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Sechstes Capitel.

Adele saß wieder zu Roß und sprengte den Mühlensteg entlang, bis sich ein schmaler, durch zahlreiche Steinbröckeln verengter Weg zu ihrer Rechten zeigte. Hier bog sie ein und überließ nun ihrem Pferde, zu gehen, wie es ihm beliebte. Der kleine Bediente folgte in abgemessener Entfernung.

Das Wetter hatte sich verändert, wie es ihr Charles vorausgesagt. Ein kühler, mit Regentropfen begleiteter Herbstwind strich über die Berge und dunkle Wolkenschleier verbreiteten sich dergestalt über die Waldkronen der Höhen, daß es in dem schattigen Wege fast dunkel war. Adele achtete dessen nicht. In ihrer Seele herrschte eine weit ängstlichere Dunkelheit und sie rang vergeblich mit allen Verstandesanstrengungen nach Licht in diesem plötzlichen Chaos aller Gefühle.

Die Arme in einander geschlagen, den Blick schwermüthig gesenkt, die Stirn von Unmuth und Sorge gefaltet, so ritt sie dahin, bis sie an die Stelle gelangte, wo am vorigen Tage das erste Begegnen mit Dem stattgefunden, der so zerstörend in ihre glücklichen Verhältnisse eingegriffen. Sie hielt ihr Pferd an. Sie sah bitter lächelnd auf die Brücke, die er, dem Rufe »Samiel« Folge leistend, für Rosa gebaut hatte.

Dann streifte ihr Gedankenflug den ersten Eindruck, den Charles auf sie gemacht. Es war unbestritten ein wohlthuender gewesen. Jetzt wußte sie auch, warum sein Anblick wie eine Phantasie aus längst vergangenen Zeiten auf sie gewirkt hatte. Es existirte ein Portrait seines Vaters, das in den obern Gemächern des Thurmanbaues verschleiert hing. Sie kam selten dort hinauf. Die Pietät hatte diese Giebelstuben, die für die Marquise d'Agremont eingerichtet gewesen waren, geheiligt. Man betrat sie nur, um sie von Staub zu säubern und bei der Gelegenheit hatte sie das Bild gesehen.

Wie eine Kette zog sich die Erinnerung von diesem Portrait bis zur gegenwärtigen Stunde hinüber und bildete einen Uebergang zur Zukunft. Diese Gemächer sollten nun endlich doch bewohnt werden und zwar von demselben Wesen, das Adele in ihren wehmüthigen Träumereien als ihre Mutter verehrt hatte. Und an diesem weiblichen Wesen hatte sie keinen Theil mehr. Im ganzen weiten Hause des Großvaters hatte sie nicht ein Fleckchen, das nicht von Jugenderinnerungen geheiligt war und sie sollte es jetzt als eine Fremde verlassen! Der Mann, der diese kleine Brücke hier vor ihr hergestellt, der Mann hatte die Brücke zu ihrer schönen, reichen Vergangenheit jählings abgebrochen und sie einer wüsten, drohenden Zukunft überantwortet. »Samiel!« tönte es leise und unbewußt von ihren Lippen. Ja, sie mußte ihn hassen, als das mächtige, böse Wesen, welches die Vernichtung aller ihrer Lebensfreuden herbeiführte!

Langsam ritt sie weiter. Ob der Herbstwind die Tropfen auf ihre Wangen warf oder ob sie langsam aus ihren Augen geglitten waren, danach fragte sie weiter nicht.

Noch eine kleine Stunde und sie saß neben der fröhlichen Freundin Rosa, die nicht recht zu begreifen schien, weswegen Adele schon heute wieder bei ihr war und noch dazu mit so tiefsinnigen Blicken und so ernsten Mienen.

»Hast Du nicht erfahren, Adele?« fragte sie sogleich nach der ersten flüchtigen Begrüßung, »wer der schöne Samiel gewesen ist? Ich habe die ganze Nacht von ihm geträumt. Es ist die schönste und interessanteste Männererscheinung, die ich jemals gesehen. Weißt Du nicht, wer er ist? Weißt Du nicht, ob er im Gebirge wohnt?«

Adele betrachtete das hübsche, frohsinnige Mädchen mit schwermüthigem Lächeln. Sie hatte auch von dem Manne geträumt, den sie »Samiel« genannt, aber ihr Erwachen aus dem mädchenhaft lebhaften Traume war ein fürchterliches gewesen, bei Rosa war dies anders.

»Wohl weiß ich, wie er heißt, wer er ist und wo er wohnt, mein Röschen,« entgegnete sie, froh der Einleitung des Gespräches, das ihr die Verkündigungen der stattgefundenen Ereignisse erleichterten. »Es ist etwas Unglaubliches ins Leben getreten, liebe Kleine, etwas, das mich unsäglich traurig macht.«

»Mein Gott, Adele, sprich doch schnell. Deshalb also kommst Du heute. Dachte ich's doch gleich, als ich Dich den Weg hinabreiten sah. Nun? Nun?« fügte sie ungeduldig hinzu.

»Der junge Fremde ist Karl Vanpotter –«

»Noch ein Karl Vanpotter mehr in der Welt!« unterbrach Rosa sie fröhlich.

»Des alten Herrn Vanpotter, den ich bis dahin in glücklicher Verblendung als Großvater geliebt, richtiger und wirklicher Enkel,« schloß Adele mit sinkender Stimme.

Rosa faßte den Zusammenhang und den Schmerz Adelens nicht sogleich. Sie lachte in unvermischter Freude hell auf, schlug die Hände zusammen und rief die Neuigkeit in das Nebenzimmer hinein, wo ihre beiden Eltern saßen.

»Denkt Euch nur, beim Großonkel Vanpotter ist noch ein Enkel angekommen!« sprach sie lustig, als diese neugierig und etwas bestürzt in die Thür traten, um das Nähere zu hören. »Ein prächtiger Enkel Papa, ja ja! Er sieht aus wie ein echter Vanpotter, hat blondes Haar wie Du, aber schöner, und sieht aus wie Großonkel Vanpotter gewiß in seiner Jugend ausgesehen hat.«

»Erkläre uns doch erst den Zusammenhang dieser Geschichte,« schaltete Frau Vanpotter ein, indem sie sich zu Adele wendete, deren Blässe jetzt auffallender hervortrat.

»Die Erklärung ist leicht, aber fällt mir sehr schwer,« entgegnete Adele wehmüthig. »Durch eine wunderbare Verkettung von Umständen, die erst von Kohnert untersucht werden sollen, ist eine Verwechslung geschehen. Wir sind nicht die Kinder des Lieutenants Vanpotter. Die Gattin dieses Mannes lebt noch und ihr Sohn – die Tochter ist früh gestorben – kam heute Morgen zu dem alten Großpapa, um sich ihm vorzustellen.«

»Nach zweiundzwanzig Jahren,« sprach Rosa's Vater. »Das ist stark und klingt etwas romanhaft.«

»Und wer bist Du nun, Adele?« fragte Rosa stürmisch.

»Vielleicht ein armes, elendes Waisenkind, das nur durch Großpapa Vanpotter's Wohlthaten erhalten worden ist,« erklärte Adele mit Resignation.

Die Eltern Rosa's wechselten einen sprechenden Blick.

»Was sagt Dein Bruder zu dieser Veränderung der Verhältnisse?« fragte Herr Vanpotter sehr schnell.

Adele sah ihn verwundert an.

»Karl weiß noch nichts. Ich selbst erfuhr den Wechsel meiner Lebensstellung erst vor einigen Stunden.«

»So! So!« brummte Vanpotter, indem er sich wieder nach der Thür des Nebenzimmers zurückzog und seiner Frau einen bedeutungsvollen Wink gab. Beide Eltern verschwanden und die Mädchen blieben allein.

Herr Vanpotter setzte sich sogleich im Nebenzimmer auf einen Stuhl am Fenster, das am entferntesten von der Thür war, durch die sie eingetreten waren. Das Zimmer lag mit den Fenstern nach dem Hofe gerichtet und diente augenscheinlich dem Zwecke, von hier aus das große Gehöft mit seinen mächtigen Fabrikgebäuden zur Seite und im Hintergrunde unter beständiger Aufsicht haben zu können. Die andere Zimmerreihe, worin sich Rosa mit Adele befand, lag den Bergen zugewendet und ließ von dem Werktagsverkehr des Hauses, außer einem gelegentlichen Surren, Rascheln, Scharren oder Stampfen, nichts ahnen. Herr Vanpotter war Fabrikbesitzer und keineswegs so reich, wie sein Großonkel im Thale. Er strebte aber darnach es zu werden und verschmähte in dem Ernst seines Bestrebens kein Mittel, das sich ihm darbot. Die Benachrichtigung Adelens schien ihn eines Theils nicht unangenehm zu berühren, andrerseits aber allerlei Bedenken zu erregen. Er eröffnete das Gespräch zwischen sich und seiner Frau unverzüglich, aber im leisesten Flüstern durch die Worte:

»Höre Minna, was ist es mir jetzt lieb, daß unser kleiner Flattergeist dem Karl seinen Abschied gegeben hat, bevor dies Mirakel eintrat.«

Die Frau nickte vielsagend.

»Und was ist's mir lieb, daß ich diesem zweifelhaften Erben auf sein Gesuch noch nicht geantwortet hatte. Jetzt werde ich antworten und thun, als ob ich noch nichts von seiner Standesveränderung wüßte. Alle Wetter, da hätte ich schön hineinreiten können!«

»Nun, Schaden würdest Du nicht gehabt haben,« meinte die Frau. »Großpapa Vanpotter hätte sich nie geweigert, Dir das geborgte Geld wieder zu erstatten.«

»Was Du dumm bist, Minna!« flüsterte der Fabrikherr lachend. »Es sollte ja ein Darlehn mit zehn Procent, zahlbar nach Großpapa's Tode sein. Herr Karl speculirte auf den Tod und rechnete darauf, daß ein Mensch nicht älter als höchstens fünfundsiebzig Jahr würde.«

»Und Du auch,« warf Frau Minna vorwurfsvoll ein. »Laß doch das, lieber Mann. Sieh, unrecht Gut gedeihet nicht, spricht man immer, und wir haben ja nur das einzige Kind. Die kleine Rose hat übergenug zum Leben und wenn sie den Baron Bruno zum Manne bekömmt, so fehlt ihr wahrhaftig nichts. Versuche Gott nicht, lieber Mann. Speculire nicht auf Leichtsinn und Herzlosigkeit, damit nicht das Glück unsers holden Kindes daran scheitert.«

»Ach was!« polterte der Fabrikherr hervor. »Bleib' mir mit Deiner Sentimentalität vom Halse. Was ich von Karl nahm, das war eigentlich mein Eigenthum, denn uns wäre das ganze schöne Besitzthum im Thale zugefallen, wenn die Kinder nicht da wären. Und was Du vom Baron Bruno faselst, das muß ich mir nun verbitten und zwar allen Ernstes. Rosa heirathet jetzt den richtigen Erben, verstehst Du. Es ist ein altes Abkommen zwischen mir und Großpapa Vanpotter, daß sein Enkel meine Rosa zur Frau haben soll. Daß sie den Verschwender nicht mehr leiden konnte, war mir Recht. Jetzt kannst Du ihr jedoch verkünden, daß sie Frau Vanpotter würde ohne Gnade und Barmherzig teil.«

»Ich glaube nicht, daß wir auf bedeutenden Widerstand stoßen,« lächelte Frau Minna. »Rosa kam entzückt von dem schönen Samiel nach Hause. Erinnere Dich doch!«

»Was? Der ist es? Der?« Er schmunzelte und strich sich mehrmals über das Kinn. »Das trifft sich gut.«

»Wie viel wollte denn Karl Vanpotter auf den Tod seines Großvaters leihen?« fragte die Frau neugierig und sich fest auf den Arm ihres Mannes lehnend.

Der Fabrikherr zögerte mit der Antwort, dann sah er sich scheu um und murmelte:

»Du schweigst aber bis zu einer gelegenen Zeit, hörst Du?«

Die Frau nickte.

»Der Kerl verlangte 60 000 Thaler!«

Die Frau schrak heftig zurück.

»So viel? Mein Himmel, was wollte er denn mit dem Gelde machen?«

»Leben und spielen!« murmelte der Fabrikherr weiter.

»Und welche Garantie bot er Dir?«

»Er übertrug den Besitz der Mühle, der Schäferei und der Molkenwirthschaft auf mich!«

Die Augen der Frau leuchteten hell auf.

»Ach, wie wäre das nach meinem Wunsche,« lispelte sie. »Solche Wirthschaft ist tausendmal amusanter, als dieser Fabrikspectakel.«

»Da spricht die Amtmannstochter wieder!« lachte der Fabrikherr.

»Hattest Du denn aber so viel Geld zur Dispositon?«

»Ich? I bewahre. Aber ich konnte es schaffen. Dreißigtausend waren mir schon gewiß. Du siehst mich so zweifelnd an? Hier. Baron Bruno schreibt mir, daß es ihm Freude machen wurde, mir dies Geld zu fünf Procent zu überlassen.«

»Und Du wolltest zehn Procent dafür wiedernehmen?« wendete Frau Minna kopfschüttelnd ein.

»Karl Vanpotter hatte sie mir angeboten. Das ist auch ganz in der Ordnung, Minna, denn ich übernahm die Sicherheit der dargeliehenen Summe.«

»Du meinst, Karl würde Dir die Zinsen nicht bezahlt haben?«

»O, dafür weiß man Rath. Die Zinsen für die nächsten zwei Jahre hätte ich vom Capitale abgezogen.« Als Frau Minna ihn groß und verwundert ansah, setzte er lachend hinzu: »Der Mensch muß leben und der Kaufmann muß seinen Vortheil wahrnehmen. Wenn ich es nicht gethan hätte, so würde sich schon ein Anderer gefunden haben, der statt 60 000 Thaler 48 000 zahlt und die 12 000 als zweijährige Zinsen inne behält. Ein ganz gutes Geschäft, Minna, im Falle man eine sichere Hypothek auf Mühlen, Schäfereien und Holländereien in Händen hat.«

»Wenn Großpapa Vanpotter nun länger, als zwei Jahre gelebt hätte?«

»Dann hätte ich die Ziegelei dazu bekommen,« antwortete der Fabrikherr lakonisch. »Jetzt freilich ist es etwas anders. Ich werde mich sogleich daran machen und dem Burschen schreiben, daß ich ihm für den Augenblick nicht dienen könne. Dem Baron von Ekartswalde gebe ich sein Versprechen wegen des Geldes zurück, und danke im Stillen dem Himmel, daß ich rechtzeitig Kenntniß von dieser Veränderung der Verhältnisse erhielt. Ich war ruinirt, kam mir die Geschichte zu spät zu Ohren. Total ruinirt, denn ich hätte stillschweigend den Schaden tragen müssen, um das gute Vernehmen zwischen mir und dem alten Herrn nicht zu stören.«

»Laß Dir's eine Warnung sein, lieber Mann,« bat Frau Minna.

»A bah! Warum soll ein Kaufmann die Thorheiten der Menschen nicht zu seinem Vortheile ausbeuten?« meinte der Fabrikherr, indem er sich an sein Schreibpult setzte und einige Bogen Briefpapier zurecht legte. »Herr Karl war doch verloren. So oder so! Er geht unter, davon bin ich überzeugt.«

»Und doch wolltest Du ihm Rosa zur Frau geben?«

»Sei doch nur nicht so dumm, Minna!« flüsterte der Fabrikherr lachend. »Den Vogel im Netze läßt ein richtiger Speculant nicht eher davon fliegen bis er gründlich gerupft ist. Jetzt hat sich freilich die Sache sehr geändert!«

Herr Vanpotter schrieb. Frau Mama strickte sehr gemüthlich an einem Strumpfe, und Rosa plauderte Adelen beständig von dem Entzücken über Karl Vanpotter, das neue Familienmitglied, vor. Dadurch gewann diese junge Dame die Ueberzeugung, daß sie ohne Gewissensbisse den Antrag des Barons von Ekartswalde annehmen könne. Rosa fand einen sichern Trost in der Phantasiekraft ihrer jugendlichen Traumlust, wenn auch wirklich die Idee eines Bündnisses zwischen ihr und dem Baron, der ihr stark gehuldigt hatte, aufgetaucht gewesen wäre, und Adele mußte sich zugestehen, daß die Erscheinung des jungen Mannes, der ein Recht zu dem Namen Karl Vanpotter hatte, sehr wohl im Stande sei, den Baron Bruno in den Hintergrund zu drängen.

Mit dieser Zuversicht im Herzen, mit neu geweckter Hoffnung auf Lebensglück verließ Adele bald nach dem Mittagsmahle ihre heitere Freundin und ritt weit ruhiger, als am Morgen, in das Dunkel der Waldungen hinein, um zu dem Hause ihres Wohlthäters zurückzukehren.

So wie Adele die erste Höhe erreicht hatte, blickte sie zurück auf das Städtchen, das sich malerisch zu ihren Füßen ausbreitete. Ihr Auge weilte zuerst eine lange Zeit auf den rauchenden Schornsteinen der Fabrik, auf dem hübschen, einfach, aber geschmackvoll gebauten, neuen Wohnhause Vanpotter's. Es war ihr, als suche sie Rosa's blonden Lockenkopf in einem der Fenster, als winke und rufe ihr das frische, muntere Mädchen einen Gruß nach. Es war ihr so, denn in der Wirklichkeit hätte sie dies nicht wahrnehmen können, so hoch war der Punkt belegen, wo sie hielt.

Dann schweifte Adelens Blick seitwärts hinüber nach einem andern, eben so hübsch und geschmackvoll eingerichteten Hause, das sich stattlich über alle andern Gebäude des Städtchens erhob und durch den Kranz von hohen, schlanken Pappeln, der das ganze Etablissement umhegte, scharf bezeichnet hervortrat. Dort wohnte der Baron von Ekartswalde, dort also sollte sie ein Asyl finden, dort die herben Schicksalsschläge, die unvermuthet ihr Haupt getroffen, verschmerzen. Ein ruhiges zufriedenes Lächeln glitt über Adelens Züge, als sie still und gedankenvoll die letzte Vergangenheit mit der nächsten Zukunft verglich. Sie hoffte ein einfach glückliches Leben zu führen an der Seite des Barons.

Er war freilich kein bedeutender Mensch, er gehörte zu den Männern, die aus Langeweile dichten, malen und musiciren, ohne zu diesem Zeitvertreiben mehr, als die allergewöhnlichste Befähigung zu haben, allein er war kein Geck, kein Müssiggänger, kein Verschwender; er war ein lebhafter Erzähler, ein ernster, verständiger Herr, dessen zweifelhafte Abkunft ihn aus den Reihen der Aristokratie hinausgetrieben und zu einem isolirten Dasein verurtheilt hatte. Man vermuthete in ihm den Sohn einer hochgestellten Dame, mit der sein Vater, der ein Hofamt bekleidet hatte, liirt gewesen sein sollte.

Die Lesarten lauteten jedoch verschieden. Eine andere, weniger aristokratisch-romantische Partei sprach davon, daß Baron Bruno der Sohn eines Bauermädchens sei, das sein Vater, der Hofmarschall, leidenschaftlich geliebt und heimlich geheirathet habe. Da die Geburt des jungen Mannes in der Zeitperiode erfolgt war, wo es in Deutschland wie Kraut und Rüben untereinander lag, so erfuhr man nichts Gewisses. Nur das stand fest, daß die Lehngüter nicht auf Baron Bruno übertragen wurden, wohl aber das übrige sehr bedeutende bewegliche Vermögen seines Vaters, wovon der Sohn brillant leben und seine Zeit in Reisen und sonstigem Nichtsthun verbringen konnte.

Adele hatte sich Alles dies vernünftig überdacht, während sie oben auf der Bergspitze rastete, und als sie ihr Pferd endlich der Heimath zulenkte, da herrschte vollkommener Friede in ihrer Brust.

Der Abend nahete. Die Sonne stand tief am westlichen Horizonte. Sie leuchtete nur matt durch die Wolkenschleier, allein dies rosige, glühende Licht verschönte die ganze Landschaft. Adele sendete ihre Blicke entzückt rundum. Die Trauer und die Sorge waren von ihrer Stirn gewichen, die Wolken der Empörung gegen das Schicksal hatten sich richtig, wie sie es dem alten Herrn prophezeite, gelegt. Sie kehrte entschlossen und ruhig in das Haus zurück, worin sie ihre Jugendzeit verlebt, worin sie als Tochter gefeiert und verehrt worden war.

Unter diesen friedlichen Betrachtungen näherte sie sich ihrer heimathlichen Grenze, als das Wiehern eines Pferdes sie aufstörte. Gespannt blickte sie in das Dickicht des Waldes, das von verschiedenen Pfaden durchkreuzt war. Es währte nur eine einzige Minute, daß sie ungewiß blieb, dann hielt der Baron Bruno vor ihr.

Sie begrüßte ihn offen und vertraulich, wie immer. Nicht eine Spur von Verlegenheit malte sich in ihren ruhigen Zügen, nicht der geringste Anflug von Verwirrung in ihrem Mienenspiele. Sie wußte sogleich, daß dies Zusammentreffen kein zufälliges, sondern ein beabsichtigtes sei. Sie wußte, daß der Baron von ihrem Großvater kam, daß er hinreichend von der Wendung ihres Schicksals unterrichtet war.

Baron Bruno sah erregter aus als sie. Sein Auge heftete sich forschend auf ihr Auge und die Hand, welche er ihr darbot, zitterte ein klein wenig.

»Zürnen Sie nicht, Adele –« bat er mit sanfter Stimme. »Ich mußte Sie heute noch sprechen, deshalb ritt ich Ihnen entgegen. Bitte, lassen Sie uns absteigen, gestatten Sie mir, Sie eine Strecke zurückzugeleiten, gestatten Sie mir eine Unterredung!«

»Recht gern, Baron,« entgegnete die junge Dame huldvoll.

Im Nu war sie aus dem Sattel und legte ihre Hand in den dargebotenen Arm des jungen Mannes. Sie wies den Groom an, die Pferde bis zum Mühlenstege hinabzuführen, schlug geschickt das Reitkleid über den Arm und wandelte vertrauensvoll den Pfad hinab, welcher sie in Schlangenwindungen bis zu der Stelle führte, wo am Tage zuvor Charles den Samiel gespielt hatte.

Der Baron nahm das Wort und erklärte ihr, daß er mit grenzenlosem Erstaunen von der plötzlichen Ankunft eines Vanpotterschen Enkels gehört habe und zwar von dem alten Herrn selbst davon unterrichtet sei.

»Ich muß Ihnen gestehen, Fräulein Adele, daß ich den jungen Mann, trotz seiner evidenten Ähnlichkeit mit unserm guten Vanpotter, dennoch für einen Abenteurer halte, der durch die Auffindung von Familienpapieren zu dem Entschlusse gekommen ist, sein Glück zu versuchen. Man hat ja Beispiele von merkwürdigen Zufälligkeiten.«

»Dafür halte ich in Bezug auf uns, das heißt, meinen Bruder und mich, diese ganze Tragödie auch, Baron Bruno,« entgegnete Adele bestimmt. »Allein in Hinsicht auf den eingetroffenen Enkel erlaube ich mir nicht den kleinsten Zweifel.«

»Sie glauben an ihn!« rief der Baron verwundert. »Haben Sie Gründe, Ihre Anwesenheit in Vanpotter's Hause in einem betrüglichen Complote zu suchen? Wissen Sie irgend etwas von Ihrer Abkunft?«

Der junge Mann hatte immer eifriger gesprochen.

Adele lächelte.

»Statt jeder Antwort auf diese Fragen, berichte ich Ihnen einfach, daß heute Nachmittag der alte Kohnert in meinem Auftrage dorthin gereist ist, wo uns die einzige Möglichkeit einer Aufklärung werden kann.«

Baron Bruno wendete sich ganz herum zu Adele und betrachtete sie mit allen Zeichen großer Bewunderung. Adele sah ihn bei dieser Gelegenheit aufmerksam an. Schön war der Baron nicht. Sein Aussehen konnte kaum edel genannt werden und erinnerte ganz bedeutend an die Tradition vom Bauermädchen. Aber was dem Gesichte an Schönheit abging, das ersetzte sich durch Gutmüthigkeit. Sein Blick war gutmüthig, sein Lächeln gutmüthig. Daß er zufrieden mit sich selbst und mit seiner Lebensstellung war, prägte sich deutlich aus. Seine Gestalt aber zeigte sich im edelsten Ebenmaße und die feste, etwas steife Haltung, in der er sich wohlgefiel, verrieth etwas von Stolz.

»Sie sind außergewöhnlich praktisch und resolut, Fräulein Adele!« sagte der Baron nach einem kurzen Schweigen. »Und gerade diese Eigenschaften liebe ich an einer Dame! Ihre gehaltvolle Ruhe ist entzückend, sie bietet eine Garantie für ein ewiges Glück. Adele, Sie wissen, was ich zu fordern wagte, Adele, was habe ich zu hoffen? Werden Sie meine Wünsche erfüllen?

Adele heftete ihre großen, glänzenden Augen fest auf diesen Mann, der sie zur Gattin zu besitzen wünschte. Von Liebe sprach er nicht. Dadurch hob er sich in ihrer Achtung, denn sie hatte die feste Ueberzeugung, daß er eigentlich die schöne, blonde Rosa liebe.

»Mein Verstand ist Ihnen lieber, als mein Herz,« sprach sie eigenthümlich bewegt.

»Die Herrschaft des Herzens ist ephemer,« entgegnete er heftig. »Ich liebe es nicht, mich mit der Liebe zugleich den Launen einer Frau zu unterwerfen.«

»Wahren Sie sich, mein Freund!« warnte Adele. »Sie sind noch nicht ruhig genug, um die Vorzüge einer Verstandesheirath beurtheilen zu können.«

Der Baron hob stolz den Kopf auf.

»Prüfen Sie mich! Ich habe Ihren Werth erkannt und ich weiß, was ich Ihnen verspreche, wenn ich Ihnen meine Hand biete, wenn ich für meine Treue einstehe. Meine Erfahrungen werden Sie nie betrüben!«

Adele richtete sich ebenfalls stolz empor.

»Und wenn mein Herz eine tiefe, herzinnige Liebe als Bedingung eines Bündnisses forderte?«

Der Baron erröthete und sah still vor sich nieder.

»Adele, haben Sie Geduld, auch das wird kommen! Sie sind so schön, der Zauber Ihres Blickes hat mich schon oftmals tief gerührt, Adele, verwerfen Sie mich nicht!«

»Nein, Bruno!« entgegnete das junge Mädchen. »Ich verwerfe Sie nicht um der natürlichen Bewegung Ihres Herzens willen. Sie haben Rosa geliebt.«

»Wollen Sie mich martern?« flüsterte der junge Mann.

»Ich muß die Wunde sondiren, um zu wissen, ob sie heilbar ist. Daß Sie sich ernst und verständig von dem reizenden Kinde losgerissen haben, lobe ich. Rosa ist flüchtig und wetterwendisch. Der Mann, welcher dergleichen Launen und Flattereien nicht nachsichtig übersehen kann, muß sich fern davon halten, denn er wird diese Launen nie ändern und sein Gefühl dagegen sie beschwichtigen. Ich lobe Ihren Entschluß, Bruno, allein ich halte mich selbst für zu hoch, um ein Opfer Ihres Entschlusses zu sein.«

»Adele, ein leichtsinnigerer Mann würde Ihnen dreist sagen, daß er Sie liebe. Ich liebe Sie auch wirklich, eine Zurückweisung von Ihnen würde mich tiefer schmerzen, als das launenhafte Liebesspiel Rosa's.«

»Ich verstehe Sie wohl, Bruno. Sie suchen in mir einen Hafen und Sie versprechen sich die süßeste Ruhe davon. Auch ich bin eines Hafens benöthigt.«

»O, Adele!« bat der Baron gefühlvoll. »Ich will Sie wie die Blume meines Lebens stützen, trösten und führen. Adele, Ihr Glück soll mein Glück sein.«

Er legte rasch den Arm um ihre schöne schlanke Gestalt und blickte bittend in ihr Auge.

Schon hob sich die Hand des jungen Mädchens, die sie ihm zum ewigen Bunde reichen wollte. Schon öffnete sich die Lippe zu dem bindenden Worte für's Leben, da fiel ihr Auge auf die Brücke, die Charles Vanpotter Tags zuvor für sie gebaut hatte. Ein brennendes Gefühl, ob Schmerz, ob Bitterkeit, ob Freude, ob Trauer, sie wußte es nicht, durchfluthete ihr Inneres. Sie ließ die Hand sinken, sie schloß die Lippen, damit kein Laut darüber gehe.

»Bruno, wir dürfen uns um unsers Glückes willen nicht übereilen,« sprach sie nach einer Pause sehr gütig, sehr sanft und liebreich. »Lassen Sie uns fest das Ziel unserer beiderseitigen Verbindung im Auge behalten, lassen Sie, als Freunde, die Bewegungen unsers Herzens ungehindert wirken. Ich verspreche Ihnen Vertrauen und Offenheit. Von Ihnen erwarte ich ein Gleiches. Unter der Aegide unserer festen Freundschaft wollen wir die Zeit bis zur gänzlichen Aufklärung aller Verhältnisse erwarten. Wer weiß, was diese Zeit fördert. Meine Hand gehört Ihnen, so wie Sie nach Ablauf dieses Zeitraumes meine Zuneigung gewonnen haben und Sie mich ihrer Zuneigung versichern können. Sie haben sich edel benommen bei der Wendung meines Lebensweges, das giebt Ihnen Rechte auf mein Herz. Sind Sie zufrieden mit meinem Vorschlage, Baron?«

»Ich muß wohl,« erwiederte er traurig. »Wenigstens berauben Sie mich nicht jeder Hoffnung auf Ihren Besitz.«

»Und ich lasse Ihnen die Hoffnung auf ein schöneres Glück,« fügte Adele doppelsinnig hinzu.

*


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