Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vom National-Verein.

(Fortsetzung aus Band III.)

Die Fürstin H. hatte dem Berliner Journalisten bei der Begegnung am Abend vor den Kursälen angedeutet, die Königin und die, Großherzogin würden den Morgen des traurigen, in der deutschen Geschichte und namentlich der liberalen Agitation so schmachvollen 13. Juli in Lichtenthal zubringen, und daß der König Wilhelm deshalb seine gewöhnliche Morgenpromenade nach dem Brunnen in Begleitung des preußischen Gesandten in Baden dahin richten werde.

Weil der große Schwarm der Badegäste sich stets in der Nähe der Allerhöchsten Herrschaften zu ziehen pflegte, war leicht voraus zu sehen, um diese Zeit die inneren Promenaden weniger besucht sein und deshalb Gelegenheit zu einer unbemerkten, nicht durch Neugier oder unerwünschte Begegnungen gestörten Unterredung bieten würden.

Dies war in der Tat der Fall, und als der Journalist, der schon seit zwei Stunden die herrlichen Umgebungen durchstreifte und eben jetzt von dem Besuch Lichtenthals zurückkehrte, gegen 9 Uhr in der Nähe des Wassers promenierte, sah er zwei Damen die Alleen heraufkommen, von denen er die eine sogleich als die Fürstin erkannte. Auch sie hatte ihn bemerkt, denn bald darauf sah er sie ihre Begleiterin verabschieden und sie selbst auf sich zueilen. Er begrüßte ehrerbietig die Dame, die sich jedoch bei den konventionellen Reden und Erkundigungen nicht lange aufhielt, sondern nach einem unbesuchten Nebeneingang einbog und ihn an ihre Seite winkte.

»Lassen Sie uns in dieser Richtung gehen,« sagte sie, »es ist mir geglückt, für Sie eine halbe Stunde zu gewinnen, obschon der Fürst ziemlich aufgeregt ist wegen eines ärgerlichen Verlustes, den er gestern Abend gehabt hat, und deshalb jeden Augenblick die gewöhnliche Dauer seiner Ruhe abkürzen kann. Daß er sie selbst wegen jenes Ärgers – er hat gestern Abend im Spielsaal eine wertvolle Dose verloren, oder sie ist ihm vielmehr gestohlen worden! – nicht ganz aufgiebt, dafür kennen Sie zur Genüge seinen behaglichen Charakter, der sich in der eigenen Bequemlichkeit und den Vorschriften für seine Gesundheit durch nichts stören läßt. Also zur Sache, Doktor! Ihre wenigen Worte von gestern Abend haben meine Nerven aufgeregt und mich in große Unruhe versetzt.«

»Durchlaucht erinnern sich, daß ich seit Februar nicht die Ehre hatte. Sie zu sehen, und daß ich der Verhältnisse wegen nicht an Sie schreiben durfte.«

»Ich weiß das alles – Sie haben alles dem Manne mitgeteilt, den ich damals in der großen Verlegenheit und Besorgnis, in die uns die Androhung des famosen Romans in einem Berliner Journal versetzte, direkt an Sie adressierte.«

»Hauptmann Herrmann« …

»Lassen wir ihn bei dem Namen, er ist so gut wie ein anderer. Mit ihm wenigstens kann ich auf einem für Sie kein Interesse habenden Wege verhandeln. Er hat mir erzählt, was Ihnen damals in jenem Verbrecherkeller passiert ist und wie Sie den Mann jener Person aufgefunden haben, die alle Papiere meiner Schwester stahl, nachdem sie die Vermittlerin und Vertraute bei jenem traurigen Verhältnisse gespielt hat, Papiere, die meine Schwester und wie ich fürchte, auch meinen Vater noch im Grabe kompromittieren können.«

»Aber ich verlor damals leider den Mann und das Frauenzimmer aus den Augen und hoffte vergeblich, daß er seinem Versprechen und Selbstanerbieten gemäß mich aufsuchen würde. Er war wie spurlos aus Berlin verschwunden, und selbst die Polizei war nicht im Stande, seinen Verbleib zu ermitteln.«

»Ich weiß, sie hatte für sich selbst genug zu sorgen, den Angriffen des Londoner »Herrmann« und seiner Bundesgenossen in der Kammer und der Indolenz des Grafen Schwerin gegenüber. Und Sie haben nichts wieder von ihm erfahren? Bis dahin bin ich auf dem Laufenden und wenigstens hatte jene Ermittelung Gelegenheit gegeben, meine arme Schwester zu beruhigen, da die gefährlichen Papiere jetzt in der Verwahrung eines Mannes sind, der eher sein Leben opfern würde, als sie in Hände fallen zu lassen, die Amalie kompromittieren könnten.«

»Komteß Amalie? Darf ich fragen wo sie sich jetzt befindet, und wie es ihr geht?«

»Regina, so nennt sie sich ja jetzt, ist nach der Rückkehr ihrer törichten Busreise nach Loretto wieder im Stift und wird nächstens Kanonissin desselben werden!«

»Der arme Mann! Er liebt sie noch immer und ich glaube, er hofft noch immer!«

»Sie wissen, daß dies eine Unmöglichkeit ist nach dem traurigen Ausgang des Duells. Doch das gehört nicht hierher. Die Nachrichten, die Nachrichten, die Sie mir geben wollten!« …

»Sie stehen damit in Verbindung – und würden eben jener Hoffnung einen Anhalt gewähren.«

»Zur Sache – zur Sache!«

»Nun – ich habe jetzt den »schwarzen Springer« wiedergefunden!«

»Jenen Mann den Zuhälter« …

»Der früheren Kammerfrau Jeannette!«

»Und sie selbst?! Erzählen Sie, erzählen Sie!«

»Nun, die Adresse, die ich ihm gab und das Versprechen waren doch nicht ohne Folgen. Zwei Tage, ehe ich meine alljährliche Erholungsreise antrat, die uns armen geplagten Journalisten wohl zu gönnen ist, erhielt ich mit der Stadtpost einen Brief, welcher fragte, ob es mir noch Ernst sei mit der gebotenen Belohnung.«

»Und Sie?«

»Nun ich war natürlich am bezeichneten Ort – diesmal im Freien, am Kanal in der Nähe von Charlottenburg, an einer Stelle, wo der Schreiber Polizeimaßregeln auf eine Viertelstunde hätte vorhersehen können, deshalb hatte ich mich aller solcher sehr vernünftig enthalten und traf meinen Mann richtig zur Stelle.«

»Aber das Weib?«

»Das ist das Schlimme! Genug, er erzählt, daß Jeannette, als er ihr von meinem Verlangen und der angebotenen Belohnung zum ersten Mal nach jenem Abend im Keller gesagt, ganz außer sich geraten wäre und nichts von der Sache habe wissen wollen, vielmehr hoch und teuer behauptet hätte, daß das Kind, ein Knabe – er würde jetzt etwa sieben Jahre zählen, – schon nach einem Jahre an einer Kinderkrankheit gestorben sei. Damit wäre die Sache freilich aus gewesen, um so mehr, als der Graf, Ihr Herr Vater, im Besitz eines Totenscheines des Kindes wäre, mit dem sie damals hatte verschwinden müssen.«

»Also doch! Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich stets geglaubt habe, mein Vater wisse um das Verschwinden des Kindes, und das ist auch die Meinung Amaliens. Aber selbst auf seinem Sterbelager wollte er nichts davon wissen.«

»Er war ein starker Charakter – und dennoch« …

»Nun …«

»Auf sein Leben war aber wahrscheinlich der ganze Plan gebaut, den das Weib hatte.«

»Sie sprechen in Rätseln!«

»Nun, als ich der erhaltenen Nachrichten wegen die weiteren Verhandlungen abbrechen wollte, rückte der schwarze Springer mit einer seltsamen Mitteilung heraus: er glaube selbst nicht an den Tod des Kindes.«

Die Fürstin blieb aufmerksam stehen.

»Warum? weshalb? – So viel ich weiß, hat Jeannette die Bekanntschaft jenes Mannes, mit dem sie verschwand, erst nach jener Zeit gemacht.«

»Dies scheint doch nicht ganz richtig, wenigstens muß sie ihn schon vor der Zeit des – geheimen Aufenthalts der Komtesse in Schlesien, wohin man sie flüchtete, gekannt und diese Bekanntschaft später nur erneuert haben. Kurz, der schwarze Springer wußte mehr von der Sache, als Jeannette zu erzählen für gut befunden oder man ihr selbst erzählt hatte. Daß das Kind gelebt, das steht fest, er hat es selbst gesehen und es schien ihm kräftig und gesund. Später, es war zwei Jahre nach jener Katastrophe, traf er wieder, wie er behauptet durch einen Zufall, mit Jeannette zusammen, und entführte sie, oder vielmehr, sie entlief mit ihm aus dem damaligen Aufenthalt der Komtesse und der Botmäßigkeit Ihres Vaters, des Herrn Grafen.«

»Es war zur Zeit, als die Genesung meiner Schwester von der schweren Krankheit, der Geistesstörung, wenigstens der vollständigen Bewußtlosigkeit, gelang, in die sie nach dem heftigen Nervenfieber geriet, das sie nach jenem schrecklichen Auftritte mit meinem Vater befallen hatte. Ich muß gestehen, ich habe Jeannetten ihre Flucht kaum verdenken können bei der Abgeschlossenheit oder vielmehr förmlichen Gefangenschaft, in der mein Vater damals, selbst nach dem Tode des armen Kindes, sie wie meine Schwester hielt. Aber alles dies ist kein Anhalt für das Leben des Kindes.«

»Hören Sie nur weiter, Durchlaucht! Springer behauptet, Jeannette hätte wiederholt in Stunden der Not und des Mißmuts Äußerungen gemacht, die auf ein Geheimnis hindeuteten, das mit dem Tode des Kindes verknüpft sei, und ihnen noch viel Geld bringen könne. Daraufhin sagte er Jeannetten gerade auf den Kopf zu, das Kind sei damals nicht gestorben, der Totenschein, den der Graf der Komteß Amalie gezeigt, und den sie mit den bewußten Papieren später entwendet habe, sei falsch, der gestorbene Knabe ein untergeschobener gewesen, und sie wisse das. Sie leugnete zwar beharrlich, ja verließ ihn bei dem heftigen Streit, der sich darüber entspann, und es hat ihn viel Mühe und Zeit gekostet, sie wieder aufzufinden. Deshalb war er so lange aus Berlin verschwunden und hat nichts von sich hören lassen. Trotz alledem behauptet er, sich nicht von dem Glauben, daß er Recht habe, losmachen zu können und erzählt darüber sogar seine seltsame Geschichte.«

»Aber Jeannette? Sie wäre doch nach dem Tode meines Vaters die einzige, die über die Wahrheit Auskunft geben könnte. Wo ist sie jetzt? Hat er sie wieder aufgefunden?«

»Er hat ihre Spur nach Böhmen verfolgt, in die Nähe der schlesischen Grenze, dorthin, wo die Komtesse dem Knaben das Leben gegeben hat und wo er unter der Pflege Jeannettens bis zu seinem angeblichen Tode geblieben ist. Ein förmlicher Instinkt oder ein fatalistischer Zug scheint den Vagabonden auf seiner Verfolgung Jeannettens dahin geführt zu haben.«

»Seltsam! Sie wissen, daß unsere Familie im schlesischen Gebirge eine kleine Besitzung hat und daß meine arme Schwester bei der unglücklichen Katastrophe dort untergebracht war, ja daß es dieselbe ist, die uns vor Jahren zum Besuch des Bades Warmbrunn veranlaßte, wo ich die Bekanntschaft meines Gatten und eigentlich auch zuerst die Ihre machte. Und dort hat er sie gefunden?«

»Ja, und wie er nicht zweifelt, in Nachforschungen nach dem Knaben, obschon sie es auch hier leugnete und sich lieber ihm wieder anschloß, als Geständnisse machte.«

»Aber Sie deuteten mir gestern Abend an, daß eine Spur hierher an den Rhein, ja nach Paris wies.«

»Ich sagte Durchlaucht bereits, daß der Springer Mir dabei eine seltsame Geschichte erzählte, die er in Verbindung mit dem Leben und der Persönlichkeit des Kindes brachte. Ich werde vielleicht später Gelegenheit haben, diese ziemlich abenteuerliche und sich auf das Vagabondenleben des Mannes gründende Geschichte Guter Durchlaucht zu erzählen. Augenblicklich genügt die Andeutung, daß das Kind damals einer Familie böhmischer Wildschützen oder einer wandernden Zigeunerbande übergeben zu sein scheint und daß er bei seinen jetzigen Nachforschungen auf diese Bande gestoßen ist und von ihr ermittelt habe, daß sie vor sechs Jahren allerdings in den Besitz eines kleinen Kindes gekommen sei, das sie nach Art dieser Leute an eine andere umherziehende Gauklerbande verkauft habe. Kinder sind für diese Leute Geld, und einer der Zigeuner oder vielmehr eine der Zigeunerinnen, denn diese Leute kommen weit umher und bleiben immer in einer gewissen Verbindung, sagte, daß der Knabe, der schön wie ein Engel geworden sei, sich jetzt bei einer Kunstreiter- oder Akrobaten-Gesellschaft befinde, die hier am Rhein oder in Frankreich Vorstellungen gibt.«

»Allmächtiger Gott!«

»Springer zog es vor nach Berlin zurückzukehren und erst mit mir zu sprechen, statt auf eigene Hand die Nachforschungen fortzusetzen, oder – offen gesagt – auf eigene Kosten, was ihm die Hauptsache zu sein schien. Jeannette selbst scheint über den Verbleib des Kindes, nachdem man es durch den angeblichen Tod aus ihrer Überwachung genommen, nichts zu wissen und bliebe höchstens für den Fall eines Auffindens wegen Feststellung einer Identität des Knaben von Wichtigkeit, da sie ihn doch wenigstens ein Jahr lang in ihren Händen und unter ihrer Pflege gehabt hat, und – leicht möglich in solchen Fällen – ein Muttermal oder ein besonderes Kennzeichen vorhanden gewesen sein kann, das im glücklichen Fall zu einer Wiedererkennung führen könnte. Die Geschichte ist jedenfalls sehr romantisch, vielleicht lohnt sie sich gar nicht der Mühe, in jedem Fall …« – der Journalist schwieg und neigte lauschend nach der Gegend der großen Allee zu den Kopf – die Fürstin hatte nichts gehört – »in jedem Fall wollte ich erst Euerer Durchlaucht Meinung erfahren, selbst, ehe ich dem Vater eine Mitteilung machte, und hielt mich nicht für berechtigt, die Mittel, die sich noch in meinen Händen befinden, für eine so zweifelhafte Nachforschung zu verwenden, die sich ebenso leicht als bloße Spekulation ausweisen kann!«

»O nein, nein, – wer fragt hier nach Geld, das Geld spielt keine Rolle hierbei – benötigen Sie mehr? – geben Sie dem Menschen, was er irgend braucht, – bedenken Sie das arme Kind – unser eigenes Blut! Jede Spur muß bis zum Äußersten verfolgt werden – das Kind meiner Schwester unter Vagabonden und gemeinem Volk, unter Gauklern und Komödianten, denken Sie doch, das Kind einer … unerträglich! Aber was horchen Sie – mir ist, als gehe dort drüben etwas vor – als gäbe es Lärm, Rufen …«

Der Journalist hatte seine Aufmerksamkeit geteilt, denn in der Tat verbreitete sich von der Richtung der großen Allee her ein unbestimmtes Geschrei, dessen Bedeutung man noch nicht verstehen konnte.

»Sie wünschen, Durchlaucht, daß ich dem Mann die Mittel gebe, die angedeutete Spur zu verfolgen, selbst auf die Gefahr hin, daß wir uns täuschen? Ich bitte um bestimmten Befehl.«

»Gewiß, gewiß! Was kümmert mich das Geld! Brauchen Sie mehr, so lassen Sie es mich wissen, nur darf unser Name nicht kompromittiert werden. Aber mon Dieu! Es muß dort etwas wichtiges vorgefallen sein – hören Sie doch – lassen Sie uns näher gehen – oder noch besser, verlassen Sie mich jetzt – man darf uns hier nicht zusammenfinden. Ich bin so bekannt hier, es könnte allerlei Fragen veranlassen, – au revoir, bester Doktor – tausend Dank, Sie, mein Getreuer!« Sie reichte ihm eilfertig und ängstlich die Hand, die er küßte. »Leben Sie wohl, ich muß in der Tat fort! Es muß in Wahrheit etwas Ungewöhnliches geschehen sein!«

Sie bog hastig in einen Gang, der zur großen Allee zurückführte, der Journalist blieb stehen und sah ihr trotz der eigenen Neugier kopfschüttelnd nach.

»Unter dem – Volk! – unter den Komödianten!« murmelte er. – »Also das ist es, was sie treibt! Sie ist doch kaum besser als die anderen! – Doch in der Tat – Himmel! – hör' ich recht? – Mord! – der Name des Königs!«

Er eilte mit fliegenden Schritten gleichfalls der Richtung zu; wenige Augenblicke, und er sah bestürzt Menschen, Herren und Damen in eleganter Promenadentoilette vorübereilen – mit bleichen Gesichtern und ängstlichen Mienen. Er hielt die ersten an, die ruhiger vorbeikamen – es waren zwei Männer, der eine noch jung, kaum dem Knabenalter entwachsen, mit höhnischem Ausdruck im Gesicht, der andere groß, finster, eine markierte Physiognomie, vorsichtig umherblickend, beide in aufgeregtem aber leisem Gespräch.

»Verzeihen Sie, meine Herren! Ist etwas Besonderes geschehen, das die allgemeine Aufregung zu veranlassen scheint? Es ist doch kein Unglück?«

»Wenn Sie es so nennen wollen,« sagte höhnisch der Jüngere, »es heißt, der König von Preußen sei erschossen worden!«

»König Wilhelm?«

»So heißt er jawohl; ein Mitglied des National-Vereins soll auf ihn geschossen haben – so soll der Narr selbst erklären! Ich weiß noch nicht, ob der König getroffen oder bloß mit dem Schrecken davon gekommen ist! Ein König ist ein Mensch wie ein anderer!«

Trotz der Erregung bei der furchtbaren Kunde die ihn erst erstarrte, dann hastig weitertrieb, zischte es über die Lippen des Journalisten: »Schurke!«

Der junge Mann wollte sich auf ihn stürzen, aber sein älterer Begleiter hielt ihn am Arm und zog ihn zurück: »Kommen Sie, Blind! Sie sprechen unvorsichtig!« Ohnehin war der Mann, der ihm die wohlverdiente Beleidigung zugeschleudert, bereits weit entfernt aus seinem Bereich und eilte zu der Menschenmenge, die sich jetzt überall zusammendrängte und das Ereignis besprach.

Zum Glück hatte der Journalist, dem bei der ersten Nachricht vor Schrecken die Füße fast den Dienst versagten, – es war das zweite Mal, daß er eine solche Szene erlebte! – gehört, daß zwar von einem Mordversuch auf den König die Rede, daß allerdings ein solcher Frevel von ruchloser Hand verübt worden war, daß aber die allmächtige Hand, die ihre Auserwählten vor den Kugeln der Mörder und Fanatiker schützt, den künftigen Erretter und Gründer des Deutschen Reiches vor dem Frevel eines überspannten Toren bewahrt hatte. Obschon überall in der großen immer mehr anwachsenden Menge der höchste Schrecken, die höchste Entrüstung sich kundgab über die bübische Tat, war es dem Journalisten doch wohl, als er endlich auf ein ihm wohlbekanntes preußisches Gesicht stieß, auf dem diese Entrüstung sich in voller Kraft zeigte, und von dem er sicher zuverlässige Nachricht zu erhalten hoffte. Er umarmte ungestüm den Mann, der einem umdrängenden Kreise Details zu erzählen schien.

»Brandt – lieber Brandt! Ist es wahr? Ist der König auch wirklich unversehrt und außer Gefahr?«

Es war der frühere Besitzer des Hotel du Nord in Berlin, ein Mann von allbekannter loyaler uns konservativer Gesinnung, der durch seine Geistesgegenwart in den Märztagen des Jahres Achtundvierzig das nebenanliegende Palais des damaligen Prinzen von Preußen vor der Plünderung und Zerstörung des durch die Agenten der Revolution aufgehetzten und fanatisierten Pöbels rettete, und der, seit er sich zur Ruhe gesetzt, den Sommer häufiger in den rheinischen Bädern zubrachte, dort sah man ihn öfter von dem geliebten königlichen Herrn angesprochen, der wahre Treue und Hingebung in den Tagen der Gefahr und des Unglücks selten vergaß.

Herr Brandt reichte dem Journalisten die Hand. »Danken Sie Gott mit mir, Doktor, der das entsetzliche Verbrechen so glücklich abgewendet hat. Ich komme eben vom Rathause, wohin ich mit Graf Flemming den Täter eskortieren half, denn ich war fast unmittelbar nach der Tat an Ort und Stelle, und habe dem ersten Verhör des Verbrechers beiwohnen können.«

»So hören wir das ja aus den besten Quelle, bitte erzählen Sie, lieber Freund – doch vor allem, ist Seine Majestät wirklich ganz unverletzt?«

»Gott sei Dank, ich kann es ihnen verbürgen. Lauer hat bei der Rückkehr des Königs von Lichtenthal, die soeben mit Ihrer Majestät und der Großfürstin Helene nach Hotel Mesmer erfolgte, die Verwundung untersucht und erklärt die Verletzung als eine unbedeutende Kontusion, die keine Spur hinterlassen wird. Aber welches Unglück hätte diese Schandtat eines Fanatikers nicht herbeiführen können? Der König hat sich wie der Held benommen, der er ist; keine Minute hat ihn seine Ruhe verlassen, und er befahl auf das Strengste, sich jeder Mißhandlung des Täters zu enthalten, und ihn nur in Haft zu nehmen. Aber eine solche Untat mußte die Folge dieser fortwährenden Aufhetzereien des sogenannten Nationalvereins und der ungezügelten Klubreden werden.«

»So ist es also doch eine Tat des politischen Fanatismus? Es war zu fürchten und ich habe eben ein Pröbchen dieser Gesinnungen selbst erlebt. – Bitte, erzählen Sie!«

Der Kreis um die beiden hatte sich immer mehr vergrößert. »Urteilen Sie selbst, der Täter ist ein Leipziger Student; man hat in seiner Brusttasche folgende Erklärung gefunden, welche die Absicht des politischen Mordes bekundet. Ich hatte Gelegenheit, das Papier bei der Verlesung seines ruchlosen Inhalts fast wörtlich nachzuschreiben, dieser deutsche Schwindel allein trägt die Schuld. Gott sei Dank ist der Täter kein Preuße.«

Die Erwähnung der deutschen Frage als Ursache des Mordes hatte viele verstummen machen; um so höher war das Interesse für das aufgefundene Papier gespannt. »Lesen Sie! Lesen Sie!« war der einstimmige Ruf.

Der Berliner hatte den kleinen Zettel entfaltet, auf dem er den Inhalt des gefundenen Briefes mit Bleistift flüchtig nachgeschrieben hatte und las ihn jetzt unter allgemeiner Aufmerksamkeit mit erhobener Stimme:

 

»Baden, 13. Juli 1861. Das Motiv, weshalb ich Seine Majestät den König von Preußen erschießen werde, ist, daß derselbe die Einigkeit Deutschlands nicht herbeiführen kann und die Umstände überwältigen, daß die Einigkeit stattfindet; dieserhalb muß er sterben, daß ein anderer es vollbringt. Man wird mich um der Tat willen lächerlich machen, oder für überspannt halten; ich aber muß die Tat vollziehen, um das Vaterland glücklich zu machen.«

 

Der Bösewicht hat sich mit vollem Namen unterschrieben: »Oskar Becker, Studiosus juris aus Leipzig.« Zweifeln Sie nun noch an dem politischen Charakter des Verbrechens?«

Der Journalist beantwortete die Frage nur mit der Wiederholung: »Gott sei Dank, daß es kein Preuße ist, wie Sie sagen, – die Schande träfe unser Vaterland zu bitter. Aber woher ist er?«

»Er gibt an, aus Odessa zu sein, der Sohn eines ehemaligen Lehrers oder Professors am dortigen Lyceum, der jetzt als russischer Staatsrat in Dresden lebt; die Untersuchung wird das weitere ergeben. Man hat bereits nach Leipzig telegraphiert, um die Angaben des Mörders über seine Person festzustellen.«

»Bitte, erzählen Sie mir wenigstens den Hergang, soweit Sie ihn wissen. Bei einem solchen Ereignis ist jeder Umstand von Interesse.«

»O, ich werde noch heute selbst an die Kreuzzeitung schreiben. Die Königin macht, wie wohl den meisten der Herrschaften bekannt ist, seit ihrem Hiersein alle Morgen ihren Spaziergang nach Lichtenthal, und der König folgt ihr gewöhnlich dahin, nachdem er seinen Brunnen getrunken. Gewöhnlich wählt er, meist schon am Abend vorher, zu seinem Begleiter einen Herrn aus seiner Umgebung oder von den Fremden, mit dem er sich über die Tagesereignisse oder gleichgültige Verhältnisse unterhält. Bekanntlich liebt es der hohe Herr nicht, in der kurzen Zeit, die er für seine Erholung bestimmt hat, die politischen Fragen zu erörtern, und Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß der König jeder Sorge für seine persönliche Sicherheit entbehrt, sodaß nicht einmal ein preußischer Polizeibeamter sich hier befindet, und sei es auch nur in Zivil.«

»Das wäre in der Tat eine unverantwortliche Fahrlässigkeit seitens der Berliner Behörden, namentlich in einer Zeit, der es an politischen Aufregungen wahrlich nicht fehlt.«

»Und doch ist es so. Ich weiß es durch Zufall ganz genau, daß Graf Schwerin und Herr von Winter ausdrücklich alle Vorsichtsmaßregeln, die man von anderer Seite vorschlug, als unnötig abgelehnt haben. War doch selbst die Königin Viktoria bei ihrem Besuch in Preußen von zwei englischen Polizei-Inspektoren begleitet, und was damals bei der Anwesenheit des Kaisers Napoleon in Baden für vorsorgliche Anstalten zu seiner persönlichen Sicherheit getroffen waren, ist bekannt genug.«

»Der König von Preußen hatte bisher nur die Hand eines Wahnwitzigen zu fürchten, nicht eines politischen Fanatikers.«

»Auch solche sind gefährlich; denken Sie an Tschech – es sind gerade 17 Jahre her, an Sefeloge! Aber lassen Sie mich lieber weiter erzählen; für diesen Morgen hatte unser Gesandter in Karlsruhe, Kammerherr Graf Flemming die Ehre der Allerhöchsten Begleitung.«

»Ich kenne ihn, von Neunundvierzig her; er bildete damals mit Eulenburg und Herrn von Meusebach das berühmte behagliche Junggesellen-Kleeblatt in seiner Wohnung in der Behrenstraße.«

»Ich weiß nicht, wie es mit seinen staatsmännischen Talenten und Aussichten steht, aber er ist ein ganzer und überall sehr wohlgelittener Kavalier. Schon am Eingang der Lichtenthaler Allee begegnete dem König, wie mir der Graf nachher erzählte, ein unbekannter, aber anständig gekleideter junger Mann, der den König auf das Ehrerbietigste grüßte, worauf der hohe Herr freundlich dankte. Der Fremde muß ihm alsbald gefolgt sein, denn sie hatten noch nicht die Hälfte der Allee erreicht, als Graf Flemming den hohen Herrn mit der Hand nach dem Kopf fahren sah und zugleich zwei schwache Schüsse hörte. Beide wandten sich sogleich um, und sahen nur wenige Schritte hinter sich jenen jungen Mann, der eben eine Bewegung machte, als habe er etwas fortgeworfen und nun ruhig stehen blieb. »Haben Sie geschossen?« fragte der König. »Ich!« – »Auf wen? Auf was?« – »Auf Euer Majestät selbst – ich habe eben das Pistol fortgeworfen; man wird es im Graben finden!« Graf Flemming sprang auf den Mörder zu und faßte ihn am Kragen, zugleich kamen zwei andere Herren herbei, er ließ es ruhig geschehen. »Es ist nichts, lieber Flemming,« sagte der König, »ich bin nicht verwundet, wenigstens nicht ernstlich – ich gehe, die Königin zu beruhigen, damit sie sich nicht unnütz ängstigt, die Nachricht wird sie ohnehin genug erschrecken. Lassen Sie den Mann festnehmen, aber verhindern Sie alle Mißhandlungen!« Damit setzte er ruhig seinen Weg nach Lichtenthal fort. Ich glaube, jetzt erst fühlte er selbst, daß die eine Kugel ihn doch getroffen hatte. Er war wahrhaft königlich in seiner Ruhe und Unbekümmertheit.«

»Daran erkenn' ich den königlichen Herrn, gleichgültig gegen die Gefahr, die ihn selbst bedroht hatte,« sagte der Journalist, »während sein ganzer Zorn erwacht war, als man das Leben seines königlichen Bruders bedroht hatte, damals bei der wahnwitzigen Tat Sefeloges – ich war selbst Zeuge, als der Prinz von Preußen zuerst dem Mörder begegnete, den man in ein Zimmer des alten Potsdamer Bahnhofs gebracht hatte, und wie er auf den Mann zustürzte und Hand an ihn legte: »Schurke, was hast Du mit meinem Bruder getan?« Die Umstehenden mußten sich dazwischen werfen, ich glaube, er hätte den Mörder getötet – ich habe nie einen majestätischeren Zorn gesehen.«

»Ich half dem Grafen und zwei Herren, die hinzugekommen,« fuhr der Erzähler fort, »denn ich war eben jetzt herbeigeeilt quer über die Wiese und noch ganz außer mir – den Mörder in einen rasch herbeigeholten Wagen schaffen und setzte mich mit hinein. Ich muß gestehen, daß er nicht den geringsten Widerstand leistete. Dennoch konnte ich mich nicht enthalten, ihn auf der Fahrt zu dem Amtshause zornbebend zu fragen: »Warum haben Sie unsern König ermorden wollen?«

»Und er?«

»Er antwortete mit trockenem, fast unbewegtem Ton, obschon er sehr blaß aussah: »Das werden Sie in meiner Brieftasche aufgezeichnet finden!« Dann gab er keine Antwort mehr, bis man ihn in dem Amtshause untersuchte und er auf das vorläufig vorgenommene Verhör Auskunft über seine Person und seine Verhältnisse gab. Den Inhalt des gefundnen Papiers haben Sie bereits gehört. Die erste Kugel scheint, vielleicht wegen Überladung des kleinen Doppelpistols, bei solcher Nähe gar nicht getroffen zu haben, die zweite vom Rockkragen des Königs – der hohe Herr trug wie immer hier, nur einen gewöhnlichen grauen Zivilrock – aufgefangen und abgeschwächt, denn, wie ich Ihnen sagte, ist nur der Kragen zerrissen und die Kugel hat, durch das schwarzseidene Halstuch aufgehalten, nur eine Kontusion auf der linken Seite des Halses verübt. Möge unser König allen Gefahren mit Gottes Schutz so glücklich entgehen!«

»Das walte Gott!« sagte der Journalist mit ernstem Ton, »denn es wird daran schwerlich fehlen. Kommen Sie, Freund, wir wollen nach dem Hotel gehen – ich möchte dort selbst hören, daß Ihre beruhigenden Nachrichten sich bestätigen!« Er nahm den ihm Befreundeten unter den Arm und führte ihn aus der Gruppe der Neugierigen, die nicht müde wurden, immer wieder weiteres zu fragen. »Ihre Aussagen,« warnte er, »gehören allein dem Instruktionsrichter. Die unglückliche Tat wird das größte Aufsehen in ganz Europa machen und kann bei allem Fluch, der sie begleitet, vielleicht von den bedeutsamsten Folgen in diesen Wirren sein. Sehen Sie um Himmelswillen die Menschenmasse, die sich vor dem Hotel drängt.«

Das Hotel Meßmer, in dem die Majestäten ihr Hoflager genommen, war in der Tat von Menschenmassen förmlich belagert, der Sonntag und das herrliche Wetter hatten aus der ganzen Umgebung ein unzähliges Publikum herbeigelockt und überall hörte man Rufe des Abscheues und bereits Beratungen und Pläne, wie man den hohen Herrschaften die allgemeine Teilnahme bekunden solle, um so mehr als, wie man vernahm, der Schrecken auf die Königin einen Besorgnis erregenden Eindruck hinterlassen haben sollte, während der König dieselbe Ruhe zeigte, die er bei dem Vorgang selbst bewahrt hatte. Soeben waren der Großherzog und die Großherzogin von Baden im höchsten Schrecken von dem Schlosse her herbeigekommen und die großherzogliche Equipage hatte sich kaum durch die Menschenmasse Bahn brechen können. Nicht allein alles, was an Zelebritäten und Fremden von Bedeutung in Baden anwesend war, eilte herbei, auch Hunderte von Personen aus bürgerlichen Kreisen drängten sich hinzu, ihren Namen in die in den Vorzimmern ausgelegten Bücher einzeichnen zu lassen. Unter den anwesenden preußischen Herren waren die Gesandten von Bismarck-Schönhausen und von Arnim, die Generale von Bonin und von Voigt-Rhetz, Graf Blücher und viele andere zu bemerken, und überall wurde unter den Gruppen lebhaft und selbst mit Erbitterung der politische Charakter der Tat debattiert. Depeschen flogen nach allen Seiten – eine der ersten, die abgingen, war auf Befehl des Königs an den Kronprinzen gerichtet gewesen, der sich augenblicklich in England aufhielt, wo er sich zum Besuch des Hofes befand. Er unterbrach ihn aber sogleich, um nach Baden zu eilen, wo er bereits am nächsten Abend eintraf; die Meldung der Tat nach Berlin erreichte bereits um 1 Uhr Nachmittags das auswärtige Ministerium, aber erst gegen Abend gelangte die Nachricht unter die Bevölkerung und verbreitete dort natürlich die größte Aufregung, der zuerst alle anderen Interessen wichen. Trotz der oppositionellen Stimmung, die damals in Berlin herrschte, sah man sofort überall preußische Fahnen und Embleme erscheinen und am späten Abend die Häuser illuminiert.

Bereits am Mittag des Tages hatte Herr Dejazet zur Feier der glücklichen Rettung von seiner Villa einen Luftballon steigen lassen, dem am Abend ein zweiter mit dem großen Namenszug des Königs folgte; Glückwunsch-Depeschen von Petersburg, Wien, London, Vichy trafen schon am Nachmittag ein, Offiziere und Soldaten der Garnison von Rastatt eilten mit den ersten Zügen herbei, um sich von der Rettung des geliebten Kriegsherrn durch Gottes Hand selbst zu überzeugen, und als am Abend um 7½ Uhr das gewöhnliche Konzert im Kurgarten beginnen sollte, mußte die Musik auf das Verlangen des Publikums schweigen, bis sie mit dem preußischen Triumphmarsch den von der Bürgerschaft der Stadt rasch improvisierten Fackelzug empfangen konnte, der, an der Spitze der Bürgermeister und die Ratsherren, die Liedertafel zum Hotel begleitete, und von mehr als 600 Fackelträgern aus allen Ständen und von jedem Alter gebildet wurde. Gegen 7 Uhr hatte der König mit seiner Tochter, der Großherzogin von Baden, im offenen Wagen eine Spazierfahrt gemacht und war auf dem ganzen Wege mit stürmischen Hurras begleitet worden, auch als später nach Empfang der Bürgerdeputation, während die Liedertafel wiederholt die preußische Volkshymne vortrug, der König mit der Königin mehrmals auf den Balkon heraustrat, wurde er mit stürmischem Enthusiasmus begrüßt, und erst spät am Abend verlief sich die Volks- und Fremdenmasse vor dem Hotel.

Es war gegen 11 Uhr Abends, als der König sich aus dem Circle zurückzog, der zum Tee auf seinen ausdrücklichen Wunsch wie gewöhnlich sich aus dem Familienkreise, dem Hofe und befohlenen Fremden gebildet hatte, und in seinem Kabinet neben dem Adjutanten vom Dienst – es befanden sich damals, da der König von Baden-Baden aus zur Beiwohnung der großen Manöver am Rhein nach Schloß Brühl gehen wollte, in der königlichen Begleitung außer dem General-Adjutanten, Oberst von Boyen und Major Prinz Hohenlohe, – den Gesandten von Bismarck traf.

»Guten Abend, Herr von Bismarck, haben Sie meinen Wunsch erfüllt?«

Der Gesandte verbeugte sich. »Euer Majestät Befehle sind vollzogen worden. Ich habe dem zweiten Verhör des Schuldigen beigewohnt und mit ihm unter Genehmigung des Gerichtsvorstandes selbst in seinem Gefängnis eine Unterredung gehabt.«

Der König winkte dem Adjutanten und dieser verließ das Arbeitszimmer. Der Monarch blieb mit seinem künftigen Staatsmann allein.

»Sie sehen, ich habe Hohenlohe entfernt, Exzellenz, um mich mit Ihnen ganz ungestört und vertraulich zu besprechen. Ich kenne Sie und weiß, daß Sie mir ungeschminkt die Wahrheit sagen und nichts verhehlen werden. Was halten Sie von dem Menschen?«

»Er ist ein politischer Fanatiker, wie so viele Fürstenmörder waren, Ravaillac, Orsini, die Brüder Bandiera und Andere.«

»Also nicht bloß wahnsinnig, nicht zurechnungsfähig, wie Sefeloge, oder aus irgend einer persönlichen Rache?«

»Nein, Majestät, es ist immer ein gewisser Wahnsinn dabei, wenn politischer Fanatismus zu einem solchen Gedanken ausartet, aber der Student Becker hat mit voller Überlegung und mit ganz bestimmter politischer Absicht gehandelt, er selbst nahm keinen Anstand schon bei dem Verhör zu erklären, daß er Eure Majestät Ihrer persönlichen Eigenschaften wegen sehr hoch achte.«

Der König hatte sich in einem Stuhl niedergelassen und die Augen mit der Hand bedeckt. »Also in der Tat ein Mordversuch aus politischer Tendenz! Nicht einmal aus nationalem Haß, wie wir zum Beispiel in Polen, in Ungarn erlebt haben.«

»Nein, Majestät!«

»Aber wofür? wofür? weil er mich in der Tat für unfähig hält, die Wünsche oder Pläne auszuführen – sagen wir es gerade heraus: des sogenannten Nationalvereins?«

Der Gesandte schwieg.

»Aber dann muß er einem Komplott angehören, einer Verschwörung, die auf diesem Wege mit Fürstenmord ihre Ziele verfolgt! Hat er Geständnisse gemacht, Komplicen angegeben?«

»Majestät, er behauptet, keinen Mitschuldigen seiner Freveltat zu haben. Nicht einmal …«

»Nun – warum stocken Sie?«

»Nicht einmal – ganz Deutschland,« sagte der Diplomat.

Der König ging mit unruhigen Schritten auf und nieder. Dann blieb er vor dem Staatsmann stehen.

»Aber Eure Exzellenz werden mir zugeben, wenn man für die Ziele einer Gesellschaft, einer Partei einen Fürstenmord versucht, darin muß man einen Halt, einen Gesinnungsgenossen in dieser Partei haben, wenigstens einen, der eine solche Tat billigt.«

»Majestät, die Geschichte des Menschengeschlechts lehrt, daß die besten Gedanken, selbst die höchsten Enthusiasmen für das Große und Erhabene in einzelnen Köpfen zu Ausartungen, ja zu Verbrechen führen können, welche die Menschheit als solche verdammen muß. Erinnern Sie sich an Cäsar, – selbst an Ludwig von Parma!«

»Mein Gott, ich bin doch kein Tyrann, kein Feind der Volksrechte, der Freiheit und der Entwickelung meines Volkes.«

Der Staatsmann ergriff die Hand des Königs und zog sie an die Lippen. »Euer Majestät sind der gerechte, der gütige Vater und Regierer Ihres Volkes. Kann in einem fanatischen Kopfe selbst diese Überzeugung nicht in die Überzeugung von der Notwendigkeit eines Märtyrertums ausarten?«

»Klar und kurz, glauben Sie, daß dieser Mordversuch aus den Tendenzen des Nationalvereins hervorgegangen ist, mit seinen Zielen zusammenhängt?«

»Majestät – ja! aber nicht mit seinen Lehren.«

»Aber dann liegt seine Gefährlichkeit für uns Fürsten auf der Hand!«

»Majestät – diese Lehren, diese Tendenzen sind nicht Früchte von heute und gestern, es sind die Überzeugungen vieler der besten Ihres Volkes, der deutschen Nation. Ich möchte mit meinem Kopfe dafür bürgen, daß in der ganzen großen Partei des Nationalvereins die ruchlose Tat des Studenten Becker den größten Schmerz, das tiefste Bedauern verursacht, daß er, selbst unter der deutschen Jugend, die für die Idee eines großen, geeinigten Deutschland enthusiasmiert ist, die Tat eines überspannten Kopfes, eines Meuchelmörders keine Mitwisser gehabt, hat.«

»Aber man spricht im Publikum, wie ich höre, bereits von einer Verschwörung von 18 Leipziger Studenten?«

»Majestät, ein Bericht der Leipziger Polizei ist auf telegraphischem Wege bereits eingegangen. Die Wohnung und die Papiere des Studenten Becker wurden sofort versiegelt, aber der kurze Bericht der Polizei besagt, daß, wenn er auch im Verdacht gewesen, als geborner Russe mit Herzen in London in Verbindung gestanden zu haben, er in Leipzig keiner Studentenverbindung angehört hat und, obschon er als finster, sich absondernd, ja als unangenehm gegolten, er doch nur seinen Studien gelebt, sich durch Korrekturen ernährt, und mit niemandem Verbindung und Umgang gehabt hat.«

»Aber die Folgen jener Lehren, jener Tendenzen! Was in dem einen Kopf sich entwickelt, wird den Fanatismus auch in anderen hervorrufen!«

»Majestät,« sagte der Diplomat, »erinnern Sie sich, daß unter diesen Tendenzen und Wünschen bisher nicht die deutschen Fürsten gelitten, sondern nur jene Männer, die sie unter zahlreichem und oft sehr hartem Märtyrertum, unter Todesurteilen, Kerker und Verbannung, hegten, und daß unter denen, die gelitten haben, nach 15 Jahren treuen Festhaltens und Bewahrens sich Männer befinden, die jetzt zu den Edelsten und Ersten der deutschen Nation gehören, daß selbst Euer Majestät hochseliger Bruder, ja Eure Majestät selbst die Wiedererhebung Deutschlands zu alter Größe als erhabenes Ziel stets betrachtet haben. Ich selbst habe nicht umsonst an deutscher Universität in Göttingen studiert.«

»Ich bin gewiß kein Feind oder Unterdrücker des Nationalvereins und seiner Bestrebungen,« unterbrach ihn der König, »das hat noch vor wenigen Monaten mein Erlaß an Schleinitz auf die Darmstädtischen Anträge am Bundestag zur Unterdrückung des Nationalvereins bewiesen. Aber ich bin durch die Gnade Gottes und das heilige Erbe meiner Väter, wenn auch ein deutscher Fürst, dessen deutsches Fühlen und Denken gewiß keinem jener hochtrabenden Wortführer des Nationalvereins nachsteht, doch vor allem König von Preußen, und mein Land darf nicht das Opfer unbestimmter Träume und Ziele werden, deren Zeit noch nicht gekommen ist!«

Der Diplomat erhob sich zu seiner ganzen Größe. »Das ist das richtige Wort und Gott segne Eure Majestät dafür! Dann wird auch die schlimme Tat des Studenten Becker einst beweisen, welcher falsche Wahn ihr zu Grunde lag.«

Der König blickte nachsinnend vor sich nieder. »Gott allein weiß alle Wege zum Besten zu lenken. Sagen Sie mir ehrlich, Herr von Bismarck; Sie ahnen bereits welche Absichten ich mit Ihnen habe. Werden Sie, wenn ich Sie zu meinem Minister mache, mit dem Nationalverein Hand in Hand gehen?«

»Nein, Majestät! Ich würde als Minister Preußens das Ehrenwerte und Patriotische in ihm benutzen, aber seine Bestrebungen in keiner Weise über uns Herr werden lassen, sondern den Verein nur als Mittel für das Ziel betrachten. Daß aber ein großes Deutschland mit Preußen allein an seiner Spitze dieses Ziel bleiben müßte, das, Majestät, bekenne ich offen, ist das Ideal meiner Jugend und wird das meiner Manneskraft bleiben. Die Wege des Nationalvereins können eben nur sehr untergeordnete Mittel der preußischen Staatspolitik bleiben. Ein so großes Werk erreicht sich nicht durch Klubreden und Volksversammlungen. Ich hatte bereits früher die Ehre, Euer Majestät die Gedanken über die Bahnen zu jenem Ziel auszusprechen und habe bei weiterem Nachdenken immer mehr die Überzeugung gewonnen, daß zu einem solchen Werk Blut der Kitt sein wird, und ein oder vielmehr eine Reihe von Kriegen den Weg bilden werden. Aber ich habe noch eine weitere Überzeugung gewonnen, und das traurige Ereignis des heutigen Tages hat sie bestätigt.«

»Sie sprachen mir allerdings von der traurigen Aussicht auf das Bevorstehen schwerer innerer und äußerer Kriege, und andere treue und geprüfte Männer teilen Ihre Ansichten über eine solche Notwendigkeit. Deswegen halte ich fest an meinem Werke der Armee-Reorganisation trotz aller Widersprüche und Kämpfe mit meinem Volke selbst.«

»Um Preußens Zukunft willen bleiben Euer Majestät bei diesem Entschluß, und müßten dabei Nationalverein und Kammer geopfert werden.«

»Ich hoffe, mein Volk wird zur Einsicht kommen und mir zur Seite stehen. Aber was ist die zweite Überzeugung, die Ihnen geworden, lieber Bismarck?«

»Daß Gott mit Ihnen ist und die Vorsehung gerade Euer Majestät bestimmt hat, das große Werk der deutschen Wiedergeburt auszuführen, nicht, daß eine andere Hand daran gelegt werden muß, wie jener Fantast meint.«

»Wie Gott will,« sagte der König; »ich hoffte, die Last würde auf jüngere und kräftigere Schultern fallen. Aber wenn es noch meine Aufgabe ist – mein Leben gehört Preußens Zukunft; doch erinnern Sie sich, daß ich vierundsechzig Jahre zähle und daß in dem Warten die Kraft liegt.«

»Ich hoffe, Deutschland wird die Saat rascher reifen sehen, als Euer Majestät heute glauben. Der Nationalverein hat wenigstens das Gute, daß seine offenen Bestrebungen Preußens Neider zwingen, desto schneller die Maske zu lüften und Farbe zu bekennen. Auch Herr von Arnim warnt vor Österreichs Kontreminen und der Absicht eines neuen Rheinbundes, zu dem leider diesmal auch die alten Freunde Preußens gehören werden. Die Politik von Hannover und Hessen ist voll Mißtrauen und Neid. Darum, Majestät, nicht um den Sieg der preußischen Waffen hatte ich Besorgnis, nur um die Hindernisse, die Eifersucht und Uneinigkeit Preußen in den Weg werfen können und werfen werden, und wenn dies der gleiche Gedanke gewesen ist, der jenem jungen Fantasten in seinem Briefe vorgeschwebt hat, so muß ich gestehen, daß ich ihm kaum soviel Verständnis der Situation zugetraut habe. Das eine wage ich noch Euer Majestät zu raten, suchen Sie in der deutschen Frage eine Unterstützung Preußens nur in Rußland – nicht in England!«

»Deswegen bleiben Sie eben noch vorläufig in Petersburg, auch während ich Compiègne besuche. Seien Sie unbesorgt, lieber Bismarck, ich bleibe entschlossen nach der einen Seite wie nach der anderen, aber abwarten müssen wir die richtige Zeit, damit Preußen kein Vorwurf treffen kann und auch das Recht stets auf unserer Seite sei.«

»So haben Euer Majestät mir für heute nichts mehr zu befehlen?«

»Nein, ich danke Ihnen für Ihren Eifer und für Ihre Gesinnung. Doch noch eins, ich darf freilich den verirrten Mann nicht der Ahndung der Gesetze entziehen, und das Verbrechen als solches muß seine Strafe finden, aber sprechen Sie bei den badenschen Gerichten den Wunsch aus, daß der Mann um meinetwillen nicht mit unnützer Härte behandelt werden möge. Gute Nacht, Herr Gesandter. Sie haben meinem Herzen eine schwere Last abgenommen durch die Beseitigung jedes Gedankens an Mitschuld von Männern, deren Streben vielleicht unter meinem sonst so gerechten Vater zu harte Beurteilung erlitten hat.«



 << zurück weiter >>