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Achtes Capitel.

Diesem Tage folgten viele andere. Da sie im Wesentlichen nicht sehr verschieden von dem eben beschriebenen waren und wir nach der Charakteristik der Familie Vanpotter auf die gelegentlichen Conflicte ihrer Wünsche mit ihren Hoffnungen schließen können, so beschränken wir unsere Mittheilung darauf, daß Rosa, das hübsche blonde lachlustige Kind sehr bald einsah, wie wenig Glück sie mit ihrem lieblichen Muthwillen bei dem neuen Vetter machte. Im Zorne über diesen Kaltsinn wendete sie ihre wankelmüthige Gunst wieder dem Baron Bruno zu, und dieser zeigte sich schwach genug, seinen ernsten Beschlüssen sehr bald untreu zu werden. Ohne daß Erklärungen erfolgt waren, betrachtete man die Herzensangelegenheiten der beiden jungen Damen so ziemlich vom richtigen Standpunkte, ließ die Geschichte sich historisch entwickeln und sah nur der Ankunft der todtgeglaubten Schwiegertochter des alten Herrn und der Rückkehr Kohnert's mit Spannung entgegen.

Von dem Bruder Adelens hörte man gar nichts, seitdem er die Weigerung des Fabrikherrn, ihm das bedeutende Capital vorzuschießen, mit einem abscheulichen, beleidigenden Briefe beantwortet hatte, aus welchem aber ersichtlich war, daß er von seiner untergrabenen Existenz noch nichts wisse. Nach dieser Zeit hatte Adele zweimal an ihn geschrieben, aber keine Antwort erhalten, woraus man schloß, daß er sich von seinem Wohnorte entfernt haben müsse.

Wir überlassen also die Familie Vanpotter auf eine kurze Zeit ihrem Schicksale und folgen dem Invaliden Kohnert auf seiner Entdeckungsreise, die er glücklich bis zum Thore der Stadt vollführt hat, aus welcher er damals die Kinder des Lieutenants abgeholt.

Den Fähnrich Schmittler hatte er nicht mehr unter den Lebendigen gefunden, ja es hielt sogar schwer, den Namen, als einen längst vergessenen, wieder im Gedächtnisse der Bürger von Hamm aufzufrischen. So viel stand endlich fest, daß besagter Schmittler siech und elend verblieben war, sich niemals verheirathet hatte und kaum drei Jahre nach Beendigung des Freiheitskrieges sanft und selig entschlafen war.

Kohnert wurde immer ernster, je näher er dem Zeitpunkte einer Enthüllung kam, die mancherlei Unannehmlichkeiten für ihn bereit halten konnte. Er glaubte sich hinlänglich vorbereitet auf seine Mission und dennoch überfiel ihn ein schweres Bangen, wenn er an die Verantwortung dachte, der er sich aussetzte. Es ließ sich mit dem besten Willen nicht ableugnen, daß er damals im Eifer seiner Treue nicht die gehörige Vorsicht angewendet, um die Wünsche seines Lieutenants auszuführen. Er hatte angenommen, der Fähnrich sei ein zuverlässiger Mann, das war der erste Irrthum, woraus natürlich alle andern entsprangen.

Jetzt, wo das Unglück klar dastand, fand er es freilich unbegreiflich, daß er weder nach den nähern Verhältnissen, noch nach Geburtsscheinen und Familienpapieren geforscht hatte. Es wäre jedenfalls, da er die Mutter der Kinder nicht mehr am Leben fand, seine Schuldigkeit gewesen, dafür Sorge zu tragen, daß die Briefschaften und Documente in seinen Besitz kamen, die Interesse für die Familie Vanpotter hatten. Damals war er aber zu wenig vertraut mit dergleichen Familieninteressen gewesen, er hatte Wunder gedacht, wie weise und einsichtsvoll zu handeln, wenn er die armen verwaisten Kinder schleunigst den Armen ihres Großvaters zuführte. Von der Wichtigkeit eines Beweises für den Fall, daß Zweifel an der Identität dieser Waisen aufkommen könnten, hatte er keinen Begriff gehabt.

Mit dem einbrechenden Abend fuhr die Post langsam und rumpelig in die Stadt ein, die er mit treuem Localgedächtniß sofort an den Thorwölbungen und den hochgiebeligen Häusern der ersten Straße als diejenige erkannte, aus welcher er seine Pfleglinge vor mehr als zwanzig Jahren entführt hatte.

Das Herz des alten Invaliden pochte hörbar, indem er aus dem Wagen stieg und sich forschend rings umsah. Ja, das war der Ort, nun galt es nur noch, das Haus zu finden.

Kohnert trat in ein Gasthaus, das einladend seinen goldenen Adler über der Thür ausbreitete, um die Reisenden anzulocken. Er ließ sich in der allgemeinen Gaststube nieder, forderte für den Abend ein Abendbrod, für die Nacht ein Stübchen mit einem Bette und überließ sich dann dem Nachdenken über die ersten Angriffspläne. Der Herr Wirth, ein alter, sehr gesprächiger Mann, schien es für Schuldigkeit zu halten, die Wolken der Sorge, die seines Gastes Stirn umlagerten, zu verscheuchen. Er setzte sich zu dem Invaliden und fragte mit leutseliger Artigkeit nach dem Woher und Wohin desselben.

Kohnert musterte den redseligen Mann von der Seite. Es wandelte ihn die Lust an, einen Vertrauten zu erwerben, allein, von seinen letzten Erfahrungen sehr bedenklich gemacht, schloß er die Schleusen seiner Beredsamkeit und beschränkte sich auf kurze, ausweichende Antworten.

Allein späterhin bereuete er, die Gelegenheit unbenutzt gelassen zu haben, um Erkundigungen über die Dame Vanpotter, die seit langen Jahren hier in der Stadt gelebt, einzuziehen. Er beeilte sich das Versäumte nachzuholen und rief dem Gastwirthe, der ordnend und aufmunternd zwischen den wenigen Gästen, die sich in seinem Locale einfanden, umherging, zu:

»Sagen Sie mir mal, Herr Wirth, wo wohnt denn Frau Vanpotter?«

Der Wirth eilte dienstfertig herbei, nahm Platz bei Kohnert und wiederholte aufmerksam:

»Frau Vanpotter? Vanpotter?«

»Ja. Eine Französin, die den Lieutenant Vanpotter geheirathet hat?«

»Frau Vanpotter, eine Französin?« sprach der Wirth nachdenklich und kopfschüttelnd.

»Ja, ja! Vanpotter. Sie ist eine geborne Marquise d'Agremont.«

»Marquise d'Agremont?« repetirte der Wirth noch nachdenklicher.

»Sie hat einen Sohn, ungefähr im Alter von vierundzwanzig Jahren!« rief Kohnert ungeduldig.

Der Wirth blieb bei seinem beredten Kopfschütteln.

»Nun, zum Donnerwetter,« platzte der alte Soldat ärgerlich heraus, »so groß ist doch das Nest nicht, daß ein coulanter Wirth nicht eine Dame wenigstens dem Namen nach kennen sollte, die seit funfzig Jahren im Orte wohnt?«

»Hören Sie, lieber Mann,« entgegnete jetzt der Wirth eifrig, »wer Ihnen gesagt hat, daß in Schallenburg seit funfzig Jahren eine Marquise d'Agremont, eine Frau Lieutenant Vanpotter und ein Sohn von ihr gewohnt hat, der ist entweder im Traume gewesen oder er hat Ihnen etwas aufgebunden.«

Ein Lichtstrahl schien des alten Kohnert's Seele zu erhellen und ein Freudenglanz sein Gemüth zu erheitern.

»Alle Wetter, Herr Wirth, ist das Ihr Ernst?« fragte er freudig.

»Mein voller Ernst. Ich bin ein Stadtkind von hier, bin auf der Straße und im engsten Verkehre mit der Schallenburger Bevölkerung groß geworden, bin jetzt vierundfunfzig Jahre alt, habe aber in meinem ganzen Leben nicht ein Sterbenswort von einer Frau Vanpotter, die doch nicht in einem Mauseloche wohnen kann, gehört.«

»Das wäre etwas!« rief Kohnert lachend. »Aber Lügen strafen muß ich Sie doch, denn zur Kriegszeit, Anno 14 ungefähr, da hat der Lieutenant Vanpotter mit seiner Frau hier gewohnt, darauf nehme ich Gift!«

»Dagegen will ich nicht streiten,« entgegnete der Wirth zum goldenen Adler, »denn in damaliger Zeit erfuhr man nicht immer die Namen der Einquartierten. Aber seitdem wohnt Niemand hier, der diesen Namen führt.«

»Daß Dich!« sagte der alte Invalide triumphirend. »Es ist doch immer am besten, wenn man vor die rechte Schmiede geht. Jetzt wollen wir den jungen Herrn Schauspieler schon zum Tempel hinausbringen. Ich danke Ihnen, Herr Wirth. Sie haben mir einen großen Dienst geleistet.«

Nach dieser erhaltenen Nachricht schlief Kohnert ganz vortrefflich und hätte am nächsten Morgen beinahe Lust gehabt, sich ohne Weiteres wieder auf den Rückweg zu machen, wenn ihm nicht eingefallen wäre, sich zur Vervollständigung seiner Entdeckungen einmal nach dem Hause zu begeben, aus dem er damals die Kinderchen abgeholt hatte. Seine Zuversicht war seit der Behauptung des Adlerwirthes himmelan gewachsen und es machte ihm ordentlich Spaß, an das lange Gesicht des Fremdlings zu denken, der sich jetzt noch immer mit sichern Hoffnungen auf eine erschlichene Erbschaft wiegte, während er schon alle Beweise eines schändlichen Betruges in der Hand zu haben glaubte.

Kohnert frühstückte also in ungestörter Seelenruhe und verließ dann sein Gasthaus langsam und jede Straße sondirend, bis er richtig bei einer Wendung um die Ecke das breite, dunkle, altväterisch gebaute Haus mit seinem thurmhohen Giebel, der mit unzähligen Luken und Fensterchen besäet war, vor sich hatte.

Kohnert stand und sah aufmerksam an dem Hause hinauf. In ihm regte sich die Frage, sollte er hineingehen, um die Beweise gegen den sogenannten Karl Vanpotter, den Schelm, den Lügner und Betrüger zu häufen?

Nach einem kurzen Bedenken schritt er auf das Haus los, das zwar sehr anständig gebaut, aber keineswegs anständig erhalten war. Es sah verfallen aus. Die Fenster zeigten sich blind und von Staub beschmutzt. Vorhänge gab es nicht, außer schiefgezogenen grünen Rouleaux. Das Haus schien unbewohnt oder von ärmlichen Familien benutzt.

Kohnert trat fast schleichend durch die halb offene Thür in den weiten, mit Estrich ausgegossenen Hausflur. Es stand Alles, wie vor 20 Jahren. Da war dieselbe Bank an der Wand, da hing der alte Feuereimer, da stand ein braun angestrichener Tisch. Kohnert fühlte sich plötzlich heimisch in diesen Räumen. Rasch trat er tiefer hinein.

»Nun, was soll's?« kreischte ihn eine gellende Frauenstimme aus dem dunkeln Hintergrunde an.

»Herr des Himmels, da ist wahrhaftig die alte Sibylle auch noch!« schrie Kohnert, höchst vergnügt mit den Händen auf seine Schenkel schlagend. »Das kommt mir ja sehr gelegen, alte Schachtel! Guten Tag, Guteste. Guten Tag!«

Eine unsaubere, magere Frauengestalt schlüpfte aus einer braun angestrichenen Thür hervor und stellte sich in ihrer ganzen abschreckenden Häßlichkeit kerzengerade vor Kohnert auf.

»Nun, da bin ich denn doch neugierig, wen wir hier vor uns haben!« näselte sie und richtete ihre etwas eingesunkenen Augen neugierig auf Kohnert's Gesicht.

»Kennen Sie mich denn nicht wieder, alte Madame,« sagte Kohnert mit einer spöttischen Verbeugung.

»Nicht daß ich wüßt'!« erklärte die alte Frau, ihre Forschung fortsetzend.

»Donnerwetter, da habe ich ein besser Gedächtniß. Erinnern Sie sich nicht mehr des Kriegsmannes, der die Kinder damals, Anno 14, von Ihnen abgeholt hat?

»Ach, du mein Jesus!« schrie die Alte. »Sind Sie's? I, Sie Hallunke, Sie Menschenräuber, Sie Kinderfresser, ach, du mein Jesus! Wo haben Sie denn die armen Würmer gelassen?«

»Nun, ich habe die armen Würmer zu ihrem Großvater gebracht, wie mir befohlen war,« entgegnete

Kohnert, beleidigt von den Schimpfnamen, mit denen die alte Frau ihn beehrte.

»Haben Sie? Sie alter Regimentslügner! Die Kinder hatten ja gar keinen Großvater! Du mein Jesus, hat der gnädige Herr getobt, als er zu Hause kam.«

Kohnert sperrte die Ohren und die Augen weit auf. »Der gnädige Herr zu Hause kam?« wiederholte er fragend.

»Nun ja. Bald darauf kam er nach Hause und fand sein Nest leer. Die Frau todt. die Kinder gestohlen, Sie Menschenräuber –«

»Der Lieutenant –« stotterte Kohnert, sie unterbrechend.

»Was da Lieutenant. Das hatten Sie auch gelogen! Unser gnädiger Herr ist mein Lebtag nicht zu Felde gewesen, er hat sich wohl gehütet vor Pulver und Blei, Sie Regimentslügner. Wo haben Sie denn die armen Würmer gelassen? Leben thun sie gewiß nicht mehr.«

»Ja wohl, leben Beide noch,« stammelte, von schweren Ahnungen ergriffen, der alte Invalide.

»O, du meine Güte. Du himmlische Barmherzigkeit, gnädiger Herr, gnädiger Herr!« schrie sie so gellend, daß ein Todter hätte davon erweckt werden können.

Es öffnete sich auch wirklich eine dunkle Thür zur rechten Seite und eine schlanke Männergestalt in einem verschossenen Sammetschlafrock wurde sichtbar. Der Herr stand aufrecht, wie eine Säule, regte weder ein Glied, noch sprach er eine Sylbe. Sein Gesicht war edel geformt, aber todtenbleich. Sein Auge lag tief in den Höhlen, war jedoch von einem eigenthümlichen Glanze und Ausdrucke.

»Gnädiger Herr,« rapportirte die Alte mit fliegendem Athem, »Sehen Sie nur, das ist der abscheuliche Kerl, der mir unsere Kinder gestohlen hat. Das ist derselbe Mann, gnädiger Herr, und er sagt, unsere Kinder lebten noch.«

»Fort mit Ihm, Er Hallunke!« begann der Herr mit dröhnender Stimme, ohne daß ein Blutstropfen in seine Wangen trat und ohne daß er etwas Anderes bewegte, als seine schmalen, dünnen, bläulich rothen Lippen! »Fort mit Ihm, sonst hetze ich meinen Pudel auf ihn! Schere Er sich zum Teufel und lasse Er sich nie wieder sehen!«

Kohnert, der bis dahin den Herrn mit Augen voll starrer Verwunderung betrachtet hatte, erhielt jetzt seine gewöhnliche Fassung und damit auch seine Courage wieder.

»Herr des Himmels,« rief er, näher an ihn herantretend. »Mit wem habe ich denn die Ehre zu sprechen? Heiliger Petrus! Wohnte denn der Herr Lieutenant Vanpotter nicht in diesem Hause? Der selige Fähnrich hat mich doch hergeführt?«

»Will Er sich endlich packen!« antwortete der Herr mit unverändert rauher, zorniger Stimme, indem er verdächtig mit den Fingern schnippte, worauf denn alsbald der große, zottige Kopf eines weißen Pudels neben seinem verschossenen Schlafrock sichtbar wurde. »Ich habe mit Ihm nichts zu schaffen, Er Hallunke! Wenn meine Kinder noch leben, so ist es Seine verfluchte Schuldigkeit, dieselben hierher zu weisen. Geht Er nicht gleich, so commandire ich ›Pack an!‹ und dann ist's um Seine noch übriggebliebenen Gliedmaßen geschehen, das versprech ich Ihm! Ich habe so meine eigene Justiz, halte mich dabei nie lange bei der Vorrede auf und lasse die Exemtion immer der Verurtheilung auf dem Fuße folgen, versteht Er mich! Na wird's?«

Er schnippte abermals mit den Fingern und der dicke zottige Kopf des Pudels hob sich, die Augen des Hundes suchten seines Herrn Augen, seine spitzen, weißen Zähne zeigten sich im verrätherischen Fletschen.

»Das wäre ja ein wahrer Türkenstreich, Herr, wenn Sie hier an mir solche Justiz üben wollten,« entgegnete Kohnert ganz furchtlos, den Augen dieses Mannes und dem Zähnefletschen seines Hundes Trotz bietend. »Ich selbst bin heillos hinter's Licht geführt, habe meinem alten guten Herrn Vanpotter eine falsche Brut ins warme Nest gelegt.«

»Wird Er gleich gehen!« unterbrach ihn der Herr, noch immer stocksteif stehend, aber mit ungleich stärkerm Ausdrucke von Zorn. »Meine Kinder wissen jetzt, wo ihr Vater wohnt, ich weiß jetzt, wer sie mir gestohlen hat und ich habe den besten Willen, den Kerl, ohne den Urtheilsspruch der Gerichte über Kinderdiebstahl abzuwarten, exemplarisch zu strafen, wenn dieser Kerl nicht macht, daß er mir aus den Augen kommt. Ich habe mit Ihm nichts zu schaffen, wird Er gleich machen, Eins!« Der Pudel nahm eine verrätherisch kriegerische Position. »Zwei!« Der Pudel stieß ein grimmiges Jauchzen aus.

Kohnert fühlte sich von hinten an den Rockschößen ergriffen und die Stimme der alten Sybille flüsterte ihm zu, sich doch nur um Jesus und aller Heiligen willen zu entfernen, wenn er nicht zerfleischt werden wollte.

Kohnert sah ein, daß seiner eine große Gefahr wartete, die wahrscheinlich mit einer schmählichen Niederlage seinerseits enden würde. Er trat rückwärts zurück, versuchte jedoch noch einige erläuternde Worte. Da hob der bleiche, unerbittlich zornige Herr die Hand und seine Lippen schienen die letzte verhängnißvolle Zahl »Drei« aussprechen zu wollen. In demselben Momente aber fühlte sich Kohnert von den starken, knochigen Weiberarmen der alten Frau umfaßt, zur Hausthür geschoben und sah sich in der nächsten Secunde zu seinem grenzenlosen Erstaunen vor dieser Hausthür, die krachend hinter ihm zugeschlagen wurde.

»Drei!« hörte er während dessen rufen, und gleich darauf den Pudel unter teuflischem Geheule gegen die Thür springen, deren Hespen, Schlösser und Riegel von der Gewalt erdröhnten, womit das fürchterliche Thier seiner ihm entgangenen Beute nachtobte.

Mechanisch entfernte sich der Invalide von dem Hause, das ein Schauplatz der gräßlichsten Tyrannei zu sein schien. Mechanisch schritt er die Straße hinab und blieb dann erst stehen, um schaudernd die eben erlebte Scene an seinem Geiste voübergehen zu lassen.

»Was doch Alles in der Welt passiren kann!« murmelte er, sich fester auf seine Krücke stützend, denn seine Füße wankten unter ihm. »Wenn man es in Büchern liest, so glaubt's kein Mensch, Wetter noch 'mal!«

Er schüttelte sich, wie im Fieberfrost, ließ aber dessenungeachtet seine Augen forschend von Fenster zu Fenster schweifen, in der stillen Hoffnung, daß der Herr, von der Sehnsucht nach speciellern Nachrichten über seine Kinder getrieben, ihn zurückrufen oder daß die ehemalige Wärterin ihm nacheilen werde, um etwas. Bestimmteres über das Ergehen ihrer frühern Pflegebefohlenen zu erfragen. Allein es regte und rührte sich nichts. Die blinden Fensterscheiben ließen nichts erkennen, was dahinter vorging und jetzt erst beachtete der alte Soldat, wie verfallen, wie wüst und ärmlich das breit und stattlich gebaute Haus vor ihm da lag. In seiner Brust erstand ein tiefes Mitleiden, wenn er sich die schöne, edle Erscheinung Adelens vergegenwärtigte und sie mit diesem unsaubern Hause, mit diesem Herrn, der möglicher Weise ihr Vater sein konnte, zusammenstellte. Ein Seufzer des Erbarmens schwellte seine Brust. Wie trostlos erschien ihm ihre Zukunft! Wer aber war denn der Herr, der despotisch, mitten im cultivirten Deutschland, eine selbstständige Rechtspflege übte und sie grausamen Herzens auszuführen sich gar nicht zu fürchten schien?

Eine Frau, die des Weges daherkam, sollte ihm Auskunft geben. Er trat ihr entgegen, um endlich den Namen Desjenigen zu erfahren, welchem er, fälschlich geleitet, seine Kinder entführt hatte.

»Wer wohnt denn in jenem Hause?« fragte der Invalide die freundlich grüßende Frau, indem er mit seiner Krücke auf das düstere Haus zeigte.

»Da, in der Curie, meinen Sie, mein guter Herr?« wiederholte die Frau, willfährig stehen bleibend. »Ei, da wohnt der Herr v. Pforten schon lange, sehr lange. Es ist seiner Eltern und Großeltern Haus schon gewesen und war vor alten Zeiten ein geistlich Besitzthum.«

Kohnert schüttelte höchlichst verwundert den Kopf. Nicht etwa über die Mittheilungen der sprechlustigen Frau, sondern über die Dummheit seines frühern Rathgebers, des seligen Fähnrichs. Herr v. Pforten! und Herr Vanpotter! Das war denn doch ein Unterschied, den ein handlich gescheuter Mann mit allen zehn Fingern greifen konnte.

»Donnerwetter,« fluchte der alte Soldat vor sich hin, »den seligen Fähnrich mag nachträglich noch der Teufel holen. Also Herr v. Pforten, liebe Madame,« fügte er laut hinzu. »Was ist denn der Herr von Pforten?«

»Was er ist,« wiederholte die Frau, ihn steif ansehend. »Es ist der Herr von Pforten!«

»Ich meine, ob er Soldat, oder Beamter oder ein reicher Privatmann ist?« erklärte Kohnert.

»Gar nichts von Allem, mein guter Herr!« berichtete die Frau. »Reich ist er nimmer gewesen, aber doch gut gestellt, daß er leben konnt! Er hat's verspielt, was sein war, und seit zehn Jahren lebt er von Nichts! Sie sehen's dem Hause auch schon an.«

»Herr von Pforten ist also arm?«

»Sehr arm und sehr bös! Je ärmer er wird, desto böser zeigt er sich.«

»Hat er Familie?«

»Gehabt, ja! Aber die Frau starb zur Franzosenzeit und die Kinder sind ihm von einem Anverwandten der seligen, gnädigen Frau fortgeholt. Er soll wüthend über diese Maßregel gewesen sein, aber den Kindern war es gewiß zum Besten, denn der Herr von Pforten hat sich niemals als ein zärtlicher und umsichtiger Vater gezeigt.«

Der alte Soldat sah wehmüthig lächelnd zum Hause hinüber.

»Da wäre ja meines seligen Fähnrichs Dummheit eine Gottesfügung –« murmelte er halblaut. »Freilich beim Karl hat die bessere Erziehung nichts angeschlagen.«

Während er sprach, was natürlich die Frau nicht verstand und begriff, betrachtete ihn diese aufmerksam und sinnend.

»Hören Sie, mein guter Herr, Sie kommen mir recht bekannt vor!«

Der philosophirende Invalide erschrak bei dieser Bemerkung. Es konnte ihm noch trübselig ergehen, wenn er, als »Kinderräuber« angeklagt, einer gerichtlichen Verantwortung ausgesetzt wurde. Hatte er denn ein so merkwürdiges Gesicht, daß diese Frau ihn nach zwanzig Jahren noch als den zu recognosciren vermochte, der damals die Pforten'schen Kinder abgeholt hatte? Es mochten sich seine Befürchtungen im Gesichte ausgedrückt haben, denn die Frau setzte plötzlich hinzu:

»Wissen Sie. mein guter Herr, ich bin Marketenderin gewesen und da denke ich Sie oftmals gesehen zu haben!«

Dem alten Kohnert fiel ein Stein vom Herzen, aber die Frau fuhr fort:

»Eines Tages, es war im Sommer 1814, machte ich mich auf, um in meine Heimath zurückzukehren, da traf ich mit zwei Kriegsleuten zusammen, der Eine war Fähnrich und hatte eine Brustwunde, der Andere war accurat blessirt wie Sie. Nu, hab' ich Recht, mein guter Herr? Ich blieb damals in Ettenweiler bei einer Muhme zurück und Sie wollten hieher nach Schallenburg. Nu? Hab' ich Recht?«

Kohnert schüttelte abwehrend mit dem Kopfe.

»Da hab' ich also auch nicht Recht, wenn ich mir eben dachte, daß Sie der Abgeordnete von Pforten's Anverwandten gewesen sein könnten, die den kleinen Paul und die kleine Magdalene holen sollten?« fügte die Frau treuherzig hinzu.

»Nein, liebe Madame,« entgegnete Kohnert, innerlich über das gute Gedächtniß der ehemaligen Marketenderin fluchend. »Wie haben die Kinder des Herrn von Pforten geheißen?« fragte er interessirt.

»Paul und Magdalene, mein guter Herr!« berichtete die Frau ohne alles Mißtrauen. »Meine Muhme ist Wärterin der jungen gnädigen Herrschaft gewesen und lebt noch immer beim gnädigen Herrn, obwohl er nichts zu beißen und nichts zu brechen hat.«

Ein panischer Schrecken überfiel den alten Kriegshelden. Er sah sich wieder im Bereiche der Hundezähne und glaubte das Wuthgeheul des Pudels hinter sich zu hören. Eiligst griff er an seine Mütze, ruckte sie höflichst und machte sich mit einigen Dankesworten davon, ohne sich um die erstaunte Miene der Frau weiter zu bekümmern.

Er mußte fort aus dem Orte! Das sah er ein. Was sollte er sich auch wohl ferner in einer Stadt aufhalten, die ihm, nach dem tragischen Empfange des Herrn von Pforten, wie eine Morderhöhle vorkam. Der Zweck seiner Reise war erreicht. Erfreulich zeigten sich die Resultate derselben nicht, aber sie hellten manches Dunkel auf, was undurchdringlich erschienen war.

Ohne sich zu besinnen und weiter umzusehen, eilte Kohnert zur Post, ließ sich als Passagier nach Hamm einschreiben, ging dann nach seinem goldenen Adler zurück, um in der Zwischenzeit seinen Magenanforderungen gerecht zu werden und saß richtig einige Stunden später mit seinem Felleisen auf dem Schooße im Postcoupé, um ohne Verzug in seine Heimath zurückzukehren. Er konnte jetzt selbst nicht recht begreifen, wie ein so schwerer Irrthum je möglich geworden, und er wiederholte in Gedanken unzählige Mal seine stehend gewordene Lieblingsphrase:

»Wenn man's im Buche liest, so glaubt's kein Mensch und dennoch ist's wahrhaftig geschehen.«

Er war immer geneigt gewesen, die ganze Last der Schuld auf des seligen Fähnrichs Schulter zu laden, und er that dies in seinen stillen Betrachtungen jetzt ebenfalls redlich und mit Eifer. Der Fähnrich hatte das Geschäft, so zu sagen, an sich gerissen, hatte es geleitet und in seiner Eigenschaft als kluger Rathgeber nun auch eigentlich die Verantwortung dafür. Daß es ihm, dem philosophischen Invaliden, obgelegen hätte, sich nach dem Namen, Stand, den Verhältnissen und Familiendocumenten umzuhören und umzusehen, daran wollte er durchaus nicht denken. Er tröstete sich mit der allgemeinen Weltweisheit, daß ihm dergleichen nicht wieder passiren solle.

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