Fritz Reck-Malleczewen
Ein Mannsbild namens Prack
Fritz Reck-Malleczewen

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Ins Ungemessene dehnt westlich der Düna sich die menschenleere Ebene, es gibt auf ihr freilich kein Siegestor und kein schimmerndes Diadem von Bogenlampen: bleiches Totenlicht ist trotz des Neumondes über der Ebene in dieser Nacht, metertief in ihrem kalten Schneegrabe liegt Gottes Erde, eisiger Wind heult durch eisige Leere – von der anderen Dünaseite, von Osten her, von Moskau kommt der Wind. –

Oede und verlassen liegt die fruchtbare Ebene, wo ein Bauerngehöft stand, liegt es seit neunzehnhundertundfünfzehn schon zerschossen, wo durch diese schaurige Nacht noch ein Hund heult, da ist es ein verlassener, ein am Hunger krepierender Hund. Wo es aber in Chören heiser durch die Nacht bellt, da sind es streitende Wölfe, die um Aas sich balgen, wo im Dunkel Reiter traben, da sind es keine Reiter, denen 45 man gern die Tür öffnet: aus Osten, von Rußland her kommen die Wölfe, aus der russischen Steppe faucht der Wind, von Moskau her hinter den abziehenden Deutschen traben die Reiter der Roten. –

Bäuerlein aber im letzten noch besiedelten und jämmerlich verfallenen Gehöft denkt nach: es kam der Krieg, es kamen die Granaten, es kamen die Deutschen. Sie blieben drei Jahre, sie hielten ihre fremde Ordnung, man richtete sich immerhin mit ihnen ein . . . man pflügte wieder, hatte wieder eine Kuh . . .

Ein kleines rotbuntes Kuhchen, ein mageres und jämmerliches Kuhchen, man konnte leben, immerhin . . .

Bäuerlein hört plötzlich fernes Geschrei und Pferdewiehern in der Nacht, zuckt zusammen, löscht erschrocken das Talglicht, bekreuzigt sich und denkt weiter: vor zwei Monaten gingen mit Sack und Pack die Deutschen fort und nahmen ihre fremde Ordnung mit – der Zar ist tot, den Zusammenfüger der russischen Erde haben die Roten erschlagen, seit er tot ist, ist auch Rußland tot . . .

Moskau aber lebt. Die Deutschen gingen – hinter ihnen her aber kommt mit seinen Reitern Moskau– es sind nicht mehr die 46 kaiserlichen Reiter vom Lager Kurtenhof mit den lachenden Bauerngesichtern und den großen, blanken Pferden und dem Vorsänger und dem Schwadronsziegenbock an der Spitze – ach, dies sind Teufel auf elenden Schindmähren, sie singen des Teufels Lieder und haben des Teufels Gesichter, sie haben vor drei Tagen in Lipki den Grafen erschossen, und es werden ihrer immer mehr, und durch die Nacht traben sie nach Westen, immer weiter nach Westen, sie sind um Mitternacht da wie der Böse selbst und klopfen mit der Nagaika ans Fenster: »Heda, Bauer, hast du eine Kuh?«

Und der Bauer springt aus dem naßkalten Bett, schlürft auf Holzpantinen in die Nacht hinaus: »Ja, meine lieben Herrn, eine Kuh . . . aber was für eine! Nur solch mageres Kuhchen und so viel Kinder . . . ach, liebe Herren, schont doch die Armut!« Sie aber sind schon im Stall, drängen sich um die Kuh, klirren schon mit der Kette herum. »Genug geweint«, schreit der Führer, »fünfhundert Rubel wollen wir . . . kauf sie dir zurück für fünfhundert, oder du wirst schauen!«

Und der Bauer fällt auf die Knie, bekreuzigt sich und schwört sich die Seele aus dem Leib, er habe doch kein Geld, sieht aber dann, wie 47 sie das Kuhchen schon aus dem Stall zerren, besinnt sich, läuft in die Hütte und holt vom Deckbalken her ein Bündelchen »Regenbogen«Wegen ihrer bunten Farben hießen so in Rußland die Hundertrubelscheine.. Handelt, weint, bettelt, bekommt schließlich für dreihundert seine Kuh zurück . . .

Geht dann schluchzend, als sie fortgeritten sind, in seine Hütte, weiß doch ganz genau, daß morgen eine zweite, eine dritte, eine vierte Patrouille kommen wird: jeder wird er dreihundert Rubel geben müssen, in drei Tagen wird er weder Geld noch ein Kuhchen haben . . . ach, und wovon soll man denn leben im strengen Winter, ach Jesus, ja, ach großes Erbarmen.

So traurige Dinge denkt er, will hinter sich schon die Tür verriegeln und in sein Bett zurückschlüpfen, hört es plötzlich stöhnen und schnauben in der Nacht, sieht auf der von den Deutschen im Kriege gebauten, seit Wochen nun schon verödeten Eisenbahnstrecke einen kilometerlangen Zug kriechen – jämmerlich stöhnt vor der überlangen finsteren Wagenreihe die ausgeleierte, viel zu kleine Maschine, und aus ihrem Kamin der Flammenstoß ist an diesem Zuge das einzige Licht, und sonst könnte man ihn wohl für einen 48 mitternächtigen Geisterzug halten. Der Bauer aber bekreuzigt sich, weiß Bescheid. Aus Moskau kommt dieser Zug, die Hauptmacht der Roten fährt in ihm mit Pferden und Maschinengewehren durchs Land, so ziehn sie her hinter den Deutschen, werden morgen ihre Truppen ausladen, das ganze Land überschwemmen wie ein Heuschreckenschwarm. Da kriecht denn der Bauer, tief verzagt in seinem Herzen, zurück in die Hütte, schließt ab, bekreuzigt sich. Mag Gott ihnen allen nun gnädig sein. –

Der Zug aber stöhnt durch die Winternacht westwärts auf Mitau zu – vorn in dem verdunkelten Wagen erster Klasse sitzen mit ihren brillantbehangenen Damen in ihren rotseidenen Schlafröcken die Kommissare, dahinter, in der endlosen Reihe der TepluschkenEisenbahnlore., friert, schwatzt, schläft – Fabrikarbeiter, mobilisierte Bäuerlein, Grusinier, Letten und chinesische Bahnarbeiter bunt durcheinander – die rote Kavallerie. Im letzten Wagen, wo man auf dem Holzboden ein Feuer angezündet hat und frostklappernd um die dürftige Flamme hockt, liegt in der Ecke auf einem dürftigen 49 Strohhaufen ein Mann. Ein herkulisch gebauter breitschultriger Mann. Baron Awgostjin Nikolajewitsch Prack, weiland Schwadronschef im kaiserlich russischen Regiment Garde à cheval, nun Kommandeur des roten Reiterregiments »Bakunin«. Mit geschlossenen Augen liegt der Prack, scheint ja wohl zu schlafen . . .

Am Feuer, das langsam in den Holzboden der Tepluschke sich frißt, wärmen sie die erstarrten Finger, gespenstisch huschen über die Decke des Wagens ihre verzerrten Schlagschatten. Ein junger, ein wenig pockennarbiger Soldat, der wie ein großer Junge und vielleicht auch wie ein verkleidetes Mädchen aussieht, nimmt vom Feuer den verbeulten Aluminiumkessel, steht auf. »Macht nun Platz, Genossen.« Man mustert sie mit wohlgefälligen und wohl auch mit anzüglichen Blicken, man macht immerhin Platz: »Geh nur, Ninotschka.« Und jeder weiß, daß Ninotschka ein Mädchen ist, wie es viele Mädchen gibt im Reiterregiment Bakunin. Ninotschka aber mit ihrem Teekessel geht zu dem Schlafenden, rüttelt ihn: »Es ist, Ew. Hochwohlgeboren, schon sieben Uhr . . .«

»Es heißt nicht mehr«, keift vom Feuer her ein aufgeregter Lette, »Ew. Hochwohlgeboren, es heißt Genosse.«

50 »Man wird in einer halben Stunde in Mitau sein«, sagt Ninotschka.

»Zu Awgostjin Nikolajewitsch«, beruhigt ein tiefer freundlicher Baß, »kannst du ruhig ›Ew. Hochwohlgeboren‹ sagen, er ist auch ohne euch ein guter Kamerad.« Prack hört es, dreht sich auf die andere Seite, dem Tee zu, trinkt aber nicht, grübelt. Rittmeister im kaiserlichen Regiment Garde à cheval, nun Kommandeur des Regimentes »Bakunin«. Im Sommer 1917 hat ihn in Minsk der Flecktyphus erwischt, und noch in der Rekonvaleszenz, als man noch zum Skelett abgemagert war, hat ihn dann ein roter Generalstäbler – auch ein ehemaliger Kaiserlicher – gefragt, ob er ein Kommando unter der neuen Regierung übernehmen wolle. »Ich rate Ihnen, ja zu sagen«, hatte dieser Generalstäbler mit einem ganz eigentümlichen Unterton gesagt. Prack hat den Unterton wohl verstanden, hat »ja« gesagt . . . es gibt ja nun keinen Zaren mehr, man weiß ja auch nicht mehr, wohin man gehört, man gehört auch nicht mehr in den Frieden . . . es ist übrigens in all dem Elend alles schon ziemlich gleich . . .

Ja, so war das damals gewesen! Und draußen der Zug fährt langsamer, leiser wird das Räderstampfen, man hört von den vorderen Wagen 51 her das Schnauben und das Hufstampfen der Pferde. Dann hält der Zug, dann hört man draußen Menschen, die die Wagenreihe entlang laufen, dann, von weit her, eine scheltende Stimme: »Wenn Sie nicht weiterfahren wollen, wird man Sie auf die Schienen binden und den Zug ohne Sie in Gang bringen.« Dann wird es still, dann setzt sich mit heftigen Wagenstößen der Zug wieder in Bewegung, gewaltig röhrt die kleine Maschine. »Bald wird man in Mitau sein«, wiederholt besorgt Ninotschka und rüttelt ihren Herrn. Prack richtet sich auf, gießt eine Tasse Tee hinunter, sinkt wieder zurück in seine Apathie. –

Am Feuer unterhalten sie sich über den Zarenmord, der Lette mit seiner hohen aufgeregten Fistel führt das große Wort. Wie, Nikolaj Alexandrowitsch soll noch leben, wo er, der Rotarmist Mikkel Osoling, doch dabei war, als man sie in Jekaterinburg alle in einer einzigen Nacht erledigte? Und der Lette zieht zum Beweis aus der Tasche einen Orden, den er damals an sich genommen hat, der Orden des toten Kaisers geht von Hand zu Hand, ein paar von den mobilisierten Bäuerlein bekreuzigen sich und werden ausgelacht. Prack sieht es, denkt zurück. 52 An das Jahr 1916, als man in Mohilew im Kaiserlichen Hauptquartier die Stabswache kommandierte und Se. Kaiserliche Majestät nach dem Frühstück immer so behutsam den kranken Zarewitsch ins Boot zur täglichen Spazierfahrt hob . . . an das Jahr 1914, als dies alles begann und der Krieg noch ein Kavalierskrieg war und man bei Wirballen durchs hohe Korn gegen die preußischen Kürassiere angeritten war . . . drüben, bei den Deutschen, soll damals auch ein Prack, einer von den preußischen Prack, gewesen sein. Der Kommandeur des Reiterregiments »Bakunin« richtet sich nun doch auf, reckt sich. Was ging ihn das alles, was der Krieg von 1914 und der preußische Prack an, was denn? Neunzehnhundertvierzehn, nachdem er bei Lodz verwundet war, schenkte ihm in Moskau im Lazarett Ihre Kaiserliche Majestät ihr Porträt mit eigenhändiger Unterschrift. Man trug's lange unter dem Rock, es wurde gestohlen, wie ihm alles andere gestohlen wurde . . . man trägt heute unter dem alten Waffenrock nicht einmal mehr ein Hemd, unter dem Waffenrock sind keine Erinnerungen mehr, unter dem geflickten und verschmutzten Rock kommt sofort er selbst, Awgostjin Nikolajewitsch Prack . . .

53 In dieser Erkenntnis schüttelt er endlich die Müdigkeit der kalten Nacht von sich, steht auf, begrüßt den Morgen mit einem furchtbaren Fluch . . .

Fühlt, wie der Zug nun schon über Weichen rumpelt, erledigt seine dürftige Toilette, sieht, während sie hinter ihm noch immer über den Zarenmord und den echten oder unechten Orden des toten Kaisers sich streiten, plötzlich die Flammen des auf dem Boden entzündeten Feuers gewaltig auflodern, sieht, daß es Funken auf die Wände des Wagens sprüht, die geteerte Decke zu ergreifen droht. Da läßt er einen Kotstrom von Flüchen los auf die schwatzende Bande, reißt sie hoch an den verlausten Rockkragen, rüttelt sie, schlägt ihre Köpfe gegeneinander, tritt die brennenden Scheite auseinander. Jetzt erst sehen sie die Gefahr des Brandes, den der gewaltige Luftzug entfacht. »Aida, Genossen, pißt herauf, wer gerade kann.« Nach Möglichkeit geschieht es, mit Rucksäcken, Jacken und Lumpen sucht man die schon über die Wände fahrenden Flammen zu ersticken, kann es immerhin nicht verhindern, daß nun auch schon die Decke glimmt. Der Zug hält vor der Laderampe von Mitau. »Heraus mit euch!« kommandiert Prack, springt als 54 erster hinaus in den eisigen Morgen. Wagentüren werden aufgerissen, Parkierstege für die Pferde werden zur Rampe hinübergelegt, ins Grau hinaus kriecht nach und nach, fluchend, johlend, lachend, der ganze Inhalt des Zuges. Menschen, Pferde, Vieh, Russen, Letten, pockennarbige Sibiriaken, Frauenzimmer in Röcken, Frauenzimmer in Männerkleidern, Soldaten mit dem fünfzackigen Stern, Soldaten mit den Monogrammen der alten kaiserlichen Regimenter, Strolche in den bunten Husaren- und Dragonerfriedensuniformen eines geplünderten deutschen Kleiderdepots. Zahllose Arbeiter in Blusen und grünen, mit roten Federn geschmückten Filzhüten . . . endlich sogar ein paar Kerle, die auf aufgezäumten Kühen reiten. Prack sieht es. »Dreck, Huren und Pferde durcheinander«, brummt, mit einem alten russischen Sprichwort, Prack. Ninotschka, im frischen Wind rotbäckig wie ein Winterapfel, bringt ihm den Rapphengst.

Eisig faucht der Ost in den grauenden Morgen, Pferde schnauben dampfend, frierende Soldaten trampeln sich die Füße warm, vorn am Zug werden die Equipagen der Kommissare ausparkiert, die Damen in ihren wattierten Schlafröcken drängen sich um einen Samowar.

55 Prack ist aufgesessen, hat nur seinen verdreckten und vielfach geflickten Rock, der Rock, immerhin, ist einst bei ChmostowBerühmter Petersburger Uniformschneider. in Petersburg gemacht, verrät noch immer die noble Abkunft, der Reiter sitzt gut auf dem gewaltigen Hengst, der Reiter ist ein eleganter Mann auch ohne Hemd unter dem Rock . . . noch immer ist er ein Garderittmeister, wippt mit der Reitpeitsche, versteht keinen Spaß, die Leute, im Grunde, lieben ihn, weil er ein Herr geblieben ist unter all den Kommissaren und PopensöhnenRussischer Spitzname für Intellektuelle..

Prack ist also aufgesessen. Ein Chinese in englisch geschnittenem Waffenrock mit eigelben fabelhaften Breeches kommt vom Wagen der Kommissare her gelaufen, überbringt Prack den Tagesbefehl. Prack wippt mit der Peitsche, Prack brüllt: »Bestelle du denen da vorn«, und mit dem Kopf zeigt er nach dem Kommissarswagen hinüber, »daß sie mir ihre Befehle durch russische Menschen schicken mögen, nicht durch dich.« Der Chinese grinst verlegen, wendet sich, läuft zurück, die Mannschaft, an der er vorüberläuft, nimmt Partei für Prack. »He, du schiefäugiges Aas . . . seht ihn nur, wird 56 russische Menschen kommandieren.« Der Oberkommissar, ein verbummelter und geschniegelter Advokat aus Pskow, bequemt sich nun, selbst zu kommen. »Geruhen Sie, Awgostjin Nikolajewitsch, westlich der Tuckumer Vorstadt aufzuklären«, sagt, äußerlich mit süßlicher Höflichkeit, innerlich wutbebend, der Kommissar. »Aufsitzen«, kommandiert Prack. »Zu Vieren«, kommandiert Prack, will anreiten lassen, sieht plötzlich, daß der harte Wind den Wagen nun vollends in Brand gesetzt hat, daß die Funken schon hinüberfliegen auf die Teerdächer der nächsten Tepluschken, daß in fünf Minuten der ganze Train brennen muß . . .

Kein Mensch nimmt Notiz davon. Mag er doch brennen. Soll er doch brennen, seit ganz Rußland brennt. Es ist alles gleich . . .

Prack läßt anreiten, läßt die erste Schwadron an sich vorüberziehen, sieht die Truppe. Arbeiter, Frauenzimmer, Letten, gestohlene Krefelder Husaren-Attilas und Arbeiterkittel und Judenkaftane und Menschen auf edlen Gestütspferden und Menschen auf Kühen. »Dreck, Huren und Pferde durcheinander«, brummt noch einmal, ingrimmig, der Prack und setzt sich in kurzem Galopp an die Spitze. Dies aber geschah am Morgen der nämlichen Nacht, als der andere 57 – der weiße Prack – in München ein schönes unbekanntes Mädchen nach Hause geleitet hatte.

 

In München aber war keineswegs das graue hoffnungslose Licht des Polarwinters – München, die schöne und ach so launische Stadt, hatte in aller Eile wieder einmal umdisponiert mit dem Wetter. In der Nacht noch hatte der kalte Neuschnee geknirscht . . . »Schau, ich tue ja nur so«, hatte die schöne launische Stadt gesagt und hatte in den ersten Morgenstunden sich schon fächeln lassen von einem linden Säuseln, das vom Gebirg her kam, dann waren mit der aufgehenden Sonne die Berge blauschwarz und schreckhaft nahe gestanden und dann begann der Föhn in sein gewaltiges Horn zu blasen und schmolz die ganze weiße Herrlichkeit zusammen in ein paar Stunden. Es war ein heller blaugoldener Sonnentag daraus geworden, es war zwar noch immer Revolution mit dräuenden Maschinengewehren und verlüderter Soldateska auf den Straßen, die schöne Stadt aber gab mit Augenzwinkern zu verstehen, daß sie ja nur so tue, und daß sie es gar nicht so schlimm meine. In Licht und Wärme gebadet, 58 lagen wieder die Florentiner Paläste der Ludwigstraße, an ihren Fronten vorüber schob man auf der Sonnenseite die Wagen der sorglich verpackten neuen Winterbabys, Geschwader weißer Tauben umsegelten die hellgrünen Schwünge der Theatinerkuppeln, und die Menschen, die durch dieses Lichtbad gingen, marschierten zuversichtlichen Blickes: bald mußte ja auch dieser grämliche Revolutionswinter vorüber sein . . .

Da also stand er, Arved von Prack, am verabredeten Platz vor den grauen Bogen der Feldherrnhalle unter dem steinernen Tilly, der von der Nacht her noch ein weißes Schneekäppchen trug und nun eigentlich wie ein Oberrabbiner aussah . . . stand schon in die zweite Stunde hinein . . .

Und wartete vergeblich. Nichts. – Aufgestanden war er trotz der um die Ohren geschlagenen Nacht schon in aller Hergottsfrüh – hatte sich hergerichtet, hatte in den Spiegel geschaut, hatte sich kaum wiedererkannt: weswegen wohl sah er heute um zehn Jahre jünger aus und weswegen war selbst von den allerersten grauen Schläfenhaaren – dem Andenken an den Absturz am Stochod – heute nichts zu sehen? Warum? Alles doch nur, weil man wieder ein Zipfelchen vom Leben erwischt hatte, 59 vielleicht ein Zipfelchen Heimat . . . vielleicht! Er sprang die Treppe hinab, er summte das Liedchen von gestern, er trat hinaus in den blanken, klaren Tag – so blank und klar wie gestern das unbekannte Mädchen. Unterwegs, auf der Fahrt zur Feldherrnhalle, hatte ihn der erste Zwischenfall dieses Tages erreicht . . .

Die enge Schlucht der Brienner Straße staut allzu leicht den Verkehrsstrom – es sind sonst Lastwagen oder gar behäbige, mit Ochsen bespannte Bierwagen, es war heute irgendein Demonstrationszug, der diesen Strom zum Stillstand brachte, und in diesen Sekunden des Stillhaltens sah Prack etwas, was ihn, der sich auf den Odeonsplatz und die Feldherrnhalle doch wie ein Junge auf das Weihnachtszimmer freute, im Augenblicke erstarren ließ . . .

Ein Autotaxi, im Kriege verludert, eisenbereift und mit Koffern vollgestopft, hielt neben dem Tram in der entgegengesetzten Fahrtrichtung. Prack fiel die abnorm niedrige Nummer II A 7 auf . . . sieben war sowieso seine Pechzahl . . . der Demonstrationszug mit seinen Plakaten und singenden Menschen gab endlich freie Bahn, Auto und Tram fuhren in entgegengesetzten Richtungen langsam an und glitten aneinander vorüber, und in diesem 60 Augenblick sah Prack deutlich die Frau, die dort zwischen all den Koffern saß . . .

Sie. Das Mädchen, das er gestern gefunden und nach Hause begleitet hatte, und das er um diese Stunde erwartete . . . hundert Meter von hier an der Feldherrnhalle . . .

Vorüber, vorbei.

Er will sich vergewissern und beugt sich weit hinaus, ein ungeduldig klingelnder Tram auf dem Parallelgleis nimmt ihm die Aussicht. Da drängt er sich durch den Menschenpfropf der überfüllten Plattform, springt ab unter dem Schelten der Leute, gleitet aus auf dem vereisten Asphalt, liegt . . . dicht vor ihm pariert mit kreischenden Bremsen eine protzige Limousine – es gibt einen kleinen Menschenauflauf, er drückt sich rasch fort, springt auf die Gehbahn, späht rückwärts. Nichts . . .

Kein Auto mehr zu sehen. Wie war doch die Nummer? Sieben. Welcher Tag? Der siebente Januar! An welchem Tag wurde er verwundet? An einem siebenten . . . an einem siebenten im vorigen Jahre abgeschossen und beinahe gefangengenommen . . . der Teufel hole diese ewige Sieben . . .

Aber schau her, Prack, es kann ja gar nicht sein . . . wie in aller Welt soll denn sie, gestern 61 noch Gast auf einem Faschingsfest, heute, bei fester Verabredung, mit großem Gepäck für große Fahrt in jenes Auto gekommen sein . . . oh, wir haben doch schließlich ein gutes Fingerspitzengefühl für zuverlässige Menschen und für Spreu, und was da gestern tanzte, flirtete und sang, mag Ramschware gewesen sein: die hier, das namenlose Mädchen, war keine Spreu . . .

Mit diesem Gedanken sich tröstend, kommt er vor die Feldherrnhalle, findet nichts . . .

Passanten, Pärchen, Soldaten, eine im Tageslicht doppelt verwüstet aussehende Kokotte . . .

Sie nicht. Nicht sie. Dafür eine neue Ueberraschung . . . An der Ecke des Odeonplatzes drängen sich Menschen. Prack, ab und zu hinter sich nach dem Ort des Stelldicheins schielend, geht hinüber und sieht, wie drüben ein Mann an der Litfaßsäule ein riesengroßes, grell gemaltes Plakat befestigt. Es ist ein Plakat, das Deutschland vor dem aufziehenden Bolschewismus warnt – ein riesiger Menschenaffe mit fliehender Stirn und überlangen behaarten Armen streckt die riesigen Pratzen aus nach einem mit roten Dächern und Storchnestern friedlich zwischen Bäumen gebetteten Bauerndorf. Prack steht und schaut, und ist nicht eben 62 angenehm berührt von dem Plakat. Das Dorf da mit dem roten Ordenskirchturm, das wäre ja wohl die Heimat, die man so lange schon nicht sah, und die für ihn so etwas wie böses Gewissen ist . . . der Affe aber, das wäre ja wohl sozusagen der Herr Vetter, der liebe Augustin mit dem Heiligennamen und der Gardevergangenheit und der Strolchgegenwart . . . nein, es ist durchaus kein angenehmer Eindruck, es ist eine recht peinliche Einleitung zu einem Stelldichein, eigentlich müßte man das alles mit einem Kognak hinunterspülen . . .

Und in einer keineswegs mehr rosigen Laune geht er wieder auf seinen Platz, findet sie natürlich auch jetzt nicht vor, wartet eine halbe, wartet eine volle Stunde, sieht die Sonne verschwinden hinter den Theatinertürmen, fröstelt im kalten blauen Schatten, bemerkt, daß inzwischen seine vergebliche Toggenburgerei den Zeitungsweiberln, den Eckenstehern, dem Posten der Residenz und sogar dem Schutzmann am Hofgartentor aufgefallen ist, und daß man anfängt, sich über ihn lustig zu machen . . .

Geht trotzdem tapfer auf und ab wie ein Posten, denkt, daß dieses seltsame Erlebnis von gestern doch schließlich keine Fata morgana war, versucht ihrer Gesichtszüge sich zu erinnern, 63 versucht auch die Melodie, die er heute in der Frühe doch noch wußte, wieder zusammenzubekommen . . .

Versucht es, findet nun weder Melodie noch Gesichtszüge, sieht, daß es schon beinahe zwei Stunden nach der verabredeten Zeit ist, fühlt sich genarrt, fühlt etwas Bitterliches in sich aufsteigen, fühlt, daß es besser gewesen wäre, man hätte diese Unbekannte nie gesehen. So sieht er plötzlich mit feindseligem und neidischem Blick auf alle diese ringsum sich zusammenfindenden Pärchen, auf die Zeitungshändler, denen man ihr Mittagessen bringt, auf das alte Weiberl sogar, das nebenan die Tauben füttert, auf die ganze, aller Revolution zum Trotz ja doch so fröhliche, leichtsinnige Stadt . . .

Was soll er denn noch hier? Und nun will er schon gehen, sieht plötzlich jenseits des Platzes an dem Schaufenster der Buchhandlung die Fremde stehen, glaubt schon, diesen schmalhüftigen und etwas knabenhaften Wuchs, das seltsame und auf irgendeine Weise mittelalterliche Profil wiederzuerkennen, läuft hinüber, geht auf sie zu – sieht eine völlig fremde auf der linken Wange durch ein großes Feuermal arg entstellte Frau, die sein etwas stürmisches 64 Interesse mit einem etwas spöttischen und sogar feindseligen Blick quittiert . . .

Dreht sich wütend und tief beschämt um, will nun endlich fort und trifft, als er die Ecke der Brienner Straße erreicht, auf das Autotaxi Nummer sieben, das, nach der Ludwigstraße zu fahrend, mit ausgekuppeltem Motor vor einem Trambahnhalteplatz wartet. Da springt er in den Wagen, läßt kehren und zum Hotel fahren, fragt unterwegs den Chauffeur aus, ob er vor zwei Stunden eine junge schmächtige Dame mit recht viel Gepäck zum Bahnhof gefahren habe. »Ja, mei«, sagt der Mann und zuckt die Achseln, hat schon so viel schmächtige Mädchen zum Bahnhof gefahren, daß er sich nimmer in ihnen auskennt, erinnert sich aber, als Prack mit dem Fragen und Beschreiben nicht aufhört, plötzlich . . .

Jawohl, zum Berliner Zug. Mit recht viel Gepäck. Und zwei Mark Trinkgeld hat er fürs Tragen bekommen. Und recht fremd und recht hart hat sie gesprochen . . . recht so nach der Schrift, aber doch beinahe wie eine Ausländerin. Der Wagen hält am Hotel, Prack zahlt, steigt aus, hat genug von diesem Morgen. –

In der Hotelhalle kauft er sich die Morgenzeitung, wirft sich in einen Sessel, liest. 65 Geschrieben steht in zollhoher Schlagzeile, daß im Baltikum die Bolschewiken eingebrochen sind, daß sie Riga besetzt, daß vor ihnen die dort im Hafen liegenden englischen Kreuzer schleunigst die Anker gelichtet haben. Sie marschieren auf Mitau, sie werden, wenn ihr Vormarsch nicht aufgehalten wird, in acht Tagen an den deutschen Grenzen erscheinen, Ostpreußen ruft laut um Hilfe, die Regierung in Königsberg wirbt Freikorps . . .

Prack steht auf, hat plötzlich einen harten Zug im Gesicht. So ist das . . . irgendwo also gibt's doch noch Krieg? Frieden aber, das ist längst ein Nebelbegriff, Frieden, das ist dieser trügerische blaugoldene Frühlingstag, diese fremde, halb schon südliche Stadt . . . dieses dumme Leben, das ihm gestern ein Zipfelchen Lebenssinn zeigte und heute ihn narrt! Ihn aber, Arved Prack, hat der Krieg gefressen, dem Kriege ist er hörig, muß ihm nachziehen, wo er ihn findet . . . wäre doch am Ende hier, in dieser Stadt mit ihren plätschernden Liebesgeschichten, doch so etwas wie eine lächerliche Figur. Wann also geht der Berliner Abendzug? Er geht gegen acht. Und wo befindet sich der Oberleutnant Eberhard? Er ist auf seinem Zimmer, war aber schon unten. Prack läßt sich hinauffahren. –

66 Er ist erstaunt, Trips schon fix und fertig zu finden über der Morgenpost, geht eine Weile stumm im Zimmer auf und ab, mag doch dem Kleinen mit seinem Entschluß auch nicht so Hals über Kopf kommen und ihn aus seinem Münchener Idyll reißen . . .

Raucht gewaltig, denkt nach über das »Wie«, wird aber von Trips plötzlich selbst gestellt . . .

Trips nämlich, nach vielen zärtlichen und zierlichen und duftenden, hat eben einen durchaus nicht zierlichen, einen sehr plump geschriebenen Brief mit derbem Kuvert geöffnet, hat ihn eben gelesen, hält ihn Prack hin. Der Brief geht eigentlich Prack selbst an, der Brief kommt vom Kämmerer aus Alt-Anzen, der Kämmerer hat ihm, dem Freunde, geschrieben, es ginge nun nicht mehr so weiter mit dem zerschossenen Hof . . . der Herr Rittmeister antworte ja doch nicht, ob nicht der Herr Oberleutnant selbst mal mit dem Herrn Rittmeister reden wolle, und den Herrn Rittmeister bewegen könne, hinzukommen, nach dem Rechten zu sehen, nur für ein paar Tage . . .

Prack liest es. »Wollte sowieso heute hinfahren«, knurrt Prack.

»Komme mit«, sagt Trips.

67 »Täte mir aber leid, dich hier herauszuheben aus dem Capua«, sagt Prack.

»Auf die Dauer leise langweilig«, sagt Trips und zerreißt seine zärtliche Korrespondenz. »Kameradschaft ist Kameradschaft, Fliegergespann hält doppelt fest.« Sie fangen zu packen an. Abends liegt München hinter ihnen. Nachts, bei einer Zigarette, fängt Prack unvermittelt nochmals von der Zukunft an. »Bei Alt-Anzen wird's aber wohl kaum bleiben«, sagt Prack. »Wohin also?« fragt Trips. »Wirst schon sehn«, knurrt Prack. Damit ist das Thema vorderhand beschlossen.

Berlin passieren sie im Geknall einer gewaltigen Straßenschießerei, Berlin ist grau, heruntergekommen in vier Kriegsjahren, verbittert, aufgeregt. Oestlich der Weichsel aber, da bläst ihnen schon der altbekannte Boreas entgegen, Bauerngehöfte brechen schier zusammen unter den Schneelasten, weiße Wirbel jagen über eisige Felder, die Menschen sind versorgt und vergrämt, denken wohl an die Schreckenszeit von neunzehnhundertundvierzehn, sprechen sorgenvoll von dem Russen, der nun wieder, wie damals, vom Osten her heranzieht . . .

Ein jämmerlicher Schlitten mit zwei verhungerten Kuntern holt sie ab – mehr kann das 68 Gut Alt-Anzen in seinem gegenwärtigen Zustande nicht stellen . . . man hätte es längst aufbauen können, man trauerte zuerst dem gefallenen Bruder nach, man wurde langsam aufgefressen vom Kriege und versank . . .

Alt-Anzen hat er nicht gesehen, seit im September vierzehn, in der Masurenschlacht, schwere Haubitzgranaten hineinflogen . . . damals hat ihm das alte Haus mit dem Holländerdach leid getan, heute steigt er achselzuckend herum in all der Verwüstung – das Herz ist gefroren, und die, die es vielleicht hätte auftauen können, ist verschwunden wie eine Luftspiegelung . . .

Der Vogt Balduhn, der in einer notdürftig hergerichteten Remise haust, führt sie. Alt-Anzen ist, einen leeren Speicher abgerechnet, eine Ruine, sie steigen zwischen geborstenen Brandmauern herum, zwischen verbogenen Eisenträgern, Maschinentrümmern und verschneiten Schutthaufen.

»Bächlein hat die Mühle fortgeschwemmt,
Fortgeschwemmt sind alle Räder, alle Schaufeln, alle Truhen . . .«

Plötzlich summt inmitten dieser Wüstenei in ihm das Lied aus der nun schon sagenhaften Pension Farmann . . . Ja, wenn sie nun mit ihm gekommen wäre, jene Fremde, hätte man 69 vielleicht wieder Wurzeln fassen können. So aber . . .

Sie gehn durch den Garten. Ein verstümmelter Buchenstamm steht wie ein Pfahl, die Krone nahm eine Granate weg, der tote Stamm steht und fault, in der blättrig gewordenen Rinde sind die Narben von Einschüssen zu sehn . . .

»Hier haben Herr Rittmeister mit der Pistole nach der Scheibe geschossen«, sagt der Vogt. »Wie Herr Rittmeister zwölf Jahre alt waren«, fügt der Vogt hinzu.

Jawohl, das geschah zusammen mit George, dem gefallenen Bruder . . . der Deuwel hole alle sentimentalen Erinnerungen. »Hauen Sie das Ding um«, sagt Prack.

»Kommen Herr Rittmeister noch immer nicht für immer nach Hause?« fragt der Vogt.

»Nein«, sagt Prack und zieht Trips beiseite. »Was ich noch sagen wollte, Trips . . .«

Und Prack reicht ihm das Zeitungsblatt hin mit dem Aufruf der Königsberger Regierung zur Freikorpsbildung . . . Jawohl der Krieg hat sie ja doch beide gefressen und holt sie nun zurück . . .

»Muß das sein?« fragt Trips.

70 »Fahr ruhig nach München zurück«, sagt Prack und zuckt die Achseln.

»Wie lange wollen Herr Rittmeister denn noch fortbleiben?« klagt der Alte.

»Bis der Krieg zu Ende ist«, sagt Prack.

»Ach Gott, wann wird das wohl sein?« sagt hoffnungslos der Vogt.

»Nächsten Dienstag um drei Minuten nach zwölf«, sagt etwas grob Prack und bestellt das Fuhrwerk.

In Königsberg, wo sie sich in Uniform und mit den leuchtenden weißen Friedensmützen auf dem Generalkommando auf dem Roßgarten melden, gibt's einen kleinen Zwischenfall. Der dort sitzende und verbüffelt aussehende Generalstabshauptmann, Typ IIa, ist von jener Sorte, die Prack von jeher nicht hat leiden können. »Darf ich fragen, Herr Rittmeister, ob der andere Prack . . . ich meine der bei den Bolschewiken, ein naher Verwandter von Ihnen ist?«

Prack sieht sich den Herrn mit dem verbüffelten Gesicht an. Geborener Kavalleristenfeind, früher, wenn man im Manöver solchen gelehrten Herren eine Meldung brachte, ließ man den Gaul mit der Hinterhand so lange auskeilen, bis er den Herren mit den breiten roten Streifen einen Dreckpatzen vor den Gardehelm 71 gefeuert hatte. Und dann entschuldigte man sich . . .

»Mißratener Vetter von mir«, sagt Prack. »Haben früher zusammen Pferde gehütet, sind jetzt beese aufeinander.«

»Wünschen Herr Hauptmann sonst noch etwas zu wissen?« fragt, den Ton plötzlich wechselnd, Prack. Da bekommt der andere einen roten Kopf und verbeugt sich. Sie gehn.

Der Feind war gestern schon über Mitau hinaus, hatte mit Kavallerievorhuten bereits die kleine Stadt Doblen erreicht.

Ihr eigener Truppenteil stand zwanzig Kilometer westlich davon. Bei Frauenburg. 72

 


 


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