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Ein König von Gottes-Gnaden!

Die Krönung in Königsberg war vorüber mit all der würdigen Prachtentfaltung, wie sie dem Monarchen eines mächtigen Staates gebührt, der seine Krone durch das legitime Erbrecht nach dem Willen Gottes erhalten.

König Wilhelm hatte in dieser Überzeugung seines göttlichen Rechtes und Berufes vom Hochaltar der Schloßkirche zu Königsberg am 18. Oktober, diesem deutungsvollen Datum für Preußen und Deutschland, die Krone genommen und auf sein königliches Haupt gesetzt, nachdem er am Tage vorher beim Empfange der Mitglieder beider Häuser des Landtags die Deutung dieser Handlung mit diesen Worten erklärt:

 

»Die Herrscher Preußens empfangen ihre Krone von Gott. Ich werde deshalb morgen die Krone vom Tische des Herrn nehmen und sie auf mein Haupt setzen. Dies ist die Bedeutung des Königtums von Gottes Gnaden und darin liegt die Heiligkeit der Krone, welche unantastbar ist.«

 

Und beim Empfang der berufenen Vertreter der Armee am Sechzehnten sprach er die inhaltschweren Worte:

 

»Von Gottes Händen ist mir die Krone zugefallen, und wenn ich mir dieselbe von Seinem geweihten Tische auf das Haupt setzen werde, so ist es Sein Segen, der sie mir erhalten wolle. Sie zu verteidigen, ist die Armee berufen, und Preußens Könige haben die Treue derselben noch nie wanken sehen. Auf diese Treue und Hingebung rechne auch ich, wenn ich sie aufrufen müßte gegen Feinde, von welcher Seite sie auch kommen mögen.«

 

Es war der alte Feldmarschall Wrangel, dem er als Vertreter der Armee bei diesen Worten die Hand reichte, und der ihm für das große Werk der Verstärkung dieser Armee durch die Reorganisation ihren Dank sagte.

Am 20. Oktober hatte König Wilhelm Königsberg verlassen, und am 22. hielt er als König und Kriegsherr Preußens hoch zu Roß, mit der Königin, die in dem achtspännigen Krönungswagen saß, nebst allen Prinzen und einem zahlreichen Gefolge durch das Frankfurter Tor unter begeistertem Jubel des Volkes seinen Einzug in die Hauptstadt seines Landes, in Berlin.


Es war am Abend des festlichen Einzugs; längst waren die Gewerke und Deputationen, die das Spalier des festlichen Zuges von der dazu errichteten Bahnhalle an der Frankfurter Chaussee bis zum königlichen Schloß gebildet hatten, nach dem großen Zug am Schloß vorüber zu ihren Ausgangsplätzen zurückgekehrt, und die Bevölkerung wogte gleich einer unermeßlichen Flut durch die in glänzender Illumination schwimmenden Straßen so massenhaft, daß an vielen Stellen kein Durchkommen blieb für die unabsehbaren Reihen der Wagen. Alle Lokale waren überfüllt, und jeder Augenblick brachte neuen Zudrang oder sandte neue Wogen daher in den Strom der Schaulustigen, die durch die Straßen auf und nieder fluteten.

Vor dem Palais des Königs hielt sich die Menschenmasse gestaut, immer hoffend und harrend, den König wieder und wieder zu sehen und zu begrüßen.

»Ists nun genug der Komödie?« sagte eine rauhe harte Stimme in das Ohr eines Mannes, der trotz des Gedränges den Platz am eisernen Gitter des Denkmals festgehalten und mit düsterer Miene auf den Jubel umher und die glänzend erleuchteten Fenster des Palais geblickt hatte, auf dessen Rampe zwischen den hohen Säulen, die den großen Altan tragen, mächtige Flambeaux brannten. »Schaun Sie diese Kanaille an, die dem neuen König von Gottes Gnaden zujauchzt, und grade heute vor 13 Jahren beriet das deutsche Parlament ohne all diese Fürsten und Könige die Grundrechte des deutschen Volkes in Frankfurt a. M., der Tyrannenknecht Windischgrätz forderte die Köpfe der besten Verteidiger der Volksfreiheit von den Wiener Bürgern, und unser Robert Blum hielt seine flammende Rede in der Aula! Schleswig-Holstein feierte seine eigene Regierung; drei Tage noch – ich fand heute zufällig meine Einladungskarte! – Und es ist der Jahrestag, daß wir beide mit in jenem Saal des Englischen Hauses, wo vor vier Wochen die schwarzweiße Reaktion tagte, auf dem Kongreß der Demokratie unter Georg Fein die deutsche Republik berieten! – Und heute, heute – sehen Sie um sich, es ekelt mich vor dieser schweifwedelnden Bourgeoisie! Kommen Sie, Freund, wir wollen frische Luft schöpfen jenseits des Brandenburger Tors!

Der fast gewaltsam aus dem Gedränge Gezogene schritt durch eine der leereren Straßen mit dem Gesinnungsgenossen dem Tiergarten zu.

»Die Bourgeoisie ist's nicht allein, die heute für ein neues Hoflieferantenschild schweifwedelt,« sagte spöttisch sein Begleiter, »gab's doch auch viele von der sogenannten Volksvertretung, die der Eitelkeit nicht hatten wiederstehen können, dem Ruf nach Königsberg zu folgen, um dort eine Rolle zu spielen; nur die Polen und wenige andere blieben ihrer Opposition treu und kamen nicht. Und nun,« – sie waren in den Tiergarten eingetreten und bogen in einen der inneren Gänge ein, wo ihnen nur wenige, die querdurch zur Stadt eilten, oder von dort zurück kamen, begegneten – »haben Sie gelesen, welchen Kommentar heute die Times sehr ungeniert zu den Worten in Königsberg über die konstitutionellen Rechte der Volksvertreter bringt?«

»Wohl! Und was wird sie zu der neuen Krönungsgabe der Provinz Schlesien, dem Dampfkanonenboot sagen, wenn der Umzug von Breslau zurückkehrt? In dieser vertrackten Provinz und in Pommern hatten wir schon Achtundvierzig die meiste Not, einen liberalen Geist hineinzubringen. Der Geist von 1813 ist leider noch immer wach, und passen Sie auf, der Hof wird es gewiß verstehen, die fünfzigjährigen Erinnerungen in zwei Jahren wach zu rufen. Zum Glück, daß es unter dem letzten schwachen Regiment gelungen ist, die Seehandlungs-Etablissements im schlesischen Gebirge zu sprengen und in die Hände unserer Freunde zu manipulieren, denn die Regierung hatte durch sie großen Einfluß auf die Bevölkerung grade der Fabrikdistrikte. Jetzt wählen diese bereits Männer wie Reichenheim oder die polnischen Kapläne; der Einfluß des Adels und der Landräte ist auch dort täglich im Sinken.«

»Das sind einzelne Erfolge, und es wird noch lange währen, ehe die Bevölkerung demokratisiert ist. Ich sage Ihnen, Berlin ist und bleibt unser bestes Terrain, wenn wir erst diese Bourgeoisie gewonnen haben, und sie ist jetzt im besten Zuge, wenn nicht ein äußerer Krieg dazwischen kommt; denn dann allerdings käme der fatale Berliner Tick dazwischen. Aber was nun? Ich denke, über die große Grundidee sind wir einig: ein allgemeines Deutschland unter liberaler Volksvertretung mit liberalen Grundrechten, vorläufig in konstitutionellen Stätchen; später eine deutsche Republik nach schweizer Muster, oder ein nationales System Cavour, und zu diesem Ende Schwächung der Hohenzollerndynastie, denn das ist die gefährlichste. Aber der Weg, der Weg dazu!«

»Die bevorstehenden Wahlen sind so gut wie in unseren Händen. Einer kompakten demokratischen Majorität in der Volksvertretung kann auf die Dauer keine Regierung widerstehen. Die Macht der preußischen Krone liegt in der Armee. Nachdem die Grundsteuer vom Herrenhause angenommen ist, konnten wir allerdings die Vermehrung und die neue Organisation dieser Armee nicht verweigern, aber die Bewilligung der Geldmittel darf nur eine provisorische sein, niemals eine definitive, oder die Macht über die Armee ist uns aus der Hand gewunden. Natürlich müssen die Forderungen der Regierung im Etat stets wichtige Abminderungen erfahren. Jede Bewilligung muß sie mit neuen Rechten an die Volksvertretung erkaufen. Indem man die Zahl der Einstellung in die Armee von der alljährlichen Bewilligung im Budget abhängig macht, werden wir in höchstens zwei Kammersaisons schon die zweijährige Dienstzeit durchgesetzt haben, die sich leicht noch herabsetzen läßt; dann haben wir ein Volksheer, nicht ein Königsheer. Durch Drängen auf bloße Selbstverwaltung der Gemeinden brechen wir die Macht einer immer von der Regierung abhängigen Bureaukratie. In der Justiz muß der Einzelrichter, der Kreisrichter souverän und unversetzbar ohne seine Zustimmung sein. Das sichert ihm den Einfluß auf das platte Land, er tritt an die Stelle des Landrats. Der Aufsichtsrat der Geistlichen über die Schulen muß aufhören: in den Kreisrichtern und den Schullehrern liegen die wichtigsten Hilfsmittel für den Liberalismus und die Heranbildung republikanischer Einrichtungen. Durch die Gewerbefreiheit ist der Handwerkerstand als Korporation schon gebrochen. Die Beschränkung des Individuums zum besten des Ganzen ist eine falsche Idee, je mehr individuelle Freiheit, desto weniger Ganzes, desto weniger Korporation, desto weniger Druck müssen wir haben. Mit zweihundert Einzelnen läßt sich mehr für die Freiheit erreichen, als mit einer Kompagnie, die als solche auftritt. Untergräbt man nun noch die religiösen Vorurteile, lockert das Institut der Ehe als ein kirchliches, macht man den Volkswohlstand von dem Stande der Börse abhängig, erleichtert und schützt die Spekulation und die Aktienunternehmen, wobei doch immer der Klügste die anderen ausbeutet – dann lassen Sie uns immerhin noch fünf, ja zehn Jahre in Deutschland Monarchen haben, ja selbst die Hohenzollern, die Habsburger, die Welfen und Wittelsbacher: ich sage Ihnen, in zehn Jahren haben wir doch die deutsche Republik, wo Jeder von uns das Recht hat, souverän zu werden von Volks und seines Verstandes Gnaden, nicht von Gottes Gnaden! Nur immer drängen, immer vorwärts drängeln, selbst mit Kompromission, denn jeder Kompromiß reißt eine Bresche in den Damm.«

Sie schritten beide schweigend weiter; so eingefleischte Republikaner sie auch waren, dem Einen mochte doch ein gewisses Grauen ankommen, an den alten Grundvesten des Königtums zu rütteln, dem andern stieg eine noch schwere Besorgnis auf, und unwillkürlich blieb er stehen. »Und wenn wir alle die Macht in die Hände bekommen, die wir für das Volk erstreben – der Jude da drüben an der Potsdamer Straße, wie denken Sie über den?«

»Über Lassalle?«

»Ja!«

» Après nous le delùge! Was kümmerts uns. Dazu behalten wir ja eben die Soldaten des Königtums, um die Kanaille im Zaume zu halten. Meinen Sie wirklich, daß er daran denkt, sich vom Terrorismus des Pöbels aus seinen seidenen Fauteuils reißen zu lassen? Es ist Komödie, die dieser Sybarit spielt. Das Volk, das Proletariat ist ihm nichts, als die Stufe für seinen Ehrgeiz. Die Plebs wird immer Plebs bleiben; es handelt sich nur darum, daß recht viele herrschen können, statt daß jetzt einzelne das Vorrecht haben. Die bloße Humanität ist ein Unsinn, und bis die Kommunisten im Parlament die Oberhand haben und die Gesetze machen, statt wir, ist's noch lange hin! Verdienen, verdienen, die Macht haben ist das Wahre!«

Er ließ den langen, rotblonden Bart durch die Finger laufen. »Kommen Sie und trinken bei mir eine Flasche Sekt; ein Pereat den Hohenzollern, aber das zweite Glas ein Pereat jeder Pöbelherrschaft!«

Er öffnete das elegante Gitter eines der Vorgärten. –

Zur selben Zeit, kaum zwei Straßen weiter, gingen zwei andere Männer, wie sie schlimme Feinde des preußischen Königtums.

Der Eine schien noch jung, höchstens dreißig Jahre alt, dem Andern schien der grau melierte Bart ein Alter von wohl fünfzig Jahren zu geben. Beide sprachen bald französisch, bald polnisch.

»Welche Nachrichten bringen Sie aus der Gesandtschaft?«

»Die besten! Die zahlreiche Cortège des Marschalls und der Pariser Arbeiterschwarm, die jetzt drüben am Platz hämmern, tapezieren und dekorieren unter den Augen der Polizei haben wenigstens das Gute gehabt, einer Anzahl der Unseren unbemerkt hierher zu helfen. Wir bringen sie spielend über die Grenze. Es wird nicht auffallen, das; sie den Hof nach Breslau begleiten, sei es als Zeitungsreporter, sei es als bloße Schaulustige oder Geschäftsleute. In solchen Tagen hat die Polizei keine Augen, und seit das Ministerium Schwerin sie mit dem Prozeß Patzke und Stieber ruiniert hat, wagt keiner, den Mund aufzutun. Ich weiß nicht, wo man augenblicklich blinder ist: in Petersburg, in Warschau oder Berlin? Alles geht vortrefflich. Die kluge Neuteilung der Wahlbezirke sichert uns im Großherzogtum mindestens sechs Plätze mehr, die Regierung in Posen überbietet sich an Schwächen. Nur der alberne Hirtenbrief des Bischof Marwitz hat uns hier und drüben über der Grenze geschadet. Aber doch schreiten wir mit den Nationalandachten vor. Przyluski und sein Domkapitel saßen bei der Predigt, die ihnen der Probst Prahinowski über die Pflichten des polnischen Klerus hielt, als säßen sie auf der Anklagebank; so lange Bonin Chef der Provinz bleibt, hat es keine Not und wir müssen diese Zeit nützen zur Bildung der Agitation und der Waffendepots an der Grenze. Das Auskunftsmittel unserer Pröbste, fremde in der Gemeinde ganz oder nur den Zuverlässigsten bekannte Geistliche, die nationalen Reden halten und gleich darauf verschwinden zu lassen, sodaß keine Anklage erhoben werden kann auf Grund der Kanzelparagraphen, war schlau gewählt. Mit solchen Wanderpredigern und den National-Andachten – gleichviel welche Namen und Tage wir wählen – wird das Volksgefühl gehoben und der Einfluß des Erzbischofs, wenn er auch wirklich den niederen Klerus beschränken wollte, brachgelegt. Wir haben nach dem Beschluß des Zentral-Komitees in Paris fast zwei Jahre Zeit zur Vorbereitung, und bis dahin hoffe ich die Organisation auch bei uns hüben so weit gediehen, daß wir zugleich mit drüben losschlagen können. Wissen Sie, daß Bakunin glücklich in England angekommen ist?«

»Ich wußte es, daß es ihm gelungen, Amerika zu erreichen, aber nicht, daß er schon in England ist.«

»Herzen jubelt darüber. Sie finden ein Packet der neuen Nummern des Krakauer ›Czas‹ und der ›Straznica‹ bei mir und können Sie mit nach der Provinz zur Verteilung nehmen; aber nun – welche Nachrichten von Warschau? Hat die russische Tyrannei neue Gewalttaten gegen die Kirche gebraucht?«

»Sie übt den am 14. über das Land erklärten Kriegszustand sehr lässig. Der neue Oberpolizeimeister Oberst Pilsudski scheint noch nicht warm geworden, Suchozanet fühlt sich nach der Abreise Lamberts nicht sicher, die Abwesenheit des Kaisers Alexander in Livadia kommt uns zu statten, grade, wie unseren Verbündeten in Petersburg und an den andern russischen Universitäten. Ein wahres Glück ist es, daß es gelang, ihren Kriegs-Gouverneur, den Tyrannen Gerstenzweig zum Selbstmord zu treiben.«

»Und wie geschah dies?«

»Sie wissen, daß er mit Lambert und Wielopolski stets auf dem Kriegsfuß stand. Man hat Lambert zu verdächtigen gewußt, und es kam zwischen beiden zu einem heftigen Auftritt. Der Selbstmord liegt in der Familie! Es ist gut, daß es gelang, bevor Lüders seine Ernennung hat, denn diese beiden an der Spitze der Regierung wären uns mit ihren Eisenköpfen in der Tat gefährlich gewesen. Das beweisen die Verhaftungen nach der Feier des Koscziuskotages, den wir überall durchgesetzt haben. Die Russen glaubten zwar, besonders schlau gewesen zu sein, daß sie die Geistlichen der Kathedrale und der Bernhardiner Kirche zwangen, ihnen nach dem Eindringen des Militärs und der Polizei in die Kirchen und dem gewaltsamen Herausholen der Patrioten schriftlich zu bezeugen, daß die Heiligtümer nicht entweiht seien und kein Sakrileg vorliegen sollte, aber die Energie Bialobrzewski's alle Warschauer Kirchen dennoch zu schließen, und selbst die Schließung der protestantischen Gotteshäuser und der Synagogen hat dies wett gemacht, und sie gaben sich bisher vergebens Mühe, die Wiedereröffnung der Kirchen zu erreichen.«

»Aber wird man nicht endlich neue Gewalttaten üben?«

»An Drohungen fehlt es nicht, Bialobrzewski erwartet täglich seine Verhaftung; aber er ist entschlossen, auch den schlimmsten Anklagen zu stehen und nur zu erwidern, er habe die Schließung der Kirchen nur deshalb verordnet, um das Absingen der verbotenen Nationallieder zu verhindern. In der Seit, seine Wahl zum Verweser war die beste, die das Kapitel vornehmen konnte. Die Verhaftung des Superintendenten der protestantischen Kirche und des Oberrabiners, so wie vieler Mitglieder des unteren Klerus genügt nicht: der Bistums-Verweser muß sein Märtyrertum erzwangen, sie können nicht anders mehr, übrigens erfolgen allmählig neue Verhaftungen es sind bereits mehr als vierhundert Patrioten nach der Zitadelle geschleppt worden, aber sie bleiben fest und gestehen nicht.«

»Aber wenn dieser Eisenkopf, General Lüders, wirtlich Statthalter werden sollte?«

»Auch dafür ist gesorgt! Schließlich ist ein Patriot bereits gefunden, der sein Leben preisgeben will, uni ihn zu beseitigen. Einstweilen werden die neuen Zwistigkeiten des Adels mit den Bauern wegen der aufgehobenen Roboten ihm genügende Beschäftigung geben.«

»Ich begreife dies nicht ganz: wenn nun die Russen die Bauern gewähren ließen, wie Sechsundvierzig die österreichische Regierung in Galizien tat – erinnern Sie sich, daß die dortigen Bauern fast vierhundert Edelleute mit Weib und Kind ermordeten!«

»Was täte es auch bei uns? Wir haben ohnehin des anmaßenden Adels zu viel; sie gehören doch alle nur zu den Weißen. Aber die Russen können nicht umhin, ihr eigenes Ablösungsgesetz gegen die Bauern aufrecht zu erhalten und so unter diesen wieder die Sympathien zu verlieren, die sich der Kaiser wirklich durch die Aufhebung der Leibeigenschaft erworben hatte. Der Bauer ist zu dumm und störrisch, als daß er unter der Ablösung nicht lieber, wie die Propaganda ihm einredet, die Aufhebung jeder Abgabe verstehen möchte! So macht das russische Gouvernement sich nach beiden Seiten verhaßt. Der reichere Adel war überdies klug genug, die Sympathien der Bauern durch die splendide Bewirtung ihrer Deputationen am Koscziusko-Tage zu erkaufen. Die russischen Schergen haben trotz aller Untersuchung nicht einmal die Veranstalter des Festmahls im Hotel de l'Europe ermitteln können. Kurz, es wird dem neuen Statthalter nichts übrig bleiben, als aus dem Kriegszustand den Belagerungszustand zu machen, und dann ist die Erbitterung allgemein, und sie werden nicht Truppen genug haben, ihn aufrecht zu erhalten.«

»Hoffen Sie nicht zu viel! Ich kenne den General und weiß, welcher Energie er fähig ist!«

»Dann, wie gesagt, haben wir ein äußerstes Mittel: Gewalt gegen Gewalt. Wenn wir uns auf die Stimmung in Posen und Galizien verlassen können, daß man die Waffen zuführen kann und den Zuzug nicht hindert, dann möge immerhin trotz aller Beschlüsse des Zentral-Komitees in Paris der Aufstand schon eher losbrechen. Nur der Schlag in Lublin macht es für den Augenblick unmöglich; 15 000 Gewehre sind zu viel Verlust. Er hat uns geschädigt, und solche Fälle müssen um jeden Preis verhindert werden!«

»Aber wie war der Verrat möglich?«

»Es ist uns bisher trotz aller Mühe nicht möglich gewesen, den Namen der Verräterin zu entdecken. Die Tat soll mit dem Selbstmord Gerstenzweigs zusammenhängen. Soviel wir wissen, wurde grade ihm der Verrat zuerst angeboten, aber der geforderte Judaslohn war ihm zuviel, oder er glaubte überhaupt nicht mehr daran. General Lüders war klüger und kümmerte sich den Teufel um das Ansehen der Zamoyski. Der Graf war nahe daran, der Anklage als Mitwisser zu verfallen, und nur die Selbstanklage seines Sohnes rettete ihn. Deshalb auch mußte er sich dessen Verhaftung schweigend gefallen lassen. Wir wissen eben nur, daß der Verrat durch eine Frau geschah, daß sie die genausten Details angab, das Geld in Empfang nahm und ebenso tief verschleiert und unbekannt entkam, wie sie im Schloß erschienen war.«

»Und der General?«

»Er ließ seinen Offizieren keine Zeit, sonst hätten wir die Gefahr zeitig genug erfahren und die Waffen fortschaffen können. Jedermann glaubte, daß die abmarschirenden Truppen von Lublin zur Verstärkung der Garnison von Warschau bestimmt wären, als sie plötzlich Contreordre erhielten, die der Hund Atschikoff überbrachte, den Marsch änderten, und in den nächsten sechs Stunden war das ganze Gut und das Kloster schon von den Kosaken besetzt, sodaß es unmöglich blieb, einen Widerstand zu organisieren oder die Waffen fortzubringen. Ich muß gestehen, das war das erste Mal, daß es den Russen gelang, ihre Maßregeln bis zum letzten Augenblick geheim zu halten. Selbst die Äbtissin, deren teuflischer Schlauheit und Umsicht doch selten etwas verborgen bleibt, erfuhr nichts, und unsere besten Spione im Brühl'schen Palais waren dupiert. Dieser Schlag und der Verrat des Schurken Asnik waren schlimme Dinge.«

»So muß man die Aufmerksamkeit verdoppeln, und keine Gnade bei dem geringsten Verrat und Mißtrauen! Der Prinz Napoleon in Paris ist eifrig bemüht, den russischen Einflüssen und den Ratschlägen Morny's bei dem Kaiser die Stange zu halten.«

»Rechnet er vielleicht auf einen Heinrich II? Die Polen haben genug gehabt an dem Verrat eines Valois und den gebrochenen Zusagen des ersten Napoleons! Der Kaiser wäre übrigens sehr zufrieden, ihn los zu werden.«

»Wir wollen die Republik! Nicht einmal einen Wahlkönig oder einen von Gottes oder der Fürsten Gnaden.«

»Das muß die Zukunft lehren; was übrigens dieses Königstum von Gottes Gnaden betrifft, so wurden mir im Gesandtschaftspalais Andeutungen, daß der Kaiser daran denkt, das Fiasko von Compiegne mit einer Erklärung über Volksrechte zu erwidern, denen er allein seine Wahl und die Krone verdanke, und die dem Artikel der Times nichts nachgeben wird. Dann und zumal, wenn die Kurie erst erklärt, daß die Kirche, wenn die Fürsten ihre Rechte nicht schützen wollen, sich mit der Revolution verbinden müßte, dann geht alle Legitimität zum Teufel, vielleicht in Rußland zuerst. Der Boden ist dort günstiger, als wir denken, und der Sozialismus wächst selbst den Republikanern dort über den Kopf.«

Der andere Pole, anscheinend der vornehmere, machte eine zweifelnde Bewegung. Dann sagte er: »Wie ist es der Äbtissin von San Rosalia gelungen, sich bis jetzt dem Verdacht der russischen Polizei zu entziehen und – ist ihr in der Tat zu trauen?«

»Sie tun da zwei Fragen in einem Atem. Grade die Keckheit, mit der sie den Schutz der russischen Behörden suchte, und ihrem Verkehr eine gewisse Öffentlichkeit gibt, entfernt jeden Verdacht. Ihr Vorgeben eines Prozesses gegen den Grafen Czatanowski hat ihr den Schutz des Rat Krautowski und das Vertrauen Pauluccis gesichert. Die Rolle, die sie spielt, ist allerdings eine schwierige, wie auch nur ein Weib eine solche Aufgabe lösen kann, aber die Dienste und Ratschläge, die wir ihr bereits verdanken, sind sehr wichtig. Überdies ist sie von Rom her aufs beste empfohlen und entbehrt auch einer gewissen Überwachung nicht.«

»Es sollte mir übrigens leid tun, wenn den Czatanowskis durch ihren wahren oder vorgeschobenen Prozeß ein Unheil entstände. Er selbst ist zwar ein Lauer und sein Sohn, der Offizier, nicht viel besser, aber der Graf ist doch ein Ehrenmann und ein guter Pole; die Schwägerin aber, die bei ihm wohnt und eigentlich die ganze Familie beherrscht, eine enragierte Patriotin und eine unserer besten Stützen an der Grenze. Sie wissen doch, daß der Graf hier ist mit seiner Tochter und dem jüngsten Sohn, um den Festlichkeiten beizuwohnen? Die Gräfin selbst war dafür, weil dergleichen allen Verdacht verbirgt.«

»Ich wußte es nicht und wünsche nur, daß, wenn es später gilt, er die Sache des Vaterlandes nicht im Stiche läßt. Wo wohnt er?«

»Im Hotel de Rome. Aber wir dürfen nichts überstürzen, wir müssen es der Gräfin überlassen, ihn nach und nach zu uns herüberzuführen. Werden Sie nach Breslau gehen?«

»Ich muß es, es trifft eine Waffensendung über Gotha und Dresden bei Baruch Lehmann ein, und ich muß sie übernehmen, ehe wir sie über die Grenze bringen, denn der verdammte Jude übernimmt das Risiko nicht. Das geht aber nur über Oberschlesien.«

»So sehen wir uns schwerlich wieder. Grüßen Sie die Freunde in Warschau, und sie möchten vorsichtig sein und von Lüders keine Nachsicht erwarten.«

Sie waren zum Potsdamer Platz gelangt, der in der strahlenden Beleuchtung der Illumination dalag und beide zur Vorsicht mahnte. Der ältere drohte hinüber nach dem Hause der Kreuzzeitung. »Mit denen da drüben haben wir auch eine Abrechnung zu halten! Der Henker hole die ganze Berliner Presse! selbst die der Demokratie, sie schadet mehr als sie nützt. Ich bin einem der Federfuchser noch aus dem Prozeß »Post« eine Lektion für seine Impertinenz schuldig, und wünschte, ich hätte ihn einmal drüben über der Grenze. Dobra noc! über Breslau erhalten Sie Nachricht, wenn ich glücklich wieder in Warschau angekommen bin!« –

Der Abendzug vom Rhein war eben angekommen; auf dem Perron wartete ein noch junger Mann in Zivil, den jedoch Haltung und Bart als Militär erwiesen, und dessen scharfes Auge die aussteigenden Fremden musterte. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte, eine Dame, deren Gesicht zwar durch den Schleier verdeckt wurde, deren linkisches Wesen aber durch die Bewegungen nur einer Hand auffiel.

Er war rasch herangetreten. »Fräulein von Marowska?«

Sie antwortete französisch. »So ist mein Name; was wünschen Sie?«

»Dann erlauben Sie, daß ich mich vorstelle und Ihnen zunächst diese Last abnehme. Ich bin der Premier-Leutnant v. Möllhoff, und Komteß Kazimira Czatanowska hat mir die Ehre erwiesen, mich zu beauftragen, da der Herr Graf bei Hofe abgehalten ist, eine Dame Ihres Namens auf dem Bahnhof abzuholen und sie durch das heute sehr große Getümmel sicher zum Hotel zu geleiten. Erlauben das gnädige Fräulein mir also, mich zu ihrer Disposition zu stellen und zunächst um Ihren Gepäckschein zu bitten.«

Die junge Polin war zwar erstaunt, sich durch einen preußischen Offizier empfangen zu sehen, aber doch zu fein gebildet, um ihre Befremdung merken zu lassen. »Es ist sehr liebenswürdig von Komteß Kazimira,« sagte sie höflich, »mir einen Kavalier zu senden, der mich der Verlegenheiten überhebt, da ich zum ersten Mal in Berlin bin und Ihre Hauptstadt, wie ich schon unterwegs zu meinem Schrecken hörte, zu Ehren des Einzugs Ihres Königs in Jubel und voller Bewegung ist. Ich darf wohl kaum fragen, wie es Ihnen gelungen, mich so rasch unter der Menge der Reisenden zu erkennen?«

Sie hatte jetzt den Schleier zurückgeschlagen und sah mit Bedeutung nach der Stelle des fehlenden Gliedes. »Selbst das Unglück hat also seine Vorteile.«

Der Offizier hatte zu viel Takt, um auf den schmerzlichen Spott einzugehen. »Der angenehme Auftrag war eigentlich nicht mir bestimmt, meine Gnädige,« sagte er, »sondern dem älteren Bruder der Komteß, doch er war noch nicht wieder im Hotel, als die Zeit drängte, und dies verschaffte mir das Glück. Aber erlauben Sie mir, Sie zur Droschke zu führen, denn ich kann Ihnen leider nur eine solche bieten, da die Equipage des Hotels bereits in Anspruch genommen und eine andere am heutigen Tage nicht zu beschaffen war.«

Er hatte ihr den Arm geboten, sie zu geleiten, und die Polin, der das ernste taktvolle Benehmen des Fremden trotz seiner Nationalität gefiel, seinen Arm genommen.

Der Premierleutnant hatte einem der Packträger den Schein gegeben, und die Nummer des Wagens bezeichnet. So führte er die Reisende zu diesem und plauderte leichthin weiter, um ihr jede Verlegenheit zu ersparen.

»Ich bin gleichfalls eigentlich nur Gast in Berlin und erst gestern wieder von Hamburg zurückgekommen, wohin ich einen Bruder geleitete. Ich hatte keine Ahnung, die gnädige Komteß hier zu finden und war erst heute mittag so glücklich, sie mit Ihrem Herrn Vater beim Einzug auf der Tribüne des Herrenhauses zu erkennen. Der Herr Graf, dem ich die Ehre habe, durch meine seinem Gute benachbarte Garnison bekannt zu sein, und dessen Sohn ein Kamerad meines jüngern Bruders ist oder vielmehr war! hatte die Güte, mich in sein Hotel einzuladen, und so wurde mir, wie gesagt, die Ehre des Auftrags zuteil, da der Herr Graf selbst verhindert war, dem jüngeren Bruder der Komteß ein solches Geschäft aber wohl nicht überlassen werden konnte, er auch ehrlich gesagt lieber unter den Linden in dem großen Trubel umherschweift. Komteß Kazimira erwarten das gnädige Fräulein mit Sehnsucht und hoffen. Sie nach den Festlichkeiten für einige Zeit mit nach Slawice nehmen zu dürfen.«

»So werde ich also dort noch Gelegenheit haben. Ihnen für Ihre Artigkeit zu danken,« sagte die Polin, »da Sie gewiß häufiger nach Slawice kommen?«

Es war wohl mehr eine hingeworfene Bemerkung als eine Frage, und der Premierleutnant vermied auch darauf zu antworten, er sah vielmehr nach dem Fiakerkutscher und befahl ihm den Weg durch die Dorotheenstraße zum Hotel zu nehmen, um nicht in die unendliche Wagenburg zu kommen, die sich die Linden entlang zog. So setzten beide schweigend die Fahrt fort, die Aufmerksamkeit nur der rechts und links flammenden Illumination zugewendet, bis sie an der Ecke der Charlottenstraße halten mußten, weil der Wagen nicht vorfahren konnte. Der Offizier war rasch ausgestiegen und bot der Polin die Hand, sie zum Eingang zu führen, vor dem eine glänzende Equipage hielt. »Kommen Sie, gnädiges Fräulein. Die Komteß Czatanowska ist doch zu Hause?«

Der Besitzer des Hotels, Mühling, stand mit dem Journalisten grade unter der Tür, die Ausfahrt eines vornehmen Gastes erwartend. » Madame la Comtesse warten in ihren Zimmern. Wollen Durchlaucht die Gnade haben?« Eine Handbewegung bat die Ankommenden, einer Dame Platz zu machen, die eben ungehört auf den weichen Teppichen von der Treppe herunterrauschte, ein alter Herr im Sürtout, unter dem auf dem schwarzen Frack Ordensband und Stern hervorschimmerten, folgte ihr, auf einen Stock und den Arm seines Kammerdieners gestützt – es war der schlesische Fürst, dem man vor wenigen Monaten im Spielsaal von Baden-Baden die kostbare Dose gestohlen hatte.

»Die Frauen sind doch wahrhaft unermüdlich, ihrer Schaulust zu fröhnen,« sagte er ironisch, »da sehen Sie, lieber Mühling, die meine muß mit Gewalt noch die langweilige Illumination in der Nähe beschauen und schleppt mich mit sich, obgleich ich hoffte, nach all den vielen Strapazen des Tages, und obschon uns dasselbe in Breslau bevorsteht, mich heute abend bei einer Tasse Tee zu erholen. Aber was kann man dagegen tun? Ah, sieh da, Herr Doktor! Freue mich, Sie zu sehen! Werden Sie auch nach Breslau gehen?«

Der Journalist entschuldigte sich mit den vielen Arbeiten, die Berlin noch böte, und verneigte sich tief vor der Fürstin, die das feine Taschentuch wie aus Unachtsamkeit zu Boden fallen ließ, während der Fürst schon davonhumpelte, um den Wagen mit Hilfe der Diener zu besteigen, und nur unterwegs noch, halb über die Achsel, zurückfragte: »Sind Sie Jäger, lieber Doktor? Habe Sie lange nicht gesehn.«

Der Journalist verneinte.

»Schade! schade! Ich hätte Sie eingeladen zu uns zur Jagd zu kommen; es soll viele Hasen geben in diesen! Jahr, wie mir meine Förster melden. Für mich ists freilich nichts mehr, die fatale Gicht verleidet mir jedes Vergnügen, das Anstrengung erheischt. Nun, auf Wiedersehn im Frühjahr!« Er saß bereits glücklich in den Seidenpolstern.

Der Journalist hatte das Tuch überreicht.

»Etwas Neues für mich, Doktor?«

Er bemerkte, daß ihr Auge während der Frage bereits starr nach dem Ausgang hinübersah, aber nicht nach dem Gatten im Wagen, sondern nach zwei Personen, die eben hinter dem Premierleutnant und der Polin eintraten, und von denen die eine dem Erstgenannten bereits die Hand bot.

»Sie also auch hier, Herr von Möllhoff? Es freut mich. Sie zu sehen!«

»Und mich gleichfalls, Herr Hauptmann! Wir trafen uns seit dem traurigen Schmugglerabend zu Strzalkowo, bald nach dem Tode des hochseligen Königs, nicht mehr. Erlauben Sie mir, Ihnen Leutnant Graf Czatanowska vorzustellen. Sein Papa, den Sie an jenem Abend kennen lernten, und die Komteß befinden sich gleichfalls hier. Hauptmann Krüger vom Stab in Posen, Herr Kamerad!«

Die Vorstellung klärte den Journalisten sofort über die Richtung auf, welche die Augen der Fürstin genommen hatten. Sie erwiderte jedoch kalt und unbefangen die ehrerbietigen Grüße der beiden Offiziere.

Der Journalist hatte auf die Frage der Dame eine verneinende Antwort gegeben und war zurückgetreten. Die Stimme des Fürsten vom Wagen her unterbrach übrigens die Szene.

»Nun, ma chère, wenn es Ihnen gefällig ist – ich warte!«

Mit einer graziösen Verbeugung rauschte die schöne Frau hinaus und sprang leichtfüßig, ohne der Hilfe des Wirts zu bedürfen, über die Tritte in den Wagen. »Lassen Sie uns immer den Tee bereit halten, Herr Mühling,« sagte sie, noch einmal bedeutsam den Blick in den Flur zurückwerfend. »Länger als zwei Stunden hält es der Fürst doch nicht aus. Was tun Sie dort mit dem Kinde?«

Die Frage galt dem Portier, der, während der Diener des Fürsten sich zum Kutscher auf den Bock schwang, einen Straßenjungen, der sich keck mit den Pferden zu schaffen gemacht, etwas unsanft bei Seite schob.

»Ein naseweiser Bengel, Durchlaucht! man kann nicht genug auf die freche Bettlerbrut aufpassen,« sagte entschuldigend der Mann. »Vorwärts, Johann, da ist eben eine Lücke im Zuge!« Er winkte dem berittenen Schutzmann vertraulich zu, der die Ordnung aufrecht hielt und gegen das Zwischenfahren der Equipage Einspruch erheben wollte, und drohte dem verscheuchten Knaben mit der Faust.

»Mach', daß Du fortkommst, Bengel, oder ich rufe die Polizei!«

Der Knabe war trotzig stehen geblieben und hatte den anrückenden Pferden nachgeschaut. Jetzt wandte er sich zu dem Portier zurück und stemmte den Arm in die Seite. »Ich bin keine Bettlerbrut und kein Bengel, Mann,« sagte er energisch. »Ich habe dem Handpferd nur das linke Hinterbein über die Zugleine zurückgehoben, was Sie zu tun versäumt hatten, als es ausschlug. Wahrscheinlich verstehen Sie von Pferden nichts, deshalb brauchen Sie aber nicht gleich grob zu sein gegen Leute, die es besser wissen!«

»Narr! was versteht ein Knirps, wie Du, von Pferden? Pack Dich, oder ich rufe den Schutzmann.«

Es war ein hübscher, kecker Junge von etwa neun Jahren, der dem Mann hier Gegenrede bot, anscheinend ein echtes Berliner Kind, obschon sein Dialekt etwas Fremdartiges hatte. Das Gesicht war stark gebräunt von Wind und Wetter und hatte etwas Freches, Vagabondenartiges, obgleich bei näherem Anschauen die Züge sich fein und wohlgebildet erwiesen. Das blaue Auge war mehr kühn wie dreist, die Stirne frei und, wo sie von der Kopfbedeckung gegen Luft und Sonne geschützt gewesen war, aristokratisch weiß und durchsichtig, die Nase war von schöner Form, adlerartig, das reiche Lockenhaar, das sich bis aus die Schulter ringelte, braun und glänzend, die Hände waren, trotz der Beschäftigung, deren sich der Bube rühmte, überaus zart und weiß. Dagegen zeigte die fast dürftige Kleidung, daß der Bursche den niedern, wenigstens den ärmsten Stünden angehörte, obschon sie etwas Kokettes und Phantastisches hatte: eine Art Stalljacke, am Kragen mit einer verblichenen Goldtresse besetzt und offenbar für ihn nicht gemacht und viel zu weit, eine grüne Tuchhose mit roten Galons und Mädchen-Stiefeletten. Dazu trug er eine kleine Sammetkappe mit alter Goldtroddel.

Der Hotelbesitzer war mit dem Journalisten auf die Vortreppe getreten, nachdem er die Offiziere einstweilen in den Salon gebracht hatte und die Polin von ihrem Begleiter zum zweiten Stock geführt worden war.

»Lassen Sie den Knaben gehen,« sagte er zu dem Portier, »an einem solchen Tage hat jeder das Recht auf Freiheit und Freude. Und wenn Du zufällig Appetit haben solltest, mein Junge, – denn zu den Millionären scheinst Du grade auch nicht zu gehören, – so melde Dich in der Küche unten und sage, ich hätte befohlen. Dir ein tüchtiges Stück Braten und eine Flasche Bier dazu zu geben.«

» Mille merci, monsieur!«

»Was der Henker – wo hast Du den französischen Brocken aufgeschnappt?«

»Mein Geschäft, Sir. I spooken auch Englisch!«

»Den Teufel auch! Und was, wenn man fragen darf, ist Dein Geschäft?«

Statt der Antwort machte der Junge ein Saltomortale, bei dem ob aus Bosheit oder zufällig sein Fuß ziemlich dicht an der Nase des Portiers vorüberstreifte.

»Ich bin freier Künstler, Monsieur, das heißt gegenwärtig außer Engagement! Ich bin so frei, Ihre Einladung anzunehmen, denn in der Tat, ich habe großen Appetit und eine sehr leere Tasche!«

»Wie heißt Du, mein Kind?«

Der Kleine blies sich auf. »Carl Hrotek, so nennt mich meine polizeiliche Legitimation, aus Nachod in Böhmen, sonst Carlo Carlini das Wunderkind, auch Charles le fils de l'air, auch genannt die Luftkugel!«

»Das ist ein großer Name und ein sehr kleiner Bursche. Also, Herr Carl Hrotek, oder Monsieur Charles, oder Signor Carlini – wo pflegen Sie denn Ihr müdes Haupt niederzulegen?«

Der Knabe kratzte sich in den Haaren. »Ach Herr,« sagte er kläglich, »um die Wahrheit zu gestehen, seit ich bei Wollschläger wegen einiger kleinen Unregelmäßigkeiten aus meiner Lieblingsbeschäftigung fortgejagt worden und dem Tänzer Cotrelly davon gelaufen bin, weil er unter dem Vorwand, ich würde zu groß und fett, mir nichts mehr zu essen gab, ist mirs schlimm gegangen. Ein armer Bursche, der weder Vater noch Mutter hat, selbst unter den Zigeunern nicht, und auf sich selbst und sein Genie angewiesen ist, bis er alt genug geworden, um Püffe mit Püffen und Ohrfeigen mit Faustschlägen zu vergelten, ist schlimm daran, wenn er sich nicht aufs Mausen verlegen will. Eine Gans oder ein Huhn, Herr, das achtet man nicht, aber – auf Wort, Herr, – ich habe noch niemals etwas anderes gestohlen! Und deshalb bin ich in meinem Äußeren etwas heruntergekommen, sonst hätte ich wohl eine Zivilanstellung erhalten, denn ich bin anstellig und nicht ohne Geschick!«

Der Besitzer des Hotels lachte. »Nun, vielleicht läßt sich dafür sorgen. Ich glaube der Kutscher der Durchlaucht, die eben zur Illumination fuhr, braucht eben eine Art von Groom oder Stalljungen. Wenn die Herrschaft zurückkommt, will ich mit dem Mann selbst sprechen. Und wie alt bist Du, mein Sohn?«

Der Kleine zog auf komische Weise die Achseln bis zu den Ohren. »Ja, Monsieur, wer das wüßte! Von meinem Pflegevater, dem ich die Mausefallen und Pfropfenzieher trug, hörte ich, daß ich damals drei Jahre gewesen, ein Jahr lang war ich bei den Akrobaten als Kind der Luft; dann lernte ich Seiltanzen, und zwei Jahre im Marstall bei einem wandernden Dorfzirkus – ich denke, ich muß jetzt neun Jahre zählen, also, um Seiner Majestät dem Kaiser Franz Joseph zu dienen, fehlen mir noch verschiedene Zoll und Jahre.«

Dem wohlwollenden Mann, hinter dem bald sein Oberkellner und der Portier standen, gefiel der gute Humor des Kleinen.

»Nun wohl, mein Junge – ich denke, wir wollen morgen weiter sehen; einstweilen rufen mich meine Geschäfte, und ich hoffe. Du wirst wohl heute ein Nachtlager in der Kutscherstube finden. Sorgen Sie dafür, Henry! Und daß es den Herrschaften in Nr. 24 an nichts fehlt und für Se. Durchlaucht den Fürsten bei Zeiten der Tee serviert wird.«

Er kehrte in den Salon zurück, wo sich bereits die drei Offiziere wieder zusammengefunden und der junge Graf Czatanowski eben Champagner bestellt hatte.

»Es ist zu langweilig bei den beiden Mädchen, die zusammen nur drei Arme haben,« sagte der junge Graf, »und der Bengel Walery zu naseweis und unverschämt in Abwesenheit des Vaters, als daß man ihn nicht jeden Augenblick hinter die Ohren schlagen sollte. Sie haben den klügsten Teil erwählt, Herr Kamerad, als Sie sich empfahlen, nachdem Sie diese Schwärmerin abgeliefert hatten. Hol's der Henker, ich – bin zwar auch ein guter Pole, aber diese Märtyrerin ihres Patriotismus ist ja noch fanatischer als meine Tante Oginska. Wie denken Sie über die Sache, Herr Kamerad?«

Der Hauptmann zuckte die Achseln. »Ich bemühe mich, mich nur mit meinen Dienstpflichten zu beschäftigen und denke wenig an die politischen Fragen.«

»Zum Henker! Sie kommen von selbst aus jeder Rocknaht, um uns das Leben zu verbittern. Der Teufel hole alle Politik – Pferde, Wein und Weiber sind das einzige, was der Mühe wert ist. Wenn mich heute der Kaiser von Rußland zum General machte, könnten meinetwegen alle Patrioten gehängt werden. Ein preußischer Husarenoffizier ist mehr wert als fünfzig Rebellen und – beiläufig gesagt!« – Er wandte sich zu dem Premierleutnant, – »ich habe es Ihnen noch keinen Augenblick verdacht, daß Sie den Narren, meinen Vetter, vom Pferde hieben. Nur, daß ich den Mund halte vor meiner Tante, die leider in unserem Hause das Regiment führt und meinen Papa unterm Kommando hat, wenn er es auch noch so sehr leugnet.«

Dem Premierleutnant schien die Erwähnung unangenehm, der Hauptmann hatte kaum darauf gehört, er saß in leisem Gespräch mit dem Journalisten.

»Ich wünschte, Ihr Bruder Konrad hätte nicht den dummen Streich gemacht, wegen der lumpigen Bagatelle von Schulden seinen Abschied zu nehmen,« fuhr der junge Graf fort, »die Kanaillen, die Wucherer mögen warten! oder Prinz Hatzfeldt käme! Er versprach, mich hier, da sein Alter doch hier logiert, zu treffen. Prinz Stanislaus ist ein prächtiger Kamerad, und daß es ihm an Schneid nicht fehlt, wird er sicher noch einmal beweisen. Der Fürst, sein Vater hält ihn nur gar zu kurz und war doch selbst ein Lebemann. Was erzählten Sie doch soeben von dem närrischen Jungen, lieber Mühling? Wahrhaftig, den Burschen könnte ich brauchen, wenn er einen anständigen Groom spielen, meinetwegen auf der Ritsche ein Pferd zäumen, Liebesbriefe bestellen und meiner Tante auf zwanzig Schritt aus dem Wege gehen kann, denn – ich zanke mich nicht gern!«

»So wäre dem Burschen ja geholfen!«

»Stellen Sie ihn mir morgen vor. He, Walery, was soll die Unverschämtheit? Du gehörst in die Kinderstube, nicht unter Männer!«

Der jüngste Sohn des Grafen Czatanowski, der würdige Gymnasiast Walery, der einige Augenblicke vorher sich ungeniert eingefunden und an dem Tisch Platz genommen hatte, schenkte das angetrunkene Glas Champagner wieder voll. »Eben darum scheint es, hat man Euch von drüben fortgeschickt. Der Papa ist da, und die heilige Wanda hat ihn sogleich in Beschlag genommen und von Familiengeschichten gesprochen. Als ob man davon nicht zur Genüge hörte bei Tante Helene in Slawice. Kazimira ist mit der Einarmigen ein Herz und eine Seele, und da hatte ich gar nichts dawider, als der Papa mich fortschickte nach Dir, daß Du hinüberkommen möchtest.«

Der ältere Bruder, so leichtsinnig er sonst auch war, hatte doch mit unverhohlener Mißbilligung den Frechen angesehen. »Wenn Du Dich als den polnischen Patrioten aufspielen willst,« sagte er ernst, »so solltest Du doch Achtung vor dem Unglück einer Dame haben, die aus wahrem Patriotismus sich geopfert hat, um einen unserer Verwandten zu retten. Fräulein von Marowska ist in Wahrheit eine zu achtungswerte Person, um von einem vorlauten Bengel, wie Du bist, beleidigt werden zu können. Entschuldigen Sie, meine Herren, daß ich Sie für einige Augenblicke verlasse, da, wie Sie eben hörten, der Graf, mein Vater, meine Gegenwart verlangt. – Kellner! Eine andere Flasche – und für diesen jungen Menschen, etwas Selters- oder Zuckerwasser!«

Er hatte sich erhoben und beurlaubte sich von den anderen Herren, der Gymnasiast brummelte zwar allerlei Frechheiten, aber er wagte doch nicht, sie offen zu sagen, denn er kannte seinen älteren Bruder, und wußte, daß mit diesem in solcher Beziehung nicht zu spaßen war. So nahm er die Gelegenheit wahr, noch ehe die bestellte Flasche gebracht worden, sich stillschweigend zu drücken und sich unter das Gewühl vor der Tür zu mischen.

Im Salon der zweiten Etage, den der Graf Czatanowski nebst den zwei anstoßenden Schlafzimmern bei dem Gedränge der Fremden allein noch hatte erhalten können, saß er selbst mit Komteß Kazimira und der jungen Märtyrerin.

»Der heiligen Jungfrau sei Dank, daß Sie glücklich zurückgekehrt sind von dem traurigen Werk, denn Sie sich unterzogen: der Sühne für jenen schändlichen Mord an meinem unglücklichen Verwandten,« sagte der Graf; »denn ich kann und will die Tat nicht anders nennen, trotz allen Verdächtigungen des Armen. Um so mehr danke ich Ihnen und dem wackeren Langiewicz, daß Sie seine Ehre und seinen Patriotismus auch vor dem polnischen Zentral-Komitee in Schutz genommen haben. Wenn Männer wie er, rein und edel, einem bloßen Verdacht blinder Fanatiker hingeopfert werden können, dann, liebes Fräulein, steht es – schlimm mit unserer Sache, und kein ehrlicher Patriot kann sich entschließen, ihr zu dienen auf Kosten seiner besseren Gefühle.«

Fräulein von Marowska hatte die Stirn gesenkt und die Rechte über die Augen gelegt.

»Der Verräter Asnik,« sagte sie mit schwerem, dumpfen Ton, »ist nur der geringere Schuldige, der seinen Manen fallen mußte. Schwerere und gewichtigere Opfer, die jetzt für die Befreiung des Vaterlandes noch nötig sind, müssen ihnen zur Sühne werden, wenn sie erst der Sache vollends entbehrlich oder ihr untreu geworden sind, wie jener Verräter. Fragen Sie mich nicht darüber, Herr Graf, aber seien Sie überzeugt, daß das Blut meines hingemordeten Verlobten nicht ungerächt bleiben wird. Wanda Marowska ist eine getreue Tochter Polens, aber sie ist auch die Verlobte Hippolyt Oginski's. Ich danke Ihnen, daß Sie hierher gekommen sind, mir auf meinem harten Wege zu begegnen. Ich habe ein Vermächtnis au Sie, und es drängte mich, es in Ihre Hände niederzulegen, ehe ich meine schwere Pflicht weiter verfolge. Und dennoch, Herr Graf, weiß ich kaum, ob ich gut und recht daran tue, selbst um der Sache Polens willen.«

»Was es auch sei, Fräulein,« sagte der Graf, »Sie müssen dem Gesetz der Ehre und Pflicht in Ihrer eigenen Brust folgen, ohne Menschenfurcht und irdische Rücksicht.«

Der junge Graf war unterdessen eingetreten und hatte auf seinen Wink am Tische Platz genommen.

»Sprechen Sie ungescheut, Fräulein Marowska,« sagte der ältere, »ich habe vor meinen Kindern in der angedeuteten Sache kein Geheimnis.«

»Ich fürchte,« bemerkte die junge Polin, »man beabsichtigt einen Angriff auf Ihr Vermögen, man will Ihnen den Besitz von Slawice und von zwei andern Gütern streitig machen!«

»Ich weiß – ich weiß – ein Warschauer Advokat hat mir geschrieben – im Auftrag einer Äbtissin aus Italien, einer geborenen Gräfin Zerboni.«

»So ist es, Herr Graf! Der Mutter Mathildis, Äbtissin des Klosters Santa Rosalia im Neapolitanischen oder dem sabiner Gebirge.«

»Die gute Dame ist beiläufig eine ziemlich nahe Verwandte meiner Schwägerin, die Sie in Slawice kennen lernen werden, der Tante Ihres gemordeten Verlobten. Nach der Mitteilung des Advokaten behauptet sie in dritter Generation in weiblicher Linie von dem Sohne des berühmten Großhetmann von Litthauen, Grafen Michael Oginski, abzustammen, der 1799 verstarb.«

»So hörte ich, Herr Graf.«

»Und sie hat die Beläge ihrer Abkunft auch bereits bei den Warschauer Gerichten deponiert, um sich durch die russische Gesandtschaft mit der preußischen Justiz in Verbindung zu setzen; ihre Hoffnung auf meine Güter scheint also nicht am Widerwillen gegen die russischen Behörden zu scheitern.«

»Ich möchte wünschen, Herr Graf,« sagte die junge Polin, »daß Sie die Sache nicht so leicht nehmen möchten – die Frau Äbtissin dünkt mich nach der geringen Kenntnis, die ich von ihrem Charakter gewonnen, eine gefährliche Gegnerin und hat in Warschau großen Einfluß bei allen Parteien.«

»So, also Sie kennen sie persönlich?«

Die Verstümmelte nickte.

»So ist es, Pan; ich kenne sie, und Graf Hippolyt kannte sie – leider auch!«

»Ich verstehe dieses Bedauern nicht recht. Jedenfalls muß ich die Einleitung einer Klage mit wohl ziemlich schwer zu erweisenden Ansprüchen auf mein Eigentum bei den preußischen Gerichten erwarten – wenn …«

»Bitte, Herr Graf!«

»Wenn es der römischen Äbtissin nicht etwa bloß auf eine anständige Abfindungssumme ankommt, über die sie, offen gesagt, uns bereits einen Wink hat zugehen lassen!«

»Wie, Papa? Davon hast Du noch gar nicht gesprochen?« sagte der Offizier. »Was ist es überhaupt mit diesem Anspruch?«

»Du hast ziemlich wenig Zeit und Sinn für ernste Geschäfte, lieber Ignaz,« sagte mißbilligend der Graf, »es sei denn für Ausstellung gewisser geschäftlicher Papierstreifen, und so hielt ich es nicht für zweckmäßig, mit Dir bereits über diesen Prozeß zu sprechen, der allerdings den besten Teil unserer Familienbesitzungen bedrohen würde, wenn der Anspruch bewiesen werden könnte.«

»Aber dies kann er sicher nicht. Halte mich nicht für so leichtfertig, über meine eigenen Interessen unbesonnen zu denken. Willst Du mir nicht wenigstens tu allgemeinen Zügen die Natur dieses Anspruchs mitteilen? Kazimira denkt gewiß wie ich!«

»Sehr gern,« sagte der Graf, »und es sollte mich freuen, bei Dir zu wenig Ernst für ein Besitztum vorausgesetzt zu haben, das bestimmt ist, früher oder später das Deine zu sein und das seit mehr als hundert Jahren unserer Familie gehört. Denn der große Grundbesitzer darf nicht blos ein Verzehrer seiner Ernten und Pachtzinsen sein, er soll auch ein wirkliches persönliches Interesse an seinem Grund und Boden haben und für die darauf wohnende ländliche Bevölkerung, die ihm von seinen Vorfahren überkommen ist. Darin besteht eben eine Aufgabe des wahren Adels, ob er deutschen oder polnischen Ursprungs sei!«

Die Komtesse hatte die Hand ihres Vaters genommen und sie zärtlich geküßt. »Möge die heilige Jungfrau geben, Papa, daß uns noch lange das Unglück fernbleibe, in Dir nicht mehr das Haupt unserer Familie sehen zu können.«

»Ich weiß, daß es Dein aufrichtiger Wunsch ist und daß Ignaz eben so denkt. Auch für Walery wird es gut sein, und vielleicht für viele andere, wenn mir Gott noch einige Jahre das Leben fristet. Aber um auf die Sache zu kommen, um die es sich hier handelt: Ihr wißt, daß zwischen den Familien Oginski und Czatanowski vielfache Familienverbindungen stattgefunden haben, schon in alter Zeit, als noch Polen in den Grenzen des Jagellonenreichs bestand und vor dem Kampf gegen die Sapiehas, der bei Okolnik so unglücklich für die Oginskis endete.«

»Ich erinnere mich, Vater. Die Gattin des Großhetmann von Wilna war eine geborene Czatanowska, und auch die seines Sohnes. Seine Enkelin Wanda heiratete einen Nachkommen unseres Urgroßvaters.«

»Den Grafen Ludwig Czatanowski, im Jahre 1807. Da hast Du ja die ganze Stamm- und Heiratstafel, die Du zu dem Prozeß brauchst. Mein Großvater, also Euer Urgroßvater, war 1733 geboren, demnach ein Zeitgenosse des Großhetmanns von Litthauen und sein treuer Jugendfreund. Doch hielt er sich damals vor der ersten Teilung Polens von dem politischen Kämpfen fern und diente sogar unter dem großen Preußenkönig. Ehe der Krieg gegen Rußland unter Suwaroff ausbrach, der 1771 mit der Niederwerfung Polens und der ersten Teilung endete, übertrug der Großhetmann Michael die Güter, die seine Familie und zuletzt er selbst im Großherzogtum durch Heiraten besaß, durch Vertrag oder Kauf an seinen Jugendfreund, Deinen Urgroßvater. Der unglückliche Ausgang des Kampfes der Republik mochte ihm vielleicht vorschweben, oder er brauchte zu diesem Geld. Kurz, bald nach dem siebenjährigen Kriege befand sich unsere Familie bereits im unzweifelhaften Besitz von Slawice und dem der beiden anderen jetzt angefochtenen Güter.«

»So habe ich es immer gehört.«

»Die Ahnung hatte den Großhetmann nicht getäuscht; mit der Niederlage der Republik und dem Siege. Rußlands wurde auch das ganze Vermögen des Großhetmannes konfiziert, doch wurde er 1776 amnestiert, ohne die Güter im Herzogtum wieder zu erhalten oder auch nur zu beanspruchen. Auch sein Sohn Michael, der eine Tochter Deines Urgroßvaters, Wanda Czatanowska, heiratete, hat sie niemals reklamiert. Nun kommt eine Enkelin von ihm: die Äbtissin Mathilde Zerboni, mit einem Anspruch auf die vor länger als hundert Jahren von ihrem Urgroßvater an die Czatanowskis verkauften oder durch Familienvertrag abgetretenen Güter und beansprucht diese auf Grund eines Testaments, worin der Sohn des Großhetmanns die ganze Erbschaft seines Vaters, deren Besitz ohnehin wieder nach dem Aufstand Koscziuskos, an dem er teilnahm, durch zweite Vermögenskonfiskation sehr problematisch war, auf die weibliche Linie übergehen und an die jüngste Tochter in dritter Generation fallen soll, und das wäre dann die Frau Äbtissin, die aus Rom hierher geschickt worden ist, um das Erbe für den Stuhl Petri zu requieren. Das ist der Klage- und Tatbestand, so weit er mir bis jetzt bekannt geworden ist, und, wie gern ich auch Gerechtigkeit gegen die Familie Oginski zu üben bereit bin: was mir Fräulein Marowska, ja, auch unsere Verwandte von meiner Mutter her, wohl bestätigen wird, so fehlt doch von vornherein das Fundament des ganzen auch sonst sehr anfechtbaren Anspruchs: der Vertrag Eures Urgroßvaters mit dem Großhetmann Michael.«

»Wenn die Sache weiter keine Begründung hat,« sagte lachend der Offizier, »so wird sich wohl die römische Klerisei an Slawice den Magen nicht verderben, obschon sie bekanntlich einen sehr großen hat. Und was hast Du dem Warschauer Advokaten geantwortet?«

»Was mir mein alter Freund, Justizrat Walleiser in Schrimm riet: nichts! Mögen sie ihr Recht bei den preußischen Gerichten suchen – ich werde jedenfalls das meine verteidigen. Deshalb bin ich außer, um dem Einzuge der königlichen Herrschaften beizuwohnen, auch nach Berlin gekommen, um hier die Ansicht eines zweiten Rechtskundigen zu hören.«

»Hol der Henker die fromme Klosterfrau, daß sie mir auch nur auf einen Augenblick die gute Laune verderben konnte! Das Eigentum der Oginski ist zwei- oder dreimal vom Staat konfiziert, und unsere Güter liegen ohnehin im Preußischen. Nicht eine Kopeke würde ich für den Schwindel herausgeben, der nur der Rebellion zugute kommen würde.«

»Die Einarmige sah ihn strafend an. »Nennen Sie die heilige Sache Polens einen Schwindel, Herr Leutnant?« fragte sie, »ich hoffe, Ihr eigener Vater denkt anders darüber, und ich bedaure ihm gegenüber, daß grade ich berufen sein soll, seine Sicherheit zu stören!«

Der alte Graf sah sie erstaunt an. »Was meinen Sie damit, liebe Wanda? Ich sagte Ihnen bereits. Sie dürfen nur die Ehre und Ihr Gewissen zu Rate ziehen!«

»Dann, Herr Graf, muß ich Ihnen dies Papier übergeben, das sonst Ihrem Neffen, meinem Verlobten, gehört hätte, und das erst jetzt in meine Hände gekommen ist.«

Sie war aufgestanden und hatte ihre Schreibmappe geöffnet, aus der sie ein ziemlich vergilbtes Papier zog. »Es ist, wie ich sagte, auf ziemlich seltsame Weise in meine Hände gelangt, durch den Knaben, der mich nach Paris begleitete, und der es aus einem alten Soldatenranzen nahm, der seinem Großvater gehörte. Dieser wurde zugleich mit meinem Verlobten im Februar vor dem Bernhardiner Kloster verwundet und starb dort in derselben Stunde, wie er!«

Und sie erzählte mit einfachen Worten das Ende des greisen Fahnenträgers Lagienki, des treuen Dieners und Patrioten.

»Der Knabe Janko,« fuhr die Marowska fort, »hatte den alten Ranzen, von dem der Greis ihm auf dem Totenbett sagte, heimlich zertrennt und in seinem doppelten Boden dieses Papiers gefunden, von dessen Bedeutung er nichts verstand, das er aber in meine Hand gelegt hat. Die Mutter Mathildis suchte nach einem solchen Papier und bemühte sich, den Greis auf seinem Sterbebette noch auszuforschen, ob er von seinem Vorhandensein wüßte. Aber der Greis und der Knabe schienen kein Vertrauen in sie zu setzen und der letztere sie geradezu zu hassen.«

Der Graf hatte die Hand nach dem Dokument ausgestreckt, das die Marowska ihm reichte, aber er zögerte noch, es zu entfalten.

»Also die Äbtissin forschte und suchte grade nach diesem Papier, meinen Sie?«

»Ja, Pan!«

»Dann mußte sie von dessen Existenz wissen aus jenen Mitteilungen, auf die sie überhaupt ihre Ansprüche gründet, und die wahrscheinlich aus den Papieren des Großoheims Ihres so schändlich gemordeten Verlobten herrühren, des Großschatzmeisters Kleophas Oginski, der in Rom starb, und dessen Nachlaß in die Hände der Jesuiten gefallen sein mag. Der Orden ist von alters her schlecht genug auf unsere Familie zu sprechen, weil sie seinen schlimmen Intriguen 1723 in Thorn entgegentrat und, obschon gut katholisch, die Rechte der polnischen Dissidenten gegen die Bischöfe Sotyk von Krakau und Massalski von Wilna verteidigte. Die Gesellschaft Jesu vergibt nie einen Widerstand und verfolgt ihren Haß durch Jahrhunderte. Doch lassen Sie mich den Inhalt prüfen.«

Er las das Papier, erst ziemlich gleichgiltig, dann aber mit steigender Aufmerksamkeit und fuhr mit der Hand ein paarmal über die Stirn. Dann las er es unter der ängstlichsten Spannung seiner Kinder zum zweitenmal.

»Was Sie mir da anvertraut haben, Fräulein Marowska,« sagte er endlich, »ist in der Tat wichtig, und könnte in der Hand der Äbtissin zu vielem Unheil führen, wenigstens den Prozeß sehr in die Länge ziehn und die Advokaten bereichern!«

»Was enthält diese Schrift denn?« fragte ungeduldig der junge Offizier.

»Es ist der Originalvertrag zwischen Deinem Urgroßvater und dem Großhetmann von Litthauen, in dem der erstere bekennt, gewisse Güter von dem anderen in Versatz oder übertragen erhalten zu haben und sich unter gewissen Voraussetzungen zu deren Rückerstattung oder Wertersatz verpflichtet. Die Sache ist mir noch nicht ganz klar, denn es ist keine Verfallzeit und kein Termin der Rückgabe genannt.«

»Dann ist das Recht daran längst verjährt, Vater!«

»Der alte Graf sah ihn mißbilligend an. »Unter Ehrenmännern, mein Sohn, verjährt niemals eine Verpflichtung,« sagte er stolz. »Das einzige, was dieses Dokument zweifelhaft macht, ist … Doch da Sie in jedem Fall den Gerichten die Kenntnis dieser Schrift nicht entziehen dürfen, wäre es unvorsichtig sich über seinen Wert oder Unwert vorher auszusprechen. Darf ich Abschrift davon nehmen?«

»Gewiß, Herr Graf! das Papier ist mir als Erbin meines Verlobten, übergeben, nicht Ihrer Gegnerin.«

»Und Sie gestatten, daß ich von dem Papier eine notariell beglaubigte Abschrift nehmen lasse? Ich sage Ihnen offen, daß mir grade das Beglaubigte des speziellen Wortlauts von Wichtigkeit ist! Sie werden das Original-Dokument zurückerhalten, noch bevor ich Sie Ihrem Wunsche gemäß, über die Grenze zurück nach Warschau geleite, wenn Sie darauf bestehen, dahin zurückzukehren, um als Pflegerin in das große Krankenhaus einzutreten.«

»Ich wünsche mir keinen anderen Beruf. Es ist das einzige, womit ich der Sache meines Vaterlandes noch nützen kann.«

»Ich bewundere und – bedauere Sie! Sie wissen, daß Wanda Marowska, die Verlobte Hipolyts, in meiner Familie stets eine herzliche und teilnahmsvolle Aufnahme finden wird. Möge diese Versicherung Ihr schweres Geschick, mein armes Kind, lindern helfen.«

Man sah, wie die Verstümmelte in ihrem Innern kämpfte, wie sie so gern ihrem Herzen Luft gemacht hätte und mit Gewalt ihre Gefühle unterdrückte. Plötzlich stand sie auf, warf sich vor dem Grafen in die Kniee und küßte seine Hand. »Versprechen Sie mir, nie an mir zu zweifeln?«

»Ich will es niemals tun«, sagte der Greis, »unbeirrt sollt Ihr beide Euern Weg gehen, auch Du, Kazimira, mein Kind, und möge Gott der Herr alles zu Euerem Besten wenden! an mir, Kazimira, soll es nicht liegen. Was sind blinde Vorurteile und fanatischer Haß gegen die Macht des warmen Herzens!«

Der Knabe Walery riß eben in seiner ungestümen, frechen Weise die Tür auf: »Der Leutnant von Möllhoff will Euch Gutenacht sagen!« schrie er, und hereinstürzend fuhr er auf die Schwester zu. »Er ist ein ganz hübscher Bursche, Mire,« raunte er ihr zu, »aber kriegen sollst Du den verdammten Deutschen doch nicht, dafür werden ich und die Tante sorgen.«


Als die beiden Vertreter der Opposition im Publikum und der Landesvertretung ihren Platz am Gitter des Denkmals gegenüber dem königlichen Palais verließen, um in den ungestörteren Gängen des Tiergartens weiter zu politisieren, wandte sich unwillig ein Mann, der, von der Menge auf seinen bisher behaupteten Platz gepreßt, die haßerfüllten Worte des Radikalen hatte anhören müssen, drohend gegen den Fortdrängenden, als wolle er ihn am Kragen fassen und festhalten.

»Hei spreckt ganz vertraktes Tüg, de Rebell, Herr Leutnant! Hebben Se nicht hürt? So'n verdunnerte Mulap will von't königlich preußsche Militör reden!«

Es war ein stattlicher Gardist, der wohl seine zwölf Zoll maß und über die Köpfe der Meisten hin auf diese Weise seinem Groll Luft gemacht hatte. Er gehörte offenbar zu einer kleinen Gesellschaft, die sich fest zusammenhielt: drei Männer und drei Mädchen von sehr verschiedenem Stand und Aussehen: neben dem Gardemann in seiner Uniform ein großes kräftiges Mädchen in ländlicher Tracht, die, obschon des Auffallenden entbehrend, doch für den Kundigen auf ihre Heimat, Ravensberg, schließen ließ. Neben ihnen ein junger Mann mit keckem blonden Schnauzbärtchen und einem gewissen militärischen Applomb, ein sehr hübsches und frisches junges Mädchen unterm Arm, einfach aber gut und zierlich gekleidet, und ein drittes Paar: eine große und schlanke Brünette mit blitzenden Augen und modern geputzt, obschon man ihr trotz des Staates ansah, daß sie nicht von vornehmem Stand war. Zu ihr gehörte ein junger Mann in einfachem halbfeinem Rock, dessen hübsches und kühnes Gesicht etwas hager und sorgenvoll aussah.

»Lassen Sie den Narren immerhin gehen, Kamerad Sellhausen,« sagte der Erstere, »heute dürfen wir die Worte nicht auf die Wageschale legen und müssen jedenfalls Zanck und Streit vermeiden. Er ist, wenn ich mich der Physiognomie recht erinnere, überdies ein Kollege Ihres Vaters, einer aus dem Abgeordneten-Hause, und denen steht der Hochverrat und Ungehorsam jetzt frei. Lassen Sie uns das Gedränge verlassen und kehren wir lieber in irgend ein solides Lokal ein, gesehen haben wir ja doch alles.«

»Dann wollen wir doch zu Kulikens gehen, gradeüber von unserer Kaserne, der Vater will uns ja unten treffen, da er im Hause Wohnung gefunden hat, und die Bockschatze kommen vielleicht auch, dann seid Ihr ja gleich beisammen,« meinte der Gardist.

»Mir janz recht,« stimmte in echt Berliner Dialekt die Brünette zu, » Frisch kann ja da gleich hören, obs mit dem Laden und die Fabrik etwas wird oder nich. Die Jegend is jut vors Jeschäft, det hab ik jleich jesagt!«

Dem Eleganteren der drei Männer schien die Wahl zwar nicht besonders lieb, aber die Jugend ist weniger heikel, selbst in der Wahl der Gesellschaft, und ein Blick in das frische Gesicht an seiner Seite, das gern zuzustimmen schien, ließ ihn mit allem einverstanden sein. So wanderten die drei sehr verschiedenartigen Paare in Eintracht aus dem Gedränge der Linden nach der Richtung des Dönhoffsplatzes.

Der Gardist ging mit dem Landmädchen voran, er hatte sie nicht in städtischer Weise am Arm, sondern ging neben ihr, sie sorgfältig vor allen Fährlichkeiten im Gedränge hütend.

»So bist Du also entschlossen, Fritz,« fragte das Mädchen, »und mir nicht gram, weil ich mich mit dem Hindrik verlobt habe?«

»Gewiß und wahrhaftig nicht, Klörke! Ich habe den Hindrik von Herzen gern und gönn Dich ihm. Jetzt, da es so weit gekommen ist und der Wilm für seine Kurasche nicht in des Königs Rock kriechen kann, wird der Vater auch nichts dawider haben, daß ich für ihn mitdiene und kapituliere, wenn hier meine Dienstzeit zu Ende ist. Ich habe die Zusicherung von meinem Hauptmann erhalten, im nächsten Jahr schon Unteroffizier zu werden, und wenn sie erst wissen, daß ich zu kapitulieren willens bin, wird mirs nicht fehlen. Ich habe nun einmal Freude am Soldatenstand, und so wird mir's der Alte nicht abschlagen, wenn ich ihm noch heute reinen Wein einschenke und ihm rund heraus erkläre, daß ich des Fritzen Rechte auf Dich respektiere und daß ich Dich nicht nehmen kann. Was will er machen, wenn wir beide darin einig sind. Er kommt mir überhaupt seltsam vor und ganz verändert, nicht mehr so starr und herrisch wie sonst.«

»Das ist seit der Geschichte mit Deinem Bruder, weil er fühlte, er habe nicht ganz recht an ihm gehandelt und könne doch nicht die Menschen beugen nach seinem Willen.«

Der Gardist nickte. »So mag's sein! Hab ich Dir schon gesagt, daß er mit dem Demokraten da hinter uns angebändelt hat?«

»Nein – woher kennt er ihn?«

»Er muß ihn getroffen haben, als er im vorigen Monat mit dem Borgemeester hier war zur Versammlung der Königsgetreuen; Du weißt, daß ich mit dem Regiment noch zum Manöver war, und ihn deshalb nicht gesehen habe. Da hat er Herrn Frisch kennen gelernt, in dem Lokal, in das wir gehn, und ihn seine vertrackten Ideen auskramen hören; denn eine verteufelte Suade hat er, und ein braver Kerl ist er sonst auch, das muß wahr sein. Nun hat der Alte sich in seinen Kopf gesetzt, eine Probe mit ihm zu machen, und will ihms Geld vorstrecken zu einem Genossenschaftswesen, um zu zeigen, ob's geht oder nicht. Nun wahrhaftig, Klörke, ich habe nichts dawider, denn er hat sichs sauer genug werden lassen und kann mit seinem Ersparten machen, was er will.«

Das Mädchen faßte vertraulich seinen Arm: »Weißt Du, Fritz, was ich darüber denke?«

»Nee! Wenn's der Hindrik wäre, könnt ich's wohl begreifen, der hat so neumodsche Ideen.«

»Eben um des Hindriks willen geschieht es!« sagte das Mädchen. »Der Meier, Dein Vater, ist an ihm zu Schanden geworden mit seinen Gedanken, und nun will er an einem andern erweisen, daß es in Wirklichkeit doch nichts mit dem liberalen Kram, und wagt dazu das Geld. Da glaubt er den passenden Mann gefunden zu haben, und 's ist ohnhin sächsisches Wesen, daß der arme Mann so gut sein Recht hat für die Arbeit, wie der Reiche, der das Geld oder Land gibt, das Kapital zur Arbeit, wie sie's nennen, deshalb haben auch bei uns sächsischen Colonen die Häusler und Sassen ihr Anrecht auf den Ertrag der Ernte und auf das, was Wald und Flur ergibt. Die Dienstmannen sind, was die Colone den alten Herzögen waren, freie Männer, nicht Knechte, die von der Willkür der Reichen abhängen. Das hat mit zu seinem Wunsch beigetragen. – Paß auf, ob ich nicht recht behalte.«

»Mag sein, obschon ich mir nicht denken kann, daß es auf einem Colonenhof oder in irgendeinem Geschäft gut tun würde, wenn Jeder gleiches Recht hätte und einer so gut befehlen könnte, wie der andere. Würd' einen schönen Parademarsch im Bataillon abgeben, wenn jeder Korporal oder Soldat sein Tempus halten könnte nach Belieben. Dazu sind die Feldwebel da und über den Feldwebeln die Herren Leutnants und über den Offizieren der Bataillons-Kommandeur. Klörke, ich glaube nicht, daß Du auf dem Brüninghof leiden würdest, daß die Großmagd oder die Milchmagd gleiches Recht wie Du haben wollte und ihren Lohn sich selber zumäße. Denn ich denke immer noch, wenn der Hindriks den Studiertenkram einmal satt hat, wird er doch noch Colone auf dem Brüninghof, und Du seine tüchtige Bauerfrau statt seiner Professorin. Art läßt nicht von Art.«

»Wie Gott will!« sagte das Mädchen, »jedenfalls, Fritz, was der Hendrik tut, wird er redlich tun, und ich werd' ihm dabei treu zur Seite stehn. Und sollt' er sich doch noch einmal für den Brüninghof entschließen, so soll der gestrenge Herr Feldwebel Fritz stets seine richtigen Schinken und Mettwürste zu den hohen Festtagen haben, und wenn es ihm paßt, sein Altenteil. Hierher hat der Vater mich sicher nur mitgenommen, um Dich noch einen Sturm machen zu lassen auf mich und den Brüninghof, der durch unsere Liebe zu Fritz und Deinen Wunsch Soldat zu bleiben glücklich beseitigt ist.«

»So wäre alles gut, und ich wünsche nur, daß der Leutnant hinter uns so treu und zuverlässig zu dem jungen Mädchen hält, das Dir so sehr gefällt, seit ich sie Dir zum Kleidermachen rekommandiert habe.«

»Warum soll er nicht, wenn sie auch arm ist? Er hat ein gutes Auge und spricht verständig und scheint auch nicht viel zu haben, wenn er auch von Adel ist. Es wird auch einem Oberförster oder Förster gut tun, wenn die künftige Frau seinen Töchtern die Kleider selber machen kann. Ich muß Dir sagen, Fritz, daß sie mir besser gefällt, als die andere, die mir für ihren Stand zu staatsch ist.«

»Der Frisch ist ein braver Mensch, wenn auch zu demokratisch und sozial, wie er's nennt. Vielleicht kommt er mit dem Gelde zu Verstande, das ihm der Vater leihen will.«

Unter den beiden, von denen eben die Rede war, fand eine andere, scharfe Unterhaltung statt.

»Fräulein« Pauline hatte ihren »Fritz« oder »Friederich« in ein weit schärferes Examen genommen. »Also Euer Streik ist ganz ins Wasser gefallen?« fragte sie.

»Leider! Wir haben keine Mittel mehr, ihn durchzuführen, und schon sind viele Kameraden zur Arbeit in der Fabrik zurückgekehrt!«

»Das Vernünftigste, was sie tun konnten, statt daß sie, wie Du, ein Kleidungsstück nach dem andern verkauft und versetzt haben. Und Du willst nun wirklich den Ratschlägen des geilen Juden folgen und mit den fünf Vagabonden eine eigene Fabrik – wie heißt Ihr's doch …«

»Eine Produktiv-Assoziation!«

»Ah so, eine Produkten-Societät anfangen.«

»Ja, Kind, wenn der Mann, der gestern so aufmerksam zuhörte und es versprach, das Kapital dazu vorstreckt!«

»Also geborgt! Aber, warum hat's denn nicht schon längst der Doktor Lasalle selber getan, der den Arbeitern den Kopf verdreht mit all' dem Zeuge und Geld genug hätte oder verdient bei seiner Gräfin.«

»Ich habe ihn allerdings darum angegangen, als jetzt der günstig gelegene Fabrikraum in dem Hause frei wurde. Nur um fünfhundert Taler zur Anschaffung der Werkzeuge, der Ausführung der neuen Wickelmaschine, die ich erfunden habe, und der ersten Anschaffung des Materials. Aber es geht gegen sein Prinzip, der Staat müsse den Kredit hergeben, lehrt er. Das ist eben seine Maxime.«

»Und dabei können die Arbeiter verhungern, bis der Staat so dumm ist, an Bummler und Schwätzer, wie Deine Kameraden es sind, das Geld wegzuwerfen, damit sie es vertun. Höre, Friedrich, ich weiß nicht, weshalb der Herr aus Westfalen, der doch auch nur ein Bauer ist, und die Hand anlegt gleich jedem seiner Arbeiter, wie die Mamsell, sein Mündel, erzählt, sein Geld wegwerfen will an Euere verrückte Idee, aber das sag ich Dich: sollst Du allein vor den Ritz stehen, so sollst Du auch Herr sein von des Jeschäft, das am Ende nicht schlecht sein mag, namentlich wenn Du den Laden im Vorderhause mit dazu kriegst, aber nicht jeder Narr und Faulenzer soll gleiche Rechte und gleichen Anteil am Verdienst haben!«

»Aber, Paulinchen, das wäre ja grade gegen unser Prinzip!«

»Papperlapapp!« erklärte sehr energisch die Geliebte. »Ik heirate Dir mit's Jeschäft oder jar nich und will den Miteijentümern schon den Weg weisen, dadrauf kannst Du Dir verlassen, davor hab ich ein Berliner Mundwerk! Willst Du mir heiraten oder die janze Jesellschaft?«

»Versteht sich, ick allein!«

»Und doch wollt Ihr die Ehe als ein bloßes Jeschäft betrachten und Euch nicht 'n mal richtig trauen lassen, wie die Wilden und die Heiden! Ik habe zwar keine Lust, mir von Fourniern eine Maulschelle jeben zu lassen vor en Bisken Extraverjnügen, und Du würd'st's jewiß och nick leiden, aber jetraut und jetauft muß's werden, sonst is keen Respekt darin, weder vor den Mann noch vor die Frau und vor die Nachbarn und Hauswirte, und danach richte Dir!«

(Schluß des vierten Bandes.)


Herrose & Zientsen, G. m. d. H. Wittenberg.


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