Fritz Reck-Malleczewen
Ein Mannsbild namens Prack
Fritz Reck-Malleczewen

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Bericht

Herrn Oberstleutnant v. Harrach

in Doblen.            

Befehlsmäßig führte ich die mir unterstellte Kompagnie Burgmair, die zweite Eskadron sowie Halbbatterie Horn auf der großen Mitauer Straße vor und traf das Gros der ersten und vierten Eskadron bei Kilometer 5 südwestlich Lievenbärsen gegen zwei Uhr an. Da die Verbände bei dem Nachtgefecht durcheinandergekommen waren, zunächst auch der Verlust der Fahrzeuge (zwei MG.-Schlitten und Feldküchen) befürchtet werden mußte, sorgte ich zunächst für Ordnung der Truppe. Die verloren geglaubten Fahrzeuge fanden sich gegen zwei Uhr dreißig ein.

Die Wiederaufnahme des Vormarsches verzögerte sich auf diese Weise bis drei Uhr. Da 214 Halbbatterie Horn bei den vorhandenen tiefen Schneeverwehungen schlecht vorwärts kam, ließ ich den dritten Zug der Kompagnie unter Vizefeldwebel Liebener bei den Geschützen, was um so ratsamer erschien, als nach den Erfahrungen des Nachtgefechtes die sofortige Mitnahme der Fahrzeuge die Beweglichkeit des Detachements nutzlos belastete und ein Einsatz der Artillerie vor Tagesanbruch unwahrscheinlich blieb. Halbbatterie Horn nebst Bedeckung wurde somit erst nach der kurz nach drei Uhr erfolgten kampflosen Besetzung des am Schnittpunkt der Straßen Doblen–Mitau und Schlock–Sessaus gelegenen Gehöftes Lievenbärsen dorthin vorgezogen.

Südlich der großen Mitauer Straße erfolgte die Einnahme des stark besetzten Dorfes Eckau nach heftigem Gefecht und diesseitigem Verlust von einem Unteroffizier und sieben Mann gegen dreiviertel vier Uhr. Gegnerische Verluste schwer, jedoch wegen Mitnahme der Verwundeten nicht genau festzustellen. Der um vier Uhr fünfzehn erfolgte Vorstoß der ersten Eskadron nebst zweitem Zug der Kompagnie Burgmair gegen das nördlich der Straße gelegene massiv ausgebaute Gut Padden, dessen starke Besetzung nach Sachlage vorausgesetzt werden durfte, 215 stieß auf keinen Widerstand. Hier wurden größere Massen des Gegners, die die Vorräte der dortigen Spiritusbrennerei geplündert hatten und sinnlos betrunken waren, gefangengenommen (903 Mann). Der Zustand der Leute schloß jede Vernehmung und auch den Abtransport aus, ich beschränkte mich daher auf Einsperren an Ort und Stelle in sicheren Gewahrsam unter Belassung eines Halbzuges.

Halbbatterie Horn begann die Beschießung Mitaus mit Anbruch des Tageslichtes. Der Gegner antwortete nicht. Nach Aussage der in Eckau gemachten Gefangenen, vor allem auch nach Aussage der aus der Stadt gekommenen Ueberläufer durfte mit einem völligen Zusammenbruch des gegnerischen Widerstandes und der raschen Räumung der Stadt gerechnet werden. Da ein rasches Nachstoßen Erfolg versprach, die erwähnten Aussagen andererseits eine schwere Bedrohung der gesamten Mitauer Zivilbevölkerung und der in der Trinitatiskirche eingeschlossenen Geiseln befürchten ließen, so beschloß ich, die Artilleriewirkung nicht abzuwarten und setzte unter Belassung der bei Lievenbärsen eingenommenen Aufnahmestellung das Detachement ohne erste Eskadron und Halbbatterie Horn gegen die Stadt in Marsch. Der 216 Einmarsch erfolgte fast kampflos, zu geringfügigen Gefechtshandlungen kam es nur in den Anlagen vor der Trinitatiskirche sowie vor allem auf dem Güterbahnhof, wo eine im letzten Augenblick nach Mitau vorgezogene Frauenformation die auf der Rigaer Eisenbahnlinie erfolgende Flucht des Kommissars Petraschewski erfolgreich deckte.

Eine Entsetzung der in der Trinitatiskirche gefangen gehaltenen Geiseln gelang, wie aus dem beiliegenden Bericht des Mitauer Arztes Dr. Schade hervorgeht, für den überwiegenden Teil der Eingeschlossenen leider nicht mehr, doch darf ich mit Genugtuung berichten, daß der neben neunzehn Letten und einer ebenfalls dort vorgefundenen baltischen Dame dortselbst gefangen gesetzte, seit dem Nachtgefecht vermißte Rittmeister v. Prack im Gerätekeller der Kirche lebend vorgefunden wurde. Bei seiner Verwundung (schwerer Säbelhieb am Kopf) darf ich von einer Vernehmung einstweilen absehen. Anscheinend ist die Tatsache, daß er samt den übrigen noch lebend vorgefundenen Personen das Schicksal der übrigen Geiseln nicht teilte, der beim Gegner eingetretenen Verwirrung und der zuletzt kopflos durchgeführten Räumung der Stadt zuzuschreiben. Auf den Bericht des 217 protokollarisch vernommenen praktischen Arztes Dr. Schade darf ich verweisen.

Ich habe die Aufnahmestellung in Lievenbärsen belassen und sperre nach Sprengung der Rigaer Bahn mit starken Feldwachen die Straße Riga–Mitau, glaube jedoch auf Grund der Aussagen der in Eckau gemachten Gefangenen mit einem feindlichen Gegenstoß spätestens für morgen rechnen zu müssen. Die deutsche Bevölkerung ist in geeigneter Weise dahin verständigt, daß auf ein dauerndes Halten der Stadt mit Sicherheit einstweilen nicht zu rechnen ist. Die Verwundeten und Gefangenen setze ich um elf Uhr Richtung Doblen in Marsch. Ortskommandantur und Befehlsempfang herzogliches Schloß.

Mitau, 18. Januar 1919.

gez. Normann                      
Major beim Stabe und Detachementsführer.

Anlage: Bericht Dr. Schade nebst Liste.

 

Bericht

Der Unterzeichnete wurde heute morgen gegen neuneinhalb Uhr von dem Führer des 218 deutschen Detachements zur Hilfeleistung resp. Begutachtung der von den Bolschewiken bei der Trinitatiskirche erschossenen Geiseln in Anspruch genommen. Eine Hilfeleistung kam nicht mehr in Betracht, da bei keinem der Aufgefundenen noch Lebenszeichen festgestellt werden konnten. Die Rekognoszierung der zum größten Teile der deutschen Gesellschaft von Mitau und Umgebung angehörigen und dem Unterzeichneten meistens persönlich bekannten Toten ist mit Ausnahme von vier Fällen durchwegs gelungen und durch die in der Trinitatiskirche vorgefundenen Listen sichergestellt.

Da der Unterzeichnete der lettischen Sprache mächtig ist und somit die aus einheimischen Letten (meistens älteren Frauen) bestehenden Augenzeugen befragen konnte, konnten nähere Umstände festgestellt werden. Mißhandlungen haben sich, wie übrigens auch aus dem Befunde hervorgeht, nicht ereignet. Besondere Erwähnung verdient ein Vorfall, der sich bei der Erschießung der von mir wiedergefundenen erst sechzehnjährigen Baronesse v. K. ereignet hat. Danach ist, wie durch Aussage der erwähnten Augenzeugen festgestellt wurde, Fräulein v. K. unmittelbar vor der Exekution auf die Knie gefallen, und hat mit lauter Stimme für ihre 219 Henker gebetet. Daraufhin hat sich, wie das übrigens dem unberechenbaren Charakter der russischen Landbevölkerung entspricht, das vermutlich aus mobilisierten Bauern bestehende Kommando geweigert, die Erschießung vorzunehmen. Nach dem Bericht der Augenzeugen warfen die Leute die Gewehre hin mit den Worten »Erschieße sie, wer mag . . . nicht wir!« (Wörtlich so!) Auch dem Dazwischentreten des Kommissars Petraschewski (alias Peters) gelang es nicht, die Leute zur Aufgabe des Widerstandes zu bewegen, und es bedurfte der Herbeiholung des roten Frauenbataillons, um endlich die Exekution vorzunehmen. Nach dem Bericht der Augenzeugen, die übrigens durch die erlebte Szene tief erschüttert waren, ist es im wesentlichen diesem Zwischenfall und der dadurch bedingten Verzögerung zu verdanken, daß die restlichen Gefangenen in der Trinitatiskirche befreit werden konnten.

Die Liste der Rekognoszierten lege ich bei. Die einstweilige Versorgung der Verwundeten habe ich übernommen. Was den Rittmeister von Prack anbetrifft, so dürfte trotz des schweren Blutverlustes seine Wunde (Säbelhieb an der Stirn mit Splitterung der Schädeldecke) unbedenklich sein. Das mit ihm zusammen im 220 Keller der Trinitatiskirche aufgefundene Fräulein von Dostheim leidet an einer croupösen Pneumonie (Lungenentzündung), die bei ordnungsmäßiger Behandlung in diesem Alter anstandslos auszuheilen pflegt. Da die Familie v. D. zu meinem näheren Bekanntenkreis gehört und ihre nach Königsberg geflüchteten Angehörigen über das Schicksal der jungen Dame im Ungewissen sein dürften, so wäre ich für Weitergabe dieses beruhigenden Befundes dankbar.

Anlage: 1 Liste.

gez.                
Dr. med. Axel Schade.

Für die Richtigkeit der Unterschrift:

gez. Normann,                    
Major beim Stabe und Detachementsführer. 221

 


 


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