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Zehntes Capitel.

Wie lange Herr Charles sich noch mit den erheiternden Gedanken an seine glückliche Zukunft in der lauen, linden Herbstluft wohl gefühlt hätte, müssen wir dahin gestellt sein lassen. Es war dem Posthorne des Postillons, der mit schmetternden Fanfaren die Ankunft des Invaliden Kohnert verkünden zu wollen schien, vor behalten, den irdischen Paradiesträumereien dieses jungen Herrn ein Ende zu machen.

Charles fuhr sogleich beim ersten Signal aus seiner Gedankenwelt empor und durchbrach mit raschem Entschlusse das Gebüsch, um einen Blick in den Postwagen werfen zu können, der auf der Fahrstraße daherrollte.

Richtig! Da saß der gute Invalide in Lebensgröße und blickte fast schwärmerisch bewegt auf die Schäferei seines lieben Herrn Vanpotter.

Auf einen Wink des jungen Herrn hielt der Postillon bereitwillig still und Kohnert machte sich daran, ebenfalls diesem sprechenden Winke zu folgen und auszusteigen. Kaum hatte sich der schwerfällige gelbrothe Kasten wieder in Bewegung gesetzt, so überstürzte der junge Mann den Veteranen mit Fragen, die aber alle eine grämlich kurze Beantwortung fanden.

»Nun? Sie haben also den Vater gefunden?« fragte Charles begierig, als aus diesen lakonischen Bescheiden dennoch hervorging, daß Kohnert etwas Wichtiges erkundschaftet haben mußte.

»Lassen Sie mich nur zu Athem kommen!« brummte der alte Soldat. »Den Vater hätte ich wohl, aber Freude ist eben nicht dabei. Der selige Fähnrich ist ein Schaf gewesen und ich sein leiblicher Bruder, sonst hätte die Geschichte gar nicht passiren können. Daß dich! Liest es Einer im Buche, so lacht er drüber und glaubt es nicht.«

»Sie haben den Vater gesehen?«

»Ja wohl! Ja wohl!«

»Gesprochen, Kohnert?«

»Ja freilich, tüchtig gesprochen. Daß dich!«

»Was sagt er? Wie heißt er? Hat er sich sehr gefreut, seine Kinder wiederzufinden.«

»Ja, was sagt er! Geschimpft hat er. Einen Hallunken über den andern hat er mir aufgebrannt. Den Pudel hat er auf mich gehetzt!«

»Was? Kohnert! Ist es denn ein gemeiner Mann?« fragte Charles stockend.

»Bewahre! Herr von Pforten heißt er und der Junge ist Paul und das Mädchen Magdalene getauft. Und die Mutter ist in der Franzosenzeit gestorben. Ja, wenn der selige Fähnrich nicht so ochsendumm und ich nicht so schafmäßig dumm gewesen wäre, so hätte es gar nicht geschehen können, daß wir die fremden Kinder mir nichts dir nichts fortholten. Es ist eine Blamage auf ewige Zeiten für mich, und der selige Fähnrich mag sich in der Ewigkeit schämen über den albernen Streich, einen von Pforten zu einem Vanpotter zu machen. Es glaubt's Keiner, wenn er's hört und es nicht sieht, wie wir Beide, Herr Charles!«

»Sie haben meine Frage noch nicht ganz beantwortet,« fiel Charles lebhaft bewegt ein. »Freuete sich Herr von Pforten? Verlangte er nach seinen Kindern?«

»Freuen? Der? Fluchen kann er, ob er sich aber freuen kann, das steht auf einem andern Blatte. Ich zweifle daran! Der Mann ist ein Tyrann, ein Despot, ein Wütherich. Seine Kinder sollen kommen. Sie wüßten, wo er zu finden wäre. Mit mir hätte er nichts zu schaffen, als daß er mich exemplarisch als Kinderräuber strafen müsse. Seine Kinder sollen kommen, ja, aber sicherlich nicht, damit er sie umarmen und küssen und auf den Händen tragen will. Er hat allein nichts zu beißen und zu brechen, wovon wollte der wohl so ein liebes, zartes Wesen, wie unser Adelchen, ernähren!«

»Er ist also arm!«

»Wie eine Kirchenmaus! Alles verspielt!«

Charles fuhr entsetzt zurück. Welch' ein wunderbares Spiel der Natur. Des Vaters Sünde fand sich im Sohne wieder.

»Ja, ich weiß schon, was Sie denken!« meinte Kohnert, der seine Gemüthsbewegung sehr wohl bemerkt hatte. »Daran kann sich Herr Karl, oder vielmehr Herr Paul, ein Beispiel nehmen. Sein Herr Vater hat nicht so viel, daß er sich die Fenster putzen lassen kann. Daß dich! Gegen das Pfortensche Hotel sieht meine Hütte wie ein Putzkästchen aus. Meine Alte würde es für eine Räuberhöhle halten. Dicke Spinnengewebe, Schmutz fingerdick, na, es ist eine wahre Schande! Ich wette darauf, Herr Charles, daß die Spelunke seit der Zeit, wo ich die Kinder von dort ab geholt habe, nicht ausgefegt und gereinigt ist.«

»Und dahinein soll Adele?« fragte Charles beklommen.

»Nun, sie braucht nicht!« sagte Kohnert trocken.

»Ihr Vater verlangt es ja.«

»Das wohl. Aber er weiß ja nicht, wo die Kinder sind.«

»Das haben Sie ihm klugerweise also nicht gesagt?« rief Charles freudig.

»Hören Sie, meine Klugheit in Ehren, aber weit her ist sie nicht. Denn wenn mich Adelens Herr Papa gefragt hätte, so würde ich dumm genug gewesen sein, es ihm zu sagen. Er hat aber nicht gefragt, sondern mich einfach mit seinem gräulichen Pudel aus dem Hause gehetzt.«

Charles versank willenlos in ein tiefes Nachdenken. Die Begebenheit war wirklich danach angethan, um Reflexionen darüber zu machen.

Der Invalide störte ihn wieder auf.

»Apropos,« begann er plötzlich in einem veränderten Tone. »Die Sache wäre nun klar, junger Herr, aber mit Ihnen ist es doch auch nicht ganz richtig.«

»Wie so?« fragte Charles zerstreut.

»Sagten Sie nicht, Ihre Frau Mutter lebe noch?«

»Jawohl und sie wird nächstens von mir hierher geholt, um endlich alle Zweifel zu lösen.«

»Das ist ganz schön, aber im ganzen Schallenburg lebt keine Frau Vanpotter und man weiß dort kein Wort davon, daß jemals eine Dame des Namens gelebt hat.«

»O, Freund Kohnert, ist das Diplomatie von Ihnen?« lachte Charles. »Jedes Kind kennt meine Maman, jedes Kind liebt sie. Und mich, den lustigen Charles? Nun davon sprechen ja sogar die Bäume und Kirchtürme, die ich erklettert habe.«

»Spaß hin, Spaß her,« entgegnete der Kriegsheld etwas ärgerlich. »Es ist nicht wahr, ich habe mich expres beim Wirth zum goldenen Adler, der seit 50 Jahren denken kann, erkundigt.«

»Alter Herr, es giebt ja gar keinen goldenen Adler in Schallenberg!«

»I, so müßte doch ein Wetter dreinschlagen!« renommirte fluchend der Invalide. »Ich habe ja dort logirt. Neben dem steinernen Brunnen mit den Löwenköpfen steht das Haus und ein großer goldener Adler ist über der Thür.«

»Nun, das ist spaßhaft!« rief Charles, neckend seine eigene Stirn berührend. »Ein Brunnen mit Löwenköpfen? Einen goldenen Adler? Nichts von Allem kenne ich und bin doch erst seit vier Wochen ausgewandert. Der einzige Gasthof im Orte ist der zum weißen Bären.«

»Wollen Sie mir denn meine fünf gesunden Sinne abstreiten?« fragte Kohnert heftig werdend.

»Ganz gewiß, alter Freund, wenn Sie behaupten, wir hätten einen goldenen Adler in der Stadt.«

»Herr, meine Güte!« polterte Kohnert heraus. »Da hört doch aller Verstand auf und der Unsinn beginnt! Ich komme direct von Schallenburg aus dem goldenen Adler und nun soll's ein weißer Bär sein!«

»Richtig, ein weißer Bär und Schallen berg heißt's!« lachte Charles.

»Nein, Schallen burg! Zum Donnerwetter, machen Sie mich nicht wild!«

»Schallen berg, guter Kohnert, Schallen berg!« rief der junge Mann, ihn neckisch auf die Schulter schlagend.

Jetzt war des Invaliden Geduld zu Ende. Er riß seinen Rock auf, faßte in die Seitentasche und hielt ein Postbillet vor Charles' Augen.

»Da steht's! Von Schallenburg nach Hamm. Nun?«

Er schlug triumphirend sein Postbillet wieder zusammen und steckte es sicher. Dabei blickte er aber mit schlauer Neugier seitwärts auf den jungen Mann und wartete gespannt, was er nun sagen und einwenden werde.

Charles schwieg aber lange und sann nach. In ihm dämmerte eine Ahnung des Sachverhältnisses auf.

»Schallenburg, Hamm!« flüsterte er endlich. »Kohnert, es giebt auch ein Schallenberg, das liegt aber nicht in der Richtung nach Hamm, sondern in der Gegend nach Trier und dort drüber hinaus. Kohnert, das ist doch wahrlich eine seltsame Begebenheit!«

Kohnert hörte, mit allen seinen Behauptungen gründlich abgeführt, sprachlos vor Erstaunen zu. Ob das wohl wahr sein konnte? Er lächelte merklich ungläubig. Aber Charles nahm den Brief seiner Mutter hervor, tippte mit dem Finger auf ein Postzeichen und sprach weiter:

»Sehen Sie? Trier! Der Brief ist über Trier gegangen. Hier ist das Postzeichen von Schallenberg, es ist undeutlich. Aber hier,« er schlug den Brief auf, »hier leset! Der Brief ist von Schallenberg datirt und von meiner Mutter geschrieben. Ich habe nie gehört, daß es ein Schallenburg gebe, daher mein starres Behaupten.«

»Himmlische Gerechtigkeit!« stöhnte Kohnert. »Daran ist der selige Fähnrich auch schuld. Er hat mich verführt! Er hat mich verleitet, nach Schallenburg in der Gegend von Hamm zu reisen, ach, wie entsetzlich dumm ist man doch, wenn man 20 Jahre jünger ist. Und was mich am meisten ärgert, es glaubt es kein Mensch, der es nicht mit eigenen Augen erlebt hat! Was wird der alte Herr Vanpotter dazu sagen?«

Charles hielt es für gerathen, dem wackern Invaliden eine kleine übersichtliche Schilderung der letzt vergangenen Scenen im Hause Vanpotter's zu geben und ihn anzuweisen, daß er sobald als möglich mit den beiden Geschwistern conferire, damit sie endlich erführen, wem sie angehörten. Kohnert gab ihm Recht. Er steuerte demgemäß unverzüglich auf das Haus zu und kam gerade daselbst an, als Adele die Treppe zum Hausflur hinab wollte.

Ein Gefühl von Schrecken und Freude gemischt durchzuckte sie, als sie ihn erblickte. Sie ergriff seine Hand und führte ihn, fieberhaft vor Ungeduld und Spannung zitternd, in ihres Bruders Zimmer, um die Fortsetzung ihres Gesprächs sogleich wieder zu beginnen. Ob es einen erfreulichen Fortgang haben werde, daran dachte sie nicht, als sie fast jubelnd ihrem Bruder zurief:

»Hier ist Kohnert, bester Bruder. Er bringt uns Gewißheit!«

Stumpfsinnig vernahm Karl, was der Invalide jetzt specieller und breiter, als vorhin, zu erzählen sich anschickte. Als ginge ihn der Vater, von dem er zum ersten Male hörte, gar nichts an, so gleichgültig hörte er, daß in der Welt noch ein Mensch lebe, der nähere Ansprüche auf seine Liebe habe, als der alte Herr Vanpotter.

Die seltsamen Irrthümer erregten weder ein Erstaunen in ihm, noch ein Interesse. Daß er nicht Karl Vanpotter, sondern Paul von Pforten heiße, schien ihm gleichgültig, obschon er einigermaßen stutzte, mehrmals den Namen Paul wiederholte und dann eingestand, sich schwach erinnern zu können, daß er einst Paul genannt sei.

Adele erinnerte sich an nichts, was um so mehr auffallen mußte, da man angenommen hatte, sie sei das älteste Kind, weil die richtige Adele Vanpotter älter, als ihr Bruder gewesen war. Es tauchte jetzt auch alsbald in dem jungen Herrn, Paul von Pforten, die Vermuthung auf, daß nicht seine Schwester, sondern er das ältere Kind gewesen sein könne, da er sich eben so schwach erinnere, ein Schwesterchen bekommen zu haben, das er Lenchen genannt. Diese Vermuthung gewann an Wahrscheinlichkeit, indem sich der alte Soldat besann, daß er sich gleich damals darüber gewundert habe, wie sehr groß und gescheut der kleine Knabe gegen das ältere Mädchen sei.

Bei der Erwähnung, wie ärmlich und elend, wie verschmutzt und verwittert das ganze Hauswesen des Herrn von Pforten sei, malte sich in Adelens Zügen ein schmerzliches Bedauern, während es auf ihres Bruders Gesicht den Hohn der Nichtachtung zauberte.

Nachdem die Geschwister Alles gehört hatten, was ihnen zu wissen noth that, verließ Kohnert das Zimmer, und sie blieben allein.

»Was gedenkst Du zu thun?« fragte Adele leise und schüchtern, denn es grauete ihr vor einem zweiten Wuthausbruche ihres Bruders.

»Vor der Hand gar nichts!« antwortete Herr Paul von Pforten mürrisch, jedoch nicht heftig. »Die Schuppen sind mir von den Augen gefallen und ich muß mindestens zugeben, daß wir keine Vanpotters sind. Damit gebe ich aber meine Anforderungen an unsern ci devant Großpapa keineswegs auf. Es ist seine Schuld, daß wir im Ueberflusse erzogen sind. Hätte er sich mehr um unsere Vergangenheit gekümmert, so wäre dies nicht geschehen. Für diese Schuld mag er büßen.«

»Er hat diese Schuld wohl schon gebüßt,« warf Adele Magdalene seufzend ein.

Ein einziger Rückblick in die ferne Vergangenheit, wo sie ihren geliebten Großvater in stetem Kampf mit ihres Bruders Temperamentsfehlern sah, belehrte sie über den Grad der Buße, die der alte Herr geduldig getragen habe. Freilich, darin gab sie ihrem Bruder Recht, unverantwortlich blieb die laue Theilnahme für frühere Familienereignisse, für Briefe und sonstige Reliquien aus dem Leben seiner todtgeglaubten Schwiegertochter. Eine einzige Nachfrage danach hätte das ganze unglückselige Schicksalsgewebe zerrissen.

»Wirst Du nicht sogleich mit mir zu unserm Vater reisen?« fragte Adele weiter.

»Das halte ich vor der Hand auch für unnöthig!« beschied sie Herr Karl Paul, der in ein gewisses Brüten versank, das von Minute zu Minute peinlichere Gedanken in Adele erweckte. Seine Lebhaftigkeit erstarb. Selbst das Auge zeigte sich starr und verglast. Die Worte rollten mechanisch von seinen Lippen, gerade so, als spreche er sie nur, um das nicht zu verrathen, was er denke und überlege.

»Ich habe beschlossen, zu unserm Vater zu gehen,« erklärte das junge Fräulein bestimmt. »Willst Du mich nicht begleiten, so hast Du das allein zu bestimmen und zu verantworten, allein wenn Du meinem Rathe folgst, so reisen wir zusammen.«

»Quäle mich nicht, Mädchen,« sagte der junge Mann. Von seiner übermäßigen Keckheit, von seiner spöttisch höhnischen Stimmung war nicht eine Spur mehr vorhanden. Seine Stimme klang matt. Adele fühlt ihr Herz erweicht bei seinem unausgesprochenen Leide.

»Sorge Dich nicht, bester Bruder,« bat sie mildherzig, indem sie sich anschickte, wieder zu ihren Gästen hinabzugehen. »Glaube mir, es hängt nur von Dir ab, Deine Laufbahn ehrenvoll fortsetzen zu können. Gehe in dieser Stimmung zum Großvater Vanpotter und Du wirst sehen, daß er Dir seine Hülfe ohne Verzug selbst anbietet.«

Da flog ein hämisches Lachen blitzartig über des jungen Mannes bleiches Gesicht und er sagte unheimlich flüsternd:

»Ich denke seine Hülfe auch in Anspruch zu nehmen. Der Zweck heiligt die Mittel, und wenn sich eine Kluft zwischen unsern Wünschen und den Schicksalsgaben bildet, so füllt man diese Kluft mit eigener Macht aus. Gehe nur hinab. Ich komme bald nach und werde Deinen Predigten Ehre machen. Dem Charles werde ich die Cour und dem Großpapa den Hof machen. Du sollst Dich wundern, wie geschmeidig ich sein kann, wenn ich einen guten Eindruck hinterlassen will. Gehe nur. Der Baron ist auch schon da!«

Adele ging mit beklemmtem Herzen. Sie warf noch einen ängstlich forschenden Blick im Zimmer rundum, ehe sie es verließ und da gewahrte sie eine kleine Pistole. Rasch kehrte sie um.

»Karl, Du hast doch nichts gegen Dein Leben vor?« fragte sie hastig.

Er sah sie stumpf an.

Sie deutete auf die Pistole.

»Thorheit, dazu ist's noch zu früh!« sagte er gleichmüthig.

Sie seufzte tief auf und verließ nun das Zimmer.

Auf dem Vorflure blieb Adele abermals stehen und sah forschend umher. Eine Reihe von Zimmern, die sämmtlich unbewohnt waren, lagen dicht neben einander. Ihres Bruders Zimmer war das letzte in der Reihe und am weitesten von den Giebelstuben entfernt. Hingegen Charles hatte sich eines der Gemächer zum Wohnen eingerichtet, das dicht an die Giebelstuben grenzte, ohne durch einen Eingang damit verbunden zu sein. Er mußte seine Stube verlassen und über den Treppenflur weg in ein kleines Cabinet treten, wenn er von den geheimen Wendeltreppen, die vom Wohnzimmer nach oben gingen, Gebrauch machen wollte. Er that dies oft und namentlich Abends, wenn er noch lange mit seinem Großvater zu plaudern pflegte, nachdem Adele sich schon in ihr Boudoir zurückgezogen hatte. Dann schlüpfte er gewöhnlich die kleine Treppe, die dicht an der Wand ihres Schlafzimmers hinauflief, aufwärts und er versäumte nie, ihr bei dieser Gelegenheit ein fröhliches »Gute Nacht!« zuzurufen.

Jetzt blieb Adele vor diesem Cabinete stehen und überlegte, ob sie es nicht verschließen solle. Weshalb sie sich dazu gedrungen fühlte, das war ihr nicht ganz klar. Aber sie fürchtete etwas. Es konnte sein, daß ihr Bruder, wie er öfter gethan, noch spät zu ihr kommen und mit ihr sprechen wollte. Begegneten sich dann die feindlich gesinnten Männer, so war ein Wortwechsel zu fürchten. Die Treppe war sehr schmal. Adele streckte die Hand aus, um den Schlüssel abzuziehen. Ihr Bruder konnte dann nicht hinabgehen. Sie zögerte – aber sie ließ ihn stecken. Was war denn eigentlich zu fürchten? Sie hätte sich lächerlich gemacht mit ihrer thörichten Einbildung. Unter diesen Gedanken schritt sie leise in das Cabinet hinein und die Wendelstiege hinab, die in dem Zimmer neben der Wohnstube ausmündete.

Sie fand die Gruppen ihrer kleinen Gesellschaft noch ganz, wie wir sie geschildert haben, nur, daß sich der eben angekommene Baron von Ekartswalde der hübschen Rosa zugesellt hatte und sie mit einer feurigen Beredsamkeit gleichsam überströmte. Rosa sah sehr glücklich dabei aus. Sie gab sich seit Kurzem den lebhaften Gefühlsäußerungen des jungen Cavaliers mit sichtlichem Wohlbehagen hin. Die gewöhnliche Koketterie ihres Wesens hatte sich verloren und einer schönen, gefälligen Ruhe Platz gemacht. Es war vorauszusehen, daß der Tag sehr bald kommen werde, wo sich diese kleine, leichtfertige Dame mit ihren Launen der Herrschaft einer echten, gediegenen Liebe beugen würde, um den Baron von seinen Ansichten über die Launen der Liebe zu heilen.

Adele freute sich auf diesen Tag. Es war dann das Werk ihrer weisen Selbstbeherrschung, daß diese beiden Menschen glücklich wurden. Sie grüßte den Baron mit jenem vielsagenden Lächeln, das ein Einverständniß verräth. Der Baron erröthete, wie eine Pensionairin, die zum ersten Male zu Balle geht. Er verstand dies Lächeln. Es erinnerte ihn an die bedeutungsvollen Worte Adelens, womit sie damals auf dem Mühlenwege seine übereilte Bewerbung abgelehnt hatte. Die reinste Hochschätzung lag in seinem Blicke, als er ihr mit den Augen folgte und er sagte selbstvergessen:

»Adele wußte besser, als ich selbst, wie tief, leidenschaftlich und unverlöschbar die Liebe zu Ihnen in meinem Herzen lebte, Rosa! Meine Empfindlichkeit hatte mich verleitet, den Verstand der Liebe voranzusetzen, Adele hat mich gerettet vor unabsehbarem Elende.«

Rosa heftete ihre hellen, blauen Augen fragend auf den Baron Bruno. Sie athmete hastiger, als sie fragte:

»Sie waren mir böse?«

»Sehr böse!« flüsterte Bruno und beugte sich über ihre Hand.

»Verdiente ich es denn?« fragte sie naiv.

Der Baron zögerte. Sein erweichtes Herz trieb ihn an, »Nein« zu sagen, allein seine Vernunft malte ihm Schattenbilder aus der Zukunft vor, wenn er seiner innigsten Ueberzeugung zuwider jetzt von der Wahrheit abweichen wollte.

»Ja!« sagte er fest und entschlossen. »Ja, Rosa, Sie verdienten es, daß ich mein Herz von Ihnen abzuwenden strebte.«

Purpurroth auf den Wangen, Thränen in den Augen, so saß das ewig lachende Kind vor dem leidenschaftlich bewegten Manne da. Eine schöne Liebeserklärung! Sie hatte süße Betheuerungen zu hören erwartet. Statt dessen wurde ihr eine bittere Strafpredigt gehalten. Kindischer Trotz kämpfte mit den Regungen ihres Herzens, die Waagschale schwankte sehr verdächtig zu Gunsten ihrer beleidigten Eitelkeit, und der Baron gab die gewonnenen Chancen seines Liebesglückes schon verloren.

Da endlich siegte die weibliche Demuth in Rosa. Sie reichte ihre Hand dem aufrichtigen Anbeter hin und sagte mit dem liebenswürdigsten Lächeln:

»Ich will mich bessern!«

Was der junge Mann bei dieser Erklärung fühlte, läßt sich nicht in Worte kleiden. Am liebsten hätte er sich dem reizenden Wesen huldigend zu Füßen geworfen; daß er es unterließ, gereichte ihm aber zur Ehre.

Von diesem Augenblicke an betrachtete sich Rosa als das Eigenthum eines edlen Mannes, dem sie Freude machen müsse, und ihr ganzes Dasein erhielt dadurch eine andere Färbung. Sie, die launenhafte Beherrscherin ihres Vaterhauses, ihrer Freunde und ihrer Bewunderer, wurde dem Urtheile eines einzelnen Mannes unterthan. Sie, die Königin aller Feste, fand von da an nur Vergnügen, wenn das beseelte Lächeln der Billigung auf den Lippen eines einzelnen Mannes thronte. Das sind die wunderbaren Einwirkungen der stolzen, wahren Männerzärtlichkeit, die es verschmäht, sich huldigend zu beugen, wenn die Gunst eines Mädchens auf dem Spiele steht.

Rosa war gerettet aus den verlockenden Banden der Koketterie. Was keine Lehren, keine Vorstellungen zu bewirken vermochten, das gelang dem einfachen Urtheilsspruche des einzelnen Mannes. Sie fühlte das Glück, dieses Mannes würdig zu sein, zugleich mit der innern Kraft, seiner würdig zu werden. Sie war gerettet, denn es lag ihr von dieser Stunde an gar nichts mehr daran, von einem Schwarme fader Verehrer umgeben zu sein und als reizender Schmetterling betrachtet zu werden. Sie wußte ohne Erklärung, daß der Baron ihrer unschuldigen Heiterkeit stets freien Spielraum gewähren würde, sie wußte aber auch, daß er ein unerbittlicher Richter tadelnswerther Gefallsucht war.

Adele merkte etwas von der ernsten Verwandlung ihres Lieblings. Trotz der ergreifenden Enthüllung ihrer Familienverhältnisse, die sie offenherzig mit den anwesenden Personen besprach, behielt sie doch ein teilnehmendes Gemüth für das Glück des Barons, das sich herrlich zu entfalten versprach.

Im Laufe des Gespräches nahm Adele dann auch die Gelegenheit wahr, ihren Entschluß in Bezug auf ihren Vater mitzutheilen und einen ganz nahen Zeitpunkt zum Abschiede aus dem Hause zu bestimmen, wo sie so überaus glücklich gelebt hatte.

Eine allgemeine Bestürzung folgte dieser Erklärung. Von allen Seiten wurde ihr Entschluß stürmisch angegriffen, nur Charles schwieg hartnäckig und seine Augen versprachen auch keine Theilnahme. Was mochte in ihm vorgehen?

»Ich werde Dich nicht eher aus meinen Armen lassen, Adele,« sagte der alte Herr Vanpotter, »bis ich weiß, ob Du dort im Vaterhause richtig gewürdigt werden wirst.«

»Es thut mir leid, Dir ungehorsam zu sein,« entgegnete die junge Dame sehr entschlossen, »aber ich werde mein Heil ohne diese Ueberzeugung versuchen. Mein Platz ist bei meinem Vater. Er hatte ein Recht zu zürnen, daß seine Kinder nicht ihn zu suchen kamen, als er aufgefunden werden sollte. Ich reise zu ihm. Gott wird mir helfen, seine Verbitterung zu überwinden.«

»So begleite ich Dich!« rief der alte Herr stürmisch bewegt.

»Auch das muß ich ablehnen!« entgegnete Adele erröthend. »Ich darf nicht vor der ärmlichen Wohnung meines Vaters unter dem Schutze eines reichen Pflegevaters erscheinen, wenn es mir Ernst ist, sein Herz zu gewinnen.«

»Vollkommen meine Meinung,« sprach der Baron Bruno lebhaft. »Gehen Sie Ihren Weg. Sie werden die Schwierigkeiten besiegen.«

»Und der Kummer meines alten Herzens, Adele?« fragte der alte Herr.

Das Fräulein sah schnell auf zu ihm.

»Glaubst Du mich ohne Sorge, ohne Kummer, ohne Schmerz?« entgegnete sie mit tiefem Gefühle. »Hinausgestoßen aus einem glänzenden Leben, der Ungewißheit überantwortet, finstern Befürchtungen hingegeben, wahrlich, meine Lage ist nicht beneidenswerth! Aber, mein lieber Großvater, der Gott, der mir dies Geschick auferlegt hat, der Gott wird mir auch beistehen in der Erfüllung meiner Pflicht.«

Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und schmiegte ihre Wangen an seine Wangen. Ach, sie wollte es gar nicht sagen, wie unsäglich traurig sie der Gedanke an das Scheiden von ihm machte.

Ein tiefes, heilig ernstes Schweigen folgte ihren Worten. Jeder fühlte, daß die gegenseitige Liebe dieser beiden Menschen ein Bindungsmittel für die Ewigkeit war.

Der Eintritt von Adelens Bruder störte die Stimmung des Kreises. Man empfing ihn, als wäre nichts vorgefallen, was einen Schatten auf seinen Charakter hätte werfen können und er begegnete diesem stillen Uebereinkommen mit vollständig ruhiger Haltung.

Das Gespräch wendete sich glücklicherweise wieder auf das eben besprochene Thema und man war gespannt auf den Entschluß des Sohnes, nachdem die Tochter sich so edelsinnig ihrer Pflichten erinnert hatte.

Herr Karl Paul v. Pforten wich aber einer Erklärung aus. Er sprach von Feststellungen und Beweisen, aber nicht von den Pflichten, die einem Kinde geziemen. Sein Ton und die Form seiner Rede zeigte sich zwar wesentlich verschieden von der Manier, womit er Nachmittags, die Kaffeetasse in der Hand, figurirt hatte, allein die unterdrückte Flamme des Zorns brach fast bei jedem Worte aus den dunkeln Augen hervor und wiederspiegelte sich in dem sarkastischen Zucken seiner Lippen. Man sah deutlich, daß er nur Fassung erheuchelte, daß sein Stolz ziemlich verwundet war und daß er im Stande sei, verzweifelte Entschlüsse zu fassen.

Trotzdem, daß in der Brust aller Anwesenden die Ueberzeugung wurzelte, der junge Mann sei durch die Verwicklung seiner Schicksale bei Weitem schwerer betroffen, als Adele, da er der Spielball seiner Temperamentseigenthümlichkeiten gewesen war, die ihn zu unsinnigen Lebensansichten verführt hatten, so bedauerte ihn doch Niemand. Man ertrug seine Anwesenheit mit nothwendiger Höflichkeit und in Rücksicht auf Adelen, sonst aber tauchte in jeder Brust ein Strahl von Freude auf, als man bedachte, daß er diesem Hause ferner nicht angehören werde.

Der Abend verging besser, als man gehofft hatte, obwohl Charles nicht mit gewohntem Humor das belebende Princip bildete. Er beobachtete schweigend, was Adele that und sprach und hielt es durchaus für unnöthig, zur Unterhaltung beizutragen. Wenn sein Blick zufällig über den Bruder dieses holden Mädchens glitt, so veränderte eine Wallung tiefer Verachtung die Gleichmäßigkeit seines Gesichtsausdruckes.

Der Abend senkte sich zur Nacht, als Rosa mit ihren Eltern den Wagen und der Baron sein Pferd bestieg, um im Dämmerlichte des ersten Mondviertels heimzukehren.

Im Wohnzimmer Vanpotter's wurde es still. Der alte Herr zeigte Spuren von Müdigkeit. Charles war nicht aufgelegt zum Reden. Adele fühlte sich gänzlich erschöpft und ihr Bruder hielt es nicht der Mühe werth, die Unterhaltung weiter zu beleben. Er war der Erste, der mit einem kalten Gutenacht das Licht ergriff, um in sein Zimmer zu gehen.

Bei seinem Aufbruche fuhr der alte Herr aus seiner bequemen Stellung im Lehnstuhle auf und sagte freundlich:

»Morgen wollen wir besprechen, was zunächst geschehen muß. Sei guten Muthes, Karl, ich bin nicht umsonst zwanzig Jahre lang dein Großvater gewesen. Gute Nacht!«

Ohne diese Anrede einer Antwort zu würdigen, schritt Herr Karl Paul von Pforten zur Thür hinaus und ließ dieselbe hart hinter sich zufallen.

Adele sah ihm nach. Wieder stieg ein schreckender, unklar ängstigender Gedanke in ihr auf. Sie fühlte, daß sie etwas zu fürchten habe. Was denn aber? Daß ihr Bruder in unsinniger Verzweiflung seinem Leben ein Ende machen werde? Nein, ach nein! Daran glaubte sie nicht mehr, seit sie ihn den ganzen Abend über geheim beobachtet hatte. Daß er Charles ein Leid zufügen könne? Hinterlistig genug, heimtückisch genug war er wohl dazu, allein was hatte er für Nutzen davon gehabt?

Sie verlachte sich endlich selbst mit ihrer unklaren Angst und machte Miene, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen. Kindlich zärtlich, wie sie es gewohnt war, küßte sie die Lippen des alten Herrn und bot dann Charles zutraulich die Hand zum Gruße.

Der junge Mann hielt diese Hand fest und sah sie bittend an. Adele erröthete vor diesem Blicke. Was wollte er?

»Darf ich Sie um einige Augenblicke Gehör ersuchen? Darf ich Sie in Ihr Zimmer geleiten?«

Adele neigte zustimmend ihr Haupt und schritt voran.

*


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