Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In der Zitadelle von Reggio.

Als Garibaldi und seine Freischar, nach allen Seiten hin abgeschnitten, auf der Hochebene des Aspromonte die Waffen gestreckt und sich dem piemontischen Truppenkorps ergeben hatte, das, seinen Instruktionen gemäß, den Condottiere zunächst nach Scilla – die Legion aber nach Reggio eskortieren sollte, war mit dem donnernden Scheidegruß: » Evviva Garibaldi! Evviva Roma!« unten im Tale die Schar abgeschwenkt, um dem Orte ihrer Bestimmung entgegenzuwandern. »Evviva Garibaldi« scholl's noch einmal aus der Ferne her wie ein schwermütiges Echo – – – dann waren die treuen Gesellen in der dämmernden Sommernacht verschwunden …

Ein altes Kastell war damals das letzte Überbleibsel der weiland so berühmten Festungswerke Reggios, und in den Mauern dieser delabrierten Zitadelle sollte die Legion bis auf weitere Order interniert bleiben. Es war eine Kriegsgefangenschaft in mildester Form. Die Bersaglierikompagnie, die die Besatzung- und Bewachungsmannschaft bildete, hatte mit den ihrer Hut anvertrauten Rothemden offen fraternisiert und teilte tritt ihnen den glühenden Haß gegen Louis Napoleon, den gallischen Imperator, der mit übermächtiger, eiserner Hand den Sturm und Drang des italienischen Volkes wie den Gang einer Maschine regulierte.

Die kriegsgefangene Legion erhielt die Verpflegung wie die königlichen Truppen; auch der Tabak mangelte nicht, und so gestaltete sich die Klausur erträglich genug. Im Gras umherliegend oder mit den Fischerdirnen, die als moderne Sirenen unten am Strande ihre Netze strickten, par distance liebäugelnd, verschlief, verplauderte und verrauchte die müßige Schar das ihr aufgedrungene far niente. Für manchen unter ihnen war übrigens diese unfreiwillige Waffenruhe zugleich auch ein Wink zu einer stillen Seeleneinkehr, an die er bisher im wilden Lärm der drängenden Ereignisse nicht gedacht hatte.

* * *

Einem Tage voll Sonnenbrand, wie er auch noch im Herbste die Luft Calabriens durchglüht, war der Abend mit seiner erquickenden Kühle gefolgt. Westwärts über den blauduftigen Gebirgslinien Siziliens verblich in einer Glorie von Purpur und Gold die Sonnenscheibe, und von den Klöstern und Kirchen Reggios läutete das Ave Maria herüber – jenes harmonische Lebewohl, das die katholische Phantasie dem sterbenden Tage nachruft …

Droben auf den Bastionen des Kastells leuchteten im Abendschein die roten Blusen der Legionäre, die sich gruppenweise da und dort niedergelassen hatten, um bis zum Zapfenstreich den erfrischenden Hauch des Seewindes einzuatmen. Abseits von seinen Waffen- und Schicksalsgenossen lehnte an der Brustwehr ein junger Legionär. Den Kopf in beide Hände gestützt, schien er in den Anblick des vor ihm hingebreiteten, imposanten Panoramas versunken zu sein. Hier die Stadt und, als Hintergrund den Horizont abschließend, die calabrische Bergwildnis. Westwärts das tiefblaue tyrrhenische Meer und die sizilische Küste, deren Klippenwände im flammenden Abendrot erglühten. Ein grandioses Naturgemälde! Und dennoch fesselte es nur die Augen des jungen Legionssoldaten: seine Seele war nach einem andern Erdstrich hingeschweift und wie in einem Traumwachen umgaukelten ihn die Erinnerungen an vergangene Tage und entschwundene Menschen. Dort nordwärts über Meer und Alpen lag sein Heimatsland, dem er als Flüchtling Lebewohl gesagt hatte, um fortan als abenteuerlicher Nomade die Fremde zu durchwandern. Und dennoch – was unterschied eigentlich für ihn die Fremde von der Heimat? Er durfte wie jener stoische Römer sagen: ubi bene, ibi patria. Vater und Mutter waren längst schon tot, auch Cordula, die arme Tante, deren blinde Liebe dem Neffen nur zum Unheil gereichen sollte, hatte seitdem, von den Schatten des Irrsinns umnachtet, im Tode ihre Ruhe gefunden. Dem fahnenflüchtigen Soldaten bot jetzt die Heimat nur noch die offene Türe einer dumpfen Festungskasematte.

Der Legionär preßte die Hand auf seine heiße Stirne. Auf Geisterschwingen trug es ihn in jene Mondnacht zurück, wo ihm der einst so wild gehaßte Gatte Theklas die rettende Freundeshand gereicht hatte.

O, jene Nacht – wie tausendmal hatte der Flüchtling seitdem ihr Bild heraufbeschworen! … Wie sah er auch jetzt wieder die Schimmel dahinfliegen, die, von Paul gelenkt, ihn der rettenden Grenze entgegentrugen! Und dann machten die flinken Renner mit einem Male Halt.

»Bis hierher!« sagte Paul und deutete vorwärts: »Dort ist Frankreich!« Schon in der nächsten Minute jagten in einer Staubwolke die Schimmel ihren Weg wieder zurück. Regungslos horchte der Flüchtling, bis der letzte Ton der enteilenden Räder in der Ferne verschollen war. Jetzt erst fühlte er zwischen seinen Fingern die Banknote, die ihm zugleich mit seinem letzten Handdruck Paul als Zehrgeld zugeschoben hatte. Noch stand mit tränenden Augen der Deserteur auf der öden Straße, als er in der Stille der Nacht Schritte vernahm: im Mondschein blitzte es jäh auf wie der Reflex blanken Metalles. Es war wohl eine Patrouille von deutschen Zöllnern, die des Weges kam. Der Flüchtling hatte alle Ursache, ihnen auszuweichen, und leise schlug er sich seitwärts in die Felder. Dort lag Frankreich – im Mondlicht winkte der blau-weiß-rote Grenzpfahl, noch ein Schritt und den flüchtigen Kanonier schirmten jetzt die Flügel des gallischen Adlers …

Eine Seeschwalbe schwirrte so nahe an dem jungen Legionär vorbei, daß er mit einemmal aus seiner Traumwelt erwachte. Ein Blick auf seine Umgebung führte ihn in die Gegenwart zurück. Einige dreißig Freischärler und Versaglieri, der Länge nach ins Gras hingeräkelt und die dampfende Pipetta zwischen den Zähnen, bildeten einen Kreis um eine alte, verrostete Kanone von riesigem Kaliber. »La Cerbottana« – das Blaserohr – hieß im Soldatenmund das altertümliche Geschütz, das noch aus den Zeiten herstammte, als der sarazenische Halbmond auf den Zinnen Reggios funkelte. Das mächtige Rohr, das jetzt mit seinem schwarzen Rachen so schläfrig nach der sizilischen Küste hinübergähnte, hatte seine schauerliche Legende. Geriet damals ein Nazarener in die Hände der Sarazenen, so ward ihm die Wahl gestellt, ob er sich zum Islam bekehren wolle oder nicht. Weigerte sich der Gefangene, das Christuskreuz abzuschwören, so ward er vor die Mündung jener Kanone gebunden und mit einem Schuß in die Luft hinausgeblasen. Daher die Bezeichnung »La Cerbottana«. Seit Jahren schon war das mörderische Rohr verstummt und mit dem Kastell selber zu einem harmlosen Popanz geworden …

Die Füße auf die Lafette gestemmt, hockte auf der gespenstigen Karthaune ein derber, in Wind und Wetter gestählter Geselle von schon reiferm Alter, denn der zottige schwarze Bart, der sein Gesicht überwucherte, spielte stellenweise bereits in Grau über. Die Jahre schienen aber der körperlichen Rüstigkeit des Mannes kaum einen Abbruch zugefügt zu haben. Wie seine Kameraden, trug auch er das rote Wollhemd der Garibaldischen Freischar. Der aufgeknöpfte Schlitz enthüllte eine Brust, breit und haarig wie die eines Abruzzenbären. Aus den aufgestülpten Hemdärmeln quollen zwei athletische Arme hervor, die auf ihrer Fläche, vom Ellbogen bis fast zum Handgelenk, in roter, grüner und blauer Farbe die groteske Bilderschrift der Tätowiernadel zeigten. Zwischen seinen Lippen qualmte ein sogenannter »Rattenschwanz« – eine jener dünnen, langen Virginiazigarren, wie sie in der italienischen Regie fabriziert werden. Der Alte war ein spezieller Landsmann Garibaldis, denn wie dieser stammte er aus Nizza. Um seinen eigentlichen Namen kümmerte sich niemand in der Legion, er hieß kurzweg »Sangue di Dio« – Blut Gottes – weil er kaum den Mund öffnete, ohne seine Rede mit diesem Mixtum compositum von Fluch und Fürbitte einzuleiten. Wie Garibaldi, war auch Sangue di Dio seiner eigentlichen Profession nach Seemann und nicht minder wie der Condottiere, hatte sich auch der alte Knabe in allen Meeren umhergetrieben. Garibaldi war sein Abgott und ihm zu Lieb war Sangue di Dio unter die Landratten gegangen und in die Freischar seines berühmten Kompatrioten eingetreten, der den kundigen Seewolf zum Capomaestro der Pontonierabteilung gemacht hatte. Infolge seiner Tapferkeit und seines unverwüstlichen Humors gehörte Sangue di Dio zu den populärsten Figuren der Legion, und was ihn am Biwakfeuer – jetzt auch in der Langeweile der Gefangenschaft – noch schätzenswerter machte, war die Fülle von abenteuerlichen Erlebnissen, die er unter den verschiedensten Breitengraden durchgemacht hatte und die er in ebenso drastischer Weise seinen Zuhörern zu erzählen mußte. Wieviel Prozente Matrosenlatein er seinem »Garn« beimischte, blieb allerdings eine Frage, doch so genau nahmen seine Kameraden überhaupt die Sache nicht und sie taten recht daran, denn Wahrheit und Dichtung gibt zusammen den pikantesten Roman ab … Der junge Legionär – Heribert Hilgard – war dem Kreise näher getreten, als suche er für den trüben Strom seiner Gedanken eine gewaltsame Ablenkung. Sangue di Dio hatte schon zuvor den jungen Träumer ins Auge gefaßt. In dem blutigen Gefecht bei Trajetto war der Deutsche dem alten Matrosen zum Lebensretter geworden: dieser hatte den Auftrag erhalten, mit seinen Pontoniers eine Notbrücke über den Garigliano zu schlagen und war kaum an die Arbeit gegangen, als aus den umliegenden Zitronengärten bourbonische Infanterie hervorbrach. Die Pontoniers und die ihnen beigegebene Bedeckung hatten einen harten Stand, denn der Feind war bedeutend in der Übermacht. Gerade noch zur rechten Zeit kam ein Geschütz der Garibaldischen Artillerie herangeflogen und ging sofort mit ein paar Kartätschenschüssen den Neapolitanern auf den Leib. In wilder Unordnung ergriffen diese die Flucht. Die Garibaldiner, die gefangen oder blessiert den Neapolitanern in die Hände fielen, durften der brutalsten Mißhandlung gewärtig sein: um dies zu verhüten, begannen die Legionäre den Kampfplatz abzusuchen, damit zunächst die eigenen verwundeten Kameraden in Sicherheit gebracht werden konnten. Auch der Unteroffizier des Geschützes beteiligte sich an dem Samariterwerke. Aus einem Gebüsch scholl ihm ein dumpfes Geräusch entgegen. Rasch eilte der Capobombardiere darauf los: ein greulicher Anblick fesselte sein Auge. Ein Pontonier, den ein Schuß oder Bajonettstich in das Bein zu Fall gebracht hatte, wehrte sich mit seinem auf den Karabiner gepflanzten Faschinenmesser nur noch mühsam gegen drei gleichfalls verwundete Neapolitaner. Das blanke Stilett, das in der Faust des einen funkelte, erklärte, welches Los der Barbar in seinem wilden Fanatismus dem Ketzer und Rebellen zugedacht hatte: entweder wollte er ihm – was häufig vorkam – die Augen ausstechen, oder ihn verstümmeln.

Blitzschnell hatte der Capobombardiere eine auf dem Boden liegende Muskete aufgerafft – sausend fuhr der Kolben durch die Luft – noch einmal – und noch einmal! Wie geknickte Ochsen schmetterten die drei Soldknechte für Thron und Altar ins Gras …

»Sangue di Dio!« brummte der Gerettete und reichte seinem Helfer dankbar die Hand: »nur noch eine Minute und unser Feldpfaffe Pater Gavazzi, ein patriotischer Priester, der in der Einigung Italiens sein höchstes Ideal erblickte und (wie weiland der Kapuziner Haspinger im Landsturm Andreas Hofers) die Freischar Garibaldis, der er sich angeschlossen hatte, als Seelenhirte und Tyrtäus zugleich begleitete. hätt' mir die schönste Leichenpredigt halten können!«

Seitdem nahm im Herzen des alten Knaben der deutsche Kanonier den zweiten Platz ein – der erste, wie wir wissen, gehörte seinem Landsmann Garibaldi … Jetzt winkte er von seinem luftigen Sitze herab dem jungen Waffenbruder zu, der dem Zeichen gehorchte.

»Gottesblut, Capobombardiere!« raunte er ihm ins Ohr: »Plagen dich mal wieder die Grillen? Wenn Giuditta, unsre würdige Marketenderin mit ihren drei Eberzähnen im Maul, dreißig Jahre jünger wäre, würd' ich auf den Gedanken kommen, sie hätte dir den Kopf verdreht und du laboriertest am Liebesfieber! Aber so zwickt dich wohl das Heimweh nach ein paar deutschen blauen Taubenaugen!« Er zog sein Taschentuch, das so ziemlich einem Segelfetzen glich, hervor und stäubte damit feierlich das Rohr der Cerbottana ab. »Damit deine schöne Paradehose keine Not leidet!« erklärte er mit einem humoristischen Seitenblick auf die fadenscheinigen »Unaussprechlichen« des Kameraden: »jetzt setze dich neben mich, zünde dir einen Rattenschwanz an und hör' der Geschichte zu, die ich schon gestern diesen Quälgeistern da« – er deutete auf die Runde von Rothemden und Soldaten – »versprechen mußte und die dir zeigen wird, was alles einem braven Seemann auf seinen Fahrten passieren kann. Er warf seinen abgebrannten Virginiastummel von sich und ersetzte ihn durch einen Knollen Kautabak, den er bedächtig in die linke Backentasche schob.

» II racconto! il racconto!« mahnten einige ungeduldige Stimmen.

»Gottesblut, ihr jungen Kälber!« knurrte der würdige Capomaestro: »könnt ihr nicht warten, bis ich anfange?!«

Die rebellischen Kälber verstummten.

»Ich werde euch euern Ehrensitz allein überlassen und mich zu den andern ins Gras legen,« sagte der Capobombardiere zu dem alten Knasterbart.

» Per me,« brummte dieser: »so kann ich es mir auf der Cerbottana desto bequemer machen.« Und ein Bein über das andere schlagend, setzte er sich in bequeme Positur, während der deutsche Kanonier sich in dem Kreise der Zuhörer nach einer offenen Lücke umsah. Gespannte Erwartung lag auf all den gebräunten verwetterten Gesichtern, als Sangue di Dio sich räusperte, dem kleinen Tambour Sbarbatello von der dritten Kompagnie kaum eine Handbreit vom Kopfe vorbeispukte und dann begann: »Es mögen jetzt zehn oder zwölf Jahre her sein, als die Brigantine ›la Sirena‹, auf der ich als Bootsmann diente, einen Cargo Apfelsinen und Zitronen von Genua nach Kopenhagen brachte. Wir waren glücklich bis in die Nordsee gekommen – da trieb der Teufel sein Spiel und ließ mich durch einen schlimmen Fall den Arm brechen. Monatelang mußte ich zu Kopenhagen im Seemanns-Hospital vor Anker liegen, bis mich die Doktoren als geheilt entließen. Ich hatte das Landleben satt bis über die Ohren und schnappte nach Seeluft, wie ein trockengesetzter Fisch nach einem Tropfen Wasser. Mein erster Gang war also nach dem Hafen, um mich nach einem segelfertigen Schiffe umzusehen. Die ›Sirena‹ hatte natürlich längst den Heimweg angetreten, und auch sonst lag zur Stunde kein Landsmann auf der Reede. Ich wollte aber um jeden Preis vom Fleck wegkommen und so dachte ich: Gottesblut! wenn's keine italienischen Planken sind, so mögen es andere sein.«

» Ma, capomaestro,« warf einer der Bersaglieri ein, »was wolltet Ihr denn auf einem fremden Schiffe suchen, da Ihr doch nur Italienisch verstandet?« Mit einem zermalmenden Blick betrachtete der alte Seewolf den jungen Soldaten, der in seinem piemontesischen Bergdorf allerdings nicht die beste Gelegenheit gehabt hatte, die kosmopolitische Findigkeit einer echten und rechten Teerjacke kennen zu lernen und dem daher seine naive Frage durchaus erlaubt war. »Gottesblut, du kurzgeschorene Landratte! Wer sagt dir denn, daß ich nur die Sprache rede, in der meine selige Mutter mich das Paternoster beten lehrte? Merke dir, daß ein alter Matrose soviel Brocken beisammen hat, um sich, soweit es sein Fach betrifft, in allen Häfen der Welt verständlich zu machen.«

Der abgetakelte Interpellant hielt es für angezeigt, keine weiteren Zweifel laut werden zu lassen, denn die klassische Grobheit des Alten war in der ganzen Zitadelle bekannt. Sangue di Dio fuhr also fort: »Draußen im Christianshafen fand ich ein dänisches Barkschiff – den ›Odin‹, der in den nächsten Tagen unter Segel gehen sollte. Seine Bestimmung war die westindische Insel San Thomas, die, wie ihr kaum wissen werdet, der dänischen Krone untertan ist; unterwegs sollte der ›Odin‹ die Insel Madeira anlaufen. Ich muß sagen, das alte Fahrzeug gefiel mir nicht besonders und auch der Capitano – seinen Namen Kruse werd' ich sobald nicht vergessen – sah nicht viel besser aus. Er war ein finsterer Patron mit struppigem Bart und seine blaurote Nase hatte er schwerlich vom Wassertrinken. Aber – wie schon gesagt – es drängte mich, wieder einmal die Deckplanken eines Schiffes unter die Füße zu kriegen und da ich in einer Strandkneipe erfahren hatte, der ›Odin‹ könne just noch einen Mann brauchen, so kletterte ich an Bord, um meine Dienste anzutragen. Ich traf den Capitano in seiner Kajüte und redete ihn in englischer Sprache an. Er richtete verschiedene Fragen an mich, dann blickte er den Steuermann an, der mittlerweile eingetreten war. Der Steuermann, ein langer, dürrer, aber kräftiger Kerl, musterte mich vom Kopf bis zu Fuß, dann sprachen sie miteinander in einem Kauderwelsch, das ich nicht verstand, denn die beiden waren keine eigentlichen Dänen, sondern stammten von den Färöerinseln. Das Ergebnis ihrer Unterredung war für mich ein günstiges, denn der Capitano wandte sich an mich und erklärte mir, ich könne bei ihm ankommen. Noch am gleichen Tage ward ich in die Musterrolle eingeschrieben und der Steuerbordwache zugeteilt. Ich hatte bemerkt, daß der Zimmermann an der Herstellung einer Vorkajüte arbeitete, die an jene des Capitanos stieß; jetzt erfuhr ich, daß der ›Odin‹ einige Passagiere an Bord nehme, die einer Luftkur wegen nach Madeira gingen. Am folgenden Abend traf auch die Gesellschaft ein mit einem ganzen Haufen von Koffern, Kisten und Kasten. Die Hauptpatientin war, wie ich sogleich bemerken konnte, eine junge Dame von höchstens vierundzwanzig Jahren, zur Reisebegleitung hatte sie einen alten Herrn und zwei junge Mädchen von etwa sechzehn und achtzehn Jahren. Eine Amme in der Nationaltracht der dänischen Inseln, die auf ihren Armen ein kleines Bübchen trug – so fein und wunderhübsch wie das Jesuskind im Dom zu Genua – und eine schnippische Kammerkatze bildeten die Bedienung. Es waren offenbar reiche und vornehme Leute, die wir da an Bord bekamen, und ich wunderte mich nur, wie sie hatten auf den Einfall kommen können, zu ihrer Seereise einen so alten und unbequemen Schaukelkasten, wie der ›Odin‹ es war, sich auszusuchen. Ein junger stattlicher Herr geleitete die Gesellschaft bis an Bord und half ihnen ihren Kajütenraum für die erste Nacht herrichten – dann ging's an ein höchst wehmütiges Abschiednehmen, bei dem zwischen Hinüber- und Herüber-Küssen auch die Tränen nicht fehlten. Der junge Herr, wie ich später erfuhr, war der Gatte der leidenden Dame und zugleich Vater jenes hübschen Kindchens. Gern hätte er selber seine Gemahlin nach Madeira gebracht, aber es war ihm unmöglich gewesen, sich auf so lange Zeit seinen Geschäften – er besaß mehrere Fabriken in der Umgegend von Kopenhagen – zu entziehen, und so blieb ihm nur der Trost, daß wenigstens sein Schwiegervater und zwei Cousinen seiner Gemahlin zu Schutz und Erheiterung der jungen brustkranken Frau die Reise mitmachten.

Ich sah, wie der junge Herr – Helio hieß er – beim Abschied seine Angehörigen nochmals dem Capitano bestens anempfahl und ihm dabei herzlich die Hand drückte … Gottesblut! Ich bin kein wehleidiges Hühnchen und nebenbei ging mich die ganze Geschichte mit Haut und Haar nichts an – aber ich muß sagen, der arme junge Herr dauerte mich bis in die Seele hinein, denn es war ja eine Frage, ob er sein liebes Frauchen lebend wiedersehen solle oder nicht. Mit feuchten Augen stieg er endlich in das Boot hinab, das ihn ans Land zurückbringen sollte. Der ›Odin‹ war schon am Mittag aus dem Hafen auf die Reede hinausbugsiert worden; jetzt lichteten wir den Anker, wobei die dänische Mannschaft ihr altes Nationallied anstimmte:

Kong Christian stod ved höien Mast. König Christian stand am hohen Mast.

Eine günstige Brise blies in unsere Segel und trieb uns stetig dem Sund entgegen. Mit ihren Taschentüchern die letzten Grüße hinüberwinkend, waren die Gäste des ›Odin‹ an Deck geblieben, bis sich am Ufer die Gestalt des trauernden Mannes im Abendduft verloren hatte. Dann geleiteten unter Trostworten der alte Herr und die beiden Mädchen die junge tief ergriffene Frau in die Kajüte, die durch einen Tapezierer so wohnlich wie möglich ausgestattet worden war. Gleich darauf brach die Nacht ein: die Backbordwache ging zu Koje, die Steuerbordwache, zu der ich gehörte, trat unter dem Kommando des Capitanos ihren Dienst an …«

Mit gekrümmtem Zeigefinger fuhr sich Sangue di Dio in den Mund, um seine »fava« aus der linken in die rechte Backentasche hinüberzulotsen. Seine wetterharten Gesichtszüge verdüsterten sich, und in rascherem Atemzug hob und senkte sich die breite Brust. In seine Erinnerungen verloren, starrte der alte Seemann vor sich hin, während sich rings nichts rührte als der Abendwind, der in den Kronen der Bäume spielte. Langsam richtete sich auf der Kanone die mächtige Gestalt nach einer Weile wieder auf, und er nickte vor sich hin, als hab' er den abgerissenen Faden seiner Erzählung wieder aufgegriffen. Der Klang seiner Stimme war unbewußt dumpfer geworden, als er jetzt weiterfuhr:

»Daß der Capitano des ›Odin‹ gleich beim ersten Blick keinen guten Eindruck auf mich gemacht hatte, sagte ich euch bereits; in seiner wahren Gestalt aber zeigte sich erst der Unhold, als wir zwischen Himmel und Wasser schwebten. Auf all meinen Fahrten ist mir kaum ein greulicherer Kerl begegnet und ich dachte manchmal, so müsse der fliegende Holländer aussehen, der dazu verdammt ist, bis zum jüngsten Gericht auf der See herumzukreuzen. Gott und Teufel waren ihm einerlei, bei jeder Gelegenheit fluchte er wie ein Kümmeltürke, und die geringste Widerrede brachte ihn in eine solch bestialische Wut, daß ihm ordentlich der Schaum vors Maul trat. Bald genug merkte ich, woher dieses tolle Benehmen kam: er hatte der Schnapsflasche seine schwarze Seele verschrieben und lavierte beständig in einem halben Taumel umher. Aber trotzdem war er ein fixer Seemann, der sich, wie nur einer, auf Wind und Wetter verstand. – Das muß dem Schuft nachgesagt bleiben bis in die Hölle, wo er jetzt bratet. In dem Steuermann hatte er sich einen würdigen Gehilfen und Freund erkoren: der rumorte und soff gerade so wie der Patron. Meine Kameraden, die Matrosen, stammten aus Dänemark und Norwegen; es waren mürrische, muffige Gesellen, die mich das heitere Leben auf unsern italienischen Schiffen doppelt und dreifach vermissen ließen. In fine – ich durfte auf eine trübselige Fahrt rechnen und hatte nur den Trost, daß die Geschichte in ein paar Wochen überstanden und ich dann wieder los und ledig sei …

»Mit Einbruch der Nacht waren wir, wie ich euch erzählte, von Kopenhagen ausgelaufen; gleich am nächsten Morgen sollten auch unsere Passagiere den Capitano besser kennen lernen. Der alte Herr und die drei Damen hatten in ihrer Kajüte den Kaffee getrunken und sich dann an Deck begeben, um den Sonnenschein und die schöne Seeluft zu genießen. Wir segelten noch im Sund und links wie rechts leuchtete die dänische und schwedische Küste herüber. Mit einemmal ertönt von dem Quartier des Patrons her ein jämmerliches Geheul und gleich darauf zeigt sich hinten beim Steuer der Kajütenjunge mit blutrünstigem Gesicht. Im selben Moment kommt auch schon der Capitano wie ein wildes Vieh nachgestürzt, packt den unseligen Ragazzo beim Wickel und schlägt in heller Raserei mit der geballten Faust frisch auf ihn los. Schon bei den ersten Jammerlauten hatten sich der alte Herr und die Damen erschrocken erhoben – als sie die Ursache gewahr wurden, erfüllte sie ein lebhafter Unwillen, und der alte Herr, von seinem guten Herzen fortgerissen, rief dem Capitano einige Worte zu, die soweit einen Erfolg hatten, daß der Wüterich mit einem letzten Fußtritt den armen Sünder losließ. Kajütenjungen sind nun freilich meistens Teufelsrangen und ein gelegentlicher Puff zwischen die Rippen schadet ihnen nichts, wie ich aus eigener Erfahrung bezeugen kann: was aber zu viel ist, ist zu viel und schon im Christianshafen hatte ich bemerkt, in welch brutaler Weise der arme Tropf vom Patron behandelt wurde … Bald nach dem widerwärtigen Vorfall kam der Capitano in die Nähe der Passagiere, und der alte Herr, immer noch erregt, benützte die Gelegenheit, um sich nochmals über die barbarische Züchtigung des Jungen auszusprechen, die ganz besonders die kranke Dame (die Tochter des alten Herrn) ergriffen hatte. Ich war gerade auf dem Vorderdeck beschäftigt und so konnt' ich nur sehen, wie, seinen Gebärden zufolge, der Patron kurz und barsch antwortete. In augenscheinlicher Entrüstung zog sich die Familie in ihre Kajüte zurück und auch der Capitano ging unter Deck – wohl, um seinen Grimm in der Branntweinflasche zu ersäufen. Der alte Herr hatte nicht ganz klug gehandelt, denn angesichts seiner Mannschaft darf sich ein Capitano von keinem Passagier herunterkapiteln lassen; das hätte zwischen vier Augen geschehen sollen, und dann wäre vielleicht auch der Patron willfähriger gewesen. Jetzt ließ sich aber die Sache nicht mehr ändern und ich sagte mir gleich, daß die Reisenden für ihr mitleidiges Erbarmen schon noch büßen müßten – so oder so …«

In wachsender Spannung drängte sich die Zuhörerrunde immer enger um den Erzähler, denn alle ahnten ja, daß die Geschichte irgendwelchen dramatischen Abschluß finden werde. Rings hingen die Augen der Soldaten und Legionäre an den Lippen des Alten, der von seiner Kanone herab wie ein Zauberer den von ihm gezogenen Bannkreis überblickte.

»Gottesblut! Die Leutchen hatten sich jedenfalls eine angenehme Seefahrt versprochen und es hätte auch so sein können, denn Wind und Wetter blieben uns gewogen und der alte ›Odin‹ steuerte glatt seinen Kurs. Aber in anderer Weise ward unsern Passagieren jeder Atemzug an Bord verbittert. Der Abscheu, den die Familie dem Capitano wegen seiner Roheit allzu unverhohlen bezeugt hatte, war wie ein Zündfunken in den gallsüchtigen Kumpan hineingefahren und jetzt wollte er erst recht zeigen, daß er Herr an Bord sei, und daß er den Teufel danach frage, was diese vier Landratten über ihn dächten. Den Kajütenjungen knuffte er allerdings jetzt nur noch unter vier Augen, denn der alte Herr – wie ich später aus dessen eigenem Munde erfuhr – hatte in seiner flammenden Entrüstung dem Unhold mit gerichtlicher Anzeige gedroht, falls sich die barbarische Züchtigung des Jungen nochmals wiederholen sollte. Der Steuermann, als Landsmann und Saufbruder des Capitanos, teilte natürlich dessen Haß gegen das ›zimperliche Pack‹, und so entstand ein Verhältnis, das schon an Land unerquicklich gewesen wäre, hier aber zwischen den engen Schiffswänden sich zum hellen Elend zuspitzte. Der Capitano und der Steuermann gingen an dem alten Herrn und den Damen vorüber, ohne einen Blick, viel weniger ein Wort für sie zu haben; die in ihrer Würde verletzte Familie war ihrerseits zu stolz, als daß sie um gut Wetter gebettelt hätte und so ward der Riß immer breiter. Sah sich der alte Herr trotzdem gezwungen, irgendein Verlangen an den Capitano zu stellen, so gab dieser knapp und kalt die nötige Antwort und ging wieder seiner Wege. Gerade durch diesen Kriegszustand zwischen den beiden Kajüten sollte ich aber mit der Familie in nähere Berührung kommen, und das machte sich so: wie ich euch schon gesagt habe, gehörte ich zur Steuerbordwache und wir segelten an dem Abend, von dem hier just die Rede ist, auf der Höhe der Insel Ouessant, An der Westküste von Bretagne, unweit Berst. deren Leuchtfeuer zu uns herüberflimmerte und uns vor den sogenannten ›schwarzen Riffen‹ warnte, an denen sich schon so manch braves Fahrzeug ein Loch in den Kopf gestoßen hat, wofür es beim Zimmermann kein Pflaster mehr gab. Die Backbordwache hatte uns abgelöst und wir konnten für vier Stunden zu Koje gehen. Ich war noch ein paar Minuten zurückgeblieben und lehnte vorn am Schanzbord, um den Kurs eines großen Dampfers zu beobachten, der, von Brest kommend, seewärts steuerte. Mit einemmal berührte mich eine Hand: ich wandte mich um und vor mir stand der alte Herr und Reisebegleiter der Damen. Ich war so überrascht, daß mir unwillkürlich in meiner heimatlichen Sprache die Frage entfuhr, was er wünsche.«

» Ecco, un Italiano a bordo d'un Danese!« meinte er verwundert.

» Si, Signore, un uccello perduto,« antwortete ich, und der Klang meiner eigenen Stimme tat meinen Ohren wohl, die seit Monaten nichts gehört hatten als das skandinavische Gegurgel.

»Ich habe eine Bitte an Euch,« erklärte der alte Herr, der ganz geläufig Italienisch redete.

» Sempre vostro, Signore!« sagte ich und rückte höflich meine Mütze. In sichtlicher Erregung deutete der Alte nach seiner Kajüte. »Es ist nicht mehr zum Aushalten! Meine Tochter und die beiden andern Damen wissen sich vor Angst und Ekel nicht mehr zu helfen. Die abscheulichen Geschöpfe werden immer dreister und zudringlicher!«

»Ah, Signore, Sie meinen wohl die Ratten?«

Er nickte. »Plagen Sie auch Euch?« wollte er wissen.

»Sangue di Dio!« lachte ich, »und ob? Ich bin noch auf wenigen Schiffen gefahren, die so von dem vermaledeiten Ungeziefer wimmelten, wie der alte ›Odin‹. Jeden Tag schlagen wir in unserm Kastell mindestens ein halbes Duzend tot, ohne daß das Satansvieh Notiz davon nimmt.«

Der alte Herr schüttelte sich vor Abscheu. »Kommt mit, mein Freund!« sagte er und packte mich hastig beim Arm: »ich verlange Eure Hilfe nicht umsonst.« Er zog mich gegen die Kajüte hin. »Wartet einen Moment«, sagte er und ging voraus; gleich darauf erschien er wieder und winkte mir, ihm zu folgen. Ein kurioser Anblick erwartete mich! Leichenblaß standen die drei Damen mitten auf dem Tisch und hielten sich an den Deckleisten der Kajüte fest. Kaum war ich eingetreten, als ich auch schon fünf oder sechs dunkle Schatten durch den Lichtkreis der Lampe huschen sah. Gottesblut, was war da zu machen? Ich zündete eine Kerze an und leuchtete in der Kajüte herum, wo ich bald verschiedene Löcher entdeckte, durch die sich das verfluchte Geschmeiß hereingeschafft hatte. Mit allerlei Leckerbissen in Büchsen, Kisten und Schachteln war die Herrschaft an Bord gekommen und das hatten die feinnasigen Langschwänze bald genug gewittert. Durch die Löcher waren sie mir entwischt – nur einer der Plagegeister hatte sich hinter einen Koffer verschanzt, von wo er mir pfauchend die Zähne zeigte: ich stöberte ihn hervor und schickte ihn unter dem Angstgeschrei der Damen mit einem Fußtritt zu seinen Vätern. Ich trug das häßliche Vieh hinaus und warf es über Bord, dann kam ich zurück, um den Damen die Beruhigung zu geben, daß das Ungeziefer eingeschüchtert genug sei, um sich vorerst still zu halten. Aber sie waren so voller Furcht, daß sie schlechterdings nicht vom Tisch herunter wollten. Ich fragte den alten Herrn, ob er denn nicht schon den Capitano aufgefordert habe, irgendwelche Abwehr zu schaffen. »Gewiß hab' ich es getan,« antwortete er mir in bitterm Unmut: »der ganze Trost aber, den er mir gab, war, bei ihm tanze das Ungeziefer gleichfalls auf Tisch und Bank herum, da müsse eben jeder sein eigener Kammerjäger sein. Und damit ging er lachend weiter …«

Gottesblut! Ich konnte mir denken, wie die beiden Schufte, der Patron und der Steuermann, an der Not der Familie ihre helle Freude hatten. Die drei armen Damen dauerten mich in die Seele hinein, und wenn's mir möglich gewesen wäre, hätt' ich mich gern bis nach Madeira als Rattenfänger in ihre Kajüte postiert. Katzen hatten wir keine an Bord, weil der Capitano sie nicht leiden konnte; auch eine Falle hätte nicht viel geholfen, denn bald wären ja die listigen Kreaturen nicht mehr auf den Köder gegangen. Es blieb also nichts weiter übrig, als die Löcher in der Kajütenwand zu verstopfen und darauf zu achten, daß das Ungeziefer keine neuen bohrte. Der alte Herr brachte einige Biskuitbüchsen herbei, die ich mit einer Zange in Stücke zerkneipte; die Blechstücke nagelte ich über die Löcher. Nochmals machte ich durch die ganze Kajüte die Runde, und sogar die Schlafkojen mußte ich untersuchen. Was hätten daheim in ihrem Hause wohl die Damen dazu gesagt, wenn ein Matrose herbeigekommen wäre, um ihre Betten zu inspizieren! Hier aber begrüßten sie ihn als einen wundertätigen Heiligen, und es läßt sich aus diesem Exempel ersehen, wie wenig es braucht, um das ganze Dekorum der Menschen über Bord zu werfen!« Ein zustimmendes Grunzen des Auditoriums bestätigte den philosophischen Lehrsatz des alten Knaben, der also weiterfuhr: »Jetzt erst stiegen die Damen behutsam von ihrem Tisch herunter und reichten mir dankend die Hand, als hätt' ich ihnen das Leben gerettet. Der alte Herr war nicht minder vergnügt: er spendete mir ein großes Glas voll Wein und ein Bündel seiner Zigarren, dann begleitete er mich bis vor die Kajütentüre und gab mir hier noch ein Goldstück mit dem Bedeuten, ich solle täglich zu verschiedenen Malen die Kajüte visitieren – zu Madeira würde ich dafür meine Belohnung erhalten. Gottesblut! Das war kein übler Nebenverdienst, und ich durfte jetzt die Ratten segnen, die mir dazu verhalfen. Gleich am andern Tage schon ward es an Bord bekannt, daß ich zum Schutzengel der Familie avanziert sei. Die übrigen Matrosen, die meine feinen Zigarren rochen, ärgerte es, daß ihnen das Geschäft entgangen war – der Capitano aber hänselte mich weidlich und meinte unter rohem Lachen, ich könne ja auch gleich den Damen die Flöhe wegfangen. Ich dachte, wer zuletzt lacht, lacht am besten und versah ruhig meinen Kammerjägerposten. Das Ungeziefer merkte bald, daß ich ruhelos hinter ihm her war, und so gelang es mir, wenigstens die Kajüte sauber zu halten. In den übrigen Teilen des Schiffes feierte die Brut nach wie vor ihren Hexensabbat. Wie sie hundertweise an Bord sein mußten, davon erhielten wir eine klaren Beweis. Wir segelten die Nordwestküste von Spanien entlang, als sich in unserm Fahrwasser ein Rudel Schweinfische Zur Gattung der Delphine gehörend. zeigte; unter der Mannschaft befand sich ein Norweger, der schon mehrfach auf Walfischfängern gedient und dort gelernt hatte, mit der Harpune umzugehen. Wir führten eine solche an Bord und Olaf – so hieß der Matrose – stellte sich auf die Lauer. Nicht lange dauerte es, da schwirrte der Wurfspieß wie ein Blitz zwischen die Herde hinein und am Widerhaken zappelte einer der allzu vertrauensseligen Tümmler. Er gebärdete sich wie der Teufel in der Sakristei und zerrte unter den tollsten Sprüngen und Kapriolen an der Leine, um wieder loszukommen, aber er trieb sich dadurch die Angel immer tiefer ins Fleisch, und nachdem er sich müd und mattgeschlegelt hatte, hißten wir ihn in einer Schleife an Bord, wo ihm sein Jäger vollends den Garaus machte. Es war ein feistes Tier, das mehr als vier Zentner wog, und wir machten für den kommenden Schmaus jetzt schon die Zähne scharf, denn als Rostbraten schmeckt der Schweinfisch ganz pikant, schon als Abwechslung gegen das tägliche Salz- und Pökelfleisch. Auch für die Herrschaft in der Kajüte besorgte ich ein gutes Stück, und die Damen erklärten mir lachend, ihr Schlächter daheim hab' ihnen schon zäheres Beefsteak geliefert. Wie ihr Vater, sprach auch die junge Frau Helio ganz flüssig Italienisch, denn wegen ihrer schwachen Brust hatte sie mehrere Winter in Villa Franca verlebt. Sie war Zuschauerin des Delphinfanges gewesen, und ich weiß heute noch nicht, ob sie es scherzhaft oder ernst meinte, als sie zu mir sagte: »Wenn nur nicht der Meergott Rache dafür nimmt, daß wir ihm eines seiner Kinder geraubt haben …«

Wir hatten, da es schon zu dämmern begann, den Schweinfisch vorn unter das Halbdeck geschleppt, damit er uns über Nacht aus dem Wege sei; am nächsten Morgen sollten noch die besten Stücke herausgeschnitten und der Rest dann über Bord geworfen werden. Bei Tagesanbruch gab's lange Gesichter: die Ratten waren in der dunkeln Regennacht aus allen Winkeln herbeigekommen und hatten von dem schweren Tiere nur noch einzelne Fleischfetzen übriggelassen! Fluchend warfen die Matrosen das Gerippe in die See, nachdem sie an ein paar Dutzenden der Räuber, die nicht zeitig genug auf den Rückzug bedacht gewesen waren, blutige Justiz geübt hatten. Hunderte der verdammten Langschwänze waren aber nötig gewesen, um mit der Fleischmasse so gründlich aufzuräumen, und das konnte mich nur anspornen, ihnen mit verdoppelter Wachsamkeit wenigstens den Weg nach der Kajüte meiner Schützlinge zu verlegen.

Wie schon gesagt – die buona mano Wörtlich: »gute Hand« – das deutsche »Trinkgeld«., die mir in Aussicht stand, freute mich, aber Gottesblut! Ich hätt' auch umsonst den Ratten aufgepaßt; denn der sanfte, traurige Blick der brustkranken jungen Frau hatte es mir schon gleich in der ersten Stunde angetan, und ich glaub', aus ein Wort von ihr hätt' ich dem Teufel in der Hölle den Schwanz ausgerissen. Veramente, wenn sie in ihrem weißen Kleid und mit ihren goldhellen Locken so vor ihrer Kajüte saß und wie in einem Traum in die Wolken hinaufsah, da wurde ich selber traurig und mußte immer an einen Engel denken, der sich auf die Erde verirrt hat und voll Heimweh die Stunde erwartet, wo er wieder in den Himmel zurückfliegen darf …« Im Munde des sonst so derben Gesellen hörte sich dieses zarte Gleichnis an, wie wenn dem Rüssel eines Elefanten die elegischen Noten einer Nachtigall entquöllen. Die weihevolle Erinnerung an ein madonnenhaftes, liebliches Frauenbild hatte den verwetterten Matrosen für einen Moment zum Dichter geadelt. Es ist aber eine alte Erscheinung, daß Kraftmenschen sich einer empfindsamen Anwandelung schämen, als hätten sie ein Verbrechen begangen: wie ein Kaktus wollen sie immer nur ihre Stacheln zeigen. Auch bei Sangue di Dio ließ die seelische Reaktion nicht lange auf sich warten. »Gottesblut, ihr Landkrabben! Da lungert ihr im weichen Gras herum und glaubt, eure blauen Wunder auf der See erlebt zu haben, weil ihr den Katzensprung von Sizilien nach Calabrien herübergemacht habt! Santo ventre di papa! Laßt euch erst einmal von einem richtigen Windstoß die Därme im Leib durcheinanderschütteln und höret, wie so ein Schiff vom Kiel bis zum Top ächzt und stöhnt wie in Todesnöten – dann wird's euch klar werden, warum der Jude sagt, das Wasser hab' keine Balken …

Der »Odin« hatte das Kap Finisterre doubliert, da ging der Tanz los, der uns schon Tags zuvor in den Knochen gesteckt hatte. Ich sag' euch, meiner Mutter Sohn hat auf dem Salzwasser schon manch schweres Wetter erlebt, aber jenes ist doch das schlimmste gewesen, und ihr sollt gleich hören, warum. Bei unsern Passagieren in der Kajüte herrschte das graue Elend – alle, bis zu dem Kindchen herunter, seekrank zum Sterben, denn der »Odin« rollte kreuz und quer wie eine Hutschachtel. An diese Sorte von Vergnügen hatte schwerlich der Doktor gedacht, auf dessen Rat die Familie zu uns an Bord gekommen war. Der Pflasterkasten hatte zu dem alten Herrn gesagt, die direkte Seereise von Kopenhagen nach Madeira sei für das leidende Frauchen am wenigsten anstrengend, und auf einem Handelsschiffe sei kein solch Lärm und Durcheinander wie auf einem Passagierdampfer. Unrecht hatte ja der Mann nicht, und als Landratte brauchte er nicht weiter zu sehen, als seine Nase lang war. Ebbene, jetzt saßen die Leutchen in der Patsche, und mit all ihrem Geld konnten sie dem Sturm noch keine halbe Mütze voll abkaufen. Der »Odin«, der alte, arme Kerl, hielt sich tapfer und zeigte wie eine dänische Bulldogge dem Wetter die Zähne; auch der Capitano erprobte sich als der schneidige Seemann, der er ja bei all seinem Saufen und Toben war.

Zwei Tage lang balgten wir uns mit Wind und Wellen, die uns westwärts in die See hinaustrieben. Wir erlitten schweren Schaden in Top und Takel; eine Sturzwelle wusch uns auf einmal drei Mann über Bord – darunter Olaf, der den Schweinfisch harpuniert hatte. Ich sah, wie das rasende Element den Norweger verschlang und mußte dabei an die Worte denken, die die junge Frau zu mir gesagt hatte. Vielleicht wollte der ergrimmte Meergott uns jetzt selber auf seinen Dreizack spießen und uns drunten in seiner Grotte als Rostbraten schmoren. Am dritten Tage spielte der Orkan seine letzten und derbsten Trümpfe aus: zunächst zerbrach er uns das Steuerruder – gegen Abend bekam der »Odin« einen Leck und füllte sich, trotz aller Anstrengungen des Zimmermanns, mit Wasser. Wir arbeiteten wie die Galeerensklaven an den Pumpen – aber umsonst, denn das Fahrzeug begann langsam und stetig zu sinken. Die Herrschaft in der Kajüte hatte von unsrer Notlage keine Ahnung, und ich dachte, es sei eine nutzlose Grausamkeit, ihnen nur eine Sekunde früher die Augen zu öffnen. Die Messungen ergaben, daß trotz allem Pumpen der Feind mehr und mehr die Oberhand gewann, unsre Ladung – Mehl und Salzfleisch für die Plantagen auf San Thomas – war jetzt schon verloren und dabei zu gewärtigen, daß bei einem gewissen Wasserstand im Schiffskörper der »Odin« mit einemmal jählings in einem Strudel abwärts schießen werde. Dann hatte es mit uns allen ein Ende. Um die dritte Morgenstunde ließ der Capitano die Rettungsboote klar machen. Jetzt mußte die Herrschaft in der Kajüte auf das Kommende vorbereitet werden, und ich übernahm diese Aufgabe. Weinend sanken die Damen und die beiden Dienerinnen auf das Knie, um zu beten; der alte Herr war gleichfalls todesbleich geworden, aber er faßte sich und trat an Deck, um sich von unserer Lage zu überzeugen. Der Moment ließ ihn seinen Hader mit dem Capitano vergessen, und er fragte diesen, wie man hoffen wolle, bei solchem Seegang in offenen Booten das Leben zu retten. Der Patron zuckte die Achsel. »Die Hoffnung,« antwortete er: »ist allerdings eine sehr schwache, immerhin aber bieten uns die Boote mehr Aussicht, als das lecke Schiff, das unbedingt in kürzester Zeit sinken und uns dann, wenn wir noch an Bord sein sollten, mit sich in die Tiefe reißen wird.«

Der alte Herr schob sich mühsam in die Kajüte zurück, um seinen Angehörigen den trostlosen Stand der Dinge mitzuteilen. Das Nötigste zusammenraffend, taumelten die Frauen gegen die Türe, die junge Mutter, bleich wie Marmor, das goldene Haar wirr aufgelöst, trug ihr weinendes Kind, das sie mit der Kraft der Verzweiflung an ihre Brust drückte. Es war ein Bild, das ich nie vergessen werde, obwohl ich doch in jenem Moment wahrlich genug für meine eigene Haut zu sorgen hatte. Die Boote schwebten bereits über Deck und im flackernden Schein einer Laterne zeigte sich der Capitano, der mit kaltem Blut der Mannschaft seine letzten Anordnungen erteilte. Er wollte das große Boot führen, der Steuermann sollte die Schaluppe befehligen. Seitdem der Sturm wütete, hatten die Frauen die Kajüte nicht verlassen, und dadurch war ihnen immerhin der unmittelbare An- und Umblick erspart geblieben. Nun drängten sie sich wie ein Häuflein zitternder Schafe auf der Schwelle der Kajüte zusammen, und ihren schreckensstarren Augen enthüllte sich jetzt erst das volle Bild des Todes, der im betäubenden Geheul von Wind und Wellen auf seine Beute lauerte. Ein halbes Dutzend Matrosen – darunter auch ich – sollten den alten Herrn und die halb irrsinnigen Frauen zu den Booten geleiten, die sich in wilden Schwingungen über dem schäumenden Abgrunde schaukelten. Ruckweise schraubten wir sechs uns gegen die Kajüte hin, um unser nicht leichtes Bugsierwerk zu beginnen. Schau' aber einer in so einen armen, von der Angst verdrehten Weiberkopf! Im selben Moment, wo wir die Kajüte erreichten, donnerte eine Sturzsee über das Vorderdeck hin und legte den »Odin« fast auf die Seite. Mit gellendem Zetergeschrei flüchteten die Frauen in den tiefsten Winkel der Kajüte zurück und klammerten sich hier mit Händen und Füßen fest. Nur mit Gewalt hatte man sie fortschaffen können, und das wollten wir auch tun – da erklärte auf einmal der alte Herr, dem zwischen den rabiaten Weibern das Gehirn selber wirbelig geworden war, sie würden an Bord bleiben, mög' es kommen, wie es wolle. Was war da zu tun?

»Vorwärts, vorwärts!« brüllte uns in diesem Augenblick der Capitano durch sein Sprachrohr zu. Der alte Herr, was ich euch eigentlich schon früher hätte sagen sollen, war ein pensionierter Consigliere di stato Staatsrat., und so dacht' ich: Wer Rat erteilen kann, muß sich auch einen guten Rat gefallen lassen. Also trat ich auf ihn zu, um ihn mit ein paar Worten zur Vernunft zurückzubringen … Gottesblut! Haltet ihr es für möglich, daß ein Menschenkopf so leicht von seinem Kurs abfallen kann? Der alte Mann hatte sich vor die Frauen hinpostiert und schien mich gar nicht zu kennen, denn er hielt mir einen gespannten Revolver entgegen. »Wir bleiben an Bord und lassen uns nicht in die Boote bringen. Sagt dies euerm Capitano!« So rief er uns zu, und in seinem Blick war zu lesen, daß er Feuer geben werde, sowie wir nur einen Finger krumm machten. Mit einemmal stand der Steuermann auf der Kajütenschwelle. »Vorwärts!« schrie er: »vorwärts, oder die Boote stoßen ohne euch ab!« Und gebieterisch winkte er dem Staatsrat mit der Hand zu.

»Wir bleiben an Bord!« antwortete dieser in düsterer Ruhe.

»Herr,« schrie nochmals der Steuermann: »haltet uns nicht länger auf, denn das Schiff ist im Sinken begriffen! Ich frag' Euch zum letztenmal: Wollt Ihr mit oder nicht?«

»Wir bleiben an Bord!« gab nochmals der Alte zurück.

Mit einem wilden Fluch wandte sich der Steuermann zu uns Matrosen. »Fort, daß wir wegkommen, eh' es zu spät ist! Laßt den Querkopf mit seinen Weibsleuten ersaufen, wenn sie es so haben wollen.« Er drängte uns zur Kajüte hinaus und zu den Booten hin, wo die übrige Mannschaft sich bereits zum Einsteigen rüstete. Der Steuermann meldete dem Capitano den Bescheid des Staatsrats. »Mögen ihnen die Ratten, die noch an Bord sind, gute Gesellschaft leisten!« lachte der Patron, der sich um das Schicksal der Familie den Teufel kümmerte. Proviant und sonstiges Material war bereits in die Boote geschafft worden, und das Einsteigen begann in strenger Ordnung, denn der Patron stand mit einer Pistole in der Faust daneben und hatte angedroht, er werde dem ersten, der sich eine Eigenmächtigkeit erlaube, eine Kugel durch den Kopf jagen. Und er war der Mann, dem man darin aufs Wort glauben konnte … Er hatte mich seinem eigenen Boote zugeteilt und in der nächsten Minute sollte die Reihe zum Einsteigen an mich kommen. Der Steuermann hatte mir keine Zeit gelassen, der Familie Lebewohl zu sagen, und ich will auch offen gestehen, daß ich in jenem Augenblick nur an mein eigenes Heil dachte, denn Mensch bleibt Mensch, und wenn's ihm an den Kragen geht, so steht er immer sich selbst am nächsten …

Noch zwei Vorleute hatte ich, dann kam, wie schon gesagt, das Einsteigen an mich. Gewiß war mein ganzes Sinnen und Trachten auf das Boot gerichtet, das mich retten sollte – – da dreht es mir auf einmal wie mit überirdischer Gewalt den Kopf um! Von meinem Platze aus konnt' ich gerade in die Fenster der tiefer liegenden Kajüte hinabblicken. Eine Hängelampe erleuchtete den Raum so hell, daß sich alles überschauen ließ. Den Kopf in die Hand gestützt, saß der alte Staatsrat in finsterm Brüten am Tische; die beiden Mädchen verschwanden mehr im Hintergrund – mitten in der Kajüte aber kniete die kranke junge Frau. Ihrem Brauch gemäß trug sie auch diesmal ein weißes Kleid, wie es ja ganz zu ihrer Engelerscheinung paßte. An ihrer Mutterbrust ruhte noch immer das arme Bübchen, das wohl mitten in seinem Weinen eingeschlafen war. Das Licht der Lampe fiel auf ihr Goldhaar herab, daß es leuchtete wie ein Heiligenschein. Unter den dunklen Matrosengestalten konnte sie unmöglich die eine oder andere erkennen – und doch waren scheinbar ihre traurigen blauen Augen just auf mich gerichtet, als wolle sie fragen: »Also auch du verlässest uns?«

Gottesblut! Noch eine Sekunde lang riß es mich hin und her – dann war's, als gäb' mir eine Geisterhand einen Stoß und mit festem Schritt trat ich aus der Reihe. »Zurück ins Glied' welscher Hund!« donnerte mich der Capitano an und richtete seine Pistole auf meine Brust. »Horch!« schrillte es im selben Moment und starr ließ der Patron seinen Arm sinken. Mitten in das Höllenkonzert der empörten Elemente mischte sich, wie aus der Tiefe aufsteigend, ein eigentümliches Geräusch – ein dumpfes Gurgeln und Brodeln, das mein Ohr heute noch hört. Der grausige Schall kam aus dem Rumpfe des Schiffes.

»Wir sinken!« heulte es in wildem Stimmengewirr: »Wir sinken!« Alle Bande der bisherigen Disziplin rissen, wie von einem Schwertstreich durchschnitten, ein Knäuel von Menschen stürzte sich in die Boote, die mit ihrer Fracht in den kochenden Wogenprall hinabschossen. An die Wanten des Besan-Mastes festgeklammert, suchte ich mitten in dem Gischt die Flüchtlinge zu entdecken. Auf dem Kamm einer riesigen Woge tanzten die zwei Nachen wie ein paar Korkpfropfen – hui! jetzt wirbeln sie in den hohlen Schlund hinab – Gottesblut! dort tauchen sie noch einmal auf – – dann waren sie verschwunden … Im Bauche des »Odin« rumorte es fort und fort, als zwicke eine Darmkolik den armen alten Kerl. Ob mir jetzt wohl in der Judengasse zu Nizza der krummnasige Benjamin für meine Haut noch einen halben Bajocco geboten hätte?? Vielleicht schlugen ja in den nächsten Minuten die Schweinfische auf meinem Grab einen Purzelbaum … Sangue di Dio! Siamo sempre sotto la morte! Dort die zwei blauen Augen in der Kajüte sollten sehen, daß auch ein armer Matrose ein Ritter sein kann.«

* * *

Wie ein elektrischer Schlag war es durch den Kreis der Zuhörer gezuckt.

» Evviva Sangue di Dio! Evviva il marinajo galantuomo!« So scholl es aus dreißig Kehlen, und zum huldigenden Ehrengruß flogen Freischärlerhüte und Jägermützen durcheinander in die Luft.

Der schlichte und doch so erhabene Heroismus des alten Seewolfes hatte mit zündender Gewalt an die Exstase appelliert, die ja wie eine Dynamitpatrone in jeder südländischen Brust schlummert und, von einem Funken berührt, sofort in all ihrer Sprengkraft explodiert.

Mit stoischer Ruhe nahm der alte Knabe auf seiner Kanone den Tribut stürmischer Bewunderung entgegen. Eine Ladung Tabakssaft, die er in weitem Bogen von sich spritzte, war, sozusagen, die Quittung, die er über die ihm dargebrachte Ovation ausstellte. Seine scharfen Augen blickten nach der Uhr hinüber, die den Giebel der Kaserne krönte. »Gottesblut! Noch kaum zwanzig Minuten bis zum Zapfenstreich!« brummte er. »Hört mal, figliuoli, es wär' am Ende das Gescheiteste, wenn ich den Rest meines Garnes morgen Abend abspinnen würde.« Er blickte fragend im Kreise herum. Jetzt aber ging ein allgemeiner Sturm los.

» Continuare! Oggi, non domani!« schrie es durcheinander.

» Ma, gridatori, Fora si fa tarda!« wandte Sangue di Dio ein und hob das Bein, als woll' er von seinem Präsidentensessel herabsteigen.

» Continuare! Avanti!« protestierte noch ungestümer das Auditorium, denn alle begriffen ja, daß die Geschichte gerade jetzt bei ihrem dramatischen Scheitelpunkte angelangt war. Der Alte schmunzelte schelmisch in seinen struppigen Bart hinein, denn nur aus Neckerei hatte er die Gesellen so lange zappeln lassen und sich an ihrer Ungeduld weidlich ergötzt. Jetzt reckte er wie ein Geisterbeschwörer die Hand aus, und der Sturm erstarb sofort zur Windstille.

Der alte Matrose blickte in die dämmernde Nacht hinaus, die sich leis und lind über Land und Meer ausbreitete; ein weicher Zug ging über sein verwettertes Gesicht, als er wieder begann: »Es sind jetzt nahezu vierzig Jahre her, seit meine Mutter gestorben ist und meinem Vater nichts zurückließ, als ein Rudel Kinder. Ihr Tod war ein harter Schlag, und doppelt empfand ihn mein Vater, ein blutarmer Fischer. Auf dem Wege zum Kirchhof weinte er, daß man sich unter ihm die Hände hätte waschen können, und auch wir Kinder heulten aus Leibeskräften. Ein junger Capellano, selber ein Sohn des arbeitenden Volkes, begleitete uns auf unserm traurigen Gang. Er hatte das wackere, fleißige Weib bei Lebzeiten gekannt, und so standen auch ihm die Tränen in den Augen, als er seine Grabrede mit den Worten begann: › Pullula una cosa che si chiama la morte!Es wächst ein Ding, das man Tod heißt. Was er weiterpredigte, hab' ich vergessen; aber jene Worte, die mir so gespenstisch ins Ohr klangen, hab' ich festgehalten, und jedesmal sind sie mir seitdem durch den Sinn gefahren, so oft der Tod an mir vorüberstrich, wie ein Luftzug aus einer andern Welt. Auch jetzt blitzte mir wieder der Spruch des Kaplans durch die Seele, als ich mich nach der Kajüte hinwandte, wo mich gewiß niemand mehr erwartete. Ich glaub', wenn der König von Dänemark unter dem Menschenhäuflein erschienen wäre, er hätte keinen bessern Empfang gefunden. Der alte Staatsrat drückte mich an die Brust, als wär' ich sein Bruder, und die Damen drängten sich um mich her, als braucht' ich nur den Finger krumm zu machen und dann sei schon alles überstanden … Das Gegluckse im Rumpf des ›Odin‹ hatte etwas nachgelassen und erweckte in mir die leise Hoffnung, daß es mit dem Sinken wohl doch noch langsamer gehen werde, als es die Überzeugung des Capitanos gewesen war. Erlebten wir aber den Anbruch des Tages, so bekam uns vielleicht ein vorbeisteuerndes Fahrzeug in Sicht, und dann konnten wir noch rechtzeitig gerettet werden. Malt euch nun die qualvollen, endlosen Stunden aus, die uns noch von dem tröstenden Morgenlichte trennten! Endlich – endlich rötete sich im Osten ein matter Streif, und gleich darauf legte sich auch der Sturm ein wenig. Mit klopfender Brust stieg ich in den Mast hinauf, um eine Umschau zu halten. Gottesblut! Kein Zipfel eines Segels ließ sich rings am Horizont erspähen, ebensowenig eine Spur von Land – nichts als Himmel und Wasser! … Meine nächste Aufgabe war, den ›Odin‹ selber einer näheren Musterung zu unterwerfen. Das Wasser im Rumpfe brauchte nur noch ein paar Fuß höher zu steigen, so berührte es die Planken des Deckes. Ein Wunder war's zu nennen, daß sich überhaupt der Raum nicht schon längst gefüllt hatte, und ich konnte mir die Erscheinung nur auf zweierlei Weise erklären. Wie schon erwähnt, bestand unser Cargo in Fleisch und Mehl, beides in Fässer verpackt; ganz unten lagerte eine Schicht Dielen von Tannenholz. Entweder übten nun die Fässer und Dielen eine Tragkraft aus, die dem Wasserstand im Rumpfe die Stange hielt, oder die Ladung hatte sich irgendwie verschoben, so daß dadurch der Leck einigermaßen verstopft war und das Wasser nur noch einen gehemmten Zugang fand. Vielleicht wirkten auch die beiden Glücksfälle zusammen, um vorläufig das Sinken des Fahrzeuges zu verhindern. Ich durfte also annehmen, daß unsere Rettung immer noch möglich war; mit dieser Hoffnung wuchs natürlich der Mut in meiner Brust, und es gelang mir, auch meinen Schicksalsgenossen neue Zuversicht einzuflößen.

Der Weg zur Proviantkammer war uns abgeschnitten, der Proviant übrigens ja auch durch das eingedrungene Seewasser ungenießbar geworden; als Nahrung blieben uns nur die verschiedenen Delikatessen, welche die Familie an Bord mitgebracht hatte, und die sich in der Kajüte befanden. Mit diesen Konfitüren und sonstigen Leckereien konnten wir einstweilen dem Hunger getrost in die hohlen Augen blicken – ungleich bedenklicher stand's mit dem Durst, denn die Salzflut hatte ja auch die Wasserbehälter überschwemmt.

Die Messungen, die ich in geregelten Zwischenpausen vornahm, bestätigten zwar, daß der ›Odin‹ mehr und mehr sank; trotzdem aber machte aus den vorerwähnten oder sonstigen Gründen das Wasser jetzt so geringe Fortschritte, daß, wenn nichts anderes dazwischen kam, wir füglich noch die Galgenfrist eines weiteren Tages erhoffen durften.

Aber noch eine ganz besondere Nervenprobe war uns vorbehalten. Wir hatten nicht daran gedacht, daß der ›Odin‹ außer uns auch noch andere Passagiere an Bord führte, die jetzt gleichfalls ein Wort dreinreden wollten …«

»Die Ratten!« rief im Zuhörerkreise eine Stimme.

Der Alte nickte mit dem Kopfe. »Ihr werdet begreifen, daß es dem Teufelsvieh nicht allzu behaglich zumute war, als es sich durch das steigende Wasser aus seinen Nestern delogiert sah. Auf den Fässern und Brettern, die im Laderaum hin- und hertanzten, hockte das alarmierte Ungeziefer klumpenweise, und so oft ich meine Messungen vornahm, benützte ich die Gelegenheit, um mit einer Handspeiche zwischen das nichtswürdige Geschmeiß dreinzufahren. Gegen Abend hin kamen schon einzelne aus dem Raum herauf, und ich hatte die Hände voll zu tun, um die Kreaturen totzuschlagen, die, von ihrem Instinkt getrieben, in der Kajüte ein trockenes Quartier suchten. Mit Einbruch der Nacht sollten wir aber erst recht unser blaues Wunder erleben! In hellen Haufen drängte das Gezücht an Deck herauf, und unter Quieken und Pfeifen begann ein regelrechter Sturm auf die Kajüte, die den obdachlos gewordenen Langschwänzen wie ein Eldorado winkte. Links, rechts, oben, unten – überall nagten und knabberten geschäftige Zähne, um die Bretterwände zu durchbohren. Den Zustand der armen Damen brauch' ich euch nicht auszumalen. Zitternd und bebend waren sie wieder, wie damals, auf den Tisch retiriert. Ich wollte die Nacht über an Deck wachen, um Ausguck nach etwa vorbeipassierenden Schiffen zu halten; jetzt aber sah ich, daß ich das entsetzte Frauenvolk nicht ohne Schutz lassen konnte, und so beschloß ich, nur die Schiffslaterne auszuhängen, damit wir in der Dunkelheit wenigstens nicht angesegelt würden. Behutsam drückte ich mich durch einen knappen Spalt zur Kajütentüre hinaus und später auch wieder herein, damit die Ratten nicht den Moment benützen konnten, um einzudringen. Das Ungeziefer war bereits so frech geworden, daß es mir kaum aus dem Wege ging. Ich sag' euch, das gab eine lustige Nacht! Es dauerte nicht lange, so hatten die Bestien schon Dutzende von Breschen gebohrt, durch die sie in die belagerte Feste eindrangen. Die Not ließ auch den Staatsrat seinen Abscheu überwinden, und tapfer schlug er auf jeden Feind los, der sich zeigte. Erst als der Tag hell anbrach, trat bei der höllischen Brut ein vorläufiger Waffenstillstand ein. Der Wind hatte sich über Nacht mehr und mehr gelegt, und dadurch war auch die See ruhiger geworden. Ich lugte zum Kajütenfenster hinaus. Gottesblut! Ich fürchte mich vor keinerlei Ungeziefer, mag's beschaffen sein, wie es will; jetzt aber spürte ich doch, wie mir der Ekel über den Magen kroch. Auf dem durch den Wind hübsch abgetrockneten Vorderdeck zwischen Fockmast und Gangspill hatte ein wohl nach Hunderten zählender Knäuel von Ratten Posto gefaßt, darunter Kerle, so groß wie eine halbwüchsige Katze. Es war klar, daß sie wie auf ein Kommando ihr unbehagliches Quartier in dem überschwemmten Schiffsraum aufgegeben hatten und fortan auf Deck zu kampieren gedachten. Das Mehl, ihre bisherige reichliche Nahrung, war durch die Vermischung mit dem Seewasser zu einem ungenießbaren Brei, und ihnen also der Aufenthalt da drunten vollends verleidet worden. Offenbar plagte sie auch schon der Hunger ganz weidlich, denn sie bissen sich grimmig untereinander herum, und die unterliegenden wurden sofort mit Haut und Haar aufgefressen. Mit meiner Handspeiche bewaffnet, verließ ich die Kajüte, um vom Mastkorbe aus den Horizont abzusuchen. Sicherlich hatte uns der Sturm von unserm Kurs weit abgetrieben, aber immerhin war hier eine Seestraße, wo sich sonst täglich Segel kreuzen. Doch der Teufel hatte sein Spiel mit uns noch lange nicht satt. Ich guckte mir fast die Augen aus dem Kopfe: Himmel und Wasser – Wasser und Himmel! Ich hatte aus dem Flaggenkasten das Notsignal hervorgesucht und hißte es jetzt für alle Fälle an die Besangaffel auf. Dann kehrte ich zurück, um die armen Menschen, so gut es ging, zu trösten. Einen neuen Angriff auf die Kajüte erwartend, erklärten mir die Damen, sie würden keinen Augenblick länger in diesem Raume bleiben, sondern lieber auf dem Hinterdeck unter freiem Himmel biwakieren. Sie glaubten, wenn sie dem Ungeziefer die Kajüte überließen, so werde dieses sie weniger behelligen, und unter andern Umständen wäre das vielleicht auch der Fall gewesen. Den Ratten war aber mit einem Schlupfwinkel nicht allein gedient – sie brauchten auch Futter, und das witterten die feinnasigen Kreaturen bei uns. Darum sah ich auch voraus, daß sie uns da wie dort vexieren würden; obgleich ich zugeben mußte, daß sich auf dem freien Hinterdeck der Kampfplatz leichter überblicken ließ, als in der verwinkelten Kajüte. Ich sagte soeben Kampfplatz, und der Ausdruck paßt ganz und gar, denn wenn nicht bald die Erlösung aus unserer schwimmenden Folterkammer eintrat, so durften wir mit aller Gewißheit eine wilde Fehde mit den durch Hunger zur Tollwut gereizten Ratten erwarten. Zeigten mir die Bestien ja jetzt schon drohend die Zähne, wenn ich den frechsten unter ihnen mit meiner Handspeiche Respekt predigte!

»Noch zur selben Stunde siedelten wir mit unserm Proviant nach dem neuen Lagerplatze über, den ich durch ein Segeldach einigermaßen gegen Wind und Wetter schirmte. Um die Mittagszeit erblickte ich nordwärts die Rauchsäule eines Dampfers, die ich freudig meinen Schicksalsgenossen zeigte. Wir dachten, man werde dort unser Notsignal und unser zerzaustes Takelwerk gewahren … Gottesblut! Unser Hoffen war ein eitles gewesen, kein Glas richtete sich prüfend nach dem alten ›Odin‹ hin, vielleicht war auch der Capitano des Dampfers ein herzloser Tropf – es gibt ja unter dem seefahrenden Volke solche Barbaren – der sich nicht weiter aufhalten wollte und sich mit dem Gedanken beruhigte, der liebe Gott werd' uns schon helfen. Item – wie der Dampfer aufgetaucht war, so verschwand er auch wieder in der blauen Weite … Und so dämmerte abermals die Nacht.«

* * *

Der Zuhörerkreis Sangue die Dios' hatte sich mittlerweile fast verdreifacht, denn immer wieder waren von da und dorther neue Ankömmlinge herangetreten, um wenigstens noch einen Teil der Erzählung zu erhaschen. Auch mehrere Offiziere der Bersaglieri-Kompagnie und der Freischar hatten sich zwanglos unter das Auditorium gemischt und folgten mit gleicher Spannung den Peripetien des Seeabenteuers, dem jetzt die dunkelnde Nacht eine nur noch »gruseligere« Würze gab. Zwischen zwei bärtige sizilianische Piccioti eingekeilt, glotzte Sbarbatello, der kleine Legionstambour, mit seinen großen schwarzen Augen wie in einem Traume den alten Seewolf an, der gleich jener märchenreichen Scheheresade sein Garn zu einem Tausend und eine Nacht langen Faden hätte ausspinnen können. Tiefer im Hintergrunde ragte die schlanke Gestalt des deutschen Capobombardiere empor; die Arme über die Brust gekreuzt, den Blick in die endlose Ferne gerichtet, lauschte er vielleicht mehr den Stimmen seiner eigenen Seele, als dem bizarren Roman Sangue di Dios, der soeben ein neues Kapitel eröffnete.

– – »Ich wußte, was die Nacht uns bringen werde und hatte demgemäß meine Zurüstungen getroffen. Für die Frauen waren ein paar Matratzen herbeigeschafft worden, auf denen sie – begreiflicher Weise unentkleidet – wenigstens ihre Glieder strecken konnten. Der alte Staatsrat wollte mit mir wachen. Ich hängte am Besanmast die große Schiffslaterne auf, die mit ihrem Schein unser Biwak erhellte. In der Kajüte des Capitanos hatte ich eine Flinte und Munition gefunden, der Staatsrat, wie schon erwähnt, war im Besitze eines Revolvers. Ich wollte mich auf der Steuerbordseite postieren, der alte Herr sollte Backbord unter seine Obhut nehmen. Sowie die Ratten das Quarterdeck erkletterten und sich im Rayon der Laterne zeigten, sollte Feuer auf sie gegeben werden, denn ich versprach mir von diesem Knalleffekt mehr, als von jedem anderen Schreckmittel …

Schon den ganzen Tag über hatten sich die rabiaten Bestien in ihrem Lager untereinander herumgerauft, und die schwächeren waren in den Magen der stärkeren gewandert – mit Einbruch der Nacht ging der Hexensabbat noch ärger los. Ecco! Da kam es auch schon angehuscht wie ein Schattenspiel und zwei – vier – zehn – hundert Augensterne glitzerten im Reflex unserer Laterne. Ich gab den Frauen ein leises Signal, daß sie ihre Nerven zusammenfassen möchten, dann kommandierte ich » Fuoco«, und zwei Schüsse krachten dem heranschleichenden Feind entgegen, der quiekend auseinanderstob. Für eine Weile gab's Ruhe, dann aber zeigten sich schon wieder einzelne Plänkler. Unser Proviant war eben der Magnet, der die ausgehungerte Brut anzog und sie jede Scheu überwinden ließ. Unsere Schüsse trieben zwar das Ungeziefer vorläufig noch zurück, aber in immer kürzeren Pausen erneuerte es seine Angriffe, und es war kein Zweifel, daß auch der letzte Trumpf, den wir auszuspielen hatten, nur noch für eine kleine Zeitspanne vorhalten konnte. Allerdings hatten die widerlichen Gäste sich bisher durch gegenseitiges Auffressen fortgeholfen, aber ich sagte mir, daß sie sich doch nur mit Widerwillen an den Kragen gingen, denn immerhin waren und blieben sie ja Kameraden, die sich am Ende die vernünftige Frage stellen konnten, ob Menschenfleisch eigentlich nicht besser schmecke. Wenn jetzt nicht bald unsere Rettung durch ein vorbeisegelndes Fahrzeug erfolgte, dann durften wir uns mit dem angenehmen Gedanken vertraut machen, vielleicht schon in der nächsten Nacht von den Ratten angeknabbert zu werden – – – lache nicht, du Gelbschnabel!« unterbrach er sich und winkte dabei ernst einem jungen Bersagliere zu, dem wohl die von Sangue di Dio angedeutete Knabber-Perspektive als eine spaßhafte Redeblume vorkam. »Lache nicht, du junger Grasteufel!« wiederholte der alte Matrose, und seine funkelnden Augen bohrten sich wie zwei Messerklingen in den ungläubigen Thomas ein: »Du denkst wohl an die paar Langschwänze, die satt und scheu auf deines Vaters Misthaufen herumspringen und weißt nicht, daß auch für diese nichtswürdigen Kreaturen, die unser Herrgott in seinem Zorn gemacht hat, der Spruch gilt: l'unione fa la forza Eintracht macht stark.

Die derbe Abfertigung hatte den Trotz des jungen Kriegers gereizt und augenscheinlich wollte er in nicht minder scharfem Tone ripostieren – der allgemeine Zuruf: » Silencio«, » Tacere« schnitt ihm jedoch das Wort ab, und unter diesem Druck der öffentlichen Meinung strich er die Segel …

»Gottesblut!« erzählte der Alte weiter: »die Nacht schien mir eine qualvolle Ewigkeit zu sein – weniger qualvoll um meinetwegen, als im Hinblick auf das arme Frauenvolk, das durch das Schießen noch vollends außer Rand und Band geraten war. › Grazie a Dio‹ dankte ich aus tiefster Seele, als der Morgen graute und ich eine letzte Schrotladung zwischen das Ungeziefer hineinpfefferte. Dann kletterte ich bis zur obersten Rahe hinauf, um, wie weiland Noah in seiner Arche, nach irgendeinem tröstlichen Zeichen auszuspähen. Und abermals kam ich herunter mit dem kurzen Bescheid: » Niente affatto!« Gar nichts.

Nun müßt ihr wissen, daß mir das Aussehen und Benehmen der kranken jungen Frau, für die ich ja hauptsächlich mein Leben in die Schanze geschlagen hatte, schon Tags zuvor aufgefallen war. Die zwei andern Fräulein und die beiden Dienerinnen sahen ja auch verstört genug aus mit ihren dick verweinten Augen und von Wind und Wetter zerzausten Haaren. Aber sie jammerten und flennten doch wenigstens nach Weiberart, während just die plötzliche Ruhe der Signora mich stutzig gemacht hatte. Gerade ihr waren die Ratten ganz besonders ein Gegenstand des Schreckens und Abscheus gewesen, und nun schien sie sich mit einemmal gar nicht mehr um das Ungeziefer zu kümmern.

Seit jener Nacht, wo der Capitano mit der Mannschaft den »Odin« verließ, hatte die Signora ihr Kind nicht mehr aus den Armen gegeben und nach dieser Seite hin waren jetzt für die Amme die schönsten Feiertage gekommen. Um für die Zeit der Trennung den Gatten wenigstens im Bilde bei sich zu haben, hatte das zärtliche Frauchen seine Photographie mitgenommen, und gleich von Kopenhagen ab war ich mehr als einmal unberufener Augenzeuge davon gewesen, wie sie das Konterfei zur Hand nahm und solange betrachtete, bis ihr die hellen Tränen darauf tropften. Ich hab' mir seitdem die Sache in meinem alten Kopf zu Faden geschlagen und meine jetzt, wenn das Bild nicht gewesen wäre, so hätt' es trotzdem anders und besser mit der armen Signora kommen können. Ich will damit sagen, daß so ein vertrachtes Bild einen Menschen trösten, aber auch ebenso leicht martern kann, weil es ja doch nur eine tote Geschichte ist und bleibt, an der sich, wie an einem Schleifstein, die Sehnsucht und das Heimweh immer schärfer und schärfer wetzen. Und so ist es precisamente bei der Signora gekommen! Das unselige Bild hat in ihrem wracken Kopfe das allerletzte Ankertau gekappt und jählings ist der Irrsinn, dieser tückische Lotse, an Bord geklettert, um das arme Gehirn vollends in die Riffe hineinzusteuern … Ihr Bübchen in den Armen wiegend und ein altes dänisches Volkslied leise vor sich hinsingend, so saß sie jetzt in einer Ecke wie ein kranker Vogel, und wenn sie ihre blauen Augen über uns und die öde See hinschweifen ließ, so hatte ich das Gefühl, als gehöre sie schon jetzt nicht mehr zu uns, sondern zu den Wesen einer fremden Welt. Dem Staatsrat war natürlich dieser unheimliche Zustand seiner Tochter auch nicht entgangen und mit allen Mitteln suchte der arme alte Herr ihren Trübsinn zu zerstreuen. Er tröstete sie mit der Versicherung, jetzt müsse und müsse von Stund' zu Stunde ein rettendes Fahrzeug in Sicht kommen und aller Not ein Ende machen. Gleich beim ersten Schritt an Land werde ein Telegramm ihren Gatten herbeirufen, und dann solle nach all den erlebten Schrecknissen der Jubel des Wiedersehens desto größer sein. Ein geisterhaftes Lächeln erhellte in solchen Momenten das bleiche Madonnengesicht, und sie nickte leise vor sich hin; wie in seligem Entzücken winkte sie in die Wasserwüste hinaus, als woll' sie Wind und Wellen zu Boten ihrer Grüße an den fernen, ahnungslosen Gemahl machen – gleich darauf erlosch aber auch schon wieder der zündende Funken, und sie sank in ihr dumpfes Brüten zurück, ohne die Tränen zu beachten, die hell und heiß dem alten Vater über die Wangen rieselten. Mir selber brach fast das Herz dabei, und über dem Elend, das ich da vor mir sah, vergaß ich mein eigenes …«

Die rauhe Stimme des alten Matrosen zitterte wie die Schwingungen einer Glocke. Langsam reckte er gegen die Zuhörer seine beiden muskulösen Arme aus, auf denen, wie schon erwähnt, die Tätowiernadel die Runen einer grotesken Bilderschaft eingegraben hatte. »Das«, sagte er: »ist mein Kalender, den ich mir von Kameraden nach eigener Vorzeichnung ins Fleisch ätzen ließ! Hier hab' ich alles aufnotiert, was mich in Freud' oder Leid an besondere Stunden und Begebnisse meines Lebens erinnern soll. Gottesblut! Wenn heut oder morgen einmal die Würmer an diesem Kalender herumnagen, dann können sie sich den Kopf darüber zerbrechen, was all diese buntfarbigen Schnörkel zu bedeuten haben.« Er tupfte mit dem Zeigefinger seiner linken Hand auf eine Stelle mitten in der breiten Fläche seines rechten Armes. »Es ist,« bemerkte er: »schon zu dunkel, als daß ihr von euern Plätzen aus dieses rote Herz und darin das blaue Kreuz sehen könntet. Wenn es aber auch noch heller Tag wäre, so könntet ihr doch nicht mehr sehen, als eben ein rotes Herz und ein blaues Kreuz, und der gescheiteste Professor würde mit seiner schärfsten Brille gleichfalls nicht mehr herausstudieren können. Ma nientedimeno – und dennoch ist in diese zwei Bilderzeichen die ganze Geschichte zusammengestaut, die ich euch soeben erzähle, und ich brauche nur einen Blick darauf zu werfen, so ist es mir, als hätt' ich wieder die Deckplanken des alten ›Odin‹ unter meinen Füßen, und als wär' ich soeben vom Mast heruntergeklettert, um meinen Leidensgefährten zum hundertsten Male zu berichten, daß rings von einem Segel nicht soviel zu erspähen sei, um daraus für einen Betteljungen ein Schneuztüchel zu machen. Schon seit mehr als achtundvierzig Stunden hatte ich kein Auge geschlossen, und so tat mir ein bißchen Schlaf recht nötig – dem alten Herrn nicht minder. Die Ratte ist, wie ihr wißt, eigentlich ein Nachttier, und demgemäß hat sie am hellen Tageslicht keine besondere Freude. Diesem Naturzug blieben auch unsere Plagegeister getreu, denn sobald der Morgen graute, wurden sie scheuer und zogen sich weiter zurück. So dachte ich, sie würden sich wohl auch diesmal für eine Weile zufrieden geben, um so mehr, als ich ihnen zum Frühstück ihre in der Nacht getöteten Kameraden hingeworfen hatte. Außerdem war für einen ersten Anprall die Amme da – eine derbe, handfeste Laaländerin, die schon von ihrem Bauernhofe her mehr an das langschwänzige Ungeziefer gewohnt war und, jetzt durch die Not vollends gedrängt, mit ihrem Knüppel herzhaft dreinschlug, wenn ihr so ein frecher Graurock allzu nahe auf den Leib rückte. Ich sagte ihr, sie solle mich nur gleich wecken, sobald das Rattenvolk irgendeinen Vorstoß machen wolle, und legte mich dann, soweit beruhigt, nieder. Auch der Staatsrat hatte sich ermattet auf eine der Matratzen hingestreckt, und in der nächsten Minute schon waren wir beide fest eingeschlafen. Per tutti i Santi! Mit einemmal rüttelt und schüttelt es mich an der Schulter – – noch halb im Schlafe hör' ich gellende Frauenstimmen – ich fahre in die Höhe und hasche nach meiner Flinte, die schußfertig an meiner Seite lag, denn natürlich war mein erster Gedanke, die Ratten kämen angerückt. Mit mir war auch der alte Herr mobil geworden und hatte im gleichen Tempo seinen Revolver an sich gerissen.

»Dort! dort!« schrillte es in mein Ohr, und ich fühlte mich von zuckenden Händen wie ein Kreisel herumgedreht …«

Unbewußt schnellte der alte Matrose von seinem Sitze auf dem Kanonenrohre empor, und seine athletische Gestalt beugte sich, wie zu einem wilden Sprung ausholend, gegen die Zuhörer vor. In echt italienischem Affekt war der Erzähler zum Schauspieler geworden und die Szenerie wandelte sich für ihn zum Theater. Seine Hand machte eine träumerische Bewegung, und seine Stimme modulierte sich zum feierlichen Pathos eines Monologes, als er nach einer Pause weiterfuhr: »Der Capellano sagte am Grabe meiner Mutter: Es wächst ein Ding, das man Tod heißt!« Sangue di Dio nickte vor sich hin. »Ja, ja! Aber das eine Ding hat tausend Formen, und an diese Formen legt der Mensch den Maßstab seines Grauens. Es mag einer kommen und zu mir sagen: Bah, sterben heißt sterben – so werd' ich ihm antworten: Gottesblut! Zwischen einem trockenen Federbett und einem feuchten Haifischmagen ist immer noch ein Unterschied.« Durch den Zuhörerkreis ging eine Bewegung.

»In euern Köpfen dämmert wohl eine Ahnung!« wandte sich der alte Matrose an die lauschende Runde: »so erfahret denn, was in jener grausigen Minute meine Augen in Wirklichkeit schauen mußten! Über Steuerbord hin, vielleicht zwanzig Ruderschläge vom Schiffe entfernt, schimmerte zwischen den rollenden Wogen ein weißes Frauengewand … ›Meine Tochter! Meine Tochter!‹ schrie in unbeschreiblichen Tönen der greise Vater auf und stürzte wie in jähem Wahnsinn gegen die Schiffswand vor, um sein Kind dem Tode zu entreißen. Mein eigenes Gehirn war noch halb betäubt, aber mein Handwerk dachte für mich. Ich stieß den alten, schwachen Mann, der nicht einmal schwimmen konnte, zurück – im Nu zerrte ich mir die Jacke vom Leib und schlenkerte die Schuhe von meinen Füßen: schon stand ich mit einem Satz auf der Brüstung, um in weitem Sprung über Bord zu setzen – – da stockte mir auf einmal der Atem, ich fühlte, wie sich mir die Haare auf dem Kopfe sträubten, und mir wurde es, als lege sich Blei schwer und eiskalt auf all meine Glieder … An die Wanten des Besanmastes festgeklammert, stierte ich machtlos in die dunkle Tiefe hinab, aus der es mir entgegenrauschte wie der Hohnruf: Zu spät! Strudelnd spaltete sich die Flut, in der das weiße Frauengewand nochmals aufschimmerte wie ein Leichentuch – ein Ton, als klappten die Griffe einer Eisenzange zusammen – blutigrot quoll es aus dem Schlunde herauf – – dann war schon alles vorbei, und nur noch ein Strohhut mit blauem Schleier, den sich die Wogen wie im Spiel einander zuwarfen, blieb als Wahrzeichen, daß mich kein wüster Traum geneckt hatte. Krampfhaft schluchzend warf ich mich an die Brust des alten Mannes, der in diesem Augenblick nur noch mein Bruder war. Noch im Tode hatten sich Mutter und Kind nicht getrennt, und drunten in seinem schaurigen Schlachthaus mochte sich jetzt der erbarmungslose Mörder seines reichlichen Fraßes freuen …«

In einem leisen Stimmengemurmel löste sich die nervöse Spannung der Zuhörer. In manchem Auge unter den wilden Gesellen hätte man, wenn es noch hell gewesen wäre, einen feuchten Glanz gewahren können. Und dumpf, wie eine indianische Totenklage, scholl es, als der Alte weiterfuhr: »Wer schaut in so eine kranke, verstörte Menschenseele hinein, und wer will sich zu ihrem Richter machen? Ich denke mir, es hat ein Teufelsspuk sein müssen, der die arme Signora zu ihrem Todessprung verlocken konnte, denn wie wär' es sonst wohl möglich gewesen, über Vater und Gatten ein solch namenloses Elend zu bringen und mit sich selber auch noch die eigene Leibesfrucht dem Untergang zu weihen! … Und ich sage, der Hai hat es getan!« sprach der alte Matrose in sich selber hinein: »schon seit zwei Tagen war der Raubfisch um den ›Odin‹ herum gestrichen, und ich weiß es von meinem Vater her: Wer einem Hai zu tief ins Satansauge blickt, der gerät in seinen Zauberbann, und wie im Taumel zieht es den Menschen hinab …«

Mit seinem Finger deutete Sangue di Dio zum tiefblauen Firmament empor. »Was hilft alles Rebellieren gegen den da oben? Der sagt: so und so will ich es haben, und damit basta! – Wär' es sein Wille gewesen, dem Vater und dem Gatten der Signora die herbe Prüfung zu ersparen, so hätt' er nur zehn Minuten lang den verfluchten Haifisch am Schwanze festzupacken brauchen – dann sprang ich mittlerweile über Bord, und Mutter und Kind waren gerettet … Aber so hat's dem da oben nicht gepaßt, und aus dem blutigen Haifischrachen heraus hat er uns gepredigt: Maul halten und das Knie beugen, denn meine Wege sind nicht euere Wege!«

Der alte Matrose tippte sich mit dem Finger an die verwetterte Stirne. »Damals freilich hat diese Predigt nicht in meinen harten Schädel hineingewollt, ich hab' die Fäuste gen Himmel geballt und bin wie eine verstockte Kreatur auf dem Fleck stehengeblieben. Aber auch ein besserer Christenmensch wie ich hätt' es vielleicht getan, und ihr sollt gleich hören, warum. Noch keine zwei Stunden waren über dem jämmerlichen Ende von Mutter und Kind dahingegangen; ich glotzte dumpf und stumpf in die See hinaus – da packt es auf einmal meine Augen und reißt sie nach einem bestimmten Punkt hin. Leuchtet dort nicht ein Segel auf? Ist's Wirklichkeit, oder nur Lug und Trug? … Nein! es wächst und wächst, wie ein Schwan kommt's im Morgenlicht durch die Wogen herangerauscht, und geraden Weges auf uns los. Gottesblut! Das Herz in meiner Brust klopfte wie ein Schmiedehammer – – und jetzt kommt schon ein Boot angetanzt, und kurz und gut: binnen einer Viertelstunde sind wir an Bord des braven Spaniolen, und die Ratten auf dem ›Odin‹ mochten jetzt zusehen, wie sie ohne uns fertig wurden …«

Schon wollte im Zuhörerkreise ein Jubelsturm losbrechen, doch eine Handbewegung Sangue di Dios dämmte ihn zurück. »Diego Gomez – so nannte sich der Patron der spanischen Brigg – war von Corunna ausgelaufen, um eine Ladung Eisen nach den Azorischen Inseln zu bringen. Am Abend, der unserer Rettung vorausging, sah der Patron in seinem Fahrwasser zwei gekenterte Schiffsboote treiben, die, wie eine nähere Besichtigung ergab, den Namen ›Odin‹ führten. Sofort beschloß der wackere Gallego, die Gegend abzusuchen; die Nacht hindurch, und am kommenden Morgen ward demgemäß scharfer Ausguck gehalten und endlich auch unser Wrack entdeckt, das sich ja schon von weitem durch sein zerknittertes Takelwerk verriet. Leicht konnte sich Diego Gomez denken, daß seine Notgäste vorläufig am Seeleben genug hatten, und so nahm er seinen Kurs nach der portugiesischen Küste, wo er uns zu Setuval, südlich von Lissabon, an Land setzte. Den Abschied von meinen Leidensgenossen will ich nicht lang und breit ausmalen – ich rauher Kerl heulte wie vor vierzig Jahren am Grabe meiner Mutter. Der Staatsrat wollte mich mit sich nach Dänemark nehmen und mich dort zu seinem Kammerdiener zurechtstutzen. Ich hätt' einen blauen Frack und einen goldbordierten Hut bekommen und dabei leben können, wie der Fink im Hanfsamen; denn meine Hauptaufgabe wär' es gewesen, im Vorzimmer vor lauter Langeweile das Maul aufzureißen und mir die Sonne in den Hals scheinen zu lassen. Ich schwankte einen Moment, und vielleicht hätt' ich Ja dazu gesagt – aber da blies mir gerade der Wind den Geruch eines qualmenden Teerkessels in die Nase, die See blinzte mich mit ihren grünen Hexenaugen an und – Gottsblut! Mit dem Kammerdiener war's vorbei: das Salzwasser hatte den Prozeß gewonnen. Ein Röllchen Goldstücke, das mir der alte, an Leib und Seele gebrochene Herr in die Hand drückte, tat mir wohl und weh zugleich. › Per la caccia di ratti‹, Für die Rattenjagd. sagte er und wandte sich rasch ab, um seine Tränen zu trocknen. Ebbene, so sind wir auseinandergegangen und haben uns seitdem nicht wieder gesehen, werden es auch schwerlich in diesem Leben tun. Der alte Herr, so denk' ich mir, wird schon seit Jahr und Tag tot sein, und die andern wird das Schicksal da und dorthin zerstreut haben …«

Sangue di Dio langte nach seinem Schlapphut, den er beim Besteigen seines improvisierten Sitzplatzes über einen Henkel der alten Kanone gestülpt hatte, und während er nun mit allerlei kunstgerechten Püffen und Griffen dem form- und farblosen Filze Fasson beibrachte, glossierte er dabei im Ton eines Weltweisen: » Chi va piano, va sano! Das deutsche: Eile mit Weile. Ihr habt gehört, daß Diego Gomez die umgekippten Boote in seinem Fahrwasser herumschwimmen sah und könnt daraus entnehmen, daß wir trotzdem das bessere Teil erwählt hatten, als wir in jenem kritischen Moment an Bord des »Odin« zurückblieben, denn sonst würde, wie mit dem Capitano und den andern, der Meerkönig auch mit uns seine Fische gefüttert haben. Und zum zweiten: Wenn die arme Signora nur noch ein paar Stunden lang ausgehalten hätte, so wäre sie beim Anblick der spanischen Brigg wohl auch wieder im Kopfe hell geworden, und der Zauber des Haifischauges wäre gebrochen gewesen. So denkt der Mensch, und so hätt' es ja auch kommen können, aber schon im Mutterleib ist jedem von uns sein Leben und Sterben im voraus bestimmt, und darum haben sich die Signora und der Hai zur rechten Zeit und auf dem rechten Fleck treffen müssen. Noch am Tage zuvor hatte sie zu mir in ihrem stillen Tiefsinn gesagt: » Bisogna che me ne vada«. Ich muß heimgehen. Und sie hatte dabei ganz geisterhaft vor sich hin gelächelt, denn sie träumte ja beständig von ihrem nordischen Vaterland und ihrem fernen Gatten. Und schon am nächsten Morgen war die arme kranke Seele erlöst …« Gedankenvoll blickte Sangue di Dio in die Stadt hinab, aus der die Lichter heraufblitzten, und mehr zu sich selber als zu seinen Kameraden sprach er die philosophischen Worte: »Ja, ja! Jedes Menschenkind segelt seinen bestimmten Kurs, mag aber die Fahrt lustig oder traurig sein – auf dem letzten Blatt des Logbuches steht für uns alle geschrieben: »Bisogna che me ne vada!«

* * *

Und horch! Wie um den Heimgang alles Menschlichen in eine tönende Symbolik zu kleiden, so lockten im selben Moment, einem Geisterruf vergleichbar, schwermütige Hornklänge durch die Nacht. Es war das Signal der Ritirata, das die Bewohner des Kastells zum Aufbruch mahnte.

Schweigend löste sich der Kreis.

Der deutsche Capobombardiere war zu dem alten Matrosen herangetreten und drückte ihm stumm die Hand. Sangue di Dio legte seinen herkulischen Arm um den schlanken Leib des jungen Kanoniers. Und abseits von dem großen Haufen wanderten die beiden ihrem Quartier entgegen.


 << zurück weiter >>