W. St. Reymont
Polnische Bauernnovellen
W. St. Reymont

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IV

Wie ihr diese endlos lange Nacht vergangen war? Sie wusste es nicht, sie wusste nichts ausser dem einen, dass sie unaussprechliche Qualen hatte erdulden müssen. Das Frühlicht breitete schon seinen weissen Schimmer über die Stube, sie aber sass noch immer zusammengeduckt vor dem längst erloschenen Feuerherd da. Ab und zu erhob sie sich wie geistesabwesend, sah durchs Fenster, ging zu dem Schlafenden hinüber und kehrte wieder auf ihren Platz zurück. In ihren grauen, blutig rot angelaufenen Augen blitzten Tränen, sie hatten aber keine Kraft mehr, reichlich zu fliessen; auf ihren Wimpern erstarrten sie und überzogen die Augäpfel wie mit matt schimmerndem Glast.

»Jesus! mein Jesus!« murmelte sie ab und zu vor sich hin.

Es war nicht auszudenken, was sie in dieser langen Nacht durchlitten hatte, wie viele Stürme durch ihre Seele getobt, welche Schmerzanfälle ihr Herz zusammengekrampft hatten, welcher Aufruhr und Verzweiflungssturm sie immer noch aufwühlte und welche Ohnmachtsklage ihr Innerstes zerriss! – es war nicht zu sagen und nicht auszudenken!

Sie fühlte, dass sie rettungslos verloren war.

Man hatte sie aufs Amt bestellt! Sie hatten ein Schriftstück über ihren Jaschek erhalten!

»Jesus! Jesus!« stöhnte sie auf. »Sie wissen es also schon, dass er entsprungen ist ... sie fahnden auf ihn ... und werden ihn greifen! ... Nein, nimmermehr ...« bäumte sich ihr Muttergefühl auf ... » Ich lass' ihn nicht ... das ist mein Kind, mein Einziger ... mein eigen Fleisch und Blut ... meine leibhaftigen Tränen ... ich geb' ihn nicht heraus ...«

Und dann versank sie wieder in die Abgründe der Schwachheit, der Ängste und Verzweiflung, in die bodenlose Tiefe völliger Ohnmacht, und wieder glasten Tränen in ihren blutigen Augen ...

Nehmen sie ihn, dann wird sie ihn niemals mehr wiedersehen, nimmermehr ...

»O mein Jesus, mein Jesus, ist denn das Gerechtigkeit, ist das Gerechtigkeit?« stöhnte sie ratlos, immer weniger fähig, den wachsenden Groll zu beherrschen

»Und wofür hatten sie ihn denn so bestrafen müssen? Dafür, dass er den Verwalter mit der Heugabel gestochen! Und warum war dieses geschehen? Im Recht war er ... weil ihm der Verwalter seine Nastka mit Gewalt nach der Scheune schleppen wollte. Er hat nur sein Eigenes damit verteidigt ... Und dafür ganze drei Jahre! Was schlägt sich das Mannsvolk ohne Ende die Köpfe ein, was prügeln sich die Menschen lahm und krumm, und keiner kümmert sich darum, keiner denkt deswegen an Zuchthaus ... Den Jaschek aber haben sie eingesteckt. Wo ist da die Gerechtigkeit! Und dem anderen ist nichts geschehen! ... Wie ein Herr kann er weiter leben, treibt weiter Unrecht, wie er es vordem getrieben, denn muss mal ein Mädchen auf Arbeit auf den Herrenhof gehen, wird's über kurz oder lang ein Kleines in der Beiderwandschürze mit nach Hause tragen ... Die reine Gottesschande und keine Strafe für solchen Unrechttuer ... Und wer hat die Macht, ihm beizukommen? ... Wen sollte so einer fürchten? ... Er hat es gewollt, und da haben sie den Jaschek eingesteckt ... das hat er getan ... Dass euch allesamt, ... dass euch! ...« und ein solch furchtbarer, wilder und unerbittlicher Hass packte ihre Seele, dass sie ihre mageren Finger spreizte und wütend an dem dicken Beiderwandschurz zerrte und riss.

Die Tekla liess sie erst aus diesem Verzweiflungskrampf zur Besinnung kommen.

Jaschek lag noch immer bewusstlos da.

Sie wusste nicht mehr, was sie mit ihm anfangen sollte. Nach dem Arzt war es weit, und dann, er würde es gewiss weitersagen, wenn er ihn sehen sollte ... die Leute kämen dahinter, und alsbald finge das Klatschen und Fragen an ... Nein, das ging so nicht ...

Und wenn er sterben müsste? – lange erwog sie in ihrem armen, verzweifelten Herzen diese Frage, die wie ein schwerer Stein darauf gefallen war.

Lass ihn sterben, dann hat es auch mit mir gleich ein Ende, aber ihn ausliefern, dazu lege ich nicht meine Hand an, niemals .... Lass ihn sterben! ... sann sie finster.

Es war schon heller Tag, als sie sich etwas besser ankleidete, eine Mandel Eier in ein Tuch einwickelte und sich nach der Gemeindekanzlei begab.

Die Sonne funkelte lustig und rollte ihr freudig über die nassen Acker und die Pfützen der Landstrasse entgegen, auf der sie der Gemeindekanzlei zustrebte. An den Gräben entlang sperrten schon zwischen Steinen wachsende Tausendschönchen ihre rosigen Wimpern auf, um der Sonne ins Angesicht zu schauen; irgendwo war von den noch von Kühle umwehten Feldern eine Lerche aufgestiegen und liess in reiner Himmelsbläue ihre Stimme wie ein klares Glöcklein erschallen. Scharfe würzige Luft kühlte die fieberheissen Wangen der achtlos Dahinschreitenden.

Die Kanzlei war nicht sehr weit entfernt ganz in der Nähe der Kirche in einem mächtigen, verfallenen, ehemaligen Klostergebäude untergebracht, das auf einem Hügel stand, zu dessen Füssen sich das Dorf als eine langgestreckte Reihe bis zu den Wäldern dahinzog, welche rings um das Tal aufragten.

In den Amtsräumen war der Gemeindeschreiber nicht zugegen; er schlief noch.

Nur der Gemeindediener machte sich in der Stube zu schaffen, fegte den Fussboden und ging schliesslich davon, um die Schweine zu versorgen, deren lustiges Gequiek aus dem Hintergrund der alten Klostergänge herüberdrang, die durch eingebaute Holzwände in verschiedene kleinere Räumlichkeiten geteilt worden waren.

Die Alte setzte sich vor dem Kanzleigebäude auf eins der gewaltigen Kapitale, die vom Portal des Hauptgebäudes abgebrochen waren und jetzt als Sitzgelegenheiten dienten. Sie beschloss geduldig zu warten.

Bald erschien der Schulze, sie begrüsste ihn und fing sofort an, ihm ihre Angelegenheiten vorzutragen.

»Wegen dem Papier, in dem etwas über meinen Jaschek drin steht, bin ich hergekommen.«

»Es gibt da allerhand und allerlei, wartet nur ein bisschen, bis der Herr Schreiber aufgestanden sind.«

»Wisst Ihr nicht, was darin steht?« fragte sie.

»Ich werd´ doch nicht hier draussen mit Euch reden, dazu ist ja auch der Schreiber da, dass er die Papiere liest, ich werd' es ihm gleich anbefehlen; er wird Euch alles sagen, was nötig ist.«

Er suchte seine Amtswürde zu wahren, denn eigentlich wusste er nicht das geringste von irgend einem Schriftstück.

»Fasst doch mit mir den Eimer an, Schulze, die Schweine schreien nach dem Drank, und allein kann ich ihn nicht fortschleppen,« wandte sich der Gemeindediener an ihn.

»Sieh mal einer diesen! ... kannst dich selbst abschleppen!« entrüstete sich der Schulze, aber nach einem Blick auf die verhangenen Fenster der Schreiberwohnung spie er ärgerlich aus und half dennoch mit.

»Man soll einander nachbarlich gefällig sein,« liess er sich nach seiner Rückkehr vernehmen, setzte sich auf einen der herumliegenden Steinblöcke und begann voll Würde aus seiner Schnupftabakdose die Bauern zu bewirten, die in geschäftlichen Angelegenheiten aufs Gemeindeamt gekommen waren.

»Schulze! Der Herr Schreiber haben gesagt, dass Ihr den Wagen schmieren und das Pferd striegeln sollt,« meldete der Gemeindediener.

Der Schulze versuchte sich zu widersetzen, denn er merkte, dass sich die Gesichter der Bauern zu einem Grinsen verzogen.

Aber es dauerte nicht lange, dass ein struppiger Kopf aus einem der Fenster der Schreiberwohnung auftauchte und die Stimme des Gemeindeschreibers sich vernehmen liess:

»Schulze! Kommt gleich her! Wagen zurechtmachen, wir fahren in der Untersuchungssache nach Gorki!«

»Wird sofort gemacht! Alles was recht ist ... das Fuhrwerk ist eine amtliche Angelegenheit, die Untersuchung auch! Das ist schon wahr ...«

»Habt Ihr heute auch schon die Hühner der Frau Schreiberin abgetastet, Schulze?« höhnte einer der Bauern.

»Halt dein Maul! so 'n Klugschnacker!«

»Das Wickelkind von den Schreibers müsste man auch trocken legen ...«

»Oder den Putzellantopf wegtragen ...«

»Die Stiefel wichsen! ...«

»Den Fräulein die Nasen putzen ...«, machten sich die Bauern weiter über ihn lustig, aber der Schulze hörte nicht auf sie, er hatte den Wagen zurechtgemacht, rollte ihn vor das Kanzleigebäude und entfernte sich, um sein Pferd zu holen, das er mit demjenigen des Schreibers zusammenspannen wollte.

»Ein Zuchthengst ist es ja nicht, aber doch ein feiner Gaul!« fingen sie abermals zu höhnen an, als sie den Schulzen sein Pferd an der Mähne heranzerren sahen.

»Ein gutes Pferd, herzensguter Gaul! Gibst du ihm von deinem alten Strohdach zu fressen, dann frisst er es; gibst ihm eine Latte, dann putzt er sie auch weg, wenn sie nicht zu trocken ist, dass es nur so kracht; die Kleider vom Zaun holt er dir herunter, eh' du dich versiehst, und frisst sie auf wie Klee. Selbst das Schwein lässt er nicht ruhig allein aus seinem Trog fressen; so liebt er die Gemeinschaft. Ein pikfeiner Gaul!«

»Seht, wie er die Beine stellt, da ist eine trächtige Kuh nichts dagegen. Und einen Schweif hat das Aas, wie aus Hanfwerg, und wie er ihn trägt ... man sieht gleich, dass es ein Hofbauerngaul ist.«

»Ein Kopf dazu, ganz dem Pächterjuden vom Herrenhof ähnlich.«

»Und das feine Geschirr, wie bei einem Gutsherrn! Hier ein Schnürchen und da ein Spagat! Ihr solltet ihm bloss noch ein paar Hosen anziehen, Schulze, und ihn dann nach Warschau zur Ausstellung bringen.«

» Und laufen muss er können wie eine Kuh!«

So machten sie sich über den Schulzen und seinen Gaul lustig.

Die alte Winciorek wartete indessen. Mit geschlossenen Augenlidern, den Kopf gegen die Hausmauer gelehnt, sass sie unbeweglich da, wie aus Stein! Sie hörte nichts von den Gesprächen um sie herum, denn immer wieder klangen die gestrigen Worte des Gemeindedieners in ihren Ohren: es ist ein Papier über Euren Jaschek gekommen!

Was kann dort in diesem Schriftstück stehen? Was wird ihr der Schreiber sagen? Wissen sie schon etwas? Diese Fragen durchzuckten wie Blitze der Qual und Angst ihr schmerzendes Gehirn.

Sie sah nicht, dass die Sonne immer höher stieg und das ganze Tal, das Dorf und die Wälder in der Runde mit goldigen Feuerbränden überschüttete. Das Eis schmolz in den Ackerfurchen und Gräben, aus den Pfützen blitzte Wasser auf, der Rauch stieg kerzengerade aus den Schornsteinen empor und stand in weisslich-blauen Säulen über den Strohdächern, und vom Dorf her, das man vom Hügel ganz klar überblicken konnte, trieben die Menschen das Vieh nach der Tränke am Fluss. Sie sah nichts davon, hörte nichts, als jene Stimmen der Angst, die ihr Herz zerrissen ...

»Winciorkowa, nach der Kanzlei!« weckte sie mit einemmal die Stimme des Gemeindedieners, der aber, als er ihr Bündel merkte, etwas leiser hinzufügte: »Geht durch die Küche.«

Sie begab sich, ohne sich davon Rechenschaft zu geben, in den langen, baufälligen Klostergang, in dem Hühner und Ferkel im Dreck wühlten. Mitten in der riesigen, gewölbten und von gotischen Fenstern erhellten Küche stand die Frau Schreiberin, zwischen den Zähnen eine Zigarette, die sie immer wieder anzünden musste.

Die Winciorek verneigte sich tief zur Begrüssung.

»Was bringt Ihr?«

»Das ist ... wegen diesem Schreiben ... nur eine Mandel Eier, weil die Hühner erst zu legen angefangen haben ...« murmelte sie, das Tuch aufknotend und es zu Füssen der Schreiberin ausbreitend.

»Sind sie frisch?«

»Ein paar Tage alt.«

»Habt Ihr eine Bittschrift?« fragte die Schreiberin und begann die Eier gegen das Licht zu prüfen.

»Versteht sich, jawohl ... Ein Schreiben ist gekommen, von wegen meinem Sohn, demselben, der... sitzt ... die Frau Schreiberin wissen schon ... dass er ...«

»Geht in die Kanzlei ... ich werd´ es schon meinem Mann sagen.«

»Gott bezahl's der Frau Schreiberin!...« murmelte sie und ging.

»Adam! meinem Mann Bescheid sagen, dass die Winciorkowa eine Bitte hat!« schrie sie zur Tür hinaus auf den Flur, kehrte um, zündete sich ihre Zigarette an und begann wieder ihre Eier zu prüfen.

Die Winciorek betrat die Amtsstube und bot Gott zum Gruss, da sie aber niemand einer Antwort würdigte, blieb sie bescheiden an der Türe stehen und wartete. Der Schreiber war mit dem Ankleiden beschäftigt, immer wieder machte er sich in der Nebenstube zu schaffen und kehrte mit einem neuen Kleidungsstück in der Hand in die Amtsstube zurück, das er dann bedächtig anzog, sich gleichzeitig mit den Bauern unterhaltend.

Sie wartete eine gute Stunde, denn der Gemeindeschreiber hatte sich, nachdem er endlich mit dem Ankleiden fertig geworden war, zum Frühstück begeben. In der Amtsstube blieb nur ein junger, sommersprossiger, rothaariger Bursche, der sich am Ofen niedergehockt hatte und recht vorsichtig den Rauch seiner Zigarette ins Ofenloch blies.

»Herr!« ermannte sie sich zuletzt ihn anzureden.

»Was wollt Ihr?«

»Es soll ein Papier über meinen Sohn, Jaschek Winciorek, angekommen sein.«

»Ach, über diesen Dieb, der aus dem Gefängnis entsprungen ist!«

»Mein Sohn ist kein Dieb! Hüt' du dich, dir mit meinem Sohn das Maul abzuwischen!« schrie sie laut auf, denn diese Äusserung hatte sie wie ein Messerstich getroffen.

»Mund halten, Frauenzimmer, sonst wird man dich einsperren!« bemerkte der junge Mann gelassen und fuhr fort, ganze Rauchwolken ins Ofenloch zu blasen.

Sie sagte kein Wort mehr und blieb bewegungslos am Fensterplatz sitzen, nicht tot und nicht lebendig vor nagender Ungeduld und quälender Erwartung.

»Seid Ihr die Anna Winciorek?«

»Ich bin es, gnädiger Herr ...« sie erhob sich rasch, denn es war der Gemeindeschreiber, der diese Frage an sie gerichtet hatte.

»Euer Sohn, Jan Winciorek, war zu drei Jahren Zuchthaus wegen Gewalttätigkeit und versuchten Totschlags verurteilt worden, nicht wahr?«

»Jawohl, so ist es, Jaschek ist sein Taufname, man hat ihn für drei Jahre ins Gefängnis gesteckt, aber das haben die nur aus lauter Bosheit getan.«

»Man hat mir den Bericht zukommen lassen, dass Jan Winciorek vor einer Woche aus dem Gefängnis entsprungen ist.«

»O Jesus!« stöhnte sie auf und taumelte gegen die Wand.

»Er wird gesucht. Und sollte er sich bei Euch zeigen, habt Ihr ihn anzuhalten, den Schultheiss zu benachrichtigen und nach der Kanzlei abzuliefern.«

»Mein eigenes Kind!«

»Davon steht hier nichts drin. Es heisst bloss, dass er entsprungen ist, und wer entsprungen ist, der muss eingefangen werden, und wird er eingefangen, dann kommt er vor Gericht und ins Gefängnis. Wer ihn aber verstecken oder ihm zur Flucht verhelfen sollte, wird ebenfalls bestraft werden.«

Er machte ein Zeichen, dass die Angelegenheit erledigt sei, und wandte sich seiner Amtsarbeit zu.

Die Winciorek aber stand noch lange da, wie vom Blitz getroffen, und konnte sich nicht ermannen hinauszugehen.

– Er kommt vor Gericht und ins Gefängnis!

Kommt vor Gericht ...

... und ins Gefängnis ...


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