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Gefallene Würfel.

(Fortsetzung von »Ein Kind der Liebe«.)

Heribert, der unselige Büßer wilder Leidenschaft, saß im Untersuchungsgefängnis. Von amtlicher Seite war ihm eröffnet worden, er dürfe, natürlich unter entsprechender Überwachung, dem Leichenbegängnis seines Vaters beiwohnen; mit kaltem Dank hatte der Jüngling diesen humanen Urlaub abgelehnt.

Im Krankenhause lag Paul mit seiner Stichwunde. Durch seinen Wärter hatte er das jähe Ableben des Hofrats erfahren, zugleich auch die an Irrsinn streifende Verzweiflung der armen Cordula. Das namenlose Elend, das in der Villa eingekehrt war, erschütterte den gefühlvollen jungen Mann so sehr, daß er, sein eigenes Leid vergessend, dem Gerichte die Bitte zugehen ließ, die Anklage niederzuschlagen und den verhafteten Widersacher auf freien Fuß zu setzen. Er wurde aber dahin beschieden, daß die Justiz ihren Lauf haben müsse, der Richter könne hier nur soviel tun, daß er in seinem Urteil die möglichste Milde obwalten lasse.

Thekla endlich saß, zu einem Jammerbilde abgehärmt, in der dunkelsten Ecke ihres Kämmerchens; Tränen hatte sie keine mehr, und so ließ sie in dumpfer und stumpfer Apathie die Vorwürfe und Schimpfereien ihrer Pflegeeltern auf sich niederhageln.

Der Messerstich, den in blinder Wut Heribert gegen die Brust des Nebenbuhlers geführt hatte, war glücklicherweise zum Bessern gewendet worden; schon nach vierzehn Tagen konnte der Arzt den Patienten außer Lebensgefahr erklären, und dieser Umstand ward zu einem weitern Milderungsgrunde.

Die Sühne, die der Gerichtshof dem jugendlichen Missetäter zudiktierte, lautete auf drei Monate Gefängnis. Schon vorher war er laut Konferenzbeschluß als unwürdig aus dem Gymnasialverbande ausgestoßen worden: eine Strafe, die ihn bei seiner längst vorhandenen Unlust am Studium kaum besonders schmerzen mochte. Ungleich wuchtiger war der Schlag, womit ihn die testamentarische Verfügung seines Vaters traf! Noch am Tage vor seinem Ableben hatte der Alte einem Notar seinen letzten Willen in die Feder diktiert, und der ganze Haß gegen den »Jungen« war dabei nochmals in einer diabolischen Explosion emporgelodert. Der Universität fiel die kostbare Bibliothek und anatomische Präparatensammlung zu; die Villa Arabella sollte versteigert und aus dem Erlöse dem »Jungen« genau nur soviel zugewiesen werden, als das väterliche Enterbungsrecht gestattete. Der übrige Verkaufsertrag aber sollte den Grundstock zu einer Stipendienstiftung für arme, würdige Studenten der Medizin bilden. Bezüglich seiner Schwester Cordula hatte der Alte eine besondere Disposition getroffen: bei einem namentlich bezeichneten Bankhause sollte eine bestimmte Summe deponiert werden und zwar in Form eines Fideikommisses, die Zinsen aus diesem Kapital sollte Cordula bis zu ihrem Lebensende genießen, nach ihrem Tode floß das Kapital in die vorerwähnte Stipendienstiftung.

Das Motiv zu dieser Verfügung läßt sich leicht erraten. Der Alte kannte die abgöttische Liebe, womit Cordula an ihrem Neffen hing; wäre ihr das Legat als persönlicher Besitz zugefallen, so hätte sich einfach der »Junge« als lachender Erbe betrachten dürfen. Um dieser Hintertür einen Riegel vorzuschieben, war der erbarmungslose Alte bedacht gewesen, das Legat in entsprechender Weise zu verklausulieren.

* * *

Drei Jahre waren seitdem vergangen.

Wie eine ätherische Kuppel wölbte sich der tiefblaue Sommerhimmel über den altersgrauen Zinnen der kleinen Grenzfestung.

Es war ein Sonntag.

Über die Wälle her klang dumpfes Glockengeläute, zum Nachmittags-Gottesdienste rufend. Ganze Karawanen von Landleuten strömten aus den umliegenden Dörfern der Stadt zu und drängten sich durch das finstere, feuchte Torgewölbe, das an seiner Stirne in halbverblichenen, altfränkischen Goldbuchstaben die Devise trug: » Neo pluribus impar!« Selbst der Übermacht gewachsen.

Unter diesem stolzen Spruch blähte sich das altfranzösische Königswappen mit den bourbonischen Lilien. Und doch lag die Festung auf gut deutschem Grund und Boden. Mit dem » Neo pluribus impar!« hat es allerdings weiland seine Richtigkeit gehabt und mehr als einmal ist vor der alten Feste selbst der übermächtige Feind mit blutigem Kopfe abgezogen. Seitdem aber hatte die Zeit mit ihren fortifikatorischen und artilleristischen Fortschritten den alten Waffenplatz längst überholt und zugleich dem pompösen Tormotto den Stempel der Komik aufgedrückt. Die Chronik der kleinen Grenzfestung füllt ein Blatt Geschichte aus Deutschlands traurigsten Zeiten.

Im Jahre 1680 wurde das Städtchen durch eine jedes Nationalgefühl mit Füßen tretende Diplomatie geradezu an Frankreich ausgeliefert und Ludwig der Vierzehnte, der »Sonnenkönig«, der den Wert dieser Beute nur allzu wohl zu taxieren wußte, ließ, gleich nach der Besitzergreifung, durch seinen Kriegsbaumeister Vauban den Platz zu einer Festung ersten Ranges verschanzen. So ward dieses Zwinguri zu einem eisernen Keil, den sich der gute deutsche Michel selber ins eigene Fleisch getrieben hatte und der ihn Ströme von Blut kostete. Je nach dem wechselnden Kriegsglück erobert, dann verloren, dann wieder erobert und nochmals verloren, war der Platz ein steter Zankapfel für Gallier und Germanen. Als zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Revolution losbrach, da stand die kleine Grenzfeste abermals wie ein Eisbrecher mitten im rauschenden Strom der Zeit. Der Franzmann verteidigte, der Preuße belagerte den Platz. Fiel die Festung, so war unter Umständen für Frankreich das Spiel verloren. Da aber ging durch die junge Republik ein millionenstimmiger Schrei des Fanatismus, des Wahnsinns; der Konvent zu Paris ließ die Werbetrommel rühren und die dreifarbige Fahne entfalten wie ein flatterndes Sturmsegel, die Generale Pichegru und Hoche boten sich, ihren Kopf als Pfand einsetzend, dar, die am Rande des Abgrundes stehende Republik zu retten. Aus allen Ecken und Enden Frankreichs strömten todesmutige Streiter herbei, um die Cadres der »Rhein- und Mosel-Armee« zu füllen und so zog, elend bewaffnet, mit leerem Magen, aber die Brust bis zum Springen voll himmelstürmender Begeisterung, dieses Volksheer unter den berauschenden Klängen der Marseillaise und dem elektrisierenden Jubelruf: »Es lebe die Republik!« der Grenze entgegen, um die belagerte Feste zu entsetzen oder vor ihren Mauern zu sterben. Für die hart bedrängte Garnison war es die höchste Zeit, daß Hilfe kam, denn die Preußen, unter dem Kommando ihres Kronprinzen Der spätere König Friedrich Wilhelm III. und der Generale Knobelsdorf und Prinz Hohenlohe-Ingelfingen, umgürteten immer enger und enger den Platz. Schon aber stürmten in Eilmärschen die Sanskulotten-Bataillone heran; wie eine brausende Hochflut durchbrachen sie in den Weihnachtstagen (1793) die von den Österreichern verteidigten Weißenburger Linien und erkletterten in buntem Gewimmel die Berge, die sie noch von ihrem Ziele trennten. Am 28. Dezember trat das Belagerungskorps den Rückzug an und die siegreichen Republikaner hielten ihren Einzug in die halb zusammengeschossene Feste. Auf die Turmspitze des Arsenals aber pflanzten sie eine blecherne, rot angemalte Jakobinermütze. Das Wahrzeichen der Volkssouveränität hat noch dort oben gehangen, nachdem es längst keine Sanskulotten mehr gab.

An jenem Sonntag nachmittag war das Festungstor der Kreuzungspunkt einer Doppelströmung: während das Landvolk in hellen Haufen der Stadt zudrängte, ergoß sich gleichzeitig aus den dumpfen Mauern ein nicht minder bunter Menschenschwarm – Bürger mit Weib und Kind, Mägde und Handwerksgesellen, Offiziere und Soldaten der Garnison. Mitten in diesem Gewimmel, das über die Torbrücke der äußern Barriere entgegenschob, schlenderten zwei Artilleristen der reitenden Batterie. Die Kragentressen kennzeichneten den einen als Korporal, den andern als Feuerwerker.

Letzterer, im Alter von etwa sieben- oder achtundzwanzig Jahren, hatte offenbar das Waffenhandwerk zum Lebensberuf erkoren, denn an seinem linken Ärmel trug er den sogenannten »Kapitulationsstrich« – eine gelbwollene Litze, die anzeigte, daß er seine verfassungsmäßige Heerespflicht erledigt und dann als Kapitulant auf weitere sechs Jahre dem König seine Knochen verkauft hatte. Er war nur von mittlerer Größe, aber in seinem massigen Gliederbau lag die Kraft eines Stieres; auch die Wildheit eines Büffels sprach aus seiner ganzen Erscheinung. Der stramme, muskelstrotzende Geselle mit den grünlich funkelnden Augen und rotblonden Schnurrbart bot das wahre Musterbild des schneidig-brutalen Unteroffiziers, aber auch zugleich des lockern Zeisigs Unteroffizier und Sergeant.. Auch hatte er ganz durch eigenes Verschulden seine Karriere verscherzt. Der Sohn eines höheren Beamten, war er als sogenannter »Regimentskadett« freiwillig bei der Artillerie eingetreten. In seiner Eigenschaft als Offiziersaspirant genoß der Regimentskadett gleich von vornherein verschiedene Vorzüge und Benefizien; möglichst bald avancierte er vom Gemeinen zum Korporal, tat als solcher durchschnittlich zwei oder drei Jahre Dienst, unterzog sich dann vor einer Kommission einer nicht besonders schweren Prüfung und erhielt hierauf beim nächsten Armeebefehl sein Patent als »Junker« oder auch gleich als Sekondeleutnant. Das Institut war ein Kastenprivileg, denn nur die Söhne von Offizieren und Beamten, die aber auch wieder auf einer bestimmten Rangstufe stehen mußten, konnten als Regimentskadetten eintreten …

Zum Korporal hatte es Tassilo von Vollrad glücklich gebracht, und die Epauletten waren für ihn nur noch eine Zeitfrage; den praktischen Batteriedienst kannte er durch und durch, in der Mathematik und im Planzeichnen leistete er geradezu Vorzügliches. Sein Vater war bereits verstorben; die Mutter, die mit ihrer Pension die Familie durchbringen sollte, konnte dem lebenslustigen jungen Kriegsknecht nur ein sehr bescheidenes Taschengeld spenden, das wie ein Tropfen auf eine heiße Ofenplatte fiel. Um dem steten Konflikt zwischen seinem magern Budget und seinen Lebensansprüchen abzuhelfen, vergaß sich der Leichtsinnige soweit, daß er nach und nach die Soldaten der ganzen Batterie anpumpte, ohne dabei ans Zurückzahlen zu denken. Mit Bitten und Versprechen beschwichtigte er zunächst die mahnenden Gläubiger; als auch dies nicht mehr verfangen wollte und die Leute mehr und mehr ungestüm ihr Guthaben geltend machten, auch selbst im Dienste sich allerlei Ungehörigkeiten gegen ihn erlaubten, da tat er einen wo möglich noch unseligern Schritt. Statt reumütig seiner Familie seine qualvolle Situation zu eröffnen, versuchte er jetzt durch ein terroristisches Auftreten seine Plagegeister klein zu kriegen und als trotzdem eines Tages einer der Postulanten im Stall aufmuckte, da packte ihn der ergrimmte Debitor kurzweg bei der Gurgel und prügelte ihn windelweich. Dieser Gewalttat folgte die verhängnisvolle Katastrophe. Der leichtfertige Mensch wurde eingesperrt und aus der Kadettenliste gestrichen; der Degradation zum Gemeinen entging er nur durch die eifrige Verwendung seines Batteriechefs, der dem Artilleriewesen einen sonst so äußerst tüchtigen und intelligenten Unteroffizier erhalten wollte. Der humane Hauptmann ging noch weiter: er bewirkte die Versetzung des Sünders in ein anderes Regiment, damit er dort einen neuen Adam anziehen könne. Das Paradies der goldenen Epauletten war unwiederbringlich verloren, jetzt schloß im besten Falle der Horizont mit der Oberfeuerwerker-Tresse ab. Unter solch tristen Aussichten hätte wohl ein anderer bei erster Gelegenheit dem Soldatenleben Valet gesagt und seine geistige Kraft in irgendeiner bürgerlichen Beschäftigung vorteilhafter zu verwerten gesucht. Tassilo aber war für ein derartiges moralisches Aufraffen viel zu apathisch, und nebenbei leitete ihn auch noch eine besondere Illusion. »Über kurz oder lang,« philosophierte er, »muß es Krieg geben, es muß, denn die Franzosen bleiben auf keinen Fall ruhig!« Und dann malte er sich in den buntesten Farben aus, wie er in diesem unvermeidlichen Völkerduell herumfuchteln und herumknallen, welch homerische Bravourestücklein er ausführen wolle! Da sollte ihm doch noch, allen Teufeln zum Trotz, der dankbare Landesvater die im faulen Frieden verscherzten goldenen Epauletten auf die Achseln heften müssen. Mit diesem abenteuerlichen Zukunftsbilde vor Augen, diente er getrost als Korporal weiter – der Franzmann mußte ja, heut oder morgen, dem deutschen Michel in die Haare fahren!! So lief seine Dienstzeit ab und er konnte, wenn er wollte, der Kaserne den Rücken kehren. Statt dessen ging er eine neue Kapitulation ein. In den Zeitungen jede politische Bewegung des gallischen Nachbars belauernd und natürlich pro domo deutend, rückte er mittlerweile zum Feuerwerker vor. Eifrig, aber mit behutsam gedämpfter Stimme sprach er zu seinem Begleiter, dem Korporal, der mit sinnend gesenktem Kopfe auf die Mitteilung horchte. Wohl um fünf oder sechs Jahre mochte der Korporal jünger sein, als sein Kamerad; auch seine sonstige Erscheinung bot ein direktes Gegenbild zu dem Feuerwerker. Seinen stämmigen Waffenbruder fast um Haupteslänge überragend, trat in der Figur des jungen Soldaten in erster Linie die geschmeidige Gewandtheit hervor. In dem fleischigen, von Wind und Wetter bronzierten Gesichte des Feuerwerkers zeigte, sozusagen, die wilde Bulldoggencourage knurrend die Zähne: aus dem marmorbleichen, schmalen Antlitz des andern dagegen vibrierte eine nervöse, in jähen Sprüngen aufzuckende Leidenschaftlichkeit. Die Uniformfarben der Artillerie – blau und schwarz – harmonierten effektvoll mit den dunkelglühenden Augen und dem kohlschwarzen Haar, das, wenn auch zu militärischer Kürze verschnitten, in üppigem Gekräusel unter der Mütze hervorquoll.

… Mitten in dem heraus und hinein wogenden Menschentrubel passierten die beiden Unteroffiziere die Barriere und bogen dann in einen Weg ein, der zwischen den Vorwerken ins offene Land hinausführte. Ihr Wanderziel war offenbar eines der Dörfer, die, im sogenannten »kilometrischen Rayon« liegend, während der guten Jahreszeit von Zivil und Militär gern besucht wurden. Draußen beim äußersten Fort zog der Feuerwerker seine Uhr und warf einen prüfenden Blick darauf. »Wir wollen ein wenig rascher gehen,« sagte er zu seinem Begleiter; »sie erwarten uns jedenfalls schon, und ich möchte dir so bald wie möglich diese französische Wetterhexe mit ihren feurigen Sakramentsaugen vorstellen! Ich sage dir, Freundchen, ein Paar Augen wie zwei Kohlen – –«

»An denen du deine zarten Schmetterlingsflügel, allem Anschein nach, schon ganz tüchtig versengt hast!« lachte der andere dazwischen.

»Spotte soviel du willst!« gab der Feuerwerker zurück; »es ist keine Schande, sich von einer solchen Augen-Batterie eine Bresche ins Herz schießen zu lassen!

»Na,« schloß er seine Expektoration, »rühr jetzt nur deine langen Storchenbeine ein wenig, daß wir hinkommen.« Mit klirrenden Schritten marschierten sie ihrem Ziele entgegen, das zunächst in der Gestalt eines Kirchturmes herüberwinkte.

Eine Staubwolke kam auf der Landstraße herangewirbelt, eine leichte Kalesche, mit zwei eleganten Schimmeln bespannt, näherte sich in flottem Trab. Ein Herr und eine Dame waren die Insassen der zierlichen Equipage. Um sich gegen die grell brennende Sonne zu schützen, hatte die Dame ihr Schirmchen aufgespannt, von dessen wohltuendem Schatten auch ihr Begleiter soviel wie möglich zu profitieren suchte. Dadurch ließen sich ihre Gesichter erst in unmittelbarer Nähe deutlich erkennen. Gleichgültig streifte der Blick des Feuerwerkers über das ihm absolut fremde Menschenpaar hin – ihm, dem passionierten Reiter, boten die stattlichen Schimmel viel mehr Interesse. Eine jähe Bewegung seines Nebenmannes gab seinem Auge eine andere Richtung. In dem sonst alabasterbleichen Gesichte des jungen Korporals war ein dunkles Rot aufgeflammt – mit einem rätselhaften Ausdruck von Scheu, Trotz und Weh zugleich starrte sein Blick nach der Dame hinüber, in deren feinen Zügen sich nicht minder sichtbar das Spiel einer plötzlichen Seelenerregung malte: als suche sie instinktiv Schutz gegen eine drohende Gefahr, so preßte sie sich an den neben ihr sitzenden Herrn, der gleichfalls das Bild einer blitzartigen Verstörung darstellte.

Schon waren Rosse und Wagen hinter einem Schleier von quirlendem Staub entschwunden, doch der junge Soldat stand immer noch da, als hab' ihn eine geisterhafte Vision geneckt.

»Was war denn das?« Aus der Frage des sonst so burschikosen Feuerwerkers klang's hervor wie der Ton einer fast ängstlichen Sorge.

»Nichts – gar nichts!« warf der andere hin; wohl unbewußt machte er zugleich mit der Hand eine abweisende Bewegung.

Die kurze Abfertigung verdroß nun offenbar den Feuerwerker. »Na,« sagte er, »wenn du dein Geheimnis nicht ausschütten willst, so salz' es zu deinem Privatgebrauche ein! Ich hab' dich überhaupt nur gefragt, weil mich mein Schulmeister gelehrt hat, ein durch zwei dividierter Schmerz sei nur noch ein halber Schmerz.« Er pfiff ein paar Trompetersignale vor sich hin, dann schritten sie wortlos, jeder feinen eigenen Gedanken nachhängend, dem Dorfe entgegen, dessen erste Häuser schon aus ihrem grünen Baumkranze auftauchten.

* * *

Man schrieb das Jahr 1859!

Schon lange hatte ein Gewitter in der Luft gesteckt. Am 29. März nun schrieb Cavour von Paris aus an den Kriegsminister Lamarmora in Turin: »Der Krieg ist unvermeidlich, er läßt sich vielleicht noch um zwei Monate verzögern; er wird ebensowohl am Rhein, wie am Po geführt werden. Damit aber dieser Krieg für Piemont und Italien ein günstiges Resultat habe, muß man sich zu den größten Anstrengungen vorbereiten! Die widerwillig hineingezogenen Franzosen werden uns nie verzeihen, wenn die größere Last der Unternehmung auf ihren Rücken fällt. Wehe uns, wenn wir nun vermittelst der Franzosen siegen! Nur wenn wir uns besser schlagen als sie – nur wenn wir eine größere Streitmacht als sie unter die Waffen stellen, werden wir im Falle des allgemeinen Krieges unser Land retten« …

In seiner fieberhaften Ungeduld, das Kreuz von Savoyen triumphierend auf den Zinnen des italienischen Einheitsstaates aufzupflanzen, scheute Cavour selbst vor einem Weltbrande nicht zurück. Wie einen Sturmvogel hatte er seinen Brief nach Turin fliegen lassen. Gleich hinter seiner Botschaft verfinsterte sich auch schon der politische Horizont und schon im April signalisierten die Zeitungen das Aufsteigen einer verderbenschwangern Wolke. Was aber die Diplomaten von ihrem erhöhten Standpunkte aus leicht überschauen konnten, das blieb für die uneingeweihten Völker vorerst noch eine bange Frage. Wo wird sich das Wetter entladen?

Ängstlich und erwartungsvoll folgten alle Augen dem langsamen und unheimlichen Flug der Sturmwolke, die heute nach dahin, morgen nach dorthin neigte. Dann aber steuerte sie rasch südwärts. Über Italien machte sie Halt. Jetzt wußte alle Welt, daß am Po die eisernen Würfel rollen sollten! Das mit Frankreich verbündete Piemont hatte seinem Erbfeind, dem kaiserlichen Österreich, den Fehdehandschuh hingeworfen, Habsburg nahm die Herausforderung an. Ganz Europa war damit alarmiert.

Wie, wenn die stiebenden, Schwertfunken vom Po bis an den Rhein flogen? Wenn Deutschland – Preußen voran – in einen Krieg verwickelt wurde für Interessen, die gar nicht die seinigen waren? Diese Eventualität im Auge, schrieb Bismarck von Petersburg aus an seine Gemahlin die grimmerfüllten Worte: »Vor einer halben Stunde hat mich ein Kurier mit Krieg und Frieden geweckt … Unsere (preußische) Politik gleitet mehr und mehr in das österreichische Kielwasser hinein und haben wir erst einen Schuß am Rhein abgefeuert, so ist es mit dem italienisch-österreichischen Kriege vorbei und statt dessen tritt ein preußisch-französischer auf die Bühne, in welchem Österreich, nachdem wir die Last von seinen Schultern genommen haben, uns soviel beisteht oder nicht beisteht, als seine eigenen Interessen es mit sich bringen. Daß wir eine sehr glänzende Siegerrolle spielen, wird es gewiß nicht zugeben!« In Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, begann jetzt also ein allgemeines Rüsten Hals über Kopf; auch der süddeutsche Staat, dem der Feuerwerker und der Korporal angehörten, blieb nicht zurück; die Armee sollte auf den Kriegsfuß gesetzt, die Festungen sollten armiert und verproviantiert werden. In der kleinen Grenzfeste, die den eventuell heranmarschierenden Rothosen just im Wege lag, begann nun eine fieberhafte Tätigkeit, und die wahnsinnige Hast wuchs im selben Maße, als man sich an betreffender Stelle einer bisher allzu großen Sorglosigkeit zeihen mußte. Im Schlendrian einer langen Friedenszeit war auch in diesem gegen Frankreich vorgeschobenen Bollwerk vieles, vieles aus dem Leim gegangen; jetzt sollte in Tagen und Stunden nachgeholt werden, was in Monaten und Jahren versäumt worden war. Dabei traten die mancherlei Mißstände und Gebrechen, an denen das süddeutsche Heer- und Verwaltungswesen bis zum Jahr 1866 laborierte, recht grell zutage: aus den meisten Maßregeln, die getroffen wurden, sprach eine Kopf- und Planlosigkeit, die an Komik streifte. Die Reserven und die »unmontiert Assentierten« wurden einberufen; die engen Gassen der Festung wimmelten von den wider ihren Willen geladenen Gästen, für die es teilweise an Waffen und Monturstücken fehlte – zu einer Zeit, wo schon die Kanonen aufgefahren wurden, die bei Magenta, Solferino und Montebello zum blutigen Tanz aufspielen sollten.

Die Pallisadenzäune und Wallbatterien befanden sich zum großen Teil in einem kläglichen Zustande, die ganze Besatzung – natürlich in erster Linie die Mannschaften der Artillerie und des Genieregiments – mußte negerhaft arbeiten und schanzen und kam fast gar nicht mehr aus dem »Herrendienst« Mit diesem ziemlich feudal klingenden Ausdruck bezeichnete der Soldat alle Arbeiten, zu denen er neben dem normalen Dienste kommandiert wurde. heraus. Todmüd' sank abends der Soldat auf seinen Strohsack, von dem Trommel und Trompete ihn beim ersten Morgengrauen schon wieder emporscheuchten …

* * *

In dem Dorfe, dem der Feuerwerker und sein Begleiter verstummt und verstimmt entgegenwanderten, war für Aug' und Ohr nichts von dem kritischen Ernst der Zeit zu bemerken. Musik links und rechts – von der Gasse aus konnte man an den offenen Saalfenstern der Wirtshäuser die Paare vorbeiwirbeln sehen. Der Feuerwerker lenkte seine Schritte einem Garten zu, in dem sich ein recht anständiges Publikum bewegte. Noch hatten die beiden Unteroffiziere das Gartentor nicht erreicht, als aus einer Laube ein lebhaft geschwungener grauer Kastorhut wie zum Gruß und Richtzeichen winkte. Mit einem salutierenden Griff an die Mühe gab der Feuerwerker das Signal zurück. »Dort erwarten sie uns ja schon,« wandte er sich eifrig nach seinem Begleiter hin; »du wirst nun gleich die Französin von Angesicht zu Angesicht schauen und sollst dann selber urteilen, ob sie mit ihren verteufelten Malefizaugen nicht ein reizendes Persönchen ist! Ich bitt' dich nur um das eine: schneid' ein freundliches Gesicht und schlag' dir wenigstens für jetzt die Grillen aus dem Kopf, die dich plagen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, betrat er den Garten und schritt rasch der Laube entgegen. Schon in der nächsten Minute fand ein Austausch von kordialen Händedrücken statt, der Feuerwerker haspelte die gegenseitige Vorstellung ab, dann nahm das Quartett in der Laube Platz.

Daß Monsieur und Madame Klein – so hatte der Feuerwerker seinem Waffenbruder das Paar präsentiert – Franzosen waren, ließ sich, trotz des gut deutschen Namens, auf den flüchtigsten Blick erraten.

Monsieur Klein, um es gleich zu sagen, war ein geborener Elsässer und sein blondes, schon ziemlich graumeliertes Haar, seine hellblauen Augen, seine starkknochige Gestalt und die Grundzüge seiner Gesichtsbildung erinnerten noch recht deutlich an die alemannische Abstammung. In Art und Wesen des Mannes aber lag ganz der gallische » Tic« und dies war erklärlich genug, denn wie er im Lauf der Unterhaltung sich äußerte, hatte er den größten Teil seines Lebens unter Stockfranzosen zugebracht. Nicht bloß der wohlgepflegte Schnurr- und Kinnbart, das durch Louis Napoleon popularisierte Nationalwahrzeichen, auch ein gewisses charakteristisches Etwas in seinen Allüren gemahnte zeitweise an den ehemaligen französischen Troupier und dieser Schluß war kein irriger, denn seiner Aussage zufolge hatte er, teils in Frankreich, teils in den überseeischen Kolonien, bei einem Genieregimente gedient und als Sergeantmajor vor etlichen zehn oder zwölf Jahren seinen ehrenvollen Abschied genommen. Zweifelsohne war er auch erst nach seinem Rücktritt ins bürgerliche Leben auf den Gedanken gekommen, sich in den heiligen Ehe- und Wehestand zu begeben: die Altersverschiedenheit zwischen ihm und seiner höchstens vierundzwanzigjährigen Gattin ließ wenigstens eine derartige Mutmaßung als begründet erscheinen. Trotz seines vieljährigen Verkehrs mit Franzosen wußte sich Monsieur Klein im Deutschen ohne besondere Schwierigkeit auszudrücken; durch einen längern Aufenthalt in Karlsruhe und Mannheim hatte er, wie er sagte, seine linguistischen Jugendreminiszenzen wieder aufgefrischt. Auch Madame war dabei, durch die Verhältnisse gezwungen, zur Schülerin geworden, allerdings mit höchst problematischem Erfolge; desto drolliger hörte sich für ein deutsches Ohr der Ringkampf an, den sie permanent mit der Satzkonstruktion und den Artikeln »der«, »die«, »das« zu bestehen hatte – nicht zu gedenken des tückischen »H«, dieses geschworenen Todfeindes der grande nation.

Der Enthusiasmus, womit der Feuerwerker unterwegs seinem Kameraden gegenüber die »französische Wetterhexe« in den Himmel erhoben hatte, war wirklich kein ungerechtfertigter, man konnte sie entschieden ein reizendes Weibchen nennen. Clarisse besaß die Beweglichkeit eines Vogels; war der Mund wohl etwas zu groß, so entschädigten dafür frische, kirschrote Lippen, die mit der kleinen vorwitzigen Stumpfnase verbündet einen ungemein schelmischen Effekt hervorriefen. Die schwarzen, von Mutwillen und Sinnlichkeit funkelnden Augen hatte der Feuerwerker ganz richtig mit zwei Kohlen verglichen, die im Handumdrehen ein lüsternes Männerherz entzünden konnten. Noch über einen weitern Reiz gebot die Sirene: unter dem koketten Strohhütchen ringelte sich, fast in Überfülle, ein blauschwarz schillerndes Haar hervor und umrahmte, wie zwei Rabenflügel, das Gesicht, dessen bräunlicher Teint auf die südliche Abstammung hinwies. Sie war in einem der an Spanien grenzenden Departements geboren. Soeben brachte eine Kellnerin einige Flaschen feinern Weines, den wohl Monsieur Klein gleich bestellt hatte, als er der beiden Ankömmlinge draußen auf der Straße ansichtig geworden war. Er füllte die Gläser und offerierte Zigarren, man stieß auf das gegenseitige Wohl an, setzte die Glimmstengel in Brand und brachte eine allgemeine Unterhaltung in Gang. Clarisse hatte mit dem ersten Blick ihrer scharfen Augen die seelische Erregung des jungen Korporals entdeckt, wenngleich dieser bemüht war, sich möglichst zu beherrschen. Wollte sie ihn bloß aufheitern, oder nahm sie ein tieferes Interesse an ihm – genug, sie ließ bald alle Geschütze ihrer Koketterie gegen ihn spielen. Monsieur Klein plauderte gemütlich mit dem Feuerwerker, der zerstreut zuhörte. Die eigentliche Aufmerksamkeit des offenbar eifersüchtig gewordenen Feuerwerkers war auf die »Wetterhexe« und seinen so bevorzugten Kameraden gerichtet. In einem an den Garten stoßenden Saale wurde getanzt, und Clarisse stellte lächelnd die Frage, ob man nicht gleichfalls einen Walzer oder Galopp riskieren solle. Mit ganz besonderem Eifer akzeptierte der Feuerwerker den Vorschlag, der Korporal konnte füglich nicht nein sagen, und auch Monsieur Klein griff, als galanter Ehemann, zu seinem Kastorhut. Gleich beim Eintritt in den Saal beschlagnahmte der Feuerwerker die Hand Clarissens, und so eröffnete sie mit ihm den Reigen. Die nächste Tour fiel dem jungen Korporal zu. So wenig nun auch dieser Ritterdienst zu seiner Stimmung paßte – den brillanten Tänzer konnte er darum doch nicht verleugnen und abermals verfinsterte sich die glühende Stirne des Feuerwerkers, als er die welsche Sirene voll bacchantischer Lust in den Armen ihres eleganten Kavaliers sich wiegen sah. Monsieur Klein hatte sich mit seiner Zigarre in eine Fensternische postiert, um als passiver Zuschauer den zappelnden Beinen aus dem Weg zu gehen. Nach beendigtem Tanze geleitete der Korporal die Französin an ihren Platz zurück, dann entschuldigte er sich, daß er den Saal verlassen müsse: ein unerträgliches Kopfweh zwinge ihn, für eine Weile die frische Luft aufzusuchen. Mit einem schmollenden Blick erteilte Clarisse den erbetenen Urlaub; der Feuerwerker dagegen schien das so rechtzeitig eingetroffene Kopfweh freudig zu segnen, denn es befreite ihn von einer unbehaglichen Konkurrenz.

* * *

In der abgelegensten Laube des weiten Gartens hatte der Korporal eine Zuflucht gegen die peinlichen Dissonanzen seiner Umgebung gesucht.

Die ersten Schatten der Abenddämmerung begannen ihren grauen Schleier zu weben, im Grase zirpte eine Grille ihr monotones Lied, in den Büschen und Baumgipfeln pulsierte geheimnisvolles Leben und Weben. Der Ruheplatz, den der junge Soldat aufgesucht hatte, lag nach der Rückseite des Wirtshauses hin, so daß die Tanzmusik nur in verworrenen, halbgebrochenen Tönen herüberklang. Den heißen Kopf in die Hand gestützt, ließ der Träumer seine Gedanken über Zeit und Raum hinauswogen. Wie mit einem Schwammstrich weggewischt, war das üppige Bild der Französin vor seinem inneren Auge erloschen – zwei bedeutsamere Gestalten hatten einen flammenden Bannkreis um ihn gezogen …

Paul und Thekla! War die Begegnung mit ihnen nur ein visionärer Spuk – waren die Schimmel, die an ihm vorübertrabten, Phantome einer Zauberwelt gewesen? Hatte er wirklich das Menschenpaar geschaut, das dazu bestimmt gewesen war, so verhängnisvoll in die Geschicke seines jungen Lebens hineinzugreifen? Er strich sich über die hämmernde Stirne, wie um das wilde Chaos seiner Gedanken zu regeln. Wohl hatte ihm – bald nach seinem freiwilligen Eintritt ins Heer – Tante Cordula die Vermählung der beiden in einem kurzen Postskriptum gemeldet: als Ehepaar konnten ihn also die zwei nicht mehr überraschen. Wie aber damals die Tante beifügte, hatte Paul die Leitung eines größern Fabrikanwesens am Bodensee übernommen und seitdem war dem jungen Soldaten keine weitere Kunde mehr zugegangen. Nun tauchte mit einemmal das Paar an einer Stelle auf, wo er es am allerwenigsten vermutet hätte, und daraus also, aus der ganz und gar unerwarteten Begegnung, war auf beiden Seiten jene an Bestürzung grenzende Erregung entsprungen.

Welcher Zweck hatte eigentlich das Paar hierher geführt? Waren sie überhaupt in der Gegend ansässig, oder nur sommerliche Touristen? …

Heribert – er war der junge Artillerieunteroffizier – ergrübelte vergebens eine Antwort auf diese Fragen und so mag hier eine kurze Erklärung das Rätsel lösen.

Thekla war eine Waise, die bei entfernten Verwandten eine freudlose Zuflucht gefunden hatte. Durch die sensationelle Bluttat Heriberts war das arme Mädchen zum allgemeinen Stadtgespräch geworden, auch die Pflegeeltern verwickelte der tausendzüngige Klatsch in den Skandal und erboste sie in naheliegender Rückwirkung nur noch mehr gegen die – wenn auch unfreiwillige – Urheberin des so verhängnisvollen Auftrittes. Zuletzt kam die Katastrophe: Thekla ward in rohester Weise zum Hause hinausgestoßen. Verlassen stand sie auf der Straße. Eine alte Hexe zischelte damals dem bildschönen Mädchen ein teuflisches Wort ins Ohr: Wien, die stolze Kaiserstadt – ein flottes Leben mit Champagner, in der Gesellschaft schmucker Kavaliere, Samt und Seide, wohl gar eine Karrosse! Mit Schauder und Empörung wandte sich Thekla von der verruchten Seelenverkäuferin ab, und ein Schutzgeist führte sie zu redlichen Leuten, die dem schwergeprüften Mädchen ein schirmendes Heim boten. Aber auch Paul hatte sie nicht aus dem Auge verloren; ohne daß sie es ahnte, ließ er sie durch vertraute Mittelpersonen beobachten, um sich zu vergewissern, ob sie überhaupt noch sein Interesse verdiene. Ihr Verhältnis zu Heribert hatte er, wie wir wissen, gleich von vornherein als den Irrgang eines unberatenen jungen Herzens beurteilt und darum auch die Hoffnung nicht aufgegeben, daß Theklas tüchtige Natur sich doch noch zurechtfinden werde. Auf eine freilich unerwartete Weise geschah diese Um- und Einkehr, aber immer noch rechtzeitig genug, denn das höchste Gut der Jungfrau war unentweiht geblieben. Unter heißen Tränen der Reue und der Dankbarkeit reichte das Mädchen dem Werber ihre Hand. Pauls Eltern hatten sich anfänglich gegen den Entschluß des Sohnes gesträubt – jetzt aber war ihnen die brave, kernhafte Schwiegertochter längst schon zum Liebling geworden. Am Bodensee gründete das junge Paar zunächst seinen Hausstand; Pauls Vater, einer der ersten Industriellen des Landes, besaß in der Umgegend der Grenzfestung ein großes Terrain, auf dem vorzügliche Porzellanerde gegraben wurde; um den Betrieb in den rechten Schwung zu bringen, sollte Paul die Direktion übernehmen, und auf diese Weise war er mit Thekla hierher gekommen. Schon ein halbes Jahr lebten sie in der neuen Heimat, ohne ihrerseits die Nähe Heriberts zu ahnen; allerdings wußten sie, daß er unter die Soldaten gegangen sei, aber sie hatten gute Gründe dafür, seine weiteren Spuren nicht zu verfolgen, denn jede Erinnerung an ihn mußte ja nur einen trüben Mißklang hervorrufen. Häufig genug kam das Paar nach der Stadt gefahren und daß dabei nicht schon früher eine Begegnung stattgefunden hatte, war das Werk des Zufalls gewesen. – – –

Tiefer und tiefer war Heribert in düsteres Sinnen und Träumen versunken: leichte Tritte, wie von Frauenfüßen, schollen in sein Ohr und riefen ihn in die Wirklichkeit zurück. Zwischen den Büschen tauchte ein lichtes Kleid auf – kein Zweifel, es war Clarisse. Unwillkürlich machte Heribert in der dunkeln Laube eine Bewegung, die scharfen Augen der Französin bemerkten es, und gleich darauf stand sie dem interessanten Flüchtling gegenüber. » Eh bien, monsieur«, begann sie: »ab' Sie immer noch weh Kopf?« Zärtlich strich sie ihm mit der Hand über die Stirne. » Pauvre garçon, sein noch so junk und ab' Sie doch schon grand malheur mit die Damen.«

Offenbar hatte ihr der Feuerwerker von der wunderlichen Begegnung auf der Landstraße erzählt und zwar in einer Auffassung, die, wie jetzt aus den kondolierenden Worten der Französin zu entnehmen, dem wirklichen Sachverhalte recht nahe kam. Verneinend und abwehrend zugleich schüttelte Heribert den Kopf, denn er fühlte kein Bedürfnis, einer ihm durchaus fremden Person eine Herzensbeichte abzulegen. Clarisse war am Eingang der Laube stehen geblieben – mit einer flinken Bewegung saß sie auch schon an der Seite des jungen Soldaten. Ihr heißer Atem streifte seine Wange, trotz der Dunkelheit glaubte er ihre Augen funkeln zu sehen, schmeichelnd flocht sie ihre zierlichen Finger um seine Hand. Unter andern Umständen wäre die sinnliche Natur Heriberts gegen diesen Sirenenzauber kaum unempfindlich geblieben – jetzt aber, mitten aus seinen Gedanken und Erinnerungen aufgestört, trat ihm aus den Lockungen des üppigen Weibes nur die dreiste Zudringlichkeit entgegen, und in einem Aufwallen von Ungeduld suchte er seine Hand frei zu machen.

Ein erlösender deus ex machina verschob die peinliche Situation. Klirrende Sporentritte näherten sich – kein Zweifel, es war der Feuerwerker, der sich aufgemacht hatte, um nach den beiden Deserteuren zu fahnden. In seiner jetzigen Gemütsstimmung war Heribert am wenigsten dazu aufgelegt, sich den Schein eines Schwerenöters zu geben, und mit einer fast ängstlichen Hast drängte er die Französin zur Laube hinaus; auch Clarisse mochte Ursache haben, sich nicht von dem vigilierenden Tugendwächter betreten zu lassen, denn im Handumdrehen war sie verschwunden. Heribert ging langsam dem Feuerwerker entgegen, er erwartete eine mehr oder minder unwirsche Interpellation bezüglich der Französin, aber er irrte sich; Tassilo fixierte ihn nur mit einem kurzem forschenden Blicke und sagte dann: »Wir müssen aufbrechen, damit uns nicht das Tor vor der Nase zuklappt, wie's mir schon einmal passiert ist.«

Als die beiden in den Saal traten, sahen sie Clarisse urgemütlich neben ihrem Herrn und Gemahl sitzen und ein Stück Kuchen verzehren. Gleich darauf rüstete man sich zur Heimkehr in die Stadt; schon zuvor hatte Monsieur Klein als galanter Franzmann in aller Stille die Zeche berichtigt. Wollte nun Clarisse sich an Heribert, der sie so frostig abgeschüttelt hatte, in demonstrativer Weise revanchieren, oder aber war für sie ein tieferer Grund vorhanden – genug, sie erkor den Feuerwerker zu ihrem Cavaliere servente und hängte sich an seinen Arm. Monsieur Klein und Heribert bildeten den Vortrab; ersterer schien in vergnüglichster Stimmung zu sein, er plauderte über Wind und Wetter, über Land und Leute und erzählte allerlei Schnurren aus dem französischen Garnisons- und Campagneleben. Zerstreut hörte sein Nebenmann zu, Monsieur Klein aber schien diese Teilnahmlosigkeit gar nicht zu bemerken, denn unverdrossen parlierte er weiter. In ziemlichem Abstand folgten Clarisse und ihr Cicisbeo nach. Auch bei ihnen ging es äußerst lustig zu, dem Kichern und Wispern nach zu urteilen, das bei dem Pärchen herüber- und hinüberflog. Monsieur Klein, dieses Musterbild eines weitherzigen Ehemannes, hatte auch diesmal für das zwanglose Laisser aller seiner bessern Hälfte weder Augen noch Ohren: er schien wie ein lächelnder Gott über den menschlich-armseligen Maulwurfshügeln der Eifersucht zu schweben …

Just mit Torschluß erreichte das Quartett die Festung, und bei der Artilleriekaserne trennte man sich. Monsieur Klein drückte nochmals das Vergnügen aus, das ihm die Gesellschaft der beiden Krieger bereitet habe und knüpfte daran die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen.

» Ainsi à revoir, Monsieur, aber dann mehr lustik!« Mit diesen Worten wandte sich Clarisse an Heribert und reichte ihm mit einem schelmischen Knix die kleine Hand, die zwischen seinen Fingern nervös zu zittern schien.

* * *

Im Frühjahr, just als die ersten Lerchen schwirrten, war Monsieur Klein mit seinem niedlichen Weibchen, von Baden herüberkommend, in dem Grenzstädtchen aufgetaucht. Politische Motive hatten den Mann, wie er sagte, schon einige Jahre zuvor aus Frankreich vertrieben und seitdem lebte er in Süddeutschland. Den Kaiser Louis Napoleon und dessen Regiment schien er bitterlich zu hassen, denn in den grimmigsten Ausdrücken äußerte er sich über den kleinen Neffen des großen Onkels. Wie er des Weitern erklärte, besaß er ein eigenes Rezept zur Champagnerfabrikation, für die sich der hier wachsende Landwein vorzüglich qualifiziere, und für die er daher bis zum kommenden Herbste seine Vorbereitungen treffen wolle. Die Sache klang ganz plausibel, denn in der Tat hatte schon früher einmal ein Franzose in dem Städtchen die gleiche Spekulation ins Auge gefaßt.

Das respektable Auftreten des Ehepaars bot nach keiner Seite hin eine verdächtige Färbung, und der prompte Griff, womit Monsieur Klein jede Rechnung beglich, verschaffte ihm bei Kaufmann, Bäcker und Schlächter eine nur noch rühmlichere Reputation. Das inzwischen wie Wetterleuchten aufblitzende Alarmgerücht eines Krieges mit Frankreich änderte nichts an der Popularität, deren sich Monsieur Klein in seiner Nachbarschaft erfreute, denn noch lauter als zuvor schimpfte er über Louis Napoleon, den »Bluthund« und »Tyrannen«, für den der schlechteste Galgenstrick noch zu gut sei; zugleich sprach er die inbrünstige Hoffnung aus, daß durch diesen Krieg Elsaß endlich wieder »ditsch« werde, dem gallischen Adler müsse dieser Raub wieder abgejagt werden usw. usw. Mit Vorliebe frequentierte Monsieur Klein solche Wirtschaften, worin Unteroffiziere verkehrten – unter letztern schien er wiederum die von der Artillerie und vom Geniewesen zu bevorzugen. War er ja, wie er sagte und wie seine Fachkenntnis es bezeugte, selber auch Genieunteroffizier gewesen, dem es jetzt Freude machte, in zünftigem Kreise seine martialischen Reminiszenzen aufzufrischen und dabei sein Auditorium mit Wein, Bier und Zigarren zu traktieren. Auf diese Weise hatte Monsieur Klein auch die Bekanntschaft des Feuerwerkers gemacht und an dessen burschikosem Wesen wohl ein ganz besonderes Wohlgefallen gefunden, denn fortan beschränkte er mehr und mehr seinen militärischen Umgang auf den Feuerwerker, der mit dem Ehepaar immer befreundeter und schließlich zum fast täglichen Gaste wurde. Heribert befand sich damals auf einem auswärtigen Kommando, von dem er erst wenige Tage vor dem Zeitpunkt, der uns hier beschäftigt, nach der Festung zurückkehrte. Das weitere kennt der Leser. Durch den Feuerwerker war jetzt auch Heribert mit dem Ehepaar in Berührung gekommen und trotz seiner reservierten Haltung hatte ihn gleich bei dieser ersten Begegnung die kokette Französin in einer Weise zu bezaubern gesucht, die Tassilos Eifersucht wachrief. Für diesmal war die Sirene von dem spröden Ritter mit Undank gelohnt worden – nun, sie wollte schon noch sein kaltes Blut in die richtige Wallung bringen, sie schwur es bei dem heiligen Rosenstock der Venus!

Und so hatte sie sich von dem Verächter ihrer Reize verabschiedet auf Wiedersehen – – »dann aber lustik« …

Was in den nächsten Tagen, die der neuen Bekanntschaft folgten, Heriberts Aufmerksamkeit erregen mußte, war das gefüllte Portemonnaie Tassilos, der sich doch sonst nur mit Ach und Weh von einem Löhnungstage zum andern hingeschleppt hatte. Eine scherzhafte Andeutung des Freundes beantwortete der Feuerwerker mit der kurzen Erklärung, sein Bruder habe in der Lotterie einen ziemlichen Gewinn gemacht und nun als hochherziger Musterknabe von diesem »Gottessegen bei Cohn« eine fromme Opfergabe gespendet. Überhaupt zeigte sich seit jenem Sonntagsausflug Tassilo merklich zurückhaltender, was Heribert den eifersüchtigen Anwandlungen zuschrieb, deren unfreiwilliger Urheber er geworden war. Ein weiteres Begebnis rückte den Feuerwerker in ein noch seltsameres Licht. Heribert kam eines Tages dazu, wie Tassilo, in tiefes Sinnen verloren, an seinem Tische saß: vor ihm lagen einige Blätter Papier mit Zeichnungen, in denen der Korporal sofort fortifikatorische Grundrisse erkannte.

Tassilo, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, war ein vorzüglicher Planzeichner und als solcher auch schon einmal in den Bureaus der Platzkommandantur beschäftigt gewesen. So sehr hatte er sich in seinen Gedankenkreis eingesponnen, daß er das Nahen Heriberts erst bemerkte, als dieser dicht hinter ihm stand. Mit einem ungestümen Satze fuhr er vom Stuhl auf und riß die Blätter an sich; ein erzwungenes Lächeln zuckte um seine Lippen, als er den unerbetenen Besuch erkannte. »Du wolltest mit deinem Heranschleichen wohl meine Nerven auf die Probe stellen!« sagte er: »nun, du kannst mit deinem Experimente zufrieden sein, denn beinahe hättest du mich das Gruseln gelehrt, was bis jetzt noch keinem gelungen ist.« Er warf die Zeichnungen in die Tischschublade, die er verschloß. Wie um einer Frage Heriberts zuvorzukommen, sprach er leichthin weiter: »Ich will nur sehen, ob es bei uns noch zu einer Belagerung durch die Franzosen kommt! Ich befürchte, die diplomatischen Federfuchser brocken uns in der elften Stunde eine Friedenssuppe ein, und dann floriert die Gamaschenwirtschaft für so und soviel Jahre weiter.« Er deutete nach der Schublade hin, in der die Zeichnungen lagen. »Ich hab' da zum Spaß ein paar Defensionsprojekte skizziert, die ich dir erst vorlegen werde, wenn sie ganz und gar fertig find. Aber weißt du was, ich hab' einen sakrischen Durst, komm mit zum Hausmeister, wir wollen ein Glas Bier trinken.« Er griff zu seiner Mütze und zog, ohne eine Antwort abzuwarten, den Kameraden mit sich fort. » A propos,« sagte er auf dem Weg zur Kantine: »Klein hat uns zum Abendbrot in seine Wohnung eingeladen, du wirst doch mitgehen? Der Alte hat einen feinen Tropfen im Keller.«

»Ich hab' für heute keine Lust,« wandte Heribert ein.

Tassilo fixierte ihn mit einem eigenen Blick, dann lachte er laut auf. »Ich glaube, es hat dich genickelt, daß damals auf dem Heimweg Madame Clarisse so kordial mit mir tat! Aber darum keine Feindschaft nicht!« Er ergriff die Hand Heriberts, dem das Dazwischentreten einiger anderer Unteroffiziere jede weitere Erörterung abschnitt.

Um dem Feuerwerker, wohl auch der Französin, zu zeigen, daß er über geckenhaftes Schmollen erhaben sei, machte Heribert gegen Abend Toilette und begleitete den Freund zu dem Ehepaar, das den reisigen Gästen mit einem wirklich pikanten Souper aufwartete. Monsieur Klein war auch diesmal der liebenswürdige, aufmerksame Wirt und mit all der graziösen Anmut, die den Französinnen angeboren ist, würzte Clarisse das muntere Mahl, trotzdem aber schien ein gewisser Bann sie zu zügeln, und der Zauberer, von dem diese zwingende Kraft ausging, war – Tassilo. Sein lauernder Blick hielt den ganzen Abend über das flatterhafte Weib wie mit einer Eisenzange fest. Was veranlaßte sie, dieser brutalen Tyrannei, gegen die wiederum nur der gutmütige Herr Gemahl mit Blindheit geschlagen zu sein schien, sich gehorsam zu fügen? Heribert stellte sich im stillen diese Frage, und er empfand unwillkürlich Mitleid mit der reizenden Sünderin, die offenbar ihr leichtfertiges Hingeben an den derb sinnlichen Galan jetzt mit einer despotischen Diktatur büßen mußte …

Kurz bevor die Gäste aufbrachen, verließ Clarisse das Zimmer; als sie nach einer Weile wieder zurückkehrte, benützte sie einen günstigen Moment, um dem ihr gegenüber sitzenden jungen Korporal einen bedeutsamen Blick zufliegen zu lassen. Das rätselhafte Signal sollte ihm erst beim Abschied verständlich werden: als er Clarissen die Hand reichte, fühlte er, wie sie ihn, mit einem hastigen Fingerdruck einen kleinen zusammengefalteten Zettel zuschob. Erst daheim in der Kaserne fand er Gelegenheit, die geheimnisvolle Epistel zu lesen. Schon bei seiner ersten Begegnung mit dem Ehepaar hatte Heribert im Laufe der Unterhaltung dargetan, daß er der französischen Sprache ziemlich mächtig sei; dessen eingedenk, hatte Clarisse das Billett in ihrer Muttersprache geschrieben. Die wenigen mit Bleistift hingeworfenen Zeilen lauteten:

»Mein junger Freund!

Ich brauche ein Viertelstündchen, um mit Ihnen allein und ungestört zu sein. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, ist von allergrößter Wichtigkeit, und kann Sie persönlich im höchsten Grade interessieren. Sie würden es bitter zu bereuen haben, wenn Sie mir einen ablehnenden Bescheid erteilen sollten! Ich erwarte Sie morgen abend präzis um neun Uhr auf dem kleinen Exerzierplatz; da ich aber nicht weiß, ob Ihnen der Dienst das Kommen gestattet, so werden Sie morgen mittag um zwölf Uhr an der Ecke Ihrer Kaserne einen Knaben mit einer grünen Mütze finden, dem Sie unbesorgt Ihre schriftliche Antwort anvertrauen können. Also morgen abend, wenn es Ihnen möglich ist! Ihres Schweigens gegen jedermann darf ich wohl versichert sein.

Ihre Freundin Clarisse.«

Das mit einer ziellosen Unruhe gemischte Staunen, das diese geheimnisvollen Zeilen bei Heribert hervorriefen, bedarf keiner besonderen Ausmalung. Handelte es sich für die lüsterne Französin einfach um ein galantes Abenteuer, das sie, mit der dem Weibe angeborenen Lust zum Intriguen, mit dem Mantel einer diplomatischen Finte drapierte? Oder lag dem von Clarisse geplanten Rendezvous wirklich ein ernsteres Motiv zugrunde? …

Sei dem, wie da wolle – die Sache war jedenfalls interessant genug, um ihn zu einem zusagenden Bescheid zu veranlassen. Um die von Clarisse bezeichnete Zeit fand er an der Kasernenecke den Jungen mit der grünen Mütze und übergab ihm ein Billett, das in einem nicht ganz akademisch gedrechselten Französisch die Meldung machte, daß sich Heribert pünktlich zu dem romantischen Rendezvous einfinden werde. Jetzt blieb ihm nur noch der Gedanke, wie er sich den Feuerwerker am besten vom Halse schaffen könne, aber das Hindernis räumte sich von selber aus dem Wege, denn gegen Abend verließ Tassilo die Kaserne, ohne daß Heribert es überhaupt bemerkte. Auf den Glockenschlag neun stand letzterer an der Barriere des kleinen Exerzierplatzes und ließ seinen Blick suchend über die öde, dunkle Fläche hinschweifen. Vergebens!

Clarisse war nicht da, und ebensowenig brachten die nächsten Minuten die Säumige herbei. Eine Viertelstunde verstrich – immer noch ließ sich nichts sehen und hören. Eine wachsende Unruhe begann sich Heriberts zu bemächtigen: wo blieb die Französin? wird sie überhaupt noch kommen? Sie hatte doch diesem Rendezvous eine so eminente Wichtigkeit beigemessen, und nun war sie es selber, die auf sich warten ließ. War der Feuerwerker irgendwie zum Hindernis geworden, oder hatte sich sonst ein unverhoffter Zwischenfall ereignet, der für Clarissen das Kommen unmöglich machte? Mitten unter diesen Gedanken und Fragen, die durch den Kopf des jungen Soldaten schossen, verronn eine zweite Viertelstunde – ebenso fruchtlos wie die erste. Er hielt es in seiner Ungeduld nicht länger aus, um zehn mußte er in der Kaserne sein, und so beschloß er, der Nachzüglerin, wenn sie überhaupt noch kommen sollte, wenigstens entgegen zu gehen. Den voraussichtlichen Weg einschlagend, den Clarisse nehmen mußte, wandte er sich der Hauptstraße zu, die das Städtchen von einem Tor zum andern durchschneidet. Am Königsplatze, der Kommandantur gegenüber, sah er Gruppen von Bürgern stehen, die in anscheinend lebhafter Weise irgendeinen Gegenstand besprachen, fast im gleichen Moment setzte sich auch drüben vor der Hauptwache eine Patrouille in Bewegung, um in ungewöhnlich raschem Tempo die Richtung nach der sogenannten Oberstadt zu nehmen. Es war klar, daß es sich hier um ein ganz absonderliches Vorkommnis handelte, und Heribert wollte eben nach der Veranlassung forschen, als er auf der andern Seite der Straße einen Herrn bemerkte, der mit einem Male stehen geblieben war und nun, als such' er sich über einen Zweifel zu vergewissern, scharf herüberblickte. Durch eine Wendung, die Heribert machte, fiel das Licht einer Laterne voll auf seine Figur – mit einigen hastigen Schritten durchkreuzte der Herr die Straße und jetzt war das Erkennen ein beiderseitiges: vor dem Korporal stand – Paul, der Gatte Theklas! Aus seinem Gesichte und seiner ganzen Haltung sprach eine tiefe Erregung, mit einem ungestümen Griff riß er den einstmaligen Nebenbuhler in den Schatten einiger Bäume. »Unglückseliger,« stieß er mit bebender Stimme, hervor: »was hast du getan?« In Ton und Gebärde Pauls lag etwas so wild Verstörtes, daß Heribert unwillkürlich erschrak. Hatte er es mit einem Wahnsinnigen zu tun? …

»Du bist ein Verbrecher gegen König und Volk,« fuhr Paul weiter fort, und in seinen männlich schönen Gesichtszügen malte sich der Ausdruck herber Verachtung: »dem Hochverräter sollte zwar die Standrechtskugel der wohlverdiente Lohn sein, aber um Theklas willen werd' ich dich zu retten suchen. Folge mir, denn in wenigen Minuten dürfte es zu spät sein!«

Die momentane Verblüffung Heriberts hatte ebenso jählings einem auflodernden Zorn Platz gemacht; in entfesselter Wut wollte er den Säbel aus der Scheide reißen, doch um sein Handgelenk legte sich die Faust Pauls wie ein eiserner Ring. »Zum zweitenmal sollst du mein Blut nicht vergießen,« sprach er im Akzent bittern Seelenschmerzes: »Ich sage dir nochmals – folge mir, oder du bist verloren wie der Feuerwerker und der Franzose mit seinem buhlerischen Lockvogel. In der ganzen Stadt wird bereits nach dir gefahndet, und ein wahres Wunder ist es, daß man dich noch nicht ergriffen hat. Vorwärts, ehe es zu spät ist!«

»Ich bin mir keiner Schuld bewußt,« trotzte Heribert: »geschworen sei es bei dem Andenken meiner Mutter!« Er wollte enteilen, offenbar um sich nähern Aufschluß über die von Paul angedeutete Katastrophe zu verschaffen, doch der andere hielt ihn mit übermächtigem Griffe fest.

»Selbst, wenn du schuldlos fein solltest,« sprach Paul mit weicherer Stimme, »so erwartet dich in allen Fällen eine langwierige Untersuchungshaft, denn man weiß, daß auch du mit dem französischen Spion verkehrt hast.«

Wie ein lähmender Schlag fuhr es durch den jungen Soldaten hin! Ihm war es, als spalte sich vor seinen Füßen ein Abgrund!

Über den Königsplatz her blitzten Helme und Waffen: zweifelsohne eine der Patrouillen, die zunächst die vielen Wirtschaften und Kneipen der Festung absuchten. Wahrlich, man durfte es ein Wunder nennen, daß Heribert in seiner totalen Ahnungslosigkeit nicht schon seinen Verfolgern in die Hände gelaufen war, und nur sein Verweilen auf dem öden Exerzierplatze bot eine Erklärung dafür … Wie in einem Traumwachen fühlte er, daß Paul ihn fortriß unter dem schattendunkeln Schutze der Bäume, die den Königsplatz umsäumten. Dann kamen sie in ein finsteres, menschenleeres Winkelgäßchen, das sich zwischen hohen Mauern hinzog; einen Moment machte Paul Halt, um mit Aug' und Ohr die Umgebung zu sondieren – alles war still. Rasch öffnete er in der Mauer ein schwüles Pförtchen und stieß seinen halbbetäubten Begleiter in einen dunkeln Hof, ebenso behutsam schloß er das Hinterpförtchen. Heriberts Hand ergreifend, zog ihn Paul über den Hof in ein Haus hinein. Hier erst brach der edelmütige Mann das Schweigen, indem er gleichzeitig eine Lampe anzündete. Heribert befand sich in einem Raum, der mit Porzellanwaren aller Art angefüllt war. »Hier ist mein Magazin,« erklärte Paul kurzhin: »ich werde dir hier zunächst ein Versteck anweisen, während ich mich nochmals auf den Weg machen will, um zu erfahren, ob wir überhaupt unbeachtet hierher gelangt sind.« Ein unbeschreibliches Gefühl erfaßte den Flüchtling, nachdem Paul gegangen war. Allerdings hatte letzterer ausdrücklich erklärt, daß er nur »um Theklas willen« seine helfende Hand darbiete, aber gerade dadurch brannten die feurigen Kohlen, die er auf Heriberts Haupt sammelte, desto heißer. Der Schwur, womit dieser seine Schuldlosigkeit an irgend welchem verbrecherischen Komplott bekräftigt hatte, war bei Paul nicht ohne Eindruck geblieben, doch das Militärgericht zeigte sich jedenfalls minder vertrauensselig, und vor seinen Schranken galt Heribert bis auf weiteres als ein Verbündeter des Monsieur Klein, der, den Äußerungen Pauls zufolge, als französischer Spion verhaftet worden war. Und derselbe Mensch, gegen dessen Brust damals Heribert in unedlem Kampfe das mörderische Messer gezückt hatte, schlug jetzt, im Entdeckungsfalle, seine bürgerliche Ehre, vielleicht sogar seine Existenz in die Schanze, um den einstigen Widersacher zu retten!

Die Augen Heriberts füllten sich mit Tränen …

Bald darauf kam Paul von seinem Kundschaftergange zurück und geleitete den unerbetenen Gast aus seinem Versteck in ein wohnlich eingerichtetes Zimmer. »Soweit, Heribert, bist du gerettet,« begann er nach einigem Sinnen: »Niemand wird dich hier suchen, denn man glaubt allgemein, du sei'st noch rechtzeitig aus dem Tore entkommen und nach der französischen Grenzfestung entflohen.« Gedankenvoll durchschritt er das Zimmer, dann blieb er wieder stehen; mit einem traurig-ernsten Blick seinen Gast fixierend, sprach er rascher weiter: »Über die Vergangenheit und unsre einstigen Beziehungen kein Wort, Heribert! Wir müssen uns gegenüberstehen wie zwei Fremde! Ich frage dich nur nochmals bei dem Geiste deiner geliebten Mutter: hast du wirklich niemals, direkt oder indirekt, dem französischen Spion Klein verräterische Dienste geleistet?«

Todesbleich hob Heribert den Finger zum Schwur – er wollte reden, aber in einem plötzlichen Schluchzen erstickte seine Stimme.

»Dann vergiß die herben Worte, die ich dir in gerechter Empörung entgegenschleuderte,« sagte Paul und ergriff tiefbewegt die Hand des Unglücklichen. Und nun begann er seinen Bericht.

Wie schon oft, war Paul auch an diesem Nachmittag zur Stadt gefahren, um in seinem hier eröffneten Magazin eine kontrollierende Umschau zu halten und noch sonstige Geschäfte zu erledigen. Es war zweifelhaft, ob er vor Schluß der Festungstore damit fertig werden konnte und so hatte er gleich beim Weggang von der Fabrik erklärt, er wolle in der Stadt übernachten – für welchen zeitweise vorkommenden Fall im oberen Stockwerk des Magazins einige Zimmer hergerichtet waren. Aus dem Hause eines Geschäftsfreundes kommend – es begann gerade zu dämmern – bemerkte Paul mit einemmal einen großen Zusammenlauf von Menschen, der nach einer bestimmten Richtung hindrängte. Auf seine Frage, was diese ungewöhnliche Bewegung bedeute, erhielt er zur Antwort, ein französischer Spion mit Namen Klein sei soeben in seiner Wohnung verhaftet worden – mit ihm zugleich sein Weib und ein Feuerwerker von der Artillerie, der dem französischen Agenten Pläne und Notizen über die Festung und deren Armierung geliefert habe. Der Artilleriekorporal Hilgard, der auch mit dem Franzosen Umgang gehabt, sei leider entwischt und werde jetzt in der ganzen Stadt gesucht.

Die Bestürzung Pauls, als er den für ihn so bedeutsamen Namen »Hilgard« hörte, läßt sich denken. Er folgte der lärmenden Volksmenge bis zur Wohnung des französischen Agenten; Polizeimannschaft und Militär hielt den Platz vor dem Hause abgesperrt. Ein befreundeter Offizier, den Paul hier traf, gab weitere und genauere Auskunft. Klein, von den buhlerischen Künsten seiner Genossin unterstützt, hatte schon zuvor in andern süddeutschen Festungen sein gefährliches Wesen getrieben und sich immer nur durch rasche Abreise näheren Recherchen entzogen. Man verlor aber den höchst verdächtigen Gesellen keineswegs aus den Augen, und kaum war er an hiesigem Platze aufgetaucht, als sich auch schon das Garn einer geheimen Überwachung um ihn legte. Sein Verkehr mit dem Feuerwerker, dann auch noch mit dem Korporal, ließ den Verdacht zur Gewißheit reifen und heute abend war nun, auf eingelaufenen höhern Befehl hin, das Netz zugezogen worden, dem, wie wir gesehen haben, Heribert – für den Moment wenigstens – nur durch ein glückliches Ungefähr aus dem Wege ging.

Bei der Verhaftung war es, wie der Offizier noch erzählte, zu einem wilden Auftritt gekommen: mit dem Säbel in der Faust suchte sich der Feuerwerker durchzuhauen, und erst ein Bajonettstich lähmte den Widerstand des rasenden Menschen, der schwer verwundet ins Lazarett geschafft wurde, während Monsieur Klein und seine Gattin – wahrscheinlich nur seine Zuhälterin – ins Gefängnis wanderten …

Von all den Gedanken durchstürmt, die sich in natürlicher Verkettung an diese Kunde knüpften, war Paul durch das Walten eines höheren Zufalls seinem einstigen Feind und Nebenbuhler begegnet, und den weitern Verlauf kennen wir bereits. Der Rest läßt sich kurz zusammenfassen. In den mutmaßlichen Verstecken, die man noch in der gleichen Nacht durchstöberte, war Heribert nicht zu finden und so befestigte sich immer mehr die allgemeine Überzeugung, daß der Deserteur, durch den Auflauf vor der Wohnung des französischen Agenten stutzig gemacht, noch rechtzeitig vor Torschluß entkommen und über die nahe Grenze geflüchtet sei. Vier Tage lang – für den Wirt eine nicht minder unerquickliche Nervenprobe wie für den Gast – weilte Heribert in seinem Schlupfwinkel, wo ihn Paul mit den nötigen Nahrungsmitteln versorgte.

Daß Tassilo sich wirklich zu einem verbrecherischen Schritte hatte hinreißen lassen, bezweifelte jetzt Heribert keinen Augenblick mehr, ebensowenig, daß es die Absicht des Feuerwerkers gewesen war, ihn zum Mitschuldigen zu machen. Bloß die wilde Eifersucht, die das kokette Spiel Clarissens in der Brust Tassilos wachrief, hatte diesen bestimmt, den gefürchteten Rivalen in den Hintergrund zurückzuschieben, um dafür seine eigene Person desto unentbehrlicher zu machen. Welche Stunden mochte er jetzt in dem Lazarett verbringen, wo er vielleicht nur gepflegt wurde, um der Standrechtskugel nicht zu entrinnen, denn Paul hatte unter der Hand von bekannten Offizieren gehört, der Festungskommandant sei gewillt, angesichts der kritischen Zeitlage ein wirksames Exempel zu statuieren. Trotz all seiner Schuldlosigkeit durfte Heribert dem Himmel dafür danken, daß er soweit in Sicherheit war: seinen Verkehr mit dem Spion hätte er nicht bestreiten können und wenn inzwischen bei der Französin gar noch jenes verhängnisvolle Billett vorgefunden war, worin er mit eigener Hand und Unterschrift sein Erscheinen bei dem abendlichen Rendezvous zugesagt hatte, so genügte dieses unselige Dokument allein, um all den Unschuldsbeteuerungen Heriberts den letzten Rest von Glaubwürdigkeit zu rauben, um so mehr, als zu erwarten stand, daß Klein, rücksichtslos nur auf seine eigene Verteidigung bedacht, nicht zögern werde, die Last der Anklage möglichst auf andere Schultern abzuwälzen …

Am Abend des fünften Tages kam Paul von der Fabrik zur Stadt gefahren, um den letzten, aber auch bedenklichsten Teil seines edelsinnigen Rettungswerkes zu wagen: unter dem Schutze der Dämmerung wollte er seinen unheimlichen Gast zum Festungstore hinausbringen. Ein falscher Bart, den Paul noch von einer Maskerade her besaß und ein bürgerlicher Anzug, den er nach dem ungefähren Maße Heriberts gekauft hatte, bewerkstelligten zunächst die äußerliche Metamorphose des Flüchtlings. Seinen wirklichen Kutscher hatte Paul daheimgelassen, denn Heribert sollte ja die Rolle des Rosselenkers spielen. »Jetzt kaltes Blut und in Gottes Namen vorwärts!« sagte Paul, als sich der Deserteur an einem verabredeten Treffpunkte auf den Bock schwang. Seine Zigarre rauchend, spazierte am französischen Tore der Leutnant von der Wache gemütlich auf und ab, flott kutschierte Heribert mit den Schimmeln an dem gestrengen Torhüter vorbei, der keine Ahnung davon hatte, welch ein wichtiger Fang ihm soeben entwischte. Draußen vor der Barriere ergriff Paul selber die Zügel und feuerte die flinken Ungarstuten zu einem schlanken Trabe an. Am sogenannten »Franzosenschänzel« passierten sie das äußerste Vorwerk der Festung. Weder der Retter noch der Gerettete brach das Schweigen, jeder war in seine eigenen Gedanken verloren, und so ging's im Flug durch die stille, mondhelle Feldmark. Ein Ruck in die Zügel gebot den Schimmeln Halt. »Bis hierher!« sagte Paul, und aus seiner Stimme klang eine tiefe innere Bewegung. Er deutete mit der Peitsche nach vorwärts: »In einer kleinen Stunde erreichst du die französische Grenze.«

Schweigend stieg der Flüchtling ab; beide Hände auf sein Gesicht pressend, stand er neben dem Wagen. Paul erriet, was die Brust seines scheidenden Gastes durchstürmte. »Heribert, zieh' in Frieden!« sagte er sanft und griff nach der Hand des einstigen Beleidigers: »Was geschehen, ist geschehen, und es sei vergessen! Du bist noch jung, und es wird dir gelingen, in einem neuen Berufe dein Brot und deine Pflichterfüllung zu finden.«

In einem erschütternden Schluchzen löste sich der seelische Aufruhr des Flüchtlings. »Ich bin ein Elender – ein Verworfener!« stöhnte er von Tränen halb erstickt. »Nein, Heribert, du bist nur ein Reuiger!« tröstete Paul, und im Mondschein glänzten die Tränen, die seine treuherzigen blauen Augen feuchteten.

Einem Zügeldruck gehorchend, machten die Schimmel kehrt.

»Ich muß weiter,« sprach Paul: »es wird wohl Mitternacht werden, bis ich nach Hause komme. Leb' wohl, Heribert!« Vom Bock sich herabbeugend, griff er nach der Hand des Flüchtlings – dann ein leichter Peitschenhieb, und schon in der nächsten Sekunde sauste in einer Staubwolke das Fuhrwerk dahin. So rasch war dies geschehen, daß Heribert jetzt erst in seiner Hand ein Papier fühlte, welches ihm Paul zugeschoben hatte. Das Couvert entfaltend, fiel ihm ein zweites Papier entgegen: es war, wie sich im Mondschein erkennen ließ, eine Tausendfrancsnote. Er hob seine Arme zu dem gestirnten Sommernachtshimmel empor.

»O, Mutter, trage mein Gebet zu dem Throne Gottes!«

Und dann pilgerte der heimatlose Flüchtling weiter – der Grenze Frankreichs entgegen.


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