W. St. Reymont
Polnische Bauernnovellen
W. St. Reymont

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I

Eine Vorfrühlingsnacht im März war es, eine Nacht voll Regen, Kälte und Sturm.

Die Wälder standen wie gekrümmt da, starr und bis ins Mark durchnässt; ab und zu liess sie ein eisiger Regenguss erschauern, dann bebten sie wie im Fiebertraum und im Angstkrampf breiteten sie ihre Äste aus, von denen das Wasser troff. Sie rauschten düster, peitschten die Dunkelheit und waren wie rasend geworden unter dem Schmerz des Erfrierens; also heulten sie nun ihr wildes Klagelied der erbarmungslos gequälten Kreatur.

Hin und wieder kamen nasse Schneeflocken dahergegaukelt, dämpften jeden Laut und liessen nach und nach alles Leben erstarren, der Wald verstummte, liess bewegungslos seine Äste hängen und schwieg allmählich ganz – durch die Dunkelheit und Öde, zwischen den gewaltigen, plötzlich starr dastehenden Baumstämmen schlich sich nur noch in langen Zwischenräumen ein leises, klägliches Wimmern und manchmal durchschnitt der scharfe Entsetzensschrei eines erfrierenden Vogels die Luft und Brechen von Zweigen liess sich vernehmen unter der Last eines aufschlagenden Körpers.

Dann wieder regte sich der Wind, kam heimlich durch die Dunkelheit geglitten und warf sich mit wilder Wut auf die Wälder, biss sich mit triefenden Hauern in die schwarzen Tiefen fest, blies, dass der Schnee zerrann, knackte Zweige ab, brach das Dickicht weg und wälzte sich mit frohlockendem Aufheulen über die Waldwiesen; der Wald wurde wie eine Insel biegsamen Röhrichts. Währenddessen waren aus den Nachtgründen, aus den grauenvollen Öden des Raumes riesige, schmutzig-fahle Wolken herangekrochen, windzerzausten, faulenden Heuschobern ähnlich und senkten sich auf das Waldgebiet herab, blieben an den Waldhügeln hängen, umwanden zerrissenen Fetzen gleich die Bäume, würgten sie in ihrer scheusslichen Umarmung und versprühten einen unaufhörlichen kalten Regen, der sich bis ins Innere der Steine frass.

Die Nacht war grauenvoll: die Wege zogen sich dahin, leer und mit einer kotigen Nässe überflutet, in der die Reste des schmelzenden Schnees schwammen; die Dörfer lagen still da, wie ausgestorben, die Felder tot, die Obstgärten entlaubt, voll krampfverzerrter Äste und die Gewässer noch in den Ketten des Eises – nirgends ein Mensch, nirgends ein Lebenslaut – nichts als die grenzenlose Herrschaft der Nacht ringsum.

Allein in der Schenke von Przylenka blinkte ein schwaches Licht.

Sie stand inmitten des Waldgebiets, an einem Kreuzweg; hinter ihr zeichneten sich neblig über einer Hügelsenkung einige Häuserumrisse ab, und alles umschloss der mächtige, schwarze Forst.

Jaschek Winciorek schlich vorsichtig aus dem Buschdickicht auf die Landstrasse und ging geduckt, als er den schwachen Lichtschein gewahrte, auf das Fenster der Schenke zu. Lange stand er dann ratlos dort, spähte das Innere der Schankstube ab, horchte, warf ängstliche Blicke um sich und wusste nicht, was er beginnen sollte; – seine grosse Ängstlichkeit gewann überhand, so dass er sich schon vom Fenster wegwandte und wieder im Begriff war, seine Schritte ins Waldinnere zu lenken, als der Wind so heftig ansetzte und ihn mit solch schneidender Kälte durchdrang, dass er, von einem plötzlichen Schüttelfrost erfasst, umkehrte, sich bekreuzigte und in die Schenke trat.

Die Stube war gross, die schwarze Balkendecke hing schwer über dem Lehmfussboden und drückte auf die krummen, vom Kalkverputz entblätterten Wände, in denen zwei halberblindete, hier und da mit Stroh verstopfte Fenster sichtbar wurden.

Hinter einem grob zusammengezimmerten Lattenverschlag ihnen gegenüber befand sich der grosse Schanktisch, welcher sich mit einer Seite gegen ein paar mächtige Fässer stemmte, auf denen eine russende Petroleumlampe ihr schwaches, rötliches Licht glimmen liess. Träge Dämmerung überflutete die Stube, nur hin und wieder von einem Feuerschein zerrissen, der von einem altertümlichen Feuerherd aufzuckte und ein Bettlerpaar beleuchtete, welches sich vor dem erlöschenden Feuer ausgebreitet hatte. In der entgegengesetzten Stubenecke, fast im völligen Dunkel geisterten die Umrisse einer Anzahl zu einem geheimnisvoll flüsternden Haufen zusammengedrängter Menschen. Vor dem Schanktisch standen zwei Bauern; einer hielt eine Flasche fest in seiner Faust, der andere liess sich von ihm ins Glas einschenken, sie tranken einander immer wieder zu und wiegten sich schlaftrunken hin und her.

Eine dicke, rote Magd schnarchte gegen eine Tonne gelehnt hinter dem Lattenverschlag.

Schnapsgeruch, untermischt mit dem Dunst aufgeweichten Lehms und durchnässter Kleider, zog durch die Schankstube.

Zuweilen senkte sich eine solche Stille über den halbdunklen Raum, dass man nichts als das Rauschen des Waldes, das Prasseln des Regengeriesels gegen die Scheiben und das Knistern der Tannenzweige auf dem Feuerherd hörte, dann tat sich jedesmal mit lautem Knarren eine niedrige, hinter dem Lattenverschlag befindliche Tür auf und der Kopf eines weisshaarigen Juden im Gebethemd wurde im Rahmen der Öffnung sichtbar, hinter ihm erstrahlte ein von vielen Kerzen erhelltes Stübchen, aus dem mit den strengen Schabbesdüften die gedämpften Klänge eines eintönigen, traurigen Gesanges eindrangen.

Jaschek trank einige Schnapsgläser nacheinander aus und kaute gierig eine trockene, schimmlige Semmel, deren Brocken, zäh wie Leder, an den Zähnen hängen blieben; ab und zu biss er ein Stück Hering ab und beobachtete eifrig einmal die Tür, dann wieder das Fenster, eifriger aber noch lauschte er auf das Gemurmel der Stimmen in der Stube.

»Heiraten, nein, hundsverdammt, heiraten tu' ich nicht!« schrie mit einemmal der Bauer vor dem Schanktisch, knallte mit der Flasche gegen den Lattenverschlag und spie im weiten Bogen auf den Rücken des vor dem Herd sitzenden Bettlers.

»Heiraten wirst du schon müssen, oder das Geld zurückgeben!« knurrte der andere.

»Herrgott, so viel Geld! Ewka, noch ein Quart Sprit, ich zahl'!«

»Geld ist schon was – aber ein Weib das ist noch was mehr ...«

»Nein, hundsverdammt, heiraten tu' ich nicht, ich verkauf das Letzte, werde mich verschulden und das Geld zahl' ich schon zurück, aber heiraten, diese Pestige, nein, das tue ich nicht!«

»Trink mir mal zu, Antek, dann sag' ich dir was ...«

»Ich lass' mich nicht von dir beschwatzen. Hab' ich gesagt: nein, dann ist es nein, und wenn es sein muss, dann werde ich mit denen da nach Bresilien weglaufen, bis ans Ende der Welt ...«

»Dumm bist du! trink mir zu, Antek, ich will dir was sagen ...«

Sie tranken mehrere Gläser und begannen einander zu küssen und zu umarmen, aber sie verstummten plötzlich, als in der anderen Stubenecke ein Kind zu weinen anfing und in dem ängstlich zusammengedrängten Menschenhaufen eine Bewegung entstand.

Ein hoher, hagerer Bauer tauchte aus dem Nachtdunkel der Stubenecke auf und verliess die Schankstube.

Jaschek schob sich näher ans Fenster heran, denn die Kälte durchdrang ihn bis ins tiefste Mark, spiesste seinen Hering auf einen Stecken und versuchte ihn auf den glühenden Kohlen zu rösten.

»Schiebt Euch ein bisschen beiseite,« bat er den Bettler, der seine blossen Füsse auf die Bettelsäcke gelegt hatte und trotz seiner vollständigen Blindheit seine durchnässten Fusslappen am Feuer trocknete, dabei redete er immerzu mit gedämpfter Stimme auf sein altes Weib ein, das mit der Zubereitung des Essens und dem Zulegen von Reisig unter einen Dreifuss beschäftigt war, auf welchem der Kochtopf stand.

Jaschek wurde es allmählich wärmer und der Dampf begann aus seinem Bauernkittel aufzusteigen wie aus einem Eimer mit heissem Wasser.

»Ihr seid nicht schlecht durchweicht!« knurrte der Bettler, mit der Nase in der Luft schnuppernd.

»Versteht sich,« murmelte der Bursche und zuckte heftig zusammen, denn die Tür tat sich knarrend auf; doch es war nur der lange, hagere Bauer, der halblaut zu dem Menschenhaufen redete, welcher sich um ihn geschart hatte.

»Wisst Ihr nicht, wer die sind?« flüsterte Jaschek, die Hand des Bettlers berührend.

»Diese? Wer soll's sein? Dumme, die nach Bresilien gehen,« antwortete jener und spie aus.

Jaschek sprach nicht mehr, er trocknete sich nur am Feuer und liess immer wieder seine Augen durch die Schankstube gehen, von einem Menschen zum anderen, die alle, wie von heimlicher Unruhe gehetzt, entweder immer lauter vor sich hinredeten, oder plötzlich nur noch ganz stumm dasassen; immer wieder erhob sich einer von ihnen und ging hinaus, um gleich darauf zurückzukehren.

Aus dem Alkovenstübchen der Judenwohnung liessen sich, immer eintöniger werdend, die singenden Stimmen vernehmen; zu guter Letzt kam aus irgend einer Ecke ein ausgehungerter Hund ans Feuer herangeschlichen und begann das Bettlerpaar anzuknurren. Er bekam eins mit dem Stock, winselte auf und legte sich mitten in die Stube nieder, mit wehmütigen, hungrigen Blicken auf die Dämpfe starrend, die aus dem Kochtopf aufstiegen.

Jaschek wurde es immer wärmer, er ass seinen Hering und den Rest der Semmeln auf, merkte aber zugleich, dass sein Hunger immer heftiger wurde. Er tastete umständlich alle seine Taschen ab, und nachdem er nicht einmal eine Kupfermünze gefunden hatte, kauerte er sich zusammen und starrte gedankenlos auf den Kochtopf und die roten Flämmchen des Herdfeuers.

»Hast wohl Hunger, wie?« redete ihn nach einer Weile die Bettlerin an.

»Ih ... ein bisschen knurrt der Magen schon ...«

»Wer ist dieser?« fragte der Bettler leise, sich an seine Frau wendend.

»Hab' keine Angst, einen Silberling wird er dir nicht schenken, oder auch nur einen Heller ...« knurrte sie bissig zurück.

»Ein Hofbauer?« ...

»So einer wie du, ...aus der weiten Welt!« fügte sie leise hinzu und nahm indessen den Topf vom Dreifuss.

»Nur gute Menschen kommen aus der weiten Welt ... Das Viehzeug oder ein Schwein kommen aus dem Schweinestall ... Häh? ... « er stiess Jaschek mit seinem Stock an. »Is wahr, is wahr ...« bejahte der Bursche gedankenlos.

»Ihr habt was auf der Leber, das merk' ich schon ...« brummte der Bettler nach einer Weile.

»Versteht sich, dass ich was hab' ...«

»Der Herr Jesus hat gesagt: bist du hungrig – dann esse; bist du durstig – dann trink, und wenn dir was fehlt – dann rede nicht!«

Jaschek hob seine gequälten, tränenschweren Augen zu dem Bettler auf.

»Esst ein Bisschen, es ist zwar Bettleressen, aber es wird Euch schon wohl bekommen, esst! ...« nötigte ihn die Bettlerin und goss ihm in einen Scherben eine ziemlich grosse Portion ein. Aus den Bettelsäcken holte sie ein Stück Schwarzbrot heraus und schob es ihm unauffällig zu, und als er näher an sein Essen herangerückt war und sie sein furchtbar elendes Gesicht gewahrte, das ganz grau und wie von allem Fleisch entblösst schien, erfasste sie ein solches Mitleid, dass sie noch ein Stück Wurst hervorholte und es ihm aufs Brot legte.

Jaschek konnte dem Hunger und den Aufforderungen nicht widerstehen, so machte er sich denn gierig ans Essen und warf ab und zu dem Hund, der an ihn herangekrochen war und ihn mit bettelnden Blicken betrachtete, einen Knochen hin.

Der alte Bettler lauschte lange, und als ihm schliesslich die Frau den Topf in die Hände gedrückt hatte, hob er den Löffel hoch und verkündete feierlich:

»Iss, Menschenseele! Der Herr Jesus hat gesagt: gibst du dem Bedürftigen einen Groschen, dann wird's dir ein anderer durch einen Zehner vergelten ... Iss mit Gott, Menschenseele ...«

Sie langten schweigend zu.

Nach einer kurzen Ruhepause wischte sich der Bettler den Mund mit dem Ärmel und liess sich also vernehmen:

»Drei Dinge sind nötig, dass einem das Essen bekommt: Schnaps, Salz und Brot. Gib uns Schnaps zu trinken, Frau!«

Sie tranken alle drei und assen weiter.

Jaschek hatte fast jegliche Besorgnis vergessen, er warf schon keine ängstlichen Blicke mehr in die Schankstube, auf die Fenster und Tür zurück. Er ass bloss noch, sättigte sich mit Wärme, stillte langsam seinen viertägigen Hunger, der ihm in den Eingeweiden wühlte, und beruhigte sich zusehends in der Stille, die von der Stube Besitz ergriffen hatte.

Die Bauern, die am Schanktisch gestanden hatten, waren fortgegangen und das Häuflein der Auswanderer schlief mit den Köpfen gegen die Reisebündel gelehnt auf Bänken und auf dem nassen Lehmboden der Schankstube ausgestreckt. Aus der Nebenstube drang ein immer schläfrigeres Psalmodieren zu ihnen herein.

Und der Regen rieselte ununterbrochen und drang durch die Bedachung ins Innere, denn an mehreren Stellen tropfte es schon von der Balkendecke und auf dem Lehmfussboden bildeten sich runde, aufgeweichte und feucht schimmernde Schmutzflecke. Zuweilen liess ein Windanprall die Schenke erbeben, heulte im Schornstein auf, brachte das Herdfeuer in Unordnung und stiess den Rauch in die Stube zurück.

»Hier hast auch du was, Herumlungerer,« murmelte die Bettlerin, die Essenreste dem Hund zuwerfend, der sich um sie zu schaffen machte und mit seinen Augen eifrig bettelte.

»Füllt der Mensch sich gut den Magen,
Kann er es selbst in der Hölle ertragen!«

meinte der Bettler, den leeren Topf zurückstellend.

»Gott bezahl' Euch dieses Essen.« Er drückte dem Bettler die Hand, doch dieser liess sie nicht wieder los und betastete sie leicht.

»Ein paar Jahre habt Ihr nicht von der Hände Arbeit gelebt,« knurrte er.

Jaschek sprang erschrocken auf.

»Setz' dich, brauchst keine Angst zu haben. Der Herr Jesus hat gesagt: alle sind Gerechte, die Gott fürchten und armen Waisen helfen. Brauchst also keine Angst zu haben, Menschenkind. Ich bin kein Judas und kein Jud', sondern ein rechtschaffener Christ und eine arme Waise ...«

Er versann sich für eine Weile und dann redete er mit gedämpfter Stimme weiter:

»Auf drei Dinge sollst du achtgeben: den Herrn lieben, nicht hungrig sein und dem Ärmeren geben ... und der Rest, das ist alles nichts wert, eine hässliche menschliche Erfindung. Ein Kluger muss das wissen, damit er sich nicht umsonst sorgt ... Unsereiner weiss dies und jenes und manches noch ... Häh? Was habt Ihr gesagt?« ...

Er spitzte die Ohren und wartete, aber Jaschek gab keine Antwort, er schwieg verbissen, in der Angst sich zu verraten, so holte denn der Bettelmann seine Tabakdose aus Lindenborke hervor, klopfte mit dem Finger darauf, schnupfte, nieste, reichte sie dem Burschen hin, und sein grosses Blindengesicht dem Feuer zuneigend, begann er mit leiser eintöniger Stimme also zu unterweisen:

»Es geht nicht gerecht in der Weit zu, nein. Überall wird auf pharisäische Art gewirtschaftet und auf beutelschneiderische; wer den anderen herumkriegt, wer den anderen schneller beschummelt und wer den anderen schneller zu Tode beisst ... Nicht das hat der Herr Jesus in der Welt gewollt, nein. Haie! kommst du nach einem Herrenhof, nimmst die Mütze ab und singst, dass dir fast die Gurgel platzt: von Jesus und Maria und allen Heiligen; du wartest geduldig – kannst schön warten! ... gibst noch ein paar Gebete zu, auf dass der Herrgott alles zum Guten wenden soll, – kannst schön warten – nur die Hundeviecher bellen deine Bettelsäcke an und die Mägde kichern hinterm Zaun ... Du gibst noch eine Litanei hinzu – dann tragen sie dir endlich zwei Pfennige oder eine verschimmelte Brotkruste hinaus! – Dass euch, Äser, die Blindheit ankäme, dass ihr selbst noch beim Bettelvolk um Almosen betteln müsstet! Nach solchem Beten kostet mich allein der Schnaps zum Durchspülen der Gurgel mehr! ...« Er spuckte giftig aus.

»Und den anderen, geht es denen vielleicht besser?« redete er weiter, nachdem er eine Prise genommen hatte. – »Der Antek Kulik, na, der Kulik aus Demby ... hat ein herrschaftliches Ferkel genommen ... Glaubst du, dass er was davon gehabt hat? – hat sich was! – mager war das Aas wie 'n Hofhund ... das ganze Fett hätte man zu einem Quart Schnaps schmelzen können ... Dafür haben sie ihn genommen und für ein halbes Jahr sitzen lassen... Und weshalb denn? ... Für ein winziges Ferkel! Als ob so 'n Schwein nicht Gottes Geschöpf wäre ... und die einen nicht Hungers sterben müssten, wenn die anderen alles bis über die Gurgel haben ... Und der Herr Jesus hat doch gesagt: was ein Armer nimmt, das ist, als ob du's mir selbst gegeben hättest. Amen! Trinkst noch einen, wie? ...«

»Gott bezahl's, es ist mir aber 'n bisschen in die Glieder gefahren.«

»Dummkopf! Auch der Herr Jesus hat beim Fest getrunken. Trinke, das ist keine Sünde: – Sünde ist nur, sich zu besaufen wie ein Schwein, Gottes Gabe nicht bis auf den letzten Rest auszutrinken und dazusitzen wie ein Stummer, wenn gute Leute reden ...«

»Trinkt mir zu! ...« murmelte der Bursche mit einem plötzlichen Entschluss.

Der Bettler trank Jaschek aus der Flasche einen solchen Schluck zu, dass ihm darauf noch eine Weile der Schnaps in der Gurgel gluckste, und die Flasche dem Burschen reichend, sagte er schon ganz lustig:

»Trinke, arme Waise! Und achte auf drei Dinge: dass du die ganze Woche arbeitest, Sonntags betest und dem Armen was gibst – und dein Seelenheil wird dir zuteil. Menschenkind, ich sag' es dir, kannst du nicht aus einem Glas trinken, dann trink aus einem Quartmass ...«

Darauf schwiegen sie allzusammen.

Das Bettlerweib schlief mit tief herabhängendem Kopf am verlöschenden Feuer, der Bettler glotzte mit seinen wie von einer weissen Haut überzogenen Augen auf die rote Kohlenglut und nickte ab und zu eifrig; die Stimmen und das Geflüster in der anderen Stubenecke waren verstummt, und nur der Wind stiess immer heftiger gegen die Scheiben und rüttelte an der Tür, während aus der Nebenkammer die Stimmen des wie von Klagen und Verzweiflung durchtränkten Gesanges allmählich vernehmbarer aufbegehrten ...

Jaschek war schon gänzlich von der Wärme und dem Schnaps übermannt und fühlte eine solche Schläfrigkeit in allen Gliedern, dass er die Beine nahe beim Feuer von sich streckte und kaum der Lust sich hinzulegen widerstehen konnte ... Er wehrte sich noch mit der letzten Regung des Bewusstseins und der Angst, aber im selben Augenblick verfiel er in einen Zustand völliger Bewusstlosigkeit und wusste nicht mehr, wo er sich befand. Ein seliger Nebel, voll Wärme, Herdfeuerglanz, guter, lieber Worte, Ruhe und Stille hüllte ihn ein und durchdrang ihn mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit und Sicherheit.

Ab und zu wurde er plötzlich wach, ganz ohne Grund, liess seine prüfenden Blicke durch die Schankstube gehen und hörte eine Weile dem Bettler zu, der im Halbschlaf vor sich hinmurmelte:

»Für alle armen Seelchen, die im Fegefeuer verweilen müssen – Gegrüsst seist du, Maria, voller Gnaden...

»Menschenkind, das sag' ich dir, ein guter Bettelmann muss einen Igelstock, einen tiefen Bettelsack und ein langes Gebet haben...« Er wurde wach und da er die Augen von Jaschek auf seinem Gesicht fühlte, redete er weiter, schon wieder bei vollem Bewusstsein.

»Du hörst zu, was der Alte zu sagen hat – und ich sag' dir: trink mir einen zu und sperr' deine Ohren auf. Ich sage dir, Mensch: sei klug, aber halt es den anderen nicht unter die Nase. Merke dir alles, aber tue, als seist du gegen alles blind ... Lebst du mit einem Dummen – dann sei noch dümmer, als er ... lebst du mit einem Lahmen – dann darfst du gar keine Beine haben; mit einem Kranken – dann stirb mal gleich für ihn weg. Geben sie dir ein Kupferstück ... bedank' dich, als hätten sie dir einen Silberling geschenkt ... Hetzen sie dich mit Hunden zum Hof hinaus ... dann überlass das unserem Herrn Jesus ... Und langen sie dir mit dem Stock was über, dann sag' dein Gebet her...«

»Mensch, ich sage dir: tu, was ich dir rate und du wirst volle Bettelsäcke haben, den Bauch wie einen Klotz und wirst die ganze Welt am Schnürchen führen können, wie ein dummes Stück Vieh ... He! he! he! kein Mensch nur so von heute ist unsereins; man weiss dies und jenes und manches andere Ding! ... Wer Verstand hat und weiss, wie die Welt ist, dem wird es nicht schlecht gehen. Bist du im Herrenhof, dann schimpf auf die Bauern – ein Geldstück und ein Knochen von der Herrschaftstafel ist dir schon sicher; heim Pfarrer schimpf auf die Bauern und die Herrenhöfe – zwei Groschen und eine Absolution sind dir sicher; in den Bauernhäusern schimpfe auf alle – und du kriegst Grütze mit Speck zu essen und wirst Schnaps mit Fettigkeit trinken ... Mensch, sag' ich dir ... Für die Seele von Julina! Gegrüsst seist du, Maria!« fing er wieder mit schläfriger Stimme an, auf seiner Bank vor sich hinnickend.

» ... Voller Gnaden ... Eine kleine Gabe für einen armen Blinden ...« begann plötzlich das Bettelweib zu plappern und richtete im Schlaf ihren gegen den Kamin lehnenden Kopf auf.

»Sei still, Dumme!« herrschte er sie an und erwachte mit einemmal, denn die Eingangstür öffnete sich gerade mit lautem Knarren und ein hochgewachsener, rothaariger Jude schob sich in die Schankstube herein.

»Aufbrechen, es ist an der Zeit!« rief er mit dumpfer Stimme, und sofort sprang das Häufchen schlaftrunkener Menschen auf; sie begannen sich mit ihren Bündeln zu beladen, sich anzuziehen und zu sammeln, einmal nach der Stubenmitte hinstrebend, dann wieder in Unordnung zurückweichend. Ein gedämpftes Stimmengemurmel voll ängstlicher Akzente, Klagen oder Seufzer entrang sich ihrer Brust. Fieberhafte Worte kreuzten einander; ein Rufen, Flüstern, Fluchen, Stiefelgetrampel, dann wieder halblaut begonnene Gebete, das Schieben der Gegenstände, Kinderweinen – alles gedämpft und wie mit Macht zurückgehalten, erfüllte die düstere, schwarze Schankstube mit Angst und einem seltsamen Grauen.

Jaschek ernüchterte sich und sah, mit dem Rücken gegen die Seite des erkalteten Kamins gelehnt, neugierig dem Menschenhäuflein zu, soweit er im Halbdunkel die Umrisse der Gestalten verfolgen konnte.

»Wohin gehen sie?« fragte er den Bettler.

»Nach Bresilien.«

»Ist das weit?«

» Ho! ho! ... bis ans Ende der Welt, hinter den zehn Meeren.«

»Warum bloss? wozu?« fragte er leise.

»Erstens, weil sie dumm sind, und zweitens, weil sie arm sind ...«

»Kennen sie denn den Weg?« erkundigte er sich abermals, ganz erstaunt.

Aber der Bettler gab ihm keine Antwort, stiess die Frau mit seinem Stecken an, trat in die Mitte der Stube und begann mit weinerlicher, singender Stimme:

»Übers Meer geht ihr, hinter Berge und Wälder ... ans Ende der Welt, so möge euch der Herr Jesus segnen, arme Waisen! Lass euch die heilige Czenstochauer Muttergottes beistehen, lass euch alle Heiligen hilfreich sein für die Gabe, die ihr dem armen Blinden gebt. Dass euch der Herr alles zum Guten wende: ein Ave Maria ...«

» ... Du bist voller Gnaden, der Herr ist mit dir ...« plapperte das Bettlerweib und liess sich neben dem Blinden auf die Knie fallen.

» ... Du bist gebenedeit unter den Weibern,« antwortete der Haufe und schob sich nach der Stubenmitte zu.

Alles kniete nieder, leises Weinen wurde hörbar, die Häupter neigten sich und die Herzen gaben sich mit voller Gläubigkeit und Demut dem Gebet hin. Ein warmer Hauch der Zuversicht liess die trüben Augen aufleuchten und die elenden, grauen Gesichter sich beleben, machte, dass sich ihre gebeugten Schultern geradereckten, und gab ihnen eine solche Kraft, dass sie nach diesem Gebet sich stark und wie unüberwindlich erhoben ...

»Herschlik! Herschlik!« riefen sie dem Juden nach, der ins Nebenstübchen verschwunden war.

Sie hatten es eilig, in die unbekannte Welt zu ziehen, die eben darum so grauenvoll und so anziehend war.

Sie hatten es eilig, sich mit dem neuen Los zu messen und vor dem alten zu fliehen.

Herschlik trat mit einer Blendlaterne bewaffnet heraus, zählte die Menschen, liess sie sich paarweise aufstellen, öffnete die Tür, und der Menschenhaufe setzte sich in Bewegung – wie ein gespenstiger Zug des Elends, wie eine Reihe lumpenbedeckter Schatten, die sich unter der Last jenes morgigen Tages beugten, dem sie mit der ganzen Macht ihrer Hoffnung entgegenstrebten ...

Sie verschwanden alsogleich in Regennässe und Dunkel.

Aus der Finsternis der Nacht unter den vom Wind gewiegten Bäumen blitzte nur noch für einen kurzen Augenblick das Licht des Führers auf und mit dem Waldesrauschen und Pfeifen des Windes kamen aus dem dunklen Schoss dieser grauenvollen Nacht die klagenden, wie von bangen Tränen genetzten Worte des Gesanges: »Wer sich in den Schutz des Herrn begibt ...« auf die Zurückgebliebenen zugeflossen.

Im Sturm zerrissen sie und klangen wie das Aufstöhnen eines Sterbenden.

»Armes Volk! Waisen!« murmelte Jaschek, ihnen nachblickend, und ein wilder Schmerz presste ihm das Herz zusammen.

Er kehrte wieder in die Schankstube zurück, die nun vollends dunkel und stumm dalag, denn die Magd hatte das Lämpchen ausgelöscht und sich zur Ruhe begeben, in der Nebenkammer waren die frommen Gesänge verstummt und nur der Bettler schlief noch nicht, er war dabei, mit seinem Weibe die Almosengelder nachzuzählen.

»Magere Pracht! Zwei Silberlinge und fünfundzwanzig Groschen! Die ganze Herrlichkeit ... Na, mag ihnen der Herr Jesus dieses nicht nachtragen und ihnen beistehen ...«

Er redete immer noch, doch Jaschek hörte nichts mehr. Er hatte sich am dunklen Herd niedergekauert, sich so gut er konnte in seinen ausgetrockneten Bauernrock gewickelt und war gleich in einen steinernen Schlaf verfallen ...

Gut nach Mitternacht erweckte ihn ein starkes Rütteln und ein Lichtstrahl, der gerade in seine Augen fiel.

»Heh! Bruder! Steh auf! Was bist du für einer? ... Zeig' mal deine Papiere! ...«

Er wurde sofort wach; zwei Gendarmen standen vor ihm ...

»Pass zeigen!« forderte ihn zum zweitenmal der eine Gendarm auf und schüttelte ihn wie ein Strohbündel.

Anstatt einer Antwort sprang Jaschek auf und versetzte ihm einen Schlag zwischen die Augen, so dass dieser seine Blendlaterne fallen liess und zurücktaumelte, Jaschek aber stürzte auf die Tür zu und rannte davon ... Der zweite Gendarm jagte hinter ihm drein und da er seiner nicht mehr habhaft werden konnte, schoss er auf den Fliehenden.

Jaschek taumelte etwas ... stiess einen kurzen Schrei aus und sank in den Schmutz, er sprang aber sofort wieder auf und verschwand im Walddunkel.


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