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Der Bruch

Mein einundzwanzigjähriger Geburtstag war herangekommen, und zum ersten Male sollte ich vollständige Freiheit genießen. Bis jetzt hatte mein Vater meine Lebenseinteilung bestimmt, und auf seinen Wunsch hatte ich mehr Zeit für die Arbeit als für das Vergnügen verwenden müssen. Deshalb hatte ich dem Tage meiner Mündigkeitserklärung mit einer gewissen Ungeduld entgegengesehen, weil ich jetzt in den Besitz des von meiner Mutter ererbten Vermögens kommen sollte. Als der vom Gesetz bestimmte Augenblick meinet doppelten Unabhängigkeit da war, kündete ich meinem Vater an, daß die mir bisher aufgezwungene Lebensweise ein Ende hätte. Es gab vorläufig seinen Beruf, der mich interessierte, und ich hatte durchaus nicht die Absicht, die Examen, die ich auf Befehl hatte machen müssen, auszunützen. Ich war ein begeisterter Kunstfreund, deshalb brauchte ich keine andere Beschäftigung, um die freie Zeit auszufüllen, die mir meine neue Vermögenslage und die veränderte Stellung in der Familie gestatteten.

Als ich meinem Vater meine Prinzipien auseinandersetzte, wurde er ziemlich ungnädig, und es entstand eine momentane Verstimmung zwischen uns. Bis die väterliche schlechte Laune sich beruhigt hatte, entschloß ich mich zu reisen. Italien lockte mich, und ich faßte den Plan, dorthin zu gehen. Die ersten Wochen meines Aufenthalts waren herrlich. Ich verbrachte das Ende des Frühlings in Venedig und Florenz, und als ich in Rom anlangte, überraschte mich der Sommer. Es war in jenem Jahre außerordentlich heiß. Die ewige Stadt glich einem Siedeofen, und ich sehnte mich nach Kühle. Ein junger Maler aus meiner Bekanntschaft pries die relative Frische in Sorrent und riet mir, es mit einem Aufenthalt dort zu versuchen. Ich folgte seinem Rat und mietete mich in einem von ihm empfohlenen Hotel ein. Ich konnte mich über meinen Entschluß nur freuen, denn das Hotel Bellatesta war gut und das Klima von Sorrent herrlich. Die Hitze wurde durch die Meereswinde gemindert, der Duft von Orangen- und Zitronenbäumen durchzog die salzige Luft, die man einatmete. Es ist eine Stadt voller Reiz und Schönheit.

Um vollständig glücklich zu sein, fehlte mir jedoch noch eins. Ich war just in dem Alter, in dem man sich das Glück nicht ohne die Liebe vorstellen kann, und die Einsamkeit meines Herzens bedrückte mich. Ich litt um so mehr, weil es von Liebespaaren um mich herum wimmelte. Das Hotel beherbergte englische, deutsche, selbst italienische Pärchen, andere hatten sich in die Villen zurückgezogen, und ich begegnete ihnen in der Stadt oder auf den Landstraßen. Ihr Blick diente nicht dazu, Resignation in mir zu erwecken. Selbstverständlich hätte ich in Neapel und auch in Sorrent leicht Liebeleien anknüpfen können, aber ich war romantisch veranlagt. Die flüchtige Lust zog mich wenig an, ich träumte von echter Liebe, nach ihr allein ging mein ganzes Sehnen.

Gleich zu Beginn meines Sorrenter Aufenthaltes war mir eine junge Frau aufgefallen, der ich häufig bei meinen Spaziergängen begegnete. Sehr schnell hatte sie einen großen Eindruck auf mich gemacht. So oft ich sie traf, stellte ich mir vor, welche Freude es sein müsse, von jemandem wie sie geliebt zu werden. Ihre zarte, graziöse Schönheit entsprach meinem heimlichen Ideal. Welch ein sanftes, liebreiches Gesicht hatte sie! Immer wenn ich sie getroffen hatte, schwebte mir ihr Bild noch lange vor, und mehr als einmal wandte ich mich um, dem Wagen nachzublicken, der sie mir entführte! Stets war die schöne Unbekannte ohne Begleitung, und ihr schien daran gelegen, einsam zu sein, denn sie bewohnte ganz allein eine der Villen in Sorrent.

Ich hatte mich nach ihrer Wohnung und nach ihrem Namen erkundigt. Die junge Dame war Französin und hieß Madame C... Sie nahm also einen gewissen Platz in meinem Denken ein. Ihre elegante Grazie, die Zurückgezogenheit, in der sie in dieser fremden Stadt lebte, machten sie für mich anziehend und gaben ihr etwas Besonderes; deshalb war ich nicht wenig überrascht, als ich eines Tages neben ihr in dem alten Landauer, in dem sie sich gewöhnlich einsam zurücklehnte, einen noch jungen Herrn sah, mit dem sie sich ziemlich lebhaft unterhielt. Ich empfand bei diesem Anblick sogar ein Gefühl des Verdrusses! Aber was! Dieser plötzlich aufgetauchte Gefährte konnte sehr gut irgendein zufällig in Sorrent getroffener Gleichgültiger sein, wenn es nicht ganz einfach ihr Bruder oder ihr Gatte war! Übrigens sah ich bald, daß ich mich in der letzten Annahme getäuscht hatte, denn als ich abends in das Hotel zurückkehrte, fand ich den vermuteten Gatten oder Bruder von Madame C... in einer Unterhaltung mit dem Portier. Ich erkundigte mich im Bureau, der Neuangekommene nannte sich Charles B. V., bewohnte Zimmer 43, das neben dem meinigen lag. Ich war der Nachbar von Madame C...s Liebhaber.

Dieser lächerliche und willkürliche Gedanke, der meinen Geist ohne Grund kreuzte, war übrigens nicht so unglaublich, wie er zuerst schien. Bald hegte ich wirklich keinen Zweifel mehr über diese Annahme. Herr Charles B. V. war nicht nur eine gewöhnliche Bekanntschaft von Madame C..., ihre Vertraulichkeit bewies engere Beziehungen, wie sie sonst bei gesellschaftlichem Verkehr herkömmlich sind. Herr B. V. blieb tagsüber in der Villa von Madame C... Ich sah ihn mehrere Male an der Haustür klingeln. Er aß wohl Abendbrot bei seiner Freundin und blieb lange nachher bei ihr, denn ich hörte ihn erst spät in der Nacht heimkehren. Soll ich eingestehen, daß ich nicht einschlafen konnte, bevor mein Nachbar im Bett lag! Herr B. V. beschäftigte mich sehr, ich war tatsächlich eifersüchtig auf ihn. Meine Eifersucht hatte noch die Sonderheit, daß ich Herrn B. V. nicht allein um so eine entzückende Geliebte beneidete, nein, daß ich ihm deshalb zürnte, sie vielleicht nicht so zu lieben, wie er es hätte tun müssen. Die glücklichen Liebhaber sind oft gleichgültig und egoistisch, Herr B. V. konnte ein solcher sein. War er sich wenigstens seines Glückes bewußt? Ach, wäre mir ein ähnliches Schicksal zugefallen, durch welche Anbetung hätte ich meine Dankbarkeit bezeugt! Und ich machte Herrn B. V. Vorwürfe, daß er nicht durch seinen Gesichtsausdruck, durch seine Bewegungen, durch sein ganzes Wesen die Zeichen seiner Glückseligkeit verriet.

*

Um über diese Torheiten nachzudenken, zog ich mich in ein kleines Orangengehölz zurück, das mir der Besitzer für eine geringe Entschädigung überlassen hatte, um dort spazierenzugehen und soviel Früchte, wie ich wollte, zu essen. Häufig genügte es mir schon, mich unter die wohlriechenden Bäume zu setzen und ihren scharfen, zuckersüßen Duft einzuatmen, der sich in ihrem warmen Schatten verbreitete. Die Ruhe des Ortes behagte mir, nichts unterbrach mich in meinen Betrachtungen. Übrigens gefiel mir mein Wäldchen um so mehr, als es nur durch eine Mauer von Madame C...s Garten getrennt war, deren Villa ich hinter den Bäumen hervorschimmern sah. Als ich nun eines Morgens dort wieder träumend saß, hörte ich hinter der Mauer Schritte und Stimmen. Ich hatte das sehr klare Gefühl, daß es Madame C... und Herr B. V. waren. Ich sprang auf, ich wußte wohl, daß es diskreter gewesen wäre, mich zu entfernen oder meine Anwesenheit durch irgendein Zeichen bemerkbar zu machen, aber die Neugier hielt mich zurück. Ich lauschte also. Die begonnene Unterhaltung hatte aufgehört, aber die Schritte kamen näher. Plötzlich machten sie halt, und in diesem Moment vernahm ich folgende Worte in kurzem, ärgerlichem Ton:

»Sie wissen ganz gut, daß es überflüssig ist, Charles. Sie zwingen mich dazu, lieber Freund, Ihnen zu wiederholen, was ich Ihnen schon gestern abend sagte, ich habe nichts hinzuzufügen. Meine Entscheidung ist unwiderruflich.«

Die Stimme wurde hart und trocken. Sie fuhr fort:

»Wir wollen ganz ehrlich auseinandergehen. Vielleicht können wir eines Tages gute Freunde sein, aber dazu gehört Zeit ... Zeit, um Ihre Liebe zu vergessen, oder wenigstens was Sie Ihre Liebe nannten.«

Nach den mit bitterer Ironie gesprochenen Worten trat ein Augenblick des Schweigens ein. Ich wartete auf einen Protest. Dieselbe Stimme fuhr bitterer und schneidender fort:

»Denn Sie behaupten mich zu lieben. Das ist möglich, aber auf diese Weise will ich nicht geliebt werden. Ja, Sie haben mich hier aufgesucht. Ich danke Ihnen für diesen Besuch, mein Freund, das war Höflichkeit. Ich habe sie erwidert, aber jetzt ist es aus. Jeder von uns schlägt einen anderen Weg ein. Sie rechts, ich links ...«

Mein Herz schlug. Zweifellos standen sie sich hinter der Mauer gegenüber, sie abwehrend, er flehend. Er würde sie um Verzeihung bitten, ich würde seine Beschwörungen, seinen Widerstand bei dem Gedanken, sie auf immer zu verlieren, hören; das Bitten des Liebhabers erlauschen, der nie schweigend den Abschied ertragen würde, den ihm diese Frau so hart gab. Er würde den Saum ihres Kleides ergreifen und sich zu ihren Füßen winden. Und wer weiß, ob sie sich nicht erweichen lassen würde.

Dieser Gedanke war mir unerträglich. Ich wollte keinen Moment länger bleiben, und schnell gewann ich den Ausgang des Orangenwäldchens. Ich hatte Eile, es zu verlassen, und antwortete stumm dem Besitzer, dem alten Pietro, der mich zurückhalten wollte. Er hatte sich von dem Geld, das ich ihm von Zeit zu Zeit schenkte, eine große Nickeluhr gekauft, die ich jetzt bewundern sollte. Ich sehe diese Uhr noch vor mir, die Zeiger auf dem angestrichenen Zifferblatt zeigten Punkt zwölf Uhr.

*

Auf dem Wege von dem Orangengehölz nach dem Hotel Bellatesta liegt Madame C...s Villa. Gerade als ich vorbeiging, öffnete sich die Pforte, und ich sah Herrn B. V. heraustreten. Eine wahre Herzensangst befiel mich bei seinem Anblick, und ich senkte die Augen. Würde ich nicht auf seinem Gesicht die Verzweiflung über den Bruch lesen, dessen unfreiwilliger Zeuge ich soeben gewesen war, und würde ich nicht die Verwirrung seines Herzens sehen? ... Ist es nicht eine Art niedriger Indiskretion, auf einem Gesicht die Verwüstung der Leidenschaft zu entdecken? Aber meine Neugierde drängte jedes andere Gefühl zurück, und ich wagte einen schüchternen Blick.

Ach, ich hatte wirklich unrecht, mich zu genieren! Herr B. V. schien vollkommen ruhig. Als er die Pforte hinter sich geschlossen hatte, zog er ein Lederetui aus der Tasche, wählte eine Zigarette mit peinlichster Ruhe, zündete sie an und blies das Streichholz aus, ehe er es fortwarf. Nichts zeigte an, daß er soeben einen schmerzhaften Wechsel seines Schicksals erlitten hatte. Ich glaube sogar, daß, als ich an ihm vorbeiging, er mich grüßen wollte. Augenscheinlich befand sich Herr B. V. im vollkommenen geistigen Gleichgewicht. Hatte er sich also mit Madame C... ausgesöhnt? Es schien mir wenig wahrscheinlich. War er an diese Art Gewitter gewöhnt, von denen starke Leidenschaften nicht befreit sind? Aber in den Worten von Madame C... hatte doch etwas sehr Bestimmtes gelegen. Es blieb also noch die Vermutung übrig, daß der eben stattgehabte Verlust ihm vollständig gleichgültig war und ihm weder Kummer noch Bedauern verursachte.

Was mir diese Idee noch bestätigte, war, daß ich nach meiner Rückkehr in das Hotel Herrn B. V. beim Mittagessen sah. Er aß mit gutem Appetit. Je mehr ich ihn beobachtete, desto mehr empfand ich ein wahres Gefühl des Hasses gegen ihn. Was! Dieser Mann war von dieser Frau geliebt worden. Sie hatte ihm zugelächelt, er hatte diesen so wollüstigen Mund geküßt, ihm hatte ihr graziöser, schöner Körper gehört, und nachdem alles für immer für ihn verloren war, konnte er noch weiterleben! Er zerschnitt sein Kotelett, er brach sein Brot, als ob sich nichts in seinem Leben verändert hätte. Ach! Dummes Schicksal, du verschwendest dein größtes Glück an diejenigen, die sich dessen nicht zu erfreuen wissen und die ebensowenig die berauschendsten Freuden ausgekostet haben, wie sie den traurigen Verlust empfinden können. Während dieses ganzen Tages bewegten mich dieselben Gedanken. Ich traf Herrn B. V. mehrere Male. Ich sah, wie er einen Brief in den Kasten steckte, ich sah ihn auf der Hotelterrasse Eis essen, ich sah ihn beim Abendbrot, und immer hatte er dasselbe ruhige Antlitz, auf dem weder Qual noch Sorge lag, dieses weder hübsche noch häßliche Gesicht, dessen Betrachtung mich wütend machte ...

Noch als ich mein Zimmer betrat, dachte ich an ihn, und ich hörte, wie er die Tür des seinigen öffnete. Diese Nachbarschaft brachte mich dermaßen auf, daß ich meinen Hut wieder aufsetzte und hinausgehen wollte. Kaum hatte ich den Hut genommen, als ich einen Schuß fallen hörte, dem zwei andere folgten. Ich lief dem Geräusch nach, Herr B. V. hatte sich getötet. Ein großer Fleck färbte den Einsatz seines Oberhemdes rot. Er saß im Sessel, und der nach rückwärts gefallene Kopf lag auf der Lehne. Im Tode lag ein solcher Ausdruck von Verzweiflung auf seinem Gesicht, daß ich instinktiv, wie um mich zu entschuldigen, ihn so schlecht beurteilt zu haben, meinen Hut voll Respekt abnahm ...


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