Fritz Reck-Malleczewen
Ein Mannsbild namens Prack
Fritz Reck-Malleczewen

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Das Ganze war immerhin ein ziemlich verwegener Streich. Der Sachverhalt aber war der, daß sie, Rittmeister Arved v. Prack und der Oberleutnant Eberhard als Beobachter, am ersten November neunzehnhundertundachtzehn in Kärnten an der damals noch notdürftig haltenden Südfront in dem einsamen, von Tarvis gegen Nötsch sich hinziehenden Tal mit Ventilfederbruch notgelandet waren, in dem beginnenden Rückzug und all dem Durcheinander erst nach fünf Tagen Materialersatz bekommen und dann, während auf der Hauptstraße gegen Villach schon der Italiener vorfühlte, repariert, und von Jud und Christ und beinahe Liter für Liter sich das fehlende Benzin zusammengeschnorrt hatten . . .

Und nun, am zwölften November und mithin drei Tage nach geschlossenem 6 Waffenstillstand, hinter der neuen italienischen Front aufgestiegen waren und gemächlich nach Hause . . . will sagen nach München flogen. –

Die Benzinbeschaffung für diesen Heimflug war freilich das weitaus Schwierigste gewesen an diesem Wagnis. Tatsache ist, daß sie es sich, ihr einsames und vorerst unbesetztes Waldtal verlassend, als Holzknechte verkleidet, erbettelt und erschnorrt hatten. Von einem abseits liegen gebliebenen und nur ihnen bekannten österreichischen Depot, dessen Leute, verlumptes und flink in Zivil geschlüpftes Gesindel, nun mit den beiseite geschafften Kanistern einen Wucherhandel trieben. Von dem Sägereibesitzer Kraimöller in Nötsch, der sich in den Zeiten der gesicherten Südfront aus den Beständen der Fliegerstaffel einen kleinen Fundus zusammengespart hatte, endlich von dem Doktor Wendelin Saxinger, der in ihr Geheimnis und ihre Pläne eingeweiht war und, alter Innsbrucker Burschenschafter und großdeutscher Patriot, nun das seine tat, um ihnen aus der Klemme zu helfen. Heute aber, am zwölften November, war es so weit gewesen, und um sieben Uhr waren sie gestartet und flogen nordwärts, und surrten nun schon hoch über der Pustertalstraße, hoch über den talaufwärts sich schiebenden 7 italienischen Kolonnen: das Wagnis schien zu glücken. –

Zuerst hatten sie übrigens Feuer bekommen und im dämmrigen Talgrund blitzte es, und am hellen Herbsthimmel zeichneten sich scharf die Sprengpunkte der Flaks ab. Dann, als sie bei Spital östlich drehten, stand über dem Katsch und den Tauern dicker Nebel, und in ihm tauchten sie unter. Erbssuppe ringsum . . . Priesnitz allergrößten Maßstabes, dann und wann, wenn durch die Nebellücken ein einsamer Sonnenstrahl gefahren kam, sahen sie unter sich über den riesigen Projektionsschirm der Dampfmassen den Schatten der Maschine gleiten . . . verschwanden wieder in der unsäglichen Einsamkeit des Nebels. Hier, am Südwall der Tauern. Mit der Aussicht, den Großglockner in Grund und Boden zu rennen, auf dem Pasterzgletscher notzulanden und in einer seiner Spalten zu verschwinden und nach tausend Jahren als vereiste und wohlkonservierte Flieger des Weltkrieges wieder zutage zu kommen, ein Wunder für die wißbegierigen Augen der Professoren von Anno zweitausendneunhundert. Sie beschäftigten sich nicht allzuviel mit diesen Möglichkeiten . . . wer wird denn auch immer den Kommißgedanken an den ollen Gentleman Tod 8 denken . . . sie schraubten sich aufwärts und wußten, daß sie zunächst mal auf fünftausend klettern mußten, sie hatten Gott im Herzen und den Aneroid im Auge und dachten ihre eigenen Gedanken . . .

Eberhard, Trips genannt, dachte wohl zurück an die Mädchen des Kärntner Dorfes Pusarnitz, die mit ihren üppigen Formen alle wie die künftigen Ammen aussahen und mit ihren anilinfarbenen Kopftüchern sozusagen Löcher in die Landschaft brannten. Prack am Steuer . . . weiß Gott, woran dieses gewaltige Mannsbild dachte . . .

Vielleicht an das seit dem Russeneinfall in Trümmern liegende ostpreußische Gut Alt-Auzen. Vielleicht an die silbernen Kesselpauken der verschollenen Württemberg-Kürassiere und an das Reiten, das Anno neunzehnhundertfünfzehn zu Ende gegangen war, und nachher war man Flieger, oder, wie der letzte Friedenskommandeur sich auszudrücken beliebte: auch son oller Mechaniker geworden‹ . . .

Aus mit weißen Kollern und silbernen Kesselpauken . . . aus, Punkt, Schluß. Und nun war's wohl auch mit dem Fliegen für immer zu Ende, und in Deutschland (worunter man sich übrigens nicht allzuviel vorstellen konnte) Revolution. 9 Rechts über ihm flutete eine breite Lichtbahn, er riß die Maschine hoch und sah neben sich scharf gezackte Wolkenränder und unten plötzlich in voller Deutlichkeit die Tauernstraße, und durch das Toben des Motors brüllte er Trips etwas zu und zeigte abwärts . . .

Ameisengewimmel, dem geübten Auge in allen Einzelheiten gut erkennbar, kroch über die Straße . . . Fahrzeuge lagen in den Gräben, Fahrzeuge hatten sich verkeilt zu heillosen Klumpen, Menschen drängten vorwärts, weiter und möglichst rasch nach Nordosten, um den nachdrängenden Italienern zu entkommen . . . keine Truppe mehr, sondern eine Horde, eine Bande, ein Sauhaufen. Jawohl, so also sah das aus, was zu Hause wartete. Pracks Gesicht verfinsterte sich, er gab unnötig scharf Gas, steil aufwärts kletterte die Maschine. Und dann die Silhouette der Salzburger Festung und das blaßblaue Atlas des Chiemsees und die schweren Akkorde der Föhrenwälder und schließlich auch inmitten silbriger Häuser die Frauentürme und dahinter, eingebettet in schwarze Kiefernwälder, der Flugplatz. Sie atmeten auf. Schwer war ihnen nun wohl beiden das Herz – sie hatten's immerhin geschafft. Es war nur 10 kurz vor zwölf, als sie in Schleißheim die Maschine aufsetzten. –

Siehe, vier Leute kommen gemächlich über den Flugplatz geschlendert mit schweren Rucksäcken . . . sie haben sich untergefaßt und riechen wohl auch ein bißchen nach Fusel, und sie schwanken ein bißchen und haben wohl etwas Schlagseite. Aus ihren rauhen Männerkehlen schicken sie in Gottes hellen Mittag das altbekannte Lied vom Argonnerwald . . . sie grölen wohl mehr, als daß sie singen, sie überschreien sich und kommen aus einer Tonart in die andere, und alles in allem ist es eine greulige und zotige Katzenmusik und sie will nicht passen zu dem reingewaschenen Föhntag und zu den sauberen, weiß und grauen Möwen, die wie lebendiges Kopenhagener Porzellan durch den Sonnenschein segeln. –

Item, vier leicht angetrunkene Männer torkeln grölend durch den Tag – einmal waren sie vielleicht Soldaten, nun sind sie nur noch betrunkene Etappenstrolche, die vom Hamstern kommen und dabei gleich einen soliden Frühschoppen gemacht haben . . . Gesindel mit nagelneuen roten Armbinden und verlauster Luckilocke unter schief sitzenden Feldmützen. Nun aber huscht blitzschnell über das schwefelgelbe, 11 das vertrocknete Gras des Flugplatzes ein violetter Schatten, und es rauscht in den Lüften und senkt sich – vom Himmel hoch, da komm ich her – auf die weite, weite Auslauffläche und setzt auf und rumpelt über die Grasnarbe und läuft mit taumelndem Propeller auf die vier zu. Und macht noch eine leichte Kurve und hält, und dann – ja, kommen denn die vom Monde herunter? – dann klettern da heraus zwei Gestalten, die in die Münchener Revolution so gut hineinpassen, wie die Sau ins Judenhaus. Offiziere mit blitzenden Achselstücken . . . der Kleinere trägt ein Monokel, dem andern, dem Aelteren, baumelt, als er den Pelz öffnet, ein blauer Orden am Hals, und jetzt . . . Jetzt geschieht das Allertollste: die beiden nämlich tun die Sturzhelme ab und vertauschen sie mit weichen, tief ins Genick und nicht ganz gerade gesetzten Feldmützen. Weißen Mützen. Kürassiermützen. Alles das sozusagen vor den Augen der Revolution und der roten Mannschaft des knallroten Flugplatzes Schleißheim. Und nun ist ja wohl der Deuwel los . . .

Das weitere aber vollzieht sich sehr, sehr schnell. Die vier also kommen über's Blachfeld gelaufen . . . sie wollen wohl helfen, denken die zwei weißbemützten Männer vom Monde. Die 12 vier wollen aber keineswegs helfen, sie haben ganz andere Absichten. Sie röhren vor Wut wie Elche in der Brunst, sie tasten nach der bayerischen Nationalwaffe, die da griffestes Messer heißt und in der Tasche hinten auf dem Popo sitzt . . . einer ist den andern dreien weit voraus und stürzt sich sofort auf den Kleineren von den beiden Fliegern. ›Achselstücke herunter‹, brüllt der Mann . . . ritsch, hat er Trips das linke Achselstück abgerissen, ratsch (das war nicht klug, kleiner Trips!), hat er Tripsens Reitpeitschenhieb im Gesicht . . . bumms, liegt Trips am Boden. Mit dem Messer, das in der linken Schulter sitzt. Mit einem Blutfleck, der sich gierig, Tintenklecks im Löschpapier, ins Grau des Waffenrockes frißt. Mit einem Gesicht, das rasch wächsern wird. Dann aber macht sich das Eingreifen der Division Prack bemerkbar. –

Man könnte ja auch an die Pistole denken – aber wer wird denn nach der Pistole greifen, Pistole in solchen Fällen und in der Hand eines solchen Mannsbildes ist Dilettantentum. Ein Hieb also, roh und englisch, hakelt dem Männlein mit dem griffesten Messer unters Kinn, das Männlein sinkt zusammen, liegt neben Trips und rührt sich vorerst nicht. Als aber die andern drei auf dem Schlachtfelde eintreffen, 13 da hat Prack den Schlüssel vom Benzintank in der Hand, steht da, Kürassier, sechs Fuß hoch, Kerl wie ein Ofen, fuchtelt mit dem Schlüssel. »Gefällig die Herren?« sagt Prack. »Wir haben doch nichts gemacht!«, beteuern die drei Herren und sehen auf das kinngehakelte Männlein, das nun langsam wieder sich zu regen anfängt und um sich schaut nach diesem rohen englischen Hieb mit verblödeten Augen. »Wir haben doch nix gemacht«, beteuern also die Herren und stecken die Griffesten fort. »Wagen und Doktor her«, sagt Prack, und »Befehl, Herr Rittmeister«, sagt einer der drei Herren und schlägt die Hacken zusammen, und alle drei wollen sie möglichst rasch fort von hier. Prack aber nimmt den vierten, der sich inzwischen aufgerichtet hat, am Kragen, wirft ihn . . . hat man je einen Menschen so durch die Luft schwenken sehen . . . den andern nach. »Das da könnt ihr gleich mitnehmen«, brüllt Prack hinter ihnen her. Sie aber laufen, hören nicht mehr, und hinter ihnen drein humpelt der vierte, der Geschlagene, und schimpft in allen Tonarten der Vorstadt Giesing und ist nicht mehr zu sehen . . .

So weit wären wir, und nun, kleiner Trips, wie steht es denn mit dir . . . großes Wehweh 14 oder nur kleines Wehweh? Trips liegt still, hat stark geschweißt und hat eine ganz spitze Nase bekommen, ist aber bei Bewußtsein und möchte gern einen Kognak haben. Möchte ja nun mancher, kleiner Trips . . . nichts zu machen, haben keinen Kognak, werden aber vielleicht bald einen bekommen. Und Prack mit seinem Taschenmesser hat ihm den Waffenrock aufgesäbelt, besieht sich den Schaden. »Kannst du den Arm bewegen, Trips?« Es tut zwar noch weh, aber es geht, es ist also kein Nerv durchschnitten und die Blutung beginnt zu stehen. Mehr aber wird der Doktor ja auch nicht machen können, und jedenfalls greift Prack nach dem häßlichen Ding da, zieht es mit einem Ruck aus der Wunde. Wirklich noch gut abgegangen für dieses Mal, kleiner Trips . . . nur ein kleines Wehweh, blutet nicht mehr, wie unbedingt nötig . . . unbedeutender Aderlaß, der Wallungen des Blutes verhindert und junge Leute vor Dummheiten bewahrt. Das Auto ist da.

Das Auto ist da, leider ohne den Doktor – der Doktor hamstert im Dachauer Revier. Dafür ist ein Sanitätsunteroffizier erschienen und dann einer von den vier bewußten Kavalieren, und endlich auch ein Feldwebel, der sich als revolutionärer Kommandant des Flugplatzes zu 15 erkennen gibt. »Die Herren sind selbst schuld«, brummt der Feldwebel, der Unteroffizier hantiert an Trips herum. »Schlimm?« fragt Prack. Aber Trips ist schon bandagiert wie ein Pharao der dritten Dynastie, bekommt endlich auch seinen Kognak, kann sich aufrichten und mit Unterstützung mühsam zum Auto humpeln. Da sitzt er. –

Und Prack mustert seine Leute. »Zigaretten?« sagt Prack und hält ihnen das Etui hin. »Ich hab' aber wirklich nix getan«, beteuert der Kavalier von vorhin und nimmt sich drei. »Können aber dem Herrn Oberleutnant gleich dafür das Achselstück wieder anknöpfen«, sagt freundlich Prack und sieht zu, wie es auf Trips gesunder Schulter wieder befestigt wird und ist nun mit der Welt eigentlich zufrieden und sieht doch gleich darauf den gallengelb gewordenen Feldwebel vor sich. »Die Achselstücke«, stottert der Webel, »wenn die Herren mit den Achselstücken durch München fahren, dann können sie . . .«

»Jawohl, dann können Sie«, sagt Prack und fügt etwas hinzu, was man schicklicherweise nicht wiedergeben kann. Und steigt ins Auto.

»München, Hotel Wolff«, sagt Prack.

16 »Befehl, Herr Rittmeister«, sagt der Chauffeur und kuppelt ein. Und das wurde dann so ihre Heimkehr von der Front und ihr Einzug in München, von dem man sagt, daß es die Stadt der Jugend und der Freude ist.

 

»Geht's dir gut, kleiner Trips?«

Trips nickte, war noch sehr blaß, rauchte nun aber schon. Im übrigen fuhren sie wie die Teufel, fegten, in München angekommen, durch die herbstgelbe Pappelallee der Leopoldstraße in einem solchen Höllentempo, daß sie mit ihren gegenrevolutionären weißen Mützen gleichsam nur ein Phantom blieben . . . vorüberflitzten und verschwanden und fassungslose Passanten hinter sich ließen.

München im übrigen war süß. Patrouillen, die das Gewehr mit der Mündung nach unten trugen und auf dem Kopf statt der Feldmützen verbeulte und verdreckte Melonen sitzen hatten, waren ihnen immerhin neu, und am Lenbachplatz, wo ein dichter Menschenpfropf sich um den Brunnen drängte, stand auf einem der mythologischen Fabeltiere des Quellbassins ein spitzbäuchiger Mann und gestikulierte heftig und hielt eine Brandrede an das Volk und hatte 17 dabei gänzlich vergessen, daß Hosen sozusagen auch Knöpfe haben. »Halt«, kommandierte Prack. »Sei doch nicht verrückt«, brummte Trips. »Hosentürl zu«, brüllte durch die beiden hohlgemachten Hände Prack. »Sie da . . . Jawohl, Sie meine ich!« Und der Redner kam aus dem Konzept, tastete an seinen Kleidern herum, stotterte etwas, die Menge johlte vor Lachen. Als man sich nach dem Schreier umsah und ihre weißen Mützen bemerkte, preschten sie schon über den Stachus, bogen in die Prielmeyerstraße und waren verschwunden.

Das Hotel am Bahnhofsplatz ist ein kleines Haus, bequem und unauffällig, und gerade deswegen hatte es Prack, der vor Jahren mal einen Urlaub in München verbracht hatte, gewählt. Prack atmete auf. Der Portier hielt sie in ihrem Aufzuge zwar für eine Fata morgana und machte Miene, sie zu betasten, ob sie sich nicht zu guter Letzt in Luft auflösen würden samt ihren weißen Mützen . . . das Experiment aber, mit vollem Kriegsschmuck mitten durch die Revolution zu fahren, war geglückt, und jetzt konnte wohl der Schneider für die Zivilkluft und vor allem der Doktor kommen. –

Und es kam der Doktor und arbeitete an Trips herum und versprach, ihn in vier Wochen 18 wieder völlig auf den Beinen zu haben. Und es kam das obligate Fieber und Trips phantasierte von einem Mädchen, das Maruschka hieß und wohl in Kärnten zu suchen war. Trips lag am Morgen im Bett mit übergroßen Augen und sanft geäußerten Wünschen nach unschuldigen Leckereien, war ein artiger großer Junge und machte brave Fortschritte und konnte in den ersten Dezembertagen schon aus dem Bett. Und es kam einmal zu ihnen eine Patrouille von zwei rotbebänderten Matrosen, die fragten, ob hier die beiden Offiziere wohnten, und begehrten bramsig zu wissen, ob sie Waffen hätten, und streng sahen sie nach Pracks gelbem Pistolenetui. Diese Frage aber hatte Prack schon vorausgesehen, und tief verborgen im Schrank lag der Mauser, und im Etui steckte etwas ganz anderes, was Prack im Schaufenster eines Konditorladens an der Dachauer Straße gesehen hatte und was eine allerliebste chokoladene Nachahmung einer kleinen Mauserpistole war. »Herzeigen«, knurrte der größere von den beiden, der mit der pomadisierten Stirnlocke . . . Da ging Prack und holte das Etui und öffnete es und holte das chokoladene Schießzeug heraus und machte ein trauriges und schuldbewußtes Gesicht . . .

19 Und biß den Lauf ab . . .

Und reichte dem strengen Manne den Rest hin. Da machten die beiden Schreckensmänner sehr dumme Gesichter und mußten nun doch lachen und fraßen ihrerseits Griff und Magazin auf. »A scheene Pistolln hätt' ich zu verkaufen«, flüsterte der andere Mann der Entwaffnungskommission. »Raus«, brüllte Prack. Da trollten sie sich. –

Sieben Wochen. Und Trips fieberte nun nicht mehr, trug den Arm in der Schlinge und sah blaß und interessant aus und machte kleine geheimnisvolle Ausflüge und renommierte hinterher mit seinen Erfolgen bei den süßen Ladys der Vorstädte Giesing und Haidhausen und wurde auch sonst auf der ganzen Linie der alte Trips. Sieben Wochen. Und draußen kein Föhn mehr, sondern königlich bayerisches, aus Regen und Schnee gemixtes Sauwetter, verdreckte, seit Wochen nicht mehr gekehrte Straßen mit fortgeworfenen Zigarettenstummeln und zerknüllten Flugblättern und massenhaft abgerissenen königlichen Kokarden, die einst Rumänien und die Palästinafront und gar den kimmerischen Kaukasus gesehen hatten und nun im Straßenkot lagen und zertreten wurden von genagelten Stiefeln der Passanten.

20 Sieben Wochen . . .

Eines Tages, in den jämmerlichen Zeitungen blätternd, die so unausstehlich nach ihrem aus Schuhwichse und Dreck gemischten Druckfarbenersatz rochen . . . eines Tages also im Café Odéon las er eine ganz tolle Sache. Im Baltikum nämlich, wo die deutschen Truppen nun zurückfluteten, dort drückten die Bolschewiken nach, und ihr sagenhafter Führer hieß von Prack . . .

Er fuhr auf. Wie hieß der Kerl? »Von Prack«, stand da zu lesen. »Von« sogar? Jawohl, von Prack. Er zahlte wütend und ging. Und er wollte schon auf die Redaktion gehen und um Aufklärung bitten, er grübelte und dachte unterwegs verzweifelt über die Sache nach und fand endlich eine Lösung . . .

In Deutschland gab's, nachdem sein Bruder bei Brzeziny gefallen war, nur ihn. Nur Arved von Prack. Und sonst gab's keine Prack in Deutschland mehr, und wenn man nun nicht heimkehrte und eine von den Töchtern des Landes nahm, dann starben die alten Sünder aus und ihm wurde das zerbrochene Wappen ins Grab nachgeworfen: »Prack bis hierher und hinfort nimmermehr« . . .

21 Na schön. Aussterben war unter Umständen vornehm und dekorativ, und er steckte sich eine Zigarette an und widmete dieser Möglichkeit nicht weiterhin seine Gedanken. Und als er dann am Nornenbrunnen stand, wo kleine Ladnerinnen, naß geregnet wie junge Katzen, auf ihre unpünktlichen Bankjünglinge warteten: am Nornenbrunnen also fand er des Rätsels Lösung . . .

Ein Zweig der Familie war ja doch – so um siebzehnhundert unter Peter dem Großen – ausgewandert und in russische Dienste gegangen; warum denn auch nicht, wo doch die meisten ostpreußischen Familien solch wilde Reiser getrieben hatten, die mit der Zeit total verrußt waren, und die man nie wieder sah? Jawohl, so war es mit den Plehwes, und so war es mit den Rennenkampfs, und so war es mit den Kleists und so mit den Morrmanns; weswegen also sollte es mit den Pracks anders gewesen sein?

Natürlich, jetzt entsann er sich! Im Gotha, in dem er sonst prinzipiell nicht las, hatte er diesen Bolschewiken vor Jahren einmal gefunden, ihn dann eben nur vergessen. Awgostjin Nikolajewitsch von Prack, Rittmeister in der kaiserlichen Garde à cheval, und die 22 Garde à cheval war drüben in Petersburg ein scheißfeines Regiment . . . so fein wie die Potsdamer Garde du Corps und so vornehm, daß sie vor lauter Vornehmheit schon beinahe unsichtbar war, und einmal . . . in Ostpreußen, in den allerersten Kriegstagen, hatte man bei Pillkallen der Garde à cheval gegenübergestanden und auch ein paar Schüsse gewechselt, und vielleicht war der Vetter Awgostjin dabeigewesen . . .

Damals hatte man auch wirklich an ihn gedacht und ihn dann allerdings total vergessen im Klamauk der nächsten vier Jahre. Wie hieß übrigens bei seinem Vornamen der Kerl? »Awgostjin?« Das bedeutete also »Augustin«, und Augustin hieß man nicht . . . so hießen nur Heilige und Märtyrer, und zuerst wurden sie versucht, und wenn sie mit »Lobenswert« bestanden hatten, dann kamen die Damen der Heiden und piekten ihnen mit ihren Sonnenschirmen die Augen aus, und dann wurden sie so berühmt, daß man sie auf Obersekunda in Kirchengeschichte lernen mußte, und leider lernte man sie nie und hatte auch immer eine »Vier« in Religion. Awgostjin also. Und jetzt waren der Herr Vetter durchaus nicht mehr Gardekavallerist, sondern, wie so viele Offiziere der alten Zarenarmee, zum Dienst bei den Roten 23 gepreßt, und dortselbst kommandierte er nun Leutnants, die Gasgeruch und Treppengeländer hießen und schleifte den alten Namen durch die Zeitungen und kompromittierte so den ganzen Laden. Prack war wütend. Als er über den Bahnhofsplatz ging, war gerade ein von irgendeinem ganz gottverlassenen Frontabschnitt heimgekehrtes Regiment dortselbst ausgeladen, und der Kommandeur wollte wohl noch ein letztes Mal die Truppe im Parademarsch an sich vorüberziehen lassen, und kommandierte krähend von der Höhe seines klapperdürren Schinders. Durch die Reihen der Soldaten aber, da schlichen sich hetzend und tuschelnd mit ihren Flugblättern diese roten Etappenhengste, und dann schrie plötzlich auf den armen Kommandeur solch ein uniformierter Strolch ein, und plötzlich war die Unordnung da, und dann war diese Truppe mit einem Male nur noch ein Haufen von demoralisierten Menschen, die sich langsam in die Seitengassen verdrückten. Prack sah's und kam in Saulaune im Hotel an. –

Trips war wieder mal unterwegs und so hatte er keine Ablenkung und es kam tiefe Schwermut über ihn. Neulich war ja wohl auch Weihnachten gewesen . . . na, wenn schon. In Ostpreußen hatte man ein zerschossenes und 24 bislang kraft der Luderei des früheren Verwalters nicht aufgebautes Gut . . . na, wenn schon! Man gehörte eben in keine Weihnachtsstube mehr, man gehörte auch nicht auf ein ruiniertes Gut! Man war ertrunken im Krieg, man war von ihm aufgefressen worden, man fand sich nicht mehr zurück in den Frieden, aus, Punkt, Schluß . . .

An diesem Abend, einsam und verknurrt, betrank er sich leise. Trips aber, fidel und in einer Stimmung, als sei für ihn alle Tage Geburtstag, kam erst am Morgen. Nur, daß eben mit Trips dieses Mal etwas kam, was Leben in die Bude brachte und den Dingen eine ganz unerwartete Wendung gab. Sie hatten alle beide einen gehörigen Kater und sie schliefen bis in den sinkenden Januarnachmittag hinein. Als sie aber erwachten und (denn tief auf den Hund waren während des Krieges ihre Manieren gekommen) laut und melodisch und ausgiebig gegähnt hatten, da knipste Trips zuerst sein Zigarettenmundstück, daß die feuchte Pappe am Kalk hängen blieb, gegen die Zimmerdecke, und dann sagte er beiläufig: »Du, wir gehen heute tanzen.« Und es half nichts, daß Prack nach Trips Stirn faßte und »heiß, heiß« sagte . . . Trips hatte schon Karten und Kostüme besorgt und 25 außerdem waren die Faschingsfeste in der Pension Farmann berühmt, und schließlich fragte der Kleine, ob Prack am Ende die Schweinerei da draußen (und Trips dachte natürlich an Zusammenbruch und Revolution) auf die Nerven gegangen sei. Prack schwieg. Sowas dachte man, beredete es aber nicht . . . laut jammern über den Saustall da draußen, das taten nur Kegelbrüder, Fähnriche und pensionierte Hofdamen. Andererseits . . .

»Tanzen soll ich?«, knurrte Prack.

»Kannst ja zusehen«, meinte Trips.

»Also saufen?«

»Nö, aber auf andere Gedanken kommen.«

Ach so. So war das. Auf andere Gedanken kommen. Jawohl. Trips hatte recht.

»Meinetwegen also«, brummte Prack.

Dann drehte er sich um und schlief noch drei Stunden.

Das Gespräch fand um vier Uhr statt, als der trübe Januarnachmittag sich schon in der Dämmerung verlor.

Um neun Uhr aber, während im eisigen Nordwest grimmige Schneeböen durch Schwabings Straßen stießen, da wanderten sie – Trips mit dem Domino unter dem Mantel, 26 nordwärts. Tief nach Schwabing hinein. Tief ins Weichbild der großen Stadt. Der Pension Farmann zu.

 

Ein ganzer Band ließe sich schreiben über diese weltberühmte, an Münchens Nordpol gelegene Pension . . .

Eine wackelige, in der äußersten Stadtperipherie gelegene Bude, sieht sie in ihrer geheimnisvollen Abgeschlossenheit hinter dem mannshohen Bretterzaun und zwischen den Ulmen ihres großen Gartens eigentlich wie ein dürftiger Kleinstadtpuff aus . . . man schellt und denkt, daß alles nun so kommen wird, wie es sich an solchen Paradiesespforten abzuwickeln pflegt . . . man ist erstaunt, dahinter zunächst nichts anderes als eine geradezu penetrante Gutbürgerlichkeit zu finden: den Garten voller pedantisch abgezirkelter Wege, den Herrn des Hauses in mißtrauischer und jedenfalls sehr zurückhaltender Korrektheit, die Zimmer biedermeierlich und höchst sauber und ordentlich. Und das einzige, was auf den ersten Blick den großen Ruf der Pension Farmann rechtfertigt, das sind im Speisezimmer die exotischen Laternen und an den Wänden die Scherenschnitte all der 27 Kavaliere und Strauchritter und glanzvollen Frauen, die hier einmal lachten und flirteten und tanzten. Bitte, die Geschichte dieses Hauses geht zurück in Schwabings große Zeit, und hier tanzte einmal die Huch, und hier tanzte einmal die berühmte Reventlow, die dann wie eine Rakete verschwand in der Nacht ihres Lebens . . . hier tanzten Rilke und George, und hier tanzten alle jene sagenhaften Zigeuner, die schon um Neunzehnhundert der fett und spießig gewordenen Welt den Krieg ansagten und mit fünf Mark in der Tasche durch Europa gepilgert waren, und wenn ihnen mal das Geld ausging, dann waren sie rasch mal was anderes geworden . . .

Liftboy in Ostende. Laufbursche in einer Florentiner Pension. Clown in einem obskuren Wanderzirkus. Mannequin bei einem Pariser Fabrikanten von Haarfärbemitteln, und der Chef hatte ihnen dann die eine Hälfte des rotblonden Scheitels pechschwarz gefärbt und die andere hatte er im Naturzustande belassen. Und als Probe für die Güte seiner Erzeugnisse hatte er sie auf einen Stuhl vor sein Geschäft gesetzt, und da saßen sie, halb blond und halb schwarz, auf dem Bürgersteig des Boulevard 28 St. Michel und rezitierten mitten im Geschnatter der Pariser den Faustmonolog . . .

Dann aber waren sie, die alten Abenteurer, zur Abwechslung in den Krieg gezogen, hatten Flandern und Verdun und die Picardie und Rumänien gesehen, und in Flandern oben hatte es einer von ihnen so gehandhabt, daß er Morgen für Morgen, ehe die tägliche Schießerei losging, aus dem Graben kletterte und homerisch zu den englischen Gräben hinüberfluchte, und bei denen drüben war dann immer ein gerade so verrücktes Männlein aus der Erde gestiegen und hatte ebenso zurückgeflucht. Bis er, der Schwabinger Kunstmaler Henseler, mal hinüberging, um drüben den englischen Abschnittskommandanten zu porträtieren. Und von diesem Gange war er dann freilich nie mehr zurückgekehrt . . .

Nun aber waren sie, soweit der Krieg sie nicht gefressen hatte, alle wieder in München und wollten bei Vater Farmann sich den Krieg und alles mit ihm Zusammenhängende aus den Knochen tanzen, und versuchten es wenigstens und fanden sich doch nicht mehr zurecht in der gewandelten Welt. Was zum Beispiel waren denn das für hornbebrillte Spirituspräparate, die hier aufgetaucht waren . . . weswegen trugen sie alle Russenblusen und quatschten von der 29 Revolution, und weswegen hießen die dazugehörigen Frauenzimmer alle Katja und Sonja und Anuschka und taten auch sonst so, als kämen sie alle frisch aus Dostojewski-Romanen? Die alten Schwabinger wunderten sich. Diese Neuen, die den Krieg nur auf dem Papier ihrer Zeitschriften mitgemacht hatten, gefielen ihnen nicht. So hockten sie mißmutig über ihren Punschgläsern in der Küche, sie tanzten nicht und waren schlechter Laune und brüteten über eine gründliche Palastrevolution bei Farmann und wußten eben nur noch nicht, wie sie es anstellen sollten. So war die Stimmung, aus der sich denn auf diesem ersten Nachkriegsfest bei Farmann der große Krach ergab . . .

Das aber kam so, daß der Bildhauer Fritz Ehrhart, stärkster Mann von München und eben heimgekehrt mit dem Leibregiment, friedlich seinen Punsch trank, daß zu ihm eines dieser präraffaelitischen Frauenzimmer gekommen war, sein Punschglas ausgegossen und ihm einen Vortrag über die Vorzüge der Abstinenz gehalten und sich dann ohne weitere Rückfrage auf seinen Schoß gesetzt hatte. Als er daraufhin mit den Knien ihr so eine kleine Aufforderung zum Türmen hatte zukommen lassen, da hatte sie gedroht, sie müsse sofort aufstehen, wenn er 30 nicht ruhig säße, und als er dann einen Zweimarkschein hervorzog und ihr sagte, den bekäme sie, wenn sie sich endlich zum Kuckuck schere, da rauschte sie davon . . .

Und kam wieder mit einem dürftigen Maharadscha, und der Maharadscha sagte: »Sie haben meine Freundin beleidigt«, und jetzt wurde auch dem gutmütigen Ehrhart die Geschichte zu bunt. »Sie?« Hier war nicht »Sie«, hier war Fasching! Und übelnehmen? Hier wurde nicht übelgenommen, wer hier nicht Spaß verstand, flog zum Tempel hinaus! Und der Ehrhart nahm den Maharadscha und trug ihn unter die Lampe und besah ihn sich aufmerksam und sagte: »Du gehörst nicht hierher!«, und es kam des Maharadschas zeternde Freundin und alarmierte das ganze Lokal, und alles drängte sich in die Küche, und es gab einen gewaltigen Auflauf, und der Ehrhart sagte zu dem Maharadscha: »Ich werde dich jetzt hinaustragen!« Und nahm ihn und trug ihn, während alles nachdrängte, in den Garten hinaus. Es war der Augenblick, in dem draußen an der Gartentür Prack und Trips klingelten . . .

Siehe, es kam durch das Gartentor mit einem kleinen Domino ein pelzbehangener Turm von einem Mannsbild, und der Turm machte von 31 vornherein einen höchst vertrauenerweckenden und soliden Eindruck, und Ehrhart hielt dem Turm den zappelnden Maharadscha unter die Nase. »Sieh dir das an – was ist das« fragte der Ehrhart. »Das ist eine Mißgeburt«, entschied der Turm, und beide waren sie sich sofort einig, was hier zu tun sei und nahmen den Maharadscha und faßten ihn an Fessel und Schulter und warfen ihn über den mannshohen Zaun in die Schneehaufen der Straße.

Von drüben war giftiges Geschimpfe zu hören und hier im Garten war es nicht anders, und präraffaelitische Mädchen weinten und keiften und des Maharadschas Freunde krakeelten und einer fragte schreiend, ob sie, die Alten, das so im Kriege gelernt hätten. Jawohl, hatten sie auch, und auch diesen warfen sie über den Zaun. »Werfen wir die ganze Bagage hinüber«, meinte der Ehrhart und hatte die Aermel hochgekrempelt, aber Prack war für sanfteres Verfahren und öffnete nur die Gartentür. Was eine Mißgeburt war, wußte man . . . wozu war man ein Mannsbild . . . und was nach Mensch aussah, wußte man auch. Und bleiben durfte alles, was nach Mensch aussah und alles übrige wurde hinauskomplimentiert, und man hörte noch lange draußen von der 32 anderen Zaunseite her das Lamentieren der Jünglinge und das hysterische Schreien der Mädchen. Und nun war man ja wohl unter sich und nun konnte das eigentliche Fest wohl beginnen . . .

Innen aber war es warm und gemütlich, die Lampions brannten, im farbigen Halblicht versanken die kleinen Stuben . . . das alte Klavier begann zu wimmern, es drehte sich das bunte Karussell der Tanzenden. Und Paare waren da, die ließen sich überhaupt nicht mehr los und tanzten stumm und Aug in Aug und saßen in der Hinterstube auf dem wackeligen Sofa und hielten ihre Hände und sprachen kein Wort und tanzten wieder und versanken dann wieder in ihren Küssen. Und voll Lachen war alles und um alles der Nimbus ewiger Jugend, und Trips hatte sofort den Anschluß an ein Schwedenmädchen gefunden, und nun belegte sie ihn mit Beschlag und zog ihn fort und Trips war bis auf weiteres nicht mehr zu sehn. Und Prack war allein . . .

Zuerst, gleich nach dem Hinauswurf, hatten sie ihn alle umringt, hatten ihm versichert, er sei ein famoser Kerl, hatten mit ihm angestoßen und ihn allein gelassen, als er, ungewohnt dieser Umgebung, nicht gleich aufgetaut war und nicht 33 gleich das richtige Wort gefunden hatte, da also hatten sie wohl gefunden, er sei im Grunde doch ein langweiliger Bursche, sie hatten sich mit ihren Mädchen davongemacht und tanzten nun oder zechten in der Küche. Jawohl, er war allein . . .

Einmal hatte er wohl getanzt, hatte etwas allzu Weiches, allzu Lustiges in seinen Armen gehalten, fand, daß man ebensogut wohl mit einem Ballen parfümierter Watte hätte tanzen können, hatte sie schließlich stehn gelassen . . .

Stand und starrte in den bunten bacchantischen Menschenkreisel, trank, fand, daß das Zeugs, das hier verschenkt wurde, nach Pomade schmeckte, fand, daß es für seine ausgepichte Sünderkehle zu dünn war, ging in die Küche . . .

Menschen saßen um den Punschkessel, ein baumlanger, bildschöner Bursche . . . braun und schlank wie ein römischer Hirte . . . stand singend auf dem Herd, sang zur Laute, in weiten Sexten schwang sich das neapolitanische Lied, koste diese ewig jungen, schönen Menschen, koste alles, was trinken wollte aus dem gefüllten Lebensbecher . . .

Prack dachte nach. War er, zum Donnerwetter, etwa schon zu alt für dieses Leben . . . 34 war er jetzt, wo zuerst das Reiten, dann das Fliegen, dann der ganze Krieg zu Ende gegangen war, zu überhaupt nichts mehr nütze und war es am Ende so, daß nun nichts mehr kam und daß man überflüssig war? Neben ihm ein ebenso abseitiger und ebenso melancholischer Pierrot goß ihm aus seiner Privatflasche ein . . . nein, nicht Vater Farmanns Klapperschlangengift, sondern reines, starkes Kirschwasser, ein ganzes Bowlenglas voll. Er trank gierig. Diesmal wirkte es, es kam wohliges Vergessen und Entgleiten, es kam Versinken und es kamen Träume von alten Zeiten . . . hier, mitten zwischen lachenden und kosenden Menschen kamen über ihn versunkene Bilder . . .

Die ostpreußische Ebene war wiederum da mit den Vollmondnächten der allerersten Kriegstage. Vollmond beschien die riesigen Weizenfelder, und auf den Feldrainen, getrennt durch die goldene Ernte, ritten hüben und drüben nächtliche Reiter . . .

Nächtliche Reiter zu einem in langen Reihen, hüben preußische Kürassiere, drüben Russen . . . alle halten sie ängstlich den Feldrain, keiner dieser uniformierten Bauernjungen bringt es über sich, hineinzureiten in die auf dem Halm stehende Ernte . . .

35 Prack trinkt. Wissen Herr Rittmeister auch noch, wie die Sache weiterging? Am nächsten Tag hatten die beiderseitigen Kommandeure dem beiderseitigen Idyll ein Ende gemacht, hatten die Regimenter in den wogenden Weizen getrieben, zerstampft lag das Feld . . .

Prack sieht das Bild vor sich, als sei dies alles gestern geschehn. Drüben die Russen sind gewaltige Kerle auf wahren Ungeheuern von Gäulen . . . Gardereiter, vielleicht Vetter Awgostjins Regiment, der Deuwel mochte es wissen! Und diese Massen krachen zusammen mit dem Getöse eines D-Zug-Unglückes, die Luft ist voll Staub und Geschrei, drei Mann aus Pracks Schwadron liegen mit Oberschenkelbrüchen, ein paar sind entsattelt und laufen ihren Pferden nach, der Schwadronsschneider Leisetritt (denn alle Schneider sind im Grunde blutdürstige Kreaturen!) hat mit der Lanze einen russischen Gardesergeanten aus dem Sattel gestochen: wissen Herr Rittmeister auch noch, wie damals die Sache weiterging?

Wieder trinkt Prack – die alten Bilder quälen ihn gar zu sehr. Ja, wie war das doch gewesen? Beide waren sie vom Rückstoß und vom Stoß der Lanze aus dem Sattel geworfen, der Russe hat die Lanze im Leib sitzen, der 36 Schwadronsschneider Leisetritt, tief erschüttert durch das erste vor seinen Augen in den Boden sickernde Blut, bemüht sich, sie aus der Wunde zu ziehn; bringt es nicht fertig, wird blaß, zittert, der Russe läßt alles ohne Klagelaut über sich ergehn, streichelt dem Schneider Leisetritt die Hand, sagt etwas . . . wissen Herr Rittmeister auch noch, was dieser Russe damals sagte? »Bruder, nimms dir nicht zu Herzen, um Christi willen«, sagte der Russe und starb. Der Schwadronsschneider Leisetritt aber hatte das Wort nicht ertragen, hatte zu heulen angefangen, mußte, weil er sonst die Leute närrisch gemacht hätte, eine Morphiumspritze bekommen und nach hinten gebracht werden . . . tolle Geschichte, lieber Prack, nur möglich in den ersten Tagen, nur möglich an der Ostfront und unter Menschen, die Bauernblut in den Adern hatten. Tolle Geschichte, und am allertollsten, daß er sie seit über vier Jahren so ganz vergessen hatte und daß sie ihn nun plötzlich überfällt, hier in Farmanns Tanzsaal, in diesem mit Fuseldunst und Frauenlachen angefüllten Loch . . .

Weshalb zum Donnerwetter und woher kommen plötzlich diese Bilder der heimatlichen Ebenen und der heimatlichen Menschen, und wo im Saal ist eigentlich das Ding, das seine 37 Gedanken so seltsam in die Vergangenheit zurückzwingt? Er lauscht. Jemand singt, eine Frauenstimme singt im Moll der großen östlichen Ebenen . . .

»Ach, nie werd' ich mahlen,
Bächlein hat die Mühle fortgeschwemmt . . .«

Ein lange vergessenes Lied, gesungen einst von seiner masurischen Kinderfrau . . . vergessen in den Wirbeln des Lebens. Und nun begehrt es auf und nun wirbelt es in wildem Rhythmus . . .

»Und das gönnen mir die Leut nicht,
Daß ich zu dir geh.
Und sie gönnen mir nicht,
Daß ich dich seh . . .«

Und so verklingt es. Wer aber zum Teufel untersteht sich, hier so zu singen, und wer untersteht sich, ihn hier an die Heimat zu erinnern, wo er eigentlich keine mehr hat und an derlei auch nicht erinnert werden will? In diesem Augenblicke aber ist es ihm, als suche ihn im menschenerfüllten Raum jemand, er hebt die Augen, sieht die Frau, die singt, auf dem Herde stehn, sieht bunten Flitter, schlanke und fast knabenhafte Glieder, sieht nun auch das Gesicht . . .

Nicht gerade schön, aber doch voll seltsamen Reizes. Herbe Züge, große, weit 38 auseinanderliegende Augen, die unverwandt ihn ansehn und ihn gezwungen haben, seinerseits den Blick zu heben. Und das Lied ist zu Ende, und ringsum klatscht man ein bißchen, hat das schwermütige Lied wohl kaum verstanden, hat auch nichts bemerkt von ihrer stummen Zwiesprache, beachtet sie nicht, bemerkt nicht, daß sie auf ihn zugeht . . .

Da steht sie vor Prack. Ringsum lacht es. Niemand kümmert sich um die beiden Menschen. »Komm«, sagt das Mädchen.

»Wohin«, sagt Prack.

»Fort von hier.«

Da gehn sie.

Verlassen den Raum, ohne daß jemand sie bemerkt, schlüpfen in ihre Mäntel, haben doch noch keine zehn Worte miteinander gewechselt, halten sich aber an den Händen, als sie hinaustreten in die Winternacht.

Schnee ist nun gefallen, tiefer, weicher Schnee, grimmiger Frost ist eingebrochen, böse funkeln vom pechschwarzen Himmel Sirius und Orion und der grimmige rote Aldebaran, der den Menschen Leid bringt und bitterliches Abschiedsweh.

Sie aber sehn es nicht, sind nur für einander da, halten sich fest an der Hand.

39 »Wohin gehn wir?« fragt Prack.

»Fort von hier.«

»Weshalb bist du gekommen?« fragt Prack.

»Weil du so einsam warst.«

Dann sprechen sie nicht mehr, gehn durch das Tor. Und nun beginnt sie in ihrem dünnen Flitter unter dem leichten Mantel zu zittern im krachenden Frost, er zieht den schweren Pelz aus, will ihn ihr umlegen, wird abgewiesen. »Teilen wir also.« Da schlüpft sie in den rechten Aermel und er in den linken und es umgibt sie beide der weiche, warme Pelz und enger schmiegen sie sich aneinander. »Nun wohnen wir wohl beide in einem Pelz.« Jawohl, und außer diesem Pelz haben sie wahrscheinlich beide keine Hausung und keine bleibende Statt und haben wohl gerade deshalb zueinander gefunden . . .

Und sie gehn durch die Belgradstraße, biegen links ab, bis sie zum pappelbestandenen Boulevard der Leopoldstraße kommen, gehn dem Siegestor zu. Wohin? Prack weiß es nicht, denkt nicht, fragt nicht, ist doch zum Teufel auch kein Schürzenjäger, der auf das erste beste sich bietende Abenteuer hineinfällt, fühlt nur etwas, was er seit dem frühen Tode der Mutter nicht mehr gefühlt hat . . .

40 Nach Hause kommen. Wissen, wohin man gehört. Sagen dürfen »Hier ist gut sein, bei dir« . . .

Das fühlt er auf diesem Gange. Kein Wort fällt zwischen ihnen, stumm sprechen nur die beiden Hände, die sich nimmer loslassen mögen. Am Siegestor aber, wo die großen blaßroten Monde der Bogenlampen im schneidenden Nord schwanken, dort ist geheimnisvolle Bewegung, stumm, in ihre großen Mäntel gehüllt, ziehn vermummte Reiter durch das Tor . . . lautlos mit flaggenlosen Lanzen, es schnauben nicht einmal die Pferde, es ist ein Zug vermummter Gespenster . . .

Sie bleiben stehn. Prack weiß Bescheid, las gestern die Ankündigung in der Zeitung – es sind die bayerischen schweren Reiter, die draußen in Milbertshofen ausparkiert wurden in der Nacht und nun einziehn und heimkehren – sie kommen aus dem tiefen Rußland, sie haben sich verzweifelt durchgeschlagen den weiten Weg nach der Heimat, sie kommen aus der Steppe, aus der Weite, aus dem großen Abenteuer . . .

Da steht sie, denkt wohl das gleiche, wie er. Leise an seinem Munde: »Kanntest du wohl das Lied?«

»Ja.«

41 »Ich wußte es.«

Nichts weiter. Keine vorzeitige Liebkosung, keine vorzeitige Vertraulichkeit – wir sind doch wohl beide nicht so, daß wir Liebesgeschichten beginnen mit ihrem Ende . . .

Händedruck. »Und nun muß ich wohl gehn.«

Gut. »Und weshalb gingst du fort von dem Fest?«

»Weil wir beide kaum dorthin gehörten.«

Gut. Recht so. »Und wann sehe ich dich wieder?«

Es ergibt sich, daß sie morgen sich sehn werden . . . morgen um elf Uhr, morgen vor der Feldherrnhalle . . .

Gut. Nichts weiter. Nur der Händedruck.

»Gute Nacht, du.«

»Gute Nacht.«

Schritte verklingen im knirschenden Schnee, eine Gartentür fällt ins Schloß. Prack geht, dreht sich nicht um, schlendert langsam durch die Ludwigstraße der Innenstadt zu . . .

Denkt an dieses seltsame Gesicht, an die Stimme, die so heimatlich hart und herb klang. Kommt ans Kriegsministerium, wird angeschrien. »Ausweis«, schreit der Posten, Prack reicht seine Zigaretten hin und geht weiter.

42 Merkwürdiges Erlebnis. Er denkt nicht daran, daß er ihren Namen nicht kennt, er verläßt sich auf sein Fingerspitzengefühl. Dutzendware war das nicht. Nein, das durchaus nicht, es war alles in Ordnung, wie es war . . .

Morgen um elf Uhr also. Und in diesem Gedanken kommt er zur Feldherrnhalle, sieht hier, wo er morgen sie treffen wird, etwas, was alle bislang gesehenen Revolutionsbilder verblassen läßt. Ein Maschinengewehr zum etwaigen Bestreichen der Ludwigstraße ist dort aufgebaut, der dazugehörige Posten aber wacht nicht, er hat sich ein Feldbett aus der Residenzwache geholt und hat sich's bequem gemacht unter Wolldecken und hat gegen etwaige Schneefälle einen Regenschirm aufgespannt und liegt unter dem Schirm und schnarcht wie ein Dampfsägewerk. »Good bye« sagt Prack, gibt dem Mann einen Klaps, hört es hinter sich furchtbar fluchen, ist schon jenseits des Preysingpalais . . .

Wieder das fremde Mädchen. Keine Reichsdeutsche übrigens. Wahrscheinlich Baltin. Ist übrigens gleich. Hauptsache, Prack, daß alles in Ordnung war.

Dann, als er den Promenadenplatz überquert, zerreißt in einer Seitengasse der Lärm 43 einer wilden Schießerei die stille Schneenacht, Querschläger fahren ihm gellend um die Ohren, dann ist es plötzlich wieder still.

Prack bleibt stehn, zündet sich eine Zigarette an. Die Liebe zuerst und dann der Tod, und beide dicht beieinander. Ach, und zur Stunde weiß er noch nicht einmal, wer sie eigentlich gewesen ist. – 44

 


 


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