Fritz Reck-Malleczewen
Ein Mannsbild namens Prack
Fritz Reck-Malleczewen

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Es war, wie wir wissen, ein heller Januartag gewesen mit einer Sonne, die, allem Nachtfrost zum Trotz, schon etwas von Frühling wußte, an der Leopoldstraße das Pensionszimmer, in dem an jenem Morgen das Fräulein Maria von Alt-Dostheim aus dem Hause Prekalns in Kurland erwachte, war voll dieser Sonne, voll Lichtjubel, voller Goldlackluft. Sie erhob sich, öffnete weit das Fenster – breitete weit die Arme in den strahlenden Tag, atmete diese prickelnde Luft, in der irgendein irritierendes Parfüm von Sonnenfeuer war, hätte am liebsten hinausgejubelt in den Morgen: in zwei Stunden sah sie den Fremden wieder. –

Angekleidet, gefrühstückt, ein bißchen noch am Fenster in der Sonne gesessen, geträumt! Ein seltsames Erlebnis, das dieser letzten Nacht . . . in Kurland hätten alle Verwandten 73 die Hände gerungen, Tante Angélique hätte Pa zu strengen Gegenmaßnahmen gegen die mißratene Tochter, zum Zurückholen aus dem verruchten München, zur Zwangserziehung im »Rauhen Hause« in Hamburg geraten . . .

Sie lachte. Pa rang nicht die Hände und war nicht für Rauhes Haus. »Du wirst schon richtig steuern«, hatte Pa gesagt, als sie vor mehr als einem Jahre, nach der Befreiung Kurlands, zum Klavierstudium nach München übergesiedelt war, Pa wußte schon, was er sagte. Sie seufzte. Pa saß daheim in Kurland, und in Kurland ging's seit dem deutschen Zusammenbruch wohl nicht mehr gut . . . immerhin wollte sie Pa von dem gestrigen Erlebnis schreiben . . .

Noch heute früh, noch aus dem übervollen Herzen heraus und aus dem frischen Erleben! Sie begann zu schreiben, erinnerte sich jetzt erst daran, daß sie von jenem Unbekannten nicht einmal den Namen wußte, daß sie eigentlich von einem Phantom erzählte und dem alten Manne in Kurland zumutete, mit ihr sich zu begeistern für ein Gebilde aus Luft. Einerlei . . . ein Mann wie Pa konnte auch das verstehn, und in dieser Erkenntnis begann sie von neuem, füllte Seite auf Seite und wurde dann, schon im Schlusse, unterbrochen. Schicksal war gekommen. –

74 Die palastartigen Gebäude am oberen Ende der Münchner Leopoldstraße sind allesamt in der Zeit der Jahrhundertwende gebaut und weisen in ihren Einrichtungen wunderliche Belege für das auf, was man damals für raffinierten Komfort hielt. Das Haus Nr. 388, in dessen drittem Stockwerk sich die Pension »Positano« befand, besitzt noch heute ein mit einer Pfeife versehenes Sprachrohr, das von den Sammelbriefkästen des unteren Korridors hinaufführt in die einzelnen Etagen . . . der Briefträger, der auf diese Weise sich das Treppensteigen erspart, pfeift einmal für das erste Stockwerk, zweimal für Geheimrats, zwei Treppen hoch, dreimal für die Pension »Positano« und viermal, auf Grund eines durch Trinkgeld gesicherten Sonderabkommens, wenn er Post für die dort oben wohnende baltische Baronesse hat. Sie fuhr, in den Schlußsätzen schon, auf. Drei Pfiffe. Dann aber, gleich als habe der Mann sich noch besonnen, ein vierter Extrapfiff, der so ganz eigentümlich aufrüttelnd und beinahe schicksalshaft klang. Da sprang sie auf, raste die Treppen hinunter, las noch unten im Korridor. Und als sie dann mit ihrer Lektüre ihr Zimmer wieder betrat, da war es freilich zu Ende mit all den Herrlichkeiten dieses Morgens. 75 Niederschmetternde Nachricht aus Kurland, aus der Heimat. Da saß sie auf ihrem mit dem Reiseplaid zugedeckten Koffer und hielt den Brief und starrte ins Zimmer. –

Man muß das alles wohl verstehn. Seit an einem Maienmorgen neunzehnhundertfünfzehn die Lanzenfähnchen der Pasewalker Kürassiere zum ersten Male geflattert hatten in der alten Heimat, waren die Russen fort, war der große Druck von den Seelen genommen, hatte das Aufatmen begonnen. Gewiß, da war im November der große Zusammenbruch gekommen. Pa hatte ernste Briefe geschrieben, man hatte böse Gerüchte gehört . . .

Man hatte wohl den Kopf ein wenig in den Sand gesteckt, man hatte nicht hören wollen, man hatte gedacht, daß die Deutschen ja schließlich noch immer in der Heimat seien . . .

Nun aber waren sie nicht mehr da. Tante Addy schrieb es von Königsberg. Tante Addy war sonst eine larmoyante alte Jungfer, die stark übertrieb . . . Tante Addy übertrieb dieses Mal durchaus nicht, der Brief war ernst und sachlich tief niederschmetternd: seit einer Woche waren die Bolschewiken im Baltikum. Seit einer Woche überfluteten sie das Land, seit einer 76 Woche war der Himmel rot vom Brande der Edelsitze. Tante Addy war geflüchtet aus Mitau mit einem armseligen Köfferchen in der Hand, Tante Addy hatte über Marias Elternhaus nur indirekt gehört, von einer alten Frau von Kleist, die ebenfalls im letzten Augenblick sich nach Königsberg gerettet hatte. Schloß Prekalns war noch unversehrt gewesen, der »Prekalnsche« aber (und das war nach kurischem Sprachgebrauch Pa!) war gesehen worden unter den Verhafteten, die die Roten ins Kreisgefängnis der Kleinstadt geholt hatten. Da stand es, wollte nicht verblassen, war keine Luftspiegelung, sondern harte Wirklichkeit, die nun von ihr Verzicht, Opfer, Sichlosreißen und Sichbewehren verlangte. Sie stand auf und begann zu packen.

Eine halbe Stunde hantierte sie mit ihren Habseligkeiten, ohne viel nachzudenken, und die Frage, ob sie Pa noch erreichen und ob sie durch die Front kommen konnte, sie kam erst, als sie fertig war. Sie sah nach der Uhr und stellte fest, daß in zehn Minuten jener Unbekannte sie an dem verabredeten Orte erwartete, sie dachte daran, daß der bloße Versuch, Prekalns zu erreichen, ein Wahnsinn war, daß sie Pa ja doch nicht helfen könnte, daß nach menschlichem Ermessen alles ganz nutzlos blieb . . .

77 Ganz nutzlos, kleine Maria, sehr richtig. Wenn man aber diesen aussichtslosen Versuch nicht unternahm und in dieser Stunde sich nicht bewährte, dann konnte es leicht dahin kommen, daß es hinterdrein quälte ein langes, langes Leben hindurch – ach gewiß, so viel wußte auch sie schon vom Schicksal und dem großen Spiel von Schuld und Buße! Sie seufzte und setzte sich wieder und barg ein Weilchen in den beiden Händen das Gesicht. Dann stand sie auf und ging ans Telephon und bestellte das Taxi. Fünf Minuten später fuhr sie dem Hauptbahnhof zu.

Unterwegs hatte sie vergeblich versucht, hinüberzuschauen nach der Feldherrnhalle – ein Trambahnzug hatte den Ausblick versperrt, unsäglich weh tat es, dort den zu wissen, der dort auf sie wartete, unsäglich weh tat das Schicksal, unsäglich weh auch der Abschied von der schönen, fröhlichen Stadt: ach, ein verrußter Bahnhof, aufgeregte, vergrämte und verbitterte Menschen, ein kalter, vernachlässigter Zug. Bei Schleißheim fuhr man hinein in einen gewaltigen Nebel, der dort über den Hochmooren stand. Da war von München und all seiner Sonnenherrlichkeit nur noch ein heller Schimmer übrig, der 78 blasser und blasser wurde und allmählich verschwand. –

Königsberg, die düstere Stadt, war voller baltischer Flüchtlinge und voll baltischer Not, es gab dort alte Latifundienbesitzer, die vor zehn Tagen noch sieben Vollbluthengste im Stall und einen französischen Koch gehabt und nun nicht mehr das Geld für die nächsten drei Wochen in der Tasche hatten. Es gab verwöhnte, mimosenhaft zarte Frauen, die verzweifelt ihren verschollenen Mann suchten, es gab andere, die mit drei kleinen Kindern in einer eisigen Dachkammer auf dem Koffer saßen und ratlos ins Leere starrten. Es gab viel Elend, es gab mancherlei würdige Haltung, es gab entsetzliche Nachrichten: der eine war verschleppt, der andere erschossen, Schloß Poddern war ein Aschenhaufen, in Fellin waren unausdenkliche Greueltaten verübt, und von dem Schicksal der unglücklichen Verschleppten sprach man lieber nicht. Sie hörte es, dachte an Pa, schickte den Gedanken weit fort und beschloß, taub zu sein gegen alle Greuelmeldungen: wer zu viel hinhorchte, wurde verstrickt in seine Furcht und konnte nicht handeln. Sie suchte Tante Addy auf. –

79 In einem elenden Zimmer der Hinteren Vorstadt saß die einst so verwöhnte alte Dame, kochte über einem jämmerlichen alten Spirituskocher aus rätselhaften Bestandteilen eine Suppe, und in keiner Weise war es Tante Addy mehr anzumerken, daß sie noch vor wenigen Tagen der Schrecken ihrer Zofe gewesen war und daß es in ihrem Hause eine Palastrevolution gab, wenn die Köchin russische statt der diskreter schmeckenden Messinazitronen verwendete. Tante Addy war in wenigen Tagen ein einfacher, stiller und besinnlicher Mensch geworden. »Gewiß, mein Kind, die Bolschewiken sind bereits in Doblen, du wirst Mühe haben, nach Hause zu kommen, du fährst mitten hinein in den Wolfsrachen . . .

Aber fahre du nur, mein Kind, vielleicht hat alles keinen Sinn, vielleicht kommst du um, aber man soll auf keinen Fall etwas versäumen, man wirft sich's sonst ein ganzes langes Leben vor!« So sprach Tante Addy. Mehr als das, was in ihrem Briefe gestanden, wußte sie auch nicht, jene Frau von Kleist, die den »Prekalnschen« als Häftling der Roten gesehn hatte, war zu irgendwelchen pommerschen Verwandten weitergereist. Maria ging. Königsberg verließ sie am 80 neunten Januar in der Richtung auf Memel. Das Martyrium begann. –

Ungeheizt war der Zug, zerbrochen die Scheiben, die Polster zerschnitten und verlaust, die Bahnstrecken verstopft mit Truppentransporten und baltischen Flüchtlingen . . . auf allen diesen Gesichtern lag noch ein Widerschein des erlebten Grauens, sie selbst sah manchen Bekannten und erntete auf ihre Fragen doch nur verstörte und wirre Antworten und gab es schließlich auf, kam nach dreitägiger Fahrt in Polangen an.

Ob noch ein Zug für Zivilreisende nach Norden, nach Kurland abgelassen würde, wußte in dem kleinen Grenzort niemand zu sagen, der Bahnvorsteher zuckte die Achseln. Vollgestopft bis unters Dach waren die Gasthöfe, frierend und rastlos irrte sie über den vereisten Bahnsteig, fand schließlich einen freundlichen, alten Landwehrhauptmann, der hier als Ortskommandant fungierte und sie anhörte und ihr schließlich eine Fahrgelegenheit besorgte. Schlitten und Pferde bis Kendern, von dort an war die Fahrgelegenheit und die Lage ungewiß – Doblen war schon von den Bolschewiken besetzt. Am gleichen Abend noch stand für sie das Fuhrwerk bereit 81 und der alte Herr begleitete sie noch bis zur Grenze . . .

»Wollen Sie nicht doch noch lieber umkehren?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Wissen Sie eigentlich, daß Sie vielleicht in den Tod hineinfahren?«

»Ja.«

Da verabschiedete er sich mit einem stummen Händedruck. Hinter ihr fuhr klirrend die Kette des Grenzbaums in die Höhe. Das Abenteuer begann. –

Die Oede begann, die Polarwüste begann, die großen, verschneiten Wälder nahmen sie auf, das litauische Bäuerlein konnte kein Wort Deutsch, unsäglich trostlos war es, so verlassen zu sein und ohne menschliche Ansprache. In gleichmäßigem schlanken Trabe fuhren sie Stunde um Stunde, wechselten in einem jämmerlichen Judendorf die Pferde, fuhren noch bis zur Dämmerung und hielten schließlich vor einem armseligen Krug. Es roch nach Kornbranntwein, nach Petroleum und Bonbons, die Wände mit den fliegenkotigen Plakaten von Libauer Sensenfabriken und Rigaer Brauereien trieften von Nässe. Gierige Blicke warf der lettisch sprechende Wirt auf ihre deutschen 82 Geldscheine, versprach auch, sofort zu heizen, rühmte die Güte seines großen Eisenofens, begann mit Holz und Torf zu rumoren, riß, als der Ofen furchtbar zu rauchen anfing, die Fenster auf und befühlte die eiskalt gebliebenen Ofenwände und sagte kopfschüttelnd in seinem Lettisch-Deutsch: »Sonst, wenn die fremden Herrschaften gegen ihn spuckten, so zischte es.« Sie lachte. Das war also nun schon die Heimat, und daß man bisher von Dorfkrügen und angespuckten Eisenöfen getrennt gewesen war durch Schloßmauern und durch einen Stab von Dienstboten, die Anning, Greeting und Gusting zu heißen pflegten und verwöhnten kleinen deutschen Baronessen die Hand küßten – das stand ja nun wohl auf einem andern Brett! Sie starrte zum Fenster hinaus auf die Schneewüste, wurde plötzlich wieder befallen von ihrem jungen Schmerz. Vor acht Tagen hatte man Leberblümchen gepflückt im Englischen Garten und die weiche Föhnluft der schönen Stadt dort unten geatmet . . . vor fünf Tagen war aus unbekanntem Winkel das Leben gekommen mit lockendem Ruf: vorbei, verloren . . . verloren vielleicht für immer! Das Bett mit dem übelriechenden Strohsack und der zweifelhaften Wäsche verschmähte sie lieber, packte ihren bescheidenen 83 Mundvorrat aus und aß und setzte sich auf ihren kleinen Koffer und verbrachte jämmerlich frierend diese Nacht.

Und wieder ein Tag in pfeilschneller eisiger Fahrt. Pferdewechsel, fliehende Bauern, Hausgerät, das samt dem umgestürzten Schlitten im Schnee lag. Und eine neue Nacht in einem noch elenderen Krug und am Himmel ein gespenstischer Feuerschein und im Herzen diese klägliche Hilflosigkeit und dieses jammervolle Verlangen nach dem Schutz starker Arme und nach jener fürsorglichen Zartheit, die sie umgeben hatte in jener Nacht mit ihrem Gange durch den Schnee. Und noch immer, wenn sie die Augen schloß, glaubte sie sein Gesicht zu sehn und dann wieder verwehte das alles und sie stand vor dieser Eiswüste und weit zurückzuweichen schien das liebe Leben . . .

Am dritten Tage aber endete schon gegen Mittag die Fahrt am Rande eines gewaltigen Waldes bei einem Buschwächterhause – deutsche Soldaten hatten ein Maschinengewehr eingebaut und spähten hinüber nach der kleinen Stadt Doblen, die jenseits der großen Ebene in der Wintersonne lag. Als sie den Fuhrmann entlohnen wollte, bemerkte sie, daß ihre Brieftasche fehlte. Als sie dem Fuhrmann ihre ganze

84 in der Börse getragene Barschaft in die Hand schüttete und der Mann unflätig zu fluchen begann, fuhren die Soldaten dazwischen und scheuchten ihn fort, luden sie auch ein, sich ein wenig zu erwärmen. In der Hütte glühte der kleine Kanonenofen, durchs Fenster steckte das Maschinengewehr seinen Hals – der harte Dialekt, den die Leute sprachen, erinnerte sie seltsam an die Stimme jenes Unbekannten: ja, so war auch jene Stimme gewesen . . . so beruhigend, so voll männlicher Zuversicht . . . ach so, daß man sich beschützt fühlte, wofern man nur diese Stimme hörte . . .

Vorbei, verronnen, verweht.

Und nun hatte man vor sich noch das Allerschwerste und nun kam die letzte Entscheidung, und schweigend nahm sie ihr Köfferchen auf und wollte gehn. »Wohin denn, Fräulein?« Und als sie mit dem Kopf nach der Stadt hinüberwies, da lachten sie laut und meinten, daß sie ebensogut auch gleich hier Selbstmord verüben könnte, zeigten ihr die dicke Rauchwolke rechts und meinten, »dort sei Sodom, Gomorrha und die Roten«, wollten sie keineswegs ziehn lassen, und rieten ihr dringend, zu warten, bis morgen Verstärkung eingetroffen und Doblen vielleicht wieder in deutschem Besitz sei . . .

85 Sie hörte es, zuckte traurig die Achseln. Vielleicht . . . vielleicht auch nicht . . . vielleicht kam Doblen nie mehr in deutschen Besitz, vielleicht wurde man, dicht vor dem Ziel, zurückgeschwemmt vom Rückzug. »Ich werde gehn«, sagte sie, hatte nun doch eine Träne im Auge. Schweigend ließ man sie ziehn. –

Drei Fuß tief war der Schnee, zur Plackerei ward jeder Schritt, und nach zwei Kilometern, für die sie eine volle Stunde verbrauchte, war sie schweißgebadet und erschöpft. Da also setzte sie sich nieder, hielt Umschau. Hinter ihr der Wald mit den deutschen Vorposten und dem Buschwächterhaus war nun nur noch ein niederer schwarzer Strich, vor ihr die Stadt, die wuchs nun immer höher und höher mit Hundegebell und Geschrei und vereinzelten Schüssen und verwehter Blasmusik. In der Mitte aber, in der Einsamkeit des gewaltigen Schneefeldes, da war sie allein . . . ganz allein im Niemandslande zwischen Leben und Tod. Sie dachte es und schauderte. Weswegen schrien über ihr diese aufgeregten Krähen . . . weswegen schien die liebe alte Sonne, die vor einer Woche noch so warm geleuchtet hatte über der Ludwigstraße, nun so fahl und blaß durch den Dunst wie ein gespenstisches Totenlicht?

86 Ach ja, dies war nun die große Verlassenheit und die große Angst . . . es war die große Versuchung, umzukehren und den Weg rückwärts zu gehn ins Leben und ins bunte Abenteuer. Da also stand sie, ein winziger schwarzer Punkt in der weißen Oede, hielt vor die geblendeten Augen die Hand und schaute. Rechts also war die kleine Stadt und in ihr der Tod, links aber hinter der sanften Bodenwelle stand zwischen rötlichen Buchenwipfeln ein dunkles Walmdach, und das Dach war das des Schlosses Prekalns und auf den großen Dachböden dort hatte man als Kind Versteck gespielt und alte Spielsachen neu entdeckt und staunend vor altem abgestellten Gerümpel aus Urväterzeiten gestanden. »Komm also«, sagte das Dach, »bist doch hier geboren«. »Komm her«, sagte das Dach, »haben doch so viele deines Blutes unter meinem Schutz den Tod geschmeckt . . .«

»Komm her«, sagte das Dach, »und wisse, daß man sich ein Leblang verachtet, wenn man seine große Prüfung nicht besteht . . . komm her zu mir und bewähre dich in Gottes Namen und stirb, wenn es so sein muß, in meinem Schutz.«

So sprach das Dach. Es mußte wohl sein. Da ging sie weiter. Mehr als drei Uhr war es, als sie das Weichbild der Stadt erreichte. –

87 Jetzt erst konnte sie die Postenkette sehn, die dort hielt. Und siehe, aus der Kette löste sich ein Reiter, stob im Galopp heran, hielt auf hundert Meter, und ein Schuß peitschte den Schnee. Da blieb sie stehn, und auf seinem zottigen Pferdchen kam der Reiter im Schritt heran, war ein kleiner Tatar mit runden, gleichsam erstaunten Augen im bartlosen Gesicht . . . hielt, saß ab, kam zu ihr. »Rukij wjek!« Das hieß »Hände hoch«, und sie hob gehorsam die Arme, ließ die Durchsuchung auf Waffen geduldig über sich ergehn, öffnete auch bereitwillig den kleinen Koffer mit ihren Habseligkeiten und sah zu, wie er mit der Neugier eines frisch aus dem Urwald gekommenen Wilden Stück für Stück hochhob und begaffte und bewunderte und in den Schnee fallen ließ und dann, gleichsam erschrocken über die angerichtete Unordnung, alles wieder einpackte mit seinen ungeschickten Händen und ihr den Koffer zurückreichte mit entschuldigendem Grinsen. Und langsam wieder davontrottete auf seinem zottigen Pferdchen. –

Und so wäre das erste überstanden, und ohne recht zu wissen, ob sie lachen oder sich fürchten soll, überschreitet sie auf dem wohlbekannten Laufsteg den Bach und betritt die enge Gasse, die zum Markt hinaufführt. Hier 88 aber ist sie gleichsam zu Hause, kennt Häuser und Menschen und Hunde sogar, sieht, wie man sie bemerkt und erkennt und wie sich Fenster öffnen und wie es rechts und links die Köpfe zusammensteckt, sieht Bekannte die Gasse herabkommen . . . Handwerker, die auf Schloß Prekalns aus und ein gingen und sie kennen und sonst von weitem den Hut ziehn . . .

Und heute durch sie hindurchsehn, als sei sie ein Geist. Und vor ihr senkrecht abbiegen und auf die andere Straßenseite gehn und sich nach ihr umdrehn und hinter ihr hertuscheln . . .

So ist das. Am Ausgang der Gasse versperrt ein Haufe halbwüchsiger Lümmel den Weg, grinst sie an, will nicht Raum geben. Jawohl, so ist das nun hier über Nacht gekommen . . . Moskau hat die Knechte losgebunden von der Kette, der Deutsche, Herr im Lande seit sieben Jahrhunderten, ward über Nacht zum Freiwild . . . steife nur den Nacken, kleine Maria, sie fallen erst recht über dich her, wenn du unsicher wirst . . .

Das fühlt sie. Das Weiberherz klopft angstvoll, fort ist wieder alle Zuversicht. Immerhin geht sie, geht mitten hindurch, sieht wie sie plötzlich Raum geben und sich zur Seite drücken, hört hinter sich eine armdicke lettische Zote und 89 rohes Gelächter, atmet auf und erreicht den Markt. –

Da steht sie vor den lieben alten Häusern, kennt hier doch jeden Stein und jede Bank . . . dort drüben wohnt der Uhrmacher mit dem komischen Sprachfehler, dort der Apotheker, der in seinen Mußestunden Astronomie treibt und Seidenraupen züchtet . . . drüben ist die Kirche mit dem komischen und ein wenig unanständigen Christophorusbilde aus katholischer Zeit: alles vertraut, alles wohlbekannt, alles tausendmal gestreichelt mit dem Blick . . . hilf Gott, was ist denn über Nacht aus dem lieben alten Nest geworden?

Der weite Platz ist leer, hüben gaffen ein paar Bäuerlein und aus den Fenstern hinter Gardinen ein paar verängstigte Gesichter. Drüben aber vor dem Pastorat lärmt ein Menschenschwarm, Reiter halten dort, Gelächter johlt, man zerrt aus dem Hause einen Menschen, der unter Mißhandlungen verschwindet in der grölenden Menge: die Umstehenden sagen, daß sie den Pastor geholt hätten . . .

Der Pastor amtiert erst seit dem letzten Herbst, der Pastor ist ein Lette, sie kennt den Pastor nicht. Sie hört nur das rohe Gebrüll, sieht den Haufen abziehn nach der Straße, in der 90 das Gerichtsgefängnis liegt, denkt plötzlich an das, was jene Frau von Kleist berichtet hat über die Verschleppung von Pa, denkt daran, daß man nun fragen, Bekannte aufsuchen, nachforschen müßte . . .

Will die Straße überqueren und ins Doctorat hinübergehn, nähert sich so der Kirche und wird Zeuge eines neuen Schreckens. Jetzt nämlich, wo das Gejohl der Menge in der Mitauer Straße verhallt, hört sie plötzlich von der Kirche her Orgelgedröhn, weiß nicht, was es soll in dieser verwüsteten und wahnsinnig gewordenen Stadt, lauscht, glaubt dort drinnen noch etwas anderes zu hören als fromme Choräle, stutzt . . .

Bleibt stehen und hört hinter sich einen Schritt und rohes Gelächter und wird plötzlich festgehalten . . .

Eine Hand hält sie, eine andere Hand schiebt ihr den Hut aus der Stirn, Fuselatem bläst sie an, eine widerwärtige Mannesfratze, fischköpfig und übersät mit Hautunreinlichkeiten, glotzt ihr ins Gesicht, eine besoffene Stimme brüllt . . .

»Labdjen«Labdjen . . . lettischer Gruß., brüllt die Stimme, »guten Tag . . .« Da fühlt sie Ekel und kaltschweißiges 91 Entsetzen und reißt sich los mit verzweifeltem Ruck und entkommt . . .

Und läuft wie bei der Treibjagd ein aufgescheuchter Hase aufs Geratewohl in die Libausche Straße hinein und prallt gegen fremde und seltsam vermummte Menschen und läuft und läuft und hört es hinter sich rufen . . .

»Hei, die Barone laufen«, schreit es hinter ihr her in rostigem Lettisch, und sie ihrerseits hört es kaum und sieht, daß sie sich verlaufen hat in der kleinen Sackgasse beim Spital, biegt in ihrer Angst in den nächsten Hofgang ein, klettert über eine Schlittendeichsel, zwängt sich durch die Lücke eines Bretterzaunes und durchläuft mit zerfetzten Kleidern einen winterlichen Garten und passiert eine kleine Lattenpforte und steht endlich im Freien auf der großen Chaussee, auf der man Prekalns erreicht. Hier erst macht sie halt. –

Sie steht und schöpft Atem. Und nun ist schon die Dämmerung da, und jämmerlich abnehmender Mond geht auf, und in weiter Ferne heult ein Hund, und wieder sieht sie sich verlassen in der ungeheueren Leere. Und siehe, unversehrt liegt in der Ferne die dunkle ungefüge Masse des väterlichen Hauses, und am gelben Abendhimmel kreisen die lustigen 92 Nußhäher, die in der Tanne vor ihrem Fenster horsten, und ein letzter Lichtstrahl liegt über dem Dachfirst und alles ist lieb und vertraut, wie sonst . . .

Und ist doch wieder anders und fremd. Weswegen steigt dort kein Rauch auf, weswegen bellt kein Hund, weswegen brennt dort drüben kein Licht, wo Pa doch immer alle Lampen andrehte auf seiner Wohnseite? Sie stutzt, fühlt wieder die Angst kommen, läuft hier, wo zwischen Weidengestrüpp und Rohr der Park sich verliert im freien Felde, den gewundenen Fußweg entlang, scheucht frierende Schneehühner auf, erschrickt tödlich vor dem pfeifenden Ton . . . läuft weiter und kommt so in die Nähe des Friedhofes . . .

Der aber lag hier nach alter Weise an der Peripherie des Parkes im lichten Gehölz, Amseln sangen hier im Frühling den Toten ihr Lied vor von der Süßigkeit des Lebens, alle Dostheims hatten sich hier zur Ruhe begeben seit undenklichen Zeiten, die früh verstorbene Mutter schlief hier, und Sonntag für Sonntag hatte sie mit Pa die Tote besucht . . . weswegen also faßt sie heute so tödliche Angst an? Und plötzlich durchzuckt von einem und beinahe schmerzhaften Schreck bleibt sie stehen, sieht im 93 ersten Mondstrahl Metall blitzen zwischen den Stämmen, hört das rhythmische Knirschen eines Spatens, denkt den furchtbaren Gedanken, daß man die Grabesruhe der Toten störe, schleicht sich näher und sieht eine einzelne gebückte Frau, die hier gräbt: Tiling, die alte lettische Kinderfrau . . . Tiling, hochbetagt und hochgeehrt im ganzen Hause . . . Tiling, das erste vertraute Gesicht seit so viel Tagen. Und siehe, nun ist es ein rasches gegenseitiges Erkennen zwischen Herrin und Dienerin, und, wie zwischen Mutter und Kind, Umarmung und Kuß . . .

»Tiling, altes liebes Tiling.«

»Fräulein, ach Fräulein . . . ach, wären Sie doch nicht gekommen.«

»Tiling, was um Gottes willen ist denn geschehen?«

Da zeigt die Alte nur stumm auf die Erde, und auf der Erde, plump geformt aus gefrorenen Schollen erhebt sich ein neuer Grabhügel . . .

»Es ist doch nicht Pa?«

Da nickt die Alte, und da weiß sie es, und so ist es denn da. Und da ist es, das große Entsetzen und jener unerwartete tödliche Schmerz, der wie ein Geier vom Himmel in die Menschenherzen niederstößt . . . da ist sie im Augenblick 94 fort, die alte heilige Grenze zwischen Herr und Knecht, und da ist Alt-Tiling nur die andere Frau und die alte Mutter, an deren Busen man weinen und weinen kann, bis die erste Ermattung kommt und der Wille, den Dingen ins Gesicht zu sehen . . .

»Tiling, ich will ins Haus.«

»Fräulein müssen fort.«

»Ich will ins Haus.«

Da gehen sie, kommen zur verschneiten Freitreppe, stehen vor der alten lieben Tür . . .

»Sag mir jetzt, wie es kam?«

Da war es denn so gekommen mit Pa, wie in jenen Tagen auf manchem baltischen Edelsitz. Die Roten waren in die Stadt gekommen, die andern waren geflohen, der Herr hatte die Achseln gezuckt und hatte gesagt, daß er keine Feinde habe, und war geblieben . . .

Die Roten waren vorgestern trotzdem gekommen und hatten den Herrn geholt, der Herr hatte gerade seine Patience gelegt und hatte gelächelt und gesagt, man solle sie nur hineinlassen. Da hatten sie ihn verschleppt . . .

»In die Stadt?«

Ja, gewiß, in die Stadt, ins Gefängnis . . .

»Hat er zu leiden gehabt?«

95 Ach nein, gewiß nicht, Michel Sarring aus der Holzsäge war dabei gewesen, der Herr hatte gesagt, daß an solch alten Kerlen nicht viel läge, und hatte sich ruhig zum Tode führen lassen. Der Herr hat einen leichten Tod gehabt, heute früh hatte der Sarring die Leiche heimlich gebracht . . .

Die Alte hält inne, horcht auf die verworrenen Geräusche der Stadt . . .

»Hat man Fräulein erkannt in Doblen?«

»Ja.«

»Dann müssen Fräulein fort.«

»Ich will ins Haus.«

Da bettelt die Alte. »Den Doktor haben sie erschossen, den Baron . . . Angeberei und Verrat sind in der Stadt, wenn man das Fräulein erkannt hat, kommen sie bestimmt, wenn Fräulein andere Kleider anzieht, kann man unerkannt von hinten entkommen, vielleicht zum Bersing-Gesinde, vielleicht zu Alt-Tilings Bruder, vielleicht . . .«

Ein einzelner Schuß knallt in der Ferne, dann noch einer, dann sind verworrene Stimmen zu hören . . . Weiberlachen, Pferdegewieher . . .

»Fräulein darf nicht hierbleiben.«

»Nur noch einmal durchs Haus gehen, Tiling.«

96 Und die Alte schließt endlich auf, reibt im Flur ein Zündholz an. »Fräulein muß hier warten, ich bringe Kleider, niemand wird Fräulein erkennen.« Sie schlurft durch die dunkle Diele davon, läßt ihre Herrin allein . . . da steht man also frierend und hungrig und müde und verwaist, atmet den vertrauten Duft des Hauses, soll fort von hier, ins Leere, in die Winternacht zurück, ins Elend. Und siehe, fast schmerzhaft überkommt sie das Verlangen, noch einmal durch die Zimmer zu gehen und Abschied zu nehmen, sie tastet sich nach links, findet die Tür zum großen Gartensaal, dreht Licht an. Zwei Kronleuchter flammen auf, der weite Raum, nach Wärme, Leben und festlichen Menschen verlangend, liegt öde und eiskalt . . . plötzlich fühlt sie Beklemmung und Grauen und sie vergißt das Licht zu löschen und geht zur andern, von Pa bewohnten Seite, dreht auch hier den Schalter . . .

Das erste, was sie bemerkt, ist ihr eigenes lebensgroßes Porträt, Pa hat's malen lassen, ehe sie nach München ging, und nun hängt es hier im Arbeitszimmer, und sie selbst kommt sich entgegen, den Gartenhut am Arm, fröhlich, unbekümmert, in all der Sorglosigkeit des letzten Sommers . . .

97 Vorüber, Vergangenheit, schmerzliche Erinnerung . . .

Und um sich schauend, sieht sie das Licht spielen auf dem blanken Rotholz der Möbel, sieht neben der Stichsammlung auf dem Tisch Pas Lupe, die aufgelegte Patience, die nicht mehr beendet werden konnte . . .

Sieht es, und beginnt bitterlich zu weinen. Und plötzlich hört sie es knacken in den alten Hölzern ringsum, fühlt, daß der Raum, der sonst voller Leben und Wärme war, erstorben und erkaltet ist, bemerkt plötzlich das, was jeder sieht, der eines eben Verstorbenen Zimmer betritt: hilflos stehen die lieben alten Möbel . . . wissen, daß sie nun bald in alle Winde verstreut werden sollen, bitten flehentlich um Erbarmen . . .

Und sie trocknet die Tränen, nimmt als einzigen ihr verbleibenden Besitz das Kartenspiel, tritt auch noch einmal an die zum Garten führende Tür, durch deren bunte Glasscheiben man als Kind die Welt bestaunte in wunderlichem Farbenspiel . . .

Will hinausschauen, zuckt zusammen, glaubt draußen in der Winternacht Stimmen zu hören . . . bemerkt hinter sich die zitternde Alte mit ihrem Kleiderbündel . . .

98 »Fräulein . . . hinten durch die Küche . . . sie kommen schon durch den Garten . . . Fräulein haben ja das Licht brennen lassen . . . nun kommen sie . . . mein Gott, mein Gottchen . . .«

Und die Alte läßt ihr Bündel fallen, läuft in die Halle, schiebt den Riegel vor die Tür, löscht das Licht. Draußen schnauben Pferde, Schlitten sind vorgefahren, voller Menschen ist das Rondell, auf Gewehrläufen spiegelt sich der Mond, Schritte knirschen auf dem Schnee, durch die Winternacht ist der Tod gekommen.

»Fräulein, liebes . . . wenn ich doch so bitte.« Sie hört nicht mehr auf die Alte, sie steht am Fenster. Draußen steht das Unabänderliche, das Schicksal, der Tod. Mit dem Schicksal aber ist noch etwas anderes zu ihr gekommen. Ergebung und Hingabe zuerst und dann ein trotziger und eisiger Wille. Man ist im Hause nun der Letzte, aber man läuft nicht wie ein ertappter Dieb aus einem festen Hause . . . man ist nur ein schwacher Mensch mit Todesangst und Grabesfurcht, aber man schleicht deswegen sich nicht fort vor den Knechten über die Hintertreppe . . .

Sie geht zum Schalter und dreht wieder das Licht an, macht sich los von der Alten, die nun ihre Knie umfaßt . . .

»Steh' auf Tiling.«

99 Das klingt nun beinahe hart, es ist der alte strenge Herrenton. Und Alt-Tiling erhebt sich weinend, und draußen poltern sie schon gegen die Tür und nur dies eine bleibt hier noch zu tun, daß man nicht auf die Knie kommt vor den Knechten . . .

»Geh hin und mache ihnen auf.«

»Ach, Erbarmen, Fräuleinchen . . .«

»Du gehst jetzt.«

Das zuckt wie eine Peitsche. Die Alte geht, der Riegel knirscht, die Tür springt auf, ins Haus gestapft kommt der Tod . . .

Der GesindewirtGesindewirt gleich Hofbauer. Oosoling, drei lettische Arbeiter aus der Dampfmühle, ein intellektueller Russe mit Lammfellmütze und Nickelkneifer, in seinem von Pa ihm im vorigen Jahr geschenkten Pelz der Gutskutscher Andre Geiling . . .

»Wärmt dich der Pelz, Geiling?« fragt Maria von Alt-Dostheim. Der Kerl brummelt etwas vor sich hin und kann ihr nicht in die Augen sehen, der Gesindewirt, der die Vorgeschichte dieses Pelzes kennen mag, grinst, der Russe hat's eilig, die Letten krakeelen . . .

»Vorwärts mit dir, auf den Schlitten.«

100 Alt-Tiling, fassungslos und tief erschüttert in ihrer engen festen Welt, bringt ihr den warmen Fahrpelz. »Baroneß werden sonst noch frieren«, und legt ihr wirklich den großen schweren Fahrpelz um und gibt damit dem Kutscher Geiling das Wort: »Hier gibt's keine Baronesse mehr, verstehst du . . . verkriech dich, alte Hure, oder du wirst schauen.«

So also stößt man sie hinaus. Aus Vaters Zimmer, aus Vaters Haus. Die stolze Haltung verläßt sie auch jetzt nicht: »Schließ das Haus gut ab, Tiling.« Dann geht sie die Treppe hinab und dreht sich nicht mehr um.

Hier aber ist es zu Ende mit ihrer Kraft und dem Widerstand ihrer Seele.

Weswegen war es so jämmerlich kurz, das bißchen Leben?

Weswegen ist so viel Roheit und Gier und Gemeinheit in Gottes Welt?

Weswegen ist alles nichts als Leid und Trennung und Not und Marter?

Sie weint nicht. Aber tief in den Händen birgt sie nun das Gesicht.

Hinten schnauben die Pferde der Berittenen, sie selbst sitzt eingeklemmt zwischen den 101 beiden flintenbewehrten Arbeitern. »Branz»Branz« (lettisch) gleich »vorwärts«., schreien die Letten, »fahrt zu, Genossen.«

»Wirst nicht lange zu frieren haben«, höhnt der Kutscher Geiling.

Ohne Schellengeläute saust durch die Frostnacht mit seiner Eskorte der Schlitten. Haus Prekalns, das sonst mit seinen Lichtern weithin leuchtete, ist nun nur noch ein dunkler toter Steinhaufen in der öden frostklirrenden Nacht. 102

 


 


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