr von hinten die Arme um den Hals. »Was denkst du nur, Großmutter, von mir?« Ihre Lippen bebten und zuckten, als wollte sie in Weinen ausbrechen. »Es war alles nur Scherz und Spaß … Ich nicht.«

»Sie nicht, Großmutter,« eiferte nun auch Slata und zärtelte Großmutters Gesicht. »Sie wollte dich nur ein wenig necken.« Faßte die Alte am Kinn und küßte sie. »Und hast du, Großmutter, heftig geliebt?« fragte sie weich – um der Schwester aus der Schlinge zu helfen, das Gespräch von ihr abzulenken.

Die Alte umhalste das Mädel und schob es langsam weg. »Laßt sein,« sprach sie aufatmend. »Das könnt ihr noch nicht begreifen.«

»Hast du den Großvater sehr gemocht?«

»Den Großvater? Ja … Ich habe ihn gemocht … Er war mein Mann, da habe ich ihn geliebt,« antwortete still die Alte, fast flüsternd. »Ich war mit ihm verheiratet … seine Frau – da werde ich ihn doch nicht hassen …? Aber in Flammen gesetzt, bezaubert hat er mich nicht,« setzte sie unvermittelt fort. »Ein andrer hat mich um den Verstand gebracht …«

Fata sprang auf und sammelte erregt ihr Haar. Beide schmiegten sich an die Alte, zupften sie an den Ärmeln, bestürmten sie mit Fragen: »Wer ist er gewesen, goldne Großmutter? Wer?«

»Ein Christ,« antwortete sie dumpf, kaum hörbar. »Nun wißt ihr's.«

Die Enkelinnen fuhren betroffen zurück, drängten sich aneinander und starrten die Großmutter an.

»Ja, ein Christ,« wiederholte die Großmutter freier und richtete sich auf. »Dreiundzwanzig war er alt, einziger Sohn seiner Mutter, stramm wie ein Turm.«

»Und schön, Großmutter – wie?«

»Einen schönern Menschen habe ich nie gesehen,« rief sie stolz und schloß die Augen. »Mir ist, als sähe ich ihn noch heute. Dichtes, lockiges Haar hatte er – das stand ihm wie ein Büschel schwarze Wolle auf der Stirn; einen dünnen, gezwirbelten Schnurrbart – und Augen … oh! Seine Gestalt, sein Gang … oh …!«

Fata ergriff Großmutters Arm und schlang sich ihn um den Hals. »Und ist er zu dir gekommen?« fragte sie zitternd.

»Gott behüte. Niemals.«

»Hat er sich dir irgendwie genähert?«

»Was fällt dir ein? Wie hätt ein Christ mit mir zu reden gewagt?« keuchte die Alte – als wunderte sie sich, daß den Enkelinnen dergleichen auch nur in den Sinn kommen könnte. – »Ich habe ihn nur durch die Ritze des Fensterladens erspäht; wenn er an unserm Garten langging. Jeden Abend habe ich ihn erwartet. Ich wäre gestorben, wenn ich ihn nicht gesehen hätte.«

»Großmutter! Und … dann?«

»So … entzündete sich die Liebe in mir. Ich war von Sinnen. Ich verzehrte mich, zerriß und quälte mich … Vergaß alles: Ehre, Namen, Sitten. Ich blickte nur immer von oben nach ihm aus, damit er mich doch einmal mit seinem Blick versenge – mich, die fremde Frau … Oft war mir, als müßt ich ihm zuschreien, ihn anhalten … Am liebsten war ich ihm nachgelaufen – bis in sein Haus – und wenn sie mich töten …«

Fata blickte die Großmutter mit weit geöffneten Augen an – als glaubte sie ihr nicht recht, als verstelle sich die Großmutter nur, um die Enkelinnen zu foppen. »Und er?« fragte sie. »Und er?«

»Wandte nicht einmal den Kopf nach mir; achtete garnicht auf unser Tor; fürchtete sich wohl vor Großvater …«

Die Alte atmete ein wenig auf und zündete wiederum die Pfeife an, die ihr im Eifer des Erzählens ausgegangen war. Die Hand, worin sie das Rohr hielt, zitterte.

»Ja, Kinder,« fuhr sie fort, nachdem sie ein paar Wölkchen geblasen und ein wenig überlegt hatte, »so zog sich die Sache fast ein Jahr hin. Ich hatte, man kann sagen, den Verstand verloren. Was ich im Hause tat, tat ich verkehrt und zerstreut. Ich war bleich, schwach, gebrochen. Das Gesinde beobachtete mich – sie merkten, daß etwas Unrechtes mit mir vorging. Euer seliger Großvater nahm wahr, daß ich bei Nacht nicht schlief, sah mich mit Argwohn an und Mißtrauen. Einmal ging ich auf den Hof, um etwas Atem zu schöpfen, meine heißen Wangen zu kühlen. Schon stand er neben mir, die Büchse in der Hand.«

Fata quiekte lüstern: »Oh! Mit der Büchse!«

»Er hatte eben Verdacht geschöpft und wollte Klarheit haben. Wollte Klarheit haben,« wiederholte Großmutter, indem sie jedes Wort betonte. »Das brachte mich zur Besinnung. Ich sah ein, daß sich mein Zustand nicht verbergen ließ: Feuer, Husten, Liebe, Sorgen bleiben niemals lang verborgen. War es auch verborgen geblieben – was nutzte es mir? Ich gehe zugrunde, ich welke, ich dürste. Und er? Weiß garnicht um mich und will nichts wissen. Er ist ein Christ und wird eine Christin zur Frau nehmen. Alle Gnade wird er auf sie ausgießen – die Christin wird trinken, was ich entbehren muß. Eine andre …« Die Alte schlug sich erregt, zornig mit der geballten Faust in die Brust. »Eine andre soll ihn lieben dürfen,« rief sie flammend – und blickte die Enkelinnen so durchbohrend an, daß sie scheu abrückten.

»Eine andre? O nein. – Darum ging ich eines Tages zu euerm Großvater und trat vor ihn.«

»Um es ihm zu gestehen? Oh!«

»Wer wird denn dergleichen gestehen?« rief die Alte barsch und fuhr selbst zusammen. »Ich trat vor ihn und küßte ihm die Hand, wie sich's gebührt, die Hand des Hausherrn. ›Ich bitt dich,‹ sprach ich, ›lehre mich schießen.‹ Und ich sog mich an ihm fest wie ein Blutegel und streichelte ihn und schmeichelte ihm wie nie zuvor. – ›Wozu das?‹ fragte er und riß schier den Mund auf vor Staunen. – ›Nun … so. Ich möchte eben schießen können.‹ – Er zuckte die Achseln und antwortete nicht. Doch am selben Tag rief er mich hinaus auf den Hof, warf seinen alten Fes auf den Feigenbaum und reichte mir sein Gewehr. Dann schössen wir. Jeden Tag haben wir geschossen. Mir führte ein mächtiger Eifer die Hand, und ich habe es gut gelernt. Großvater lachte schon und sagte: ich würde ein bessrer Schütze werden als er. ›Meiner Treu,‹ sagte er, ›du übertriffst mich.‹ Und es lachte ihm bald das eine, bald das andre Schnurrbartende – denn bei ihm lachte nur der Schnurrbart. ›Wenn das so weitergeht, wirst du eine bessere Schützin als ich und alle meine Freunde.‹«

Die Alte rückte die Kissen zurecht, senkte den Ellenbogen darein und stützte den Kopf in die Hand.

»Als zwei Monate vergangen waren und ich nun schon sicher schoß, kommt eines Tages Großvater vom Land, aus seinem Dorf – und so stark, wie er war, heftig, mit Geschrei und Lärm schleppt er einen Leibeigenen in den Hof. Mit der Faust hat er sich in des Bauern Haar verkrampft, stößt ihn mit dem Fuß vor mich und brüllt mir zu: ›Wollen sehen, was du gelernt hast.‹ Packt wieder den armen Teufel, der zerlumpt, abgerissen – blau und stumm vor Furcht, mich nur anstarrt und bewußtlos winselt; schleppt ihn an den alten, buckligen Feigenbaum, hält den Bauern, damit er nicht umsinke, und bindet ihn an den Baum. Auf die Schulter aber, dicht neben das Gesicht, setzt der Großvater ihm eine Flasche, tritt ein wenig beiseite und schreit mich an: ›Schieß!‹ Der Bauer stöhnt und glotzt mich an; dieser schreckliche Anblick bohrt sich mir in die Seele … die Hand bebt mir … und ich schieße seitab. – ›Das war nichts,‹ brüllt Großvater erzürnt. ›Ziel besser!‹ – Ich schieße zum zweitenmal – die Flasche springt in Stücke. Die scharfen Splitter stieben dem Bauern ins Gesicht. Blut ergießt sich aus seinen Schläfen und rinnt ihm über die borstige Wange auf die Kleider. – Großvater lacht. ›Versuchen wir's noch einmal!‹ – und stellt eine zweite Flasche hin, auf die andre Schulter. – ›Schieß!‹ – Ich habe sofort getroffen. ›Jetzt, bei Allah, kannst du in den Krieg,‹ kreischt er und bindet mit einem Ruck den Bauern los. – Der fällt gleich hin auf die Wurzeln des Feigenbaums und zuckt, als wollt er sterben. Großvater hat ihn lassen von den Leuten aus dem Tor schmeißen.«

»Sonderbar,« ruft Fata. Sie ist ans Fenster getreten und hat heimlich hinausgespäht.

»Was ist daran viel Sonderbares?« sagt Großmutter stolz und schlägt sich in die Brust. »Kann ein Weib nicht schießen und Waffen tragen? Ich habe von da an immer die Büchse bei mir gehabt. Ohne Büchse bin ich nicht einmal vor die Tür getreten.«

Sie legt die Pfeife in die Kissen, erhebt sich – und so groß und stattlich, wie sie ist, richtet sie sich auf.

»Eines Abends,« setzt sie lebhaft und rasch fort und zieht an ihren Fingern, daß sie knacken, »grade nach dem vierten Gebet, nach Sonnenuntergang sah ich ihn. Ach …! Er hatte seinen Fes übermütig schief auf die Braue gesetzt, drehte sein Bärtchen, und ein Schopf seines Haares flatterte im Wind. Ho, ho – mir hüpfte das Herz … Eine andre …?? Und nicht ich – mein Arm hob das Gewehr. Nicht ich – mein Auge zielte … Die Büchse hat gut getroffen. Herzschuß. Er warf beide Arme hoch, sprang in die Luft und fiel aufs Gesicht.«

Fata hatte aufgeschrien, stopfte sich die Ohren mit den Händen. – »Großmutter! Wie konntest du nur!«

Großmutter sprach mit tiefer, ruhiger Stimme: »Wenn er nicht mein war – einer Fremden sollt er nicht gehören.« Und sie senkte das Haupt. »Hab ich ihn auch getötet, so hat ihn auch niemand so tief beklagt und so heiß beweint wie ich. Das war sein Schicksal.«

Slata war vor Schreck bis an die Wand zurückgewichen. »Und das Gericht?« fragte sie nach einer Pause.

Die Großmutter schritt im Zimmer auf und ab. »Das Gericht? Weißt du – in alten, türkischen Zeiten ist man so genau nicht gewesen … Großvater ging hin und verantwortete sich für mich. Er sagte einfach: der Christ wollte mir an die Ehre, und ich hätte mich gewehrt. So haben sie es in ihre Protokolle geschrieben … Man nannte mich sogar eine Heldin.«

Fata, die immer noch am Fenster stand, verschränkte die Hände im Scheitel und dehnte sich. »Oh, Großmutter, wie herzlos bist du gewesen!«

»Oh, Fata, wie viel Herz hab ich gehabt!« antwortete Großmutter. »Besser, ich hätte nicht soviel Herz gehabt – dann lebte er noch heute.«


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