Fritz Reck-Malleczewen
Ein Mannsbild namens Prack
Fritz Reck-Malleczewen

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Seit dem siebenten Januar Neunzehnhundertundneunzehn aber waren in der alten Mitauer Trinitatiskirche, die sonst nur frommen Choralgesang gehört und die glanzvollen Festgottesdienste der kurischen Ritterschaft gesehen hatte, Gäste eingezogen, die von Choralgesang und Adelsfesten nur recht wenig wissen wollten: am siebenten also war unter dem Geschmetter der Internationale und hinter zehn zinnoberrot gekleideten Spitzenreitern der Sowjetkommissar in Mitau einmarschiert, die Trinitatiskirche aber war zur Unterkunft für den Stab und die ersten zwei Schwadronen des Roten Reiterregimentes Bakunin geworden. –

Man kann diesen neuen Gästen nun nicht nachrühmen, daß sie besonders pietätvoll umgegangen wären mit dem alten Bau, den einst die fromme Herzogin Anna von Kurland als 130 Gruftkirche für ihren toten Gatten errichtet hatte. Die Bänke, soweit man sie nicht sofort verheizt hatte, waren beiseite geräumt, in den Nebenschiffen des Domes hatten die Schwadronen ihre zottigen, kümmerlichen Pferdchen untergebracht. Der Rauch der im Mittelgang entzündeten Holzfeuer aber hatte die weißen Gewölbe wie die Decke einer Köhlerhütte geschwärzt, die Fliesen hatten sich sofort mit einer handhohen Schicht von Pferdemist und noch schlimmerem Unrat überzogen, und auf dem Mittelgange, wo die Feuer qualmten, dort lag man und lümmelte sich und vertrieb sich, seit am zwölften Januar der rote Vormarsch unerwartet auf starken Widerstand gestoßen und zum Stillstand gekommen war, die Zeit auf seine Weise: man lag also und spielte das Nationalspiel »Wint« mit Spielkarten, die so dreckig waren, daß man aus ihnen gut und gern eine nahrhafte Kraftbrühe hätte kochen können . . . man amüsierte sich wohl auch damit, mit den Pistolen, ohne deswegen sich aus der bequemen Liegestellung zu erheben, die Lichter des großen Kronleuchters auszuschießen, man schoß dann noch ein bißchen nach Altarbildern und frommen Holzfiguren, man säuberte, so gut es eben ging, die verlausten Hemden. Man schlief, man aß, 131 man trank. So war das. Unkundigen sei gesagt, daß man sich diese Truppe deswegen nicht vorstellen darf als eine kompakte Horde von Mördern, Schindern und Verbrechern. Nein, so war es nicht. Sie war so bunt, wie Rußland nun einmal ist . . . es waren fanatische Arbeiter dabei, und noch fanatischere Letten, die nun an den deutschen Herren ihr Mütchen zu kühlen gedachten, es waren auch Gesindel und Lumpen dabei, die aus dem unterirdischen Petersburg ans Tageslicht gestiegen waren, um endlich einmal nach Herzenslust plündern und stehlen und rauben zu können . . .

Rußland aber ist groß und birgt vielerlei Menschheit, und es ritten also in dem sonderbaren Regiment des ehemaligen Stabsrittmeisters von Prack auch fromme Bäuerlein, die das Kreuz der Rechtgläubigen schlugen und fromm das »Otsche nach«Otsche nach = russisch: »Vater unser.« beteten, und nichts von Karl Marx wußten, sondern eben nur da waren, »weil es so befohlen war« . . . es ritten um des Reitens mit alte kaiserliche Wachtmeister und Tartaren und Kaukasuskosaken, es ritten dicht nebeneinander Teufel und Halunken und auch Gerechte. Und das Ganze war eigentlich 132 mehr eine berittene Nomadenhorde, denn ein proletarisches Regiment. Ja, so war es mit »Bakunin«. Die zahlreichen Gefangenen und Geiseln aber, die man auf Petersburger Befehl allenthalben in Gutshäusern, Pastoraten, adeligen Damenstiften und übrigens auch unter der wohlhabenden lettischen Bevölkerung genommen hatte, die hatte man in das längst ausgeräumte und seit vielen Jahren als Gerätekammer dienende Gruftgewölbe unter dem Hochaltar gesperrt. –

Die Gesellschaft nun, die man in diesem eiskalten und feuchten Loch bei kläglicher Kost und einer übrigens nicht allzu rohen Behandlung untergebracht hatte, war ziemlich bunt zusammengewürfelt. Es gab dort Feudalherren, die gestern noch unermeßlich reich gewesen waren und sich nun mit vornehmer Gelassenheit, ja, wohl auch mit einigem Zynismus in ihr Los fügten und sich über ihre neuen Lebensbedingungen lustig machten und achselzuckend dem ziemlich sicheren Tod entgegensahen . . . es gab alte fromme Lehrerinnen, die hier unten Kant und Schopenhauer lasen und von Zeit zu Zeit Choräle sangen. Es gab Frauen, deren Hirn zerstört war, weil man ihnen vor einigen Tagen den Mann sozusagen in ihren Armen erschossen 133 hatte, es gab alte Sünder und viel Verzweifelte, und noch viel mehr starke und tapfere Seelen, und es gab unter ihnen auch ein paar Auserwählte, die mit ihrem Beispiel bis zum letzten Atemzug und noch unter den schwarzen Augen der Gewehre dieser Versammlung Mut und Haltung eingaben, und es gab in ihrer Mitte eine Heilige. Das aber war eigentlich fast noch ein Kind – ein Geschöpf von sechzehn Jahren, das den Namen eines alten deutschen Geschlechtes trug und mit in sein frühes Grab nahm. Und von den Mutigen und Starken die Stärkste und Mutigste war und tröstete und half und Verzweifelte stützte und so für ein paar Tage ureigentlich das Haupt dieser seltsamen Gemeinde erster und letzter Christen wurde. Ich nun, der damaligen Vorgänge gedenkend, werde, da auf ihre junge Stirn das Schicksal die Märtyrerkrone drückte, ihren Namen nicht nennen, und nur ihren anmutigen Schatten wird man in diesem Spiele sehen: wer ihr damals begegnete, wird es wissen, wen ich meine. –

Was nun das Fräulein Maria von Alt-Dostheim anbetrifft, die nach eisiger Fahrt an jenem Januarabend nach Mitau geschafft wurde, so erreichte sie die Stadt in einem recht 134 beklagenswerten, ja in einem beinahe nicht mehr menschlichen Zustande. Zuerst während dieser Fahrt war es im scharfen Ost ein jämmerliches Frieren, dann aber nach den Strapazen der letzten Tage und den Aufregungen der letzten Stunden ein Vereisen gleichsam auch der Seele geworden. Benommen und stumpf war sie gewesen, als man sie, unter mancherlei Unflätigkeiten der rechts und links vom Mittelgange kauernden Soldaten, zu jenem Kellerloch geführt hatte, und sie hatte es einfach nicht mehr vermerken können, was zu ihr der vor dem Eingang stehende Posten gesagt hatte. Der aber war kein Bolschewik und auch kein Abenteurer und Gauner, sondern es war aus dem Tambowschen ein weißhaariges altes Bäuerlein, dem die rote Regierung den Karabiner in die Hand gedrückt, und den sie nach seinem guten Willen nicht weiter gefragt hatte. »So jung, Mütterchen, und mußt schon den Tod schmecken«, hatte der Alte gesagt.

Sie aber, wie gesagt, war so stumpf, daß sie es kaum gehört hatte. So also war sie hinabgestiegen in diesen Keller der Lebendig-Toten.

In Kurland, dem Gottesländchen, war es nun einmal so, daß innerhalb der deutschen Oberschicht einer den anderen ja doch kannte, 135 und wenn sie nicht gar so apathisch gewesen wäre, so hätte sie bemerkt, wie die alten Herren bei ihrem Eintritt sich ihren Namen zuflüsterten und sich dann von dem vor zwei Tagen ja leider ermordeten »Prekalnschen« erzählten. Sie hätte auch unter den zahllosen bekannten Gesichtern allerlei Nachbarn, den Rönnenschen Pastor, den Apotheker aus Doblen, das alte Fräulein von Strieken gesehen, die dem ritterschaftlichen Lyzeum in Mitau vorstand und samt allen ihren Lehrerinnen verhaftet war, und hier unter ihren Damen mit strenger und vielleicht etwas säuerlicher Stimme aus pietistischen Schriften vorlas . . .

Das alles also hätte sie sehen können. Sie aber sah es nicht. Halb besinnungslos, wie sie vom Schlitten in dieses Loch hinabgestoßen worden war, fiel sie auf den eisigen und bei der nun schon tagelangen Anwesenheit der Gefangenen auch recht unsauberen Boden. Da lag sie.

Man kann nicht sagen, daß sie schlief, man kann ebensowenig sagen, daß sie bei vollem Bewußtsein war – es war eben zwischen beiden Zuständen ein wunderliches und keineswegs freundliches Niemandsland, in dem sie alle die Stimmen und Vorgänge ihrer Umgebung wahrnahm, ohne sie doch eigentlich vermerken 136 zu können. Zuerst also hatte, ohne daß sie im Scheine der jämmerlichen Stallaterne mehr als den Schattenriß einer Frauengestalt erkennen konnte, jemand sich über sie gebeugt, hatte sie ein wenig aufgerichtet und ihr einen Löffel in die Hand gedrückt. »Wir haben noch ein wenig Suppe, es ist ganz gewiß nichts Gutes, aber essen müssen Sie nun.«

Die Suppe jener Gefängnisse bestand aus einer Brühe, in der verfaulte Kartoffelschalen mit Abfällen, mit nicht immer frischen Rindskaldaunen und Pferdeohren verkocht waren, es war somit ein höllischer Fraß, der recht wenig appetitlich roch. Sie hielt vor den Mund die Hand. Da aber war eine andere Hand gekommen, hatte sanft die ihre fortgezogen und den Löffel an ihren Mund geführt wie beim Füttern eines kranken Kindes. »Ach Liebste, es geht ja doch nicht anders . . . Sie müssen sich nun wohl dreinschicken, müssen essen, werden sich dran gewöhnen . . . ach, sehen Sie, an so mancherlei haben wir uns hier schon gewöhnt.«

Das hatte diese sanfte und beinahe unirdische Stimme gesagt. Sie aber hatte gegessen. Nun wollte sie zurücksinken und schlafen. Da aber hatte die Fremde ihr eigenes Plaid von den Schultern genommen und die neue Gefangene 137 damit eingewickelt. So gut und warm, wie es ging. Sie wehrte sich nicht dagegen. Sie konnte nicht einmal danken. Sie fiel zum zweiten Male nieder und lag.

Nun hörte sie wohl die mannigfachen Stimmen dieser Versammlung. Das alte Fräulein von Strieken hatte nun ihre fromme Lektüre beendet, dafür gefiel es nun dem als Feinschmecker und Weltmann und Zyniker in Kurland weithin bekannten alten Grafen Westen, sich hier im verlausten Keller und nach der Kartoffelschalensuppe mit seinem Gutsnachbarn über Küchenrezepte zu unterhalten. »Sie, mein Lieber, haben eben keine Zunge, Sie haben statt dessen ein Stück Leder im Munde! Krimkapern statt französischer zu nehmen! Wissen Sie, daß Sie damit die ganze Mayonnaise verderben?« So stand es zur Stunde mit dem Grafen Westen. Dann sangen in ihrer Ecke die von den Roten aufgegriffenen Landstreicher, die sich über die vornehme Gesellschaft hier ärgerten, auf lettisch ein für Frauenohren wohl kaum bestimmtes Lied, dann wieder war Kinderweinen zu hören . . .

»Mamuschka, wo mich doch so friert.«

Das war das kleine Mädchen der lettischen Kaufmannsfrau, der man den Mann 138 verschleppt und wohl auch ermordet hatte, und nun starrte sie in völliger Verstörtheit seit Tagen schon vor sich hin und hatte für ihr frierendes Kind weder Ohr noch Auge.

Dann aber war eine tröstende Frauenstimme zu hören, und dann verstummte das Kinderweinen, dann huschten, weil jemand die Laterne herumtrug, wunderlich auf dem niederen Gewölbe die Schatten durcheinander, und dann waren wirre Bilder zu ihr gekommen . . .

Mit den weißblauen Triumphfahnen der letzten Sommersiege die Münchener Ludwigstraße, bunter Herbst am Chiemsee, mit den Schatten nächtlicher Reitergespenster das Siegestor . . .

Dann etwas Gutes, Starkes und Männliches, das neben ihr ging, an das sie sich aber zur Stunde nicht mehr recht erinnern konnte . . .

Vorbei. Zerrissen.

»Mamuschka, hörst du denn nicht, ich habe es so kalt.« Da war also wieder das frierende Kind erwacht. Man selbst fror nun nicht mehr. Man hatte es im Mantel und unter dem Plaid der Fremden warm, und man begann sich dessen nun sogar ein wenig zu schämen . . .

139 Und war doch so todesmatt, ach, viel zu matt, um sich regen zu können. Da begann ringsum eine seltsame Wandlung . . .

Da war sie wieder, diese süße Frauenstimme – zart und keusch wie der Klang einer Oboe, und war doch bei allen hier Versammelten, und war da mit blitzenden, mit flammenden Worten. Die Worte aber waren vor Jahrtausenden aufgezeichnet von einem Manne, der selbst den Märtyrertod gestorben war und seine Süßigkeit geahnt hatte . . . die Worte hatten die Zeitwenden und die Jahrtausende überdauert und mochten schon oft gehört sein im Schatten der Todesfittiche und im Scheine der Sterbekerze . . .

»Wer überwindet und bleibt bis an das Ende, dem will ich Macht geben über seine Henker.«

Und eindringlicher noch und niederfahrend in das müde Herz mit Feuerbränden, und mahnend und rüttelnd, jetzt und in der Stunde des Absterbens: »Wer überwindet, dem will ich geben, auf meinem Stuhle zu sitzen. Wie ich überwunden habe und bin gesessen auf meinem Stuhl . . .«

Das war zu hören. Von der gleichen Stimme, die vorher zu ihr gesprochen hatte. Da 140 lag sie und erwachte und wurde in diesen Zeichen wieder ein fühlender Mensch.

Pa aber, der nachdenkliche und um alles wissende Pa, er hatte ihr einst von den Gefangenen der großen französischen Revolution vorgelesen, die waren kurz vor der Guillotine dennoch befreit worden und hatten hinterher erzählt, daß sie, weil dort unten immer einer für den anderen eingetreten sei, sich nie wieder so glücklich und nie wieder so frei gefühlt hätten, wie eben unter den Todgeweihten der Pariser Gefängnisse in der Conciergerie . . .

Daran mußte sie nun denken und dann auch an eine russische Geschichte, die sie ahnungslos im letzten Sommer am Chiemsee gelesen hatte . . .

Da also war ein reicher Mann, der bis dahin nur an sich und an niemanden, als eben an sich gedacht hatte, überrascht worden von einem tödlichen Leiden und der Gewißheit seines baldigen Abscheidens . . .

Und war zwischen all seinen aufgestapelten Schätzen und Sammlungen durch sein prunkvolles Haus gegangen und hatte wochenlang geschrien: »Ich will nicht sterben.«

Und war ein armes schmutziges Menschentier gewesen, das nichts ahnte von dem 141 Geheimnis des friedlichen Scheidens und der großen geheimnisvollen Wandlung . . .

Und hatte dann doch die Stunde erlebt, wo er es erfuhr und einem Menschenkinde begegnete, dem er Gutes antun konnte. Da hatte er in seinem Leben zum ersten Male nicht an sich gedacht, und da war über ihn der Friede gekommen, und da hatte er auch nicht mehr schreien müssen, daß er nicht sterben wolle . . .

Sondern hatte sich willig gelegt und hatte einen guten und reinen Tod gehabt. So war das mit diesem Manne gewesen.

Und man selbst war bislang ja auch schließlich nichts weiter gewesen, als eben ein verwöhntes und vielleicht auch ein wenig anspruchsvolles Geschöpf, und vorhin, als man umtanzt worden war von so viel Bildern des Grauens, da hatte man im Geist rundum kleine schwarze Augen gesehen, und das waren die Mündungen der Gewehre, die den Todgeweihten anschauen, wenn er vor dem Peloton steht . . .

Da hatte man sich die Seele aus dem Leibe gefürchtet. Jetzt aber war da etwas Feierliches und Erlösendes gekommen, es war kein Bußetun und war keine Frömmelei, es war eben nur das Wissen um einen Weg. Und man fürchtete 142 sich nicht mehr und war nun kein apathisches, aus dem warmen Stall gerissenes Tier mehr . . .

Sondern wieder ein tapferer und klarer Mensch. Sie richtete sich auf. Jetzt sah sie auch das Gesicht jenes jungen Mädchens, dessen Namen ich hier nicht nennen werde . . . Jenes halben Kindes, das hier im Mordkeller das Johannes-Evangelium las und allen noch in gutem Gedächtnis geblieben ist, die sie damals gesehen haben. Jetzt also war ringsum Stille und niemand sang mehr Zotenlieder und niemand redete von Küchenrezepten, und nur das Kind der lettischen Kaufmannsfrau, halb schon im Schlaf, weinte vor Frost. Maria von Alt-Dostheim stand auf, nahm das Plaid und nahm auch den Mantel und deckte das Kind zu.

Ach, ich kann ja nicht deswegen behaupten, daß sie nun nicht mehr gelitten hätte. Es war bitter kalt und sie begann leise vor sich hin zu weinen.

Und streckte sich schließlich in ihrem dünnen Fähnchen auf den eisigen und kotigen Boden. Und zitterte jämmerlich und schlief endlich tief und fest ein und erwachte erst, als das Schicksal dieser armen Verdammten eine jähe Wendung nahm . . .

143 Auf einem tief verschneiten Gleis nämlich des Mitauer Güterbahnhofes hielt in jener Nacht, ehemals einem Großfürsten gehörig und nun verwendet als fahrbares Hauptquartier, der Salonwagen des Kommissars der roten Nordwestfront, Petraschewski, und der war, nachdem er am zehnten unten in Litauen inspiziert hatte, auf die Nachricht von dem Verlust der Vorpostenstellungen bei Frauenberg und Doblen sofort wieder hierhergebraust, hatte sich diesen Kavalleriekommandanten Prack kommen lassen, der zwar bei vernünftiger Beurteilung der Sachlage nichts für den Rückschlag konnte; als Deutscher aber dem Letten Petraschewski an sich verhaßt war und drüben übrigens bei den Weißen einen Vetter hatte und somit für die in Petersburg einen ausgezeichneten Sündenbock abgeben konnte.

Was nun Awgostjin Nikolajewitsch Prack anbetrifft, so wußte er natürlich ganz genau, was dieser abendliche Ruf ins Hauptquartier zu bedeuten hatte. So leicht aber sollte dieser ehemalige Advokat aus Riga, der ja ursprünglich Peters hieß und seinen Namen nur eben russifiziert hatte, ihn nicht haben! Er, Prack, war erschienen. Aber er war gekommen mit seiner ganzen Stabswache, die er sich aus 144 Kosaken und ausgewählten und ihm ergebenen und im Grunde durchaus gegenrevolutionären Leuten zusammengestellt hatte. Auf die Dauer würde das ja auch nichts nützen und morgen oder übermorgen würde dieser Peters ihn ja doch bekommen. Heute aber war er machtlos, heute konnte man ihm nach Herzenslust die eigene Meinung sagen! Draußen vor dem Wagen standen wie ein Wall die Reiter und warteten auf ihren Kommandeur, der nun schon eine volle Stunde dort drinnen war. –

Der niedere, mit vergoldetem Preßleder tapezierte Raum, in dessen Ecken man die Heiligenbilder mit groben, aus Zeitungen ausgeschnittenen Porträts von Lenin und Marx überklebt hatte, war überheizt, an der einen Wand hingen, wie in einem wirklichen Hauptquartier, drei große Karten der Nordwestfront, auf dem Tisch hatten die Tartarendiener aus Piroggen, Kronsbranntwein und rotem sibirischem Kaviar eine Sakuska serviert. Zuerst war die Unterhaltung der beiden Herren ruhig verlaufen, der kleine zahnbürstenblonde Lette mit dem Hechtkopf und den Schielaugen war auf seinen zu kurz geratenen Dackelbeinen ein paarmal auf und ab gelaufen, hatte napoleonisch die Arme verschränkt, hatte viel von »Diversion« und »Operation auf 145 der inneren Linie« geredet, hatte dann aber, nach einem eigentümlich schiefen Blick, einen anderen Ton angeschlagen . . .

»Weshalb sind Sie eigentlich zurückgegangen?«

»Weil die strategische Lage es erforderte«, sagte Prack und gab die nötigen Aufklärungen.

»Der Zentralrat verlangt raschesten Vormarsch und Sie gehen zurück! Können Sie wenigstens Mitau halten?«

»Ohne Verstärkungen – nein.«

»Wissen Sie, daß drüben die Weißen einen Offizier haben, der so heißt wie Sie?«

»Ja.«

»Wie lange können Sie Mitau halten?«

»Bis morgen mittag.«

»Haben Sie Geiseln genommen auf Ihrem Rückzug?«

»Ja.«

»Wie viele?«

»Gegen zweihundert.«

»Sie werden morgen . . . bis spätestens neun Uhr . . . die Leute erschießen lassen. Ausnahmslos erschießen lassen«, schrie Petraschewski und schien bei der Vorstellung, daß diese Geiseln noch lebten, plötzlich einen Wutanfall bekommen 146 zu haben. Und nun steuerte das Gespräch rasch der Katastrophe zu.

Was nämlich Prack anbetrifft, so wußte er von vorneherein, daß er verloren war, und auf keinen Fall wollte er vor diesem Advokaten sich etwas vergeben . . . was aber Petraschewski anbetrifft, so brauchte er, um den anderen in Petersburg anzuschwärzen, den Krach, und suchte ihn und war fest entschlossen ihn zu finden . . .

Und fuchtelte mit der Reitpeitsche herum und steigerte sich absichtlich immer mehr hinein in seine Wutanfälle und griff zunächst mal das alte Thema auf . . .

»Sie räumen also auch Mitau! Warum?«

»Das habe ich Ihnen schon gesagt.«

»Ich verstehe Sie aber nicht.«

»Dann nehmen Sie einen strategischen Aufklärungskursus. Ich bin nicht da, um Ihnen das ABC beizubringen.« Das war schon sehr stark, das hatte diesem eitlen Menschen noch kein alter Zarenoffizier gesagt . . .

»Wissen Sie, was man mit Ihnen tun wird?« schrie Petraschewski.

»Ja.«

»Wissen Sie, daß ich Sie sofort verhaften lassen kann?«

147 »Morgen vielleicht – heute noch nicht«, sagte Prack und zeigte mit dem Kopf hinüber nach dem Fenster, hinter dem die Stabswache stand. Das aber war zu viel, und da kam der andere um den letzten Rest seiner Besinnung und steuerte mitten hinein in eine Eselei . . .

Und riß in seiner Wut samt Tellern und Flaschen vom Tisch das Tuch und trampelte herum in Piroggen und rotem sibirischem Kaviar. –

Und griff in die Tasche und warf, als spiele er nun Trumpfaß aus, auf den Tisch ein Bild.

Das Bild eines deutschen Offiziers, die Vergrößerung eines jener Photos, wie sie unter dem Titel »Ritter des E. K. I« im ersten Kriegsjahr in allen deutschen Zeitschriften erschienen waren . . .

»Kennen Sie den Mann?« schreit Petraschewski, und Prack nimmt das Bild. Und das Bild ist, wenn man absieht von der fremden Uniform, sein eigenes Ebenbild, Höllenspuk und Zauberei der Tscheka ist das Bild . . .

Und der Prack ist blaß geworden.

Und Petraschewski fuchtelt wieder mit der Peitsche. »Kennen Sie also den Mann?« fragt Petraschewski.

Und Prack zuckt die Achseln.

148 »Ihr Vetter.«

»Legen Sie Ihre Peitsche fort.«

»Wissen Sie, daß ein Vetter beim Feinde manchen Rückzug erklärt?«

Das ist ja nun dumm, sinnlos und plump und nur zu verstehen als Ausdruck einer besinnungslosen Wut . . .

»Wissen Sie jetzt, warum Sie Mitau räumen?« schreit Petraschewski.

»Was soll das heißen?« fragt Prack.

»Das!« brüllt Petraschewski und schlägt zu. Nach des anderen Gesicht. Der Hieb, abgelenkt durch Pracks Griff nach Petraschewskis Handgelenk, trifft nur den Waffenrock. Da dreht ihm Prack den Reitstock aus der Hand und zerbricht ihn und wirft ihm die Stücke ins Gesicht . . .

Und schiebt die Tartaren beiseite, die hereingekommen sind und mit runden und entsetzten Augen die Szene mit ansehen.

Und geht.

Gut tut die frische Luft, prickelt wie Champagner, die Sterne funkeln. Die Stabswache, ein dunkler Reiterwall, wartet vor dem einsamen Bogenlicht, Ninotschka, eingemummelt und rotwangig wie ein hübscher Schuljunge, bringt den Rapphengst. »Krassawtschik«, heißt er, läßt 149 sonst nicht leicht aufsitzen, ist heute sanft wie ein Lamm. Was hat das Pferd? Was haben die Leute? Die Leute haben drinnen das Geschrei gehört, das Roß wittert das Schicksal, Leute und Roß wissen, wohin es mit ihm steuert, haben Mitleid mit ihm. Prack pfeift durch die Zähne, wird ihnen das Mitleid noch heute nacht austreiben . . .

Sitzt auf. »Antraben«, befiehlt Prack. Die Kolonne trabt. Dann kommt der Thronfolgerboulevard, die Straße ist vereist, von selbst fällt die Kolonne in Schritt. »Russalka, mein Pferdchen«, singen die Leute, Prack hört es kaum, schaut hinauf zu den verhängten Fenstern der Biedermeierhäuser . . .

Und lacht vor sich hin. Dort oben wohnten die deutschen Barone, die Barone sitzen jetzt in der Kirche gefangen, und er selbst kommt nun geritten, um ihnen den Tod anzukündigen – wie denn, soll er vielleicht Mitleid mit ihnen haben, wo er nun selbst ein toter Mann ist?

Er denkt zurück. An die Szene mit diesem Petraschewski. »Ein Lette und eine Schlange vergessen nicht«, sagt ein russisches Sprichwort, und er, Awgostjin Nikolajewitsch Prack, wird die Szene bezahlen mit dem Leben. Mit dem Leben? Was liegt schon am Leben? Man wird 150 also nie mehr bei MedwedjPetersburger Restaurant. soupieren, wird nie mehr im abendlichen Stall den käuenden Pferden zuhören, nie mehr in Peterhof die großen Paraden sehen. Was liegt daran? Gott ist tot, der Kaiser ist tot, Rußland ist tot – aus den Spalten kroch Ungeziefer, hat Rußland gefressen, was liegt also noch am Leben?

Er trabt wieder an. Am Leben, Awgostjin Nikolajewitsch, liegt nichts, viel liegt daran, daß man gut stirbt und daß dieser Lette ihn nicht in die Hände bekommt. Die Straße krümmt sich. Ueber der Libauschen Vorstadt liegt ein Feuerschein, den mag der deutsche Vetter angezündet haben. Der Vetter, der keinen Petraschewski über sich hat, der Vetter, der noch nicht unter den Schlitten gekommen ist und noch nicht zu sterben braucht. Prack denkt es und es steigt in ihm plötzlich gegen den anderen so etwas wie Groll auf: bis nachher also, Herr Vetter . . . auf gute Begegnung, Herr Doppelgänger, wir treffen uns am Ende doch noch! Er lacht vor sich hin. Im Hirn keimt für diese Nacht, die ja doch die letzte für ihn ist, ein Plan. Damit ist er schon bei der Trinitatiskirche angekommen. –

151 Er sitzt ab, ist so beschäftigt gewesen mit Petraschewski, mit dem deutschen Vetter und vor allem mit dem eben ausgeheckten Plan für diese Nacht, daß er im Augenblick ganz und gar vergessen hat, was er eigentlich hier in dieser Kirche soll! Richtig, in dieser Kirche sitzen die Gefangenen, die Gefangenen sind morgen früh zu erschießen, und er, Prack, hat den Auftrag, es ihnen zu eröffnen! Nun, man ist ja doch kein Staatsanwalt, kein Kerkermeister und kein Schinder, man braucht es den armen Leuten ja nicht so direkt und nicht so plump zu sagen, man wird es ihnen also so . . . so durch die Blume zu verstehen geben.

In diesem Vorsatze also läßt er die Gefangenen heraufrufen, sieht diese verhungerten und jämmerlichen Gestalten, denkt daran, daß es eigentlich Standesgenossen sind, entdeckt plötzlich unter diesen alten Baronen zwei Herren, die er kurz vor dem Krieg in Oranienbaum auf einem Tee bei der alten Großfürstin Marie getroffen hat . . .

Und bemerkt, daß sie ihn erkannt haben, schämt sich seines tiefen Falles und fühlt innen eine offene Wunde brennen . . .

Versteckt sich hinter der Liste und sucht die Peinlichkeit dieses Wiedersehens zu überwinden, 152 indem er laut die Namen aufruft und mit dem Schreiber herumkeppelt, der es unterlassen hat, neben diese Namen das Geschlecht und das Alter zu schreiben.

»Von Buch, Klockmann, von Manderheim, von Elsenau, Grüning . . .« Eine lange Reihe. Alle melden sich denn auch richtig, und es fehlt nur einer, der als letzter auf der Liste steht . . .

»Von Dostheim.«

Niemand meldet sich.

»Herr Dostheim . . . Gospodjin Dostheim.«

Ein junges Mädchen tritt vor und klärt die Angelegenheit dahin auf, daß das Fräulein von Alt-Dostheim vor einigen Stunden schwer erkältet und fiebernd eingeliefert sei und unten liege, und daß man nicht das Herz gehabt habe, sie heraufzuholen – Prack hört es, verschanzt sein im Grunde keineswegs hartes Herz hinter Fluchen und Rasaunen, besteht darauf, daß alle Gefangenen anwesend sind, und schickt Ninotschka, sie solle »Frau Dostheim« holen, und beginnt inzwischen mit seiner Ansprache an diese Geiseln . . .

Er sucht nach den passenden Worten, fährt sich in seiner Unbeholfenheit durch das Haar, stottert herum, findet endlich. Es werde also 153 morgen früh, so eröffnet er den Gefangenen, in ihrer Lage eine gewisse Veränderung eintreten . . . man solle sich nichts Schlimmes dabei denken und sich darauf vorbereiten und wieder ruhig nach unten gehen . . .

So sagt er, was er zu sagen hat, und die meisten von diesen Leuten wissen wohl, was es bedeutet, und ein paar sind blaß geworden, und die meisten starren traurig vor sich hin, und nur einige wenige denken an Freilassung oder Besserung ihrer Lage . . .

Er aber, der Prack, ist außerordentlich stolz auf seine Rednerleistung und ist sehr froh, die Sache hinter sich zu haben und will schon gehen und erinnert sich, daß er sich noch nicht von der Anwesenheit von Dostheim überzeugt hat . . .

Kehrt noch einmal um, sieht Ninotschka mit der Gefangenen kommen und geht auf sie zu: »Heißen Sie Dostheim?« Da aber geschieht etwas, worauf er keineswegs vorbereitet gewesen ist.

Die Gefangene nämlich (übrigens ein schönes und junges, offenbar aber wirklich schwer krankes und jedenfalls fieberndes Geschöpf) geht ein paar Schritte auf Prack zu, bleibt stehen, starrt ihn, als sei er ein alter Bekannter von ihr, an . . .

154 Schreit laut auf, greift, als wollte sie sich an etwas halten, mit den Händen in die leere Luft.

Taumelt und fällt vornüber auf die Fliesen und liegt. Offenbar ist sie wirklich schwer krank, und schön ist sie auch, und er ist doch kein Unmensch, sondern der kaiserliche Stabsrittmeister von Prack. Und er beugt sich über die Kranke . . .

Er benimmt sich dabei recht unbeholfen, vergißt auch gänzlich, daß sie seine Gefangene ist, verrennt sich durchaus in die Formen seiner Vergangenheit und benimmt sich ganz so, als sei auf dem Parkett des Winterpalais eine Hofdame in Ohnmacht gefallen . . .

Hört auch, daß sie nun im Fieber etwas von »München« und »Tanzen« und auch sonst noch allerlei unverständliches Zeug redet, stottert seinerseits an etwas herum, was aus seiner unermeßlichen Verlegenheit kommt und, wie gesagt, durchaus in den Salon und keineswegs in eine verräucherte und geschändete und verlauste Kirche gehört . . .

»Aber meine Liebe . . . erlauben Sie doch, keineswegs sollten Sie das so ernst nehmen . . .«

So dummes Zeug redet er in seiner Verlegenheit und will so verfahren, wie man mit 155 ohnmächtigen Frauen verfährt, und wie er das jedenfalls gelernt hat. Und er tastet ganz mechanisch nach seiner Schoßtasche, in der sonst immer das kleine Flakon mit Kölnischem saß, tastet, erwischt es auch, zieht es hervor und erinnert sich jetzt erst, daß er seit vielen, vielen Jahren kein »Kölnisches« mehr gesehen hat, und daß das, was er da aus seiner Tasche hervorgeholt hat, ein »Entlausungsmittel, empfohlen von Professor Chomjakow«, ist. Da wacht er auf aus den Träumen von seiner Vergangenheit.

Sie sind, verehrtester Awgostjin Nikolajewitsch, keineswegs im Winterpalais und auch nicht in Oranienbaum, Sie sind nicht mehr Stabsrittmeister in der Garde, und die Dame da ist auch keine in Ohnmacht gefallene Hofdame . . .

Sondern Sie befinden sich in der vom Regiment »Bakunin« besetzten, entweihten und verdreckten Kirche in Mitau, und Sie sind Regimentschef einer berittenen Räuberbande, und das junge Mädchen da ist sozusagen Ihre Gefangene, die morgen von Ihren Leuten erschossen werden wird. Mit dieser Erkenntnis ist er wieder in der Gegenwart, fühlt das Peinliche und Unpassende dieser Szene und steht auf.

156 »Fortbringen«, sagt kurz und bündig der Prack und dreht sich ab.

Und beschließt, nicht mehr daran zu denken, sondern denkt an Petraschewski, an den deutschen Vetter, an seinen Plan für diese Nacht. Und geht und gibt Alarm für die erste und die zweite Schwadron. »Katji letji streloi« schmettert über den verschneiten Platz vor der Trinitatiskirche das alte kaiserliche SignalWie die deutschen, so hatten auch die russischen Signale im Soldatenmunde Texte. Das Alarmsignal »Katji letji streloi« bedeutet: »Auf und fliege wie ein Pfeil.«. Nach zehn Minuten läßt er aufsitzen. Ninotschka scheucht er zurück. »Mach nur, meine Liebe, daß du fortkommst, keineswegs kann ich heute Weiber brauchen.« Das sagt der Prack und scheucht den kleinen Soldaten, der rotwangig ist wie ein Borsdorfer Apfel, zurück. Ins Dunkel hinaus klirren die Schwadronen.

Maria von Alt-Dostheim weiß von all dem nichts.

Ein armes, von den Fratzen des Schicksals gemartertes Menschenkind wird fiebernd und vielleicht mit einer schweren Krankheit, jedenfalls aber ohne klares Bewußtsein zurückgeschafft in 157 jenes Loch, das einst die Sarkophage der Herzöge von Kurland barg.

Nun aber als Gefängnis dient für arme Menschenkinder, die von einer harten Hand über Nacht herausgerissen wurden aus ihrem freundlichen Dasein, und nun schon dahindämmern in jenem nebelerfüllten Land, das zwischen Leben und Tod gebreitet ist. 158

 


 


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