Fritz Reck-Malleczewen
Ein Mannsbild namens Prack
Fritz Reck-Malleczewen

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In dem weiteren Schicksale des Rittmeisters Arved von Prack klafft während der folgenden fünf bis sechs Stunden eine Lücke insofern, als man angewiesen ist auf die Aussagen der am nächsten Tage gefangenen Russen. Bemerkt aber muß werden, daß das Mißgeschick der ursprünglich von Prack, dann aber nach dessen Verschwinden von dem Oberleutnant Eberhard geführten Schwadronen damals bis zum Morgen anhielt, daß die bei der Spitze eingetretene Verwirrung auch auf das Gros übergriff und dort, wie das bei Nachtgefechten ja nicht selten ist, gegenseitiges Beschießen, Durchgehen der Fahrzeugbespannungen und zeitweilige Versprengung der Verbände zur Folge hatte. Tatsächlich aber dauerte es geraume Zeit, bis Trips die beiden Schwadronen und zumal die durchgegangenen Gewehrbespannungen wieder 176 beisammen hatte, inzwischen aber hatten die ganzen westlich von Mitau stehenden Vorposten in den Kampf eingegriffen, und es war, sehr bald nach der eben geschilderten Szene auf dem Hofe von Lievenbärsen, ein Gefecht in Gang gekommen, das die ganze Nacht andauerte, zunächst für die deutschen Truppen recht wenig vorteilhaft verlief und für sie sich erst in den frühen Morgenstunden entschied, als auf ihrer Seite Verstärkungen und auch Artillerie eingriffen.

Tatsache aber ist, daß das, was in dieser Nacht der weiße Prack sah oder zu sehen glaubte, keineswegs nur seinem Fieber entsprang und daß die oben erwähnte Kampfhandlung, wenngleich immer nur mit ganz kleinen Trupps, des öfteren das brennende Gehöft berührte. Mehrfach also sprengten in jener Nacht über den Hof sowohl russische wie deutsche Reiter, kümmerten sich zunächst um den daliegenden und offenbar toten Mann nicht, jagten in die Nacht hinaus, und aufgefunden wurde der weiße Prack erst, als um etwa zwei Uhr morgens Trips mit seinen beiden Schwadronen weit nach Westen zurückgedrängt war und das Gehöft noch einmal, wenngleich für wenige Stunden, in russischen Besitz kam.

177 Bemerkt muß nun werden, daß um jene Stunde die Flammen fast schon erloschen waren, daß der rote Prack ja unter den Trümmern der zusammengebrochenen Scheune lag und daß der Kosak, der sich gegen zwei Uhr auf den Hof pirschte, neben dem in den russischen Uniformmantel gehüllten Verwundeten den wohlbekannten riesigen Rapphengst des Toten vorfand. An der Identität des Verwundeten mit seinem Regimentsführer hätte also der Mann, zumal bei der mangelhaften Beleuchtung des Schauplatzes durch die nur noch hie und da auflebenden Flammen, auch dann nicht zweifeln können, wenn er ihm den Mantel geöffnet hätte: die Blutung aus der Stirnwunde stand zwar längst, doch bedeckte die Kruste geronnenen Blutes gewissermaßen als Maske nicht nur das Gesicht, sondern auch die Vorderseite des Waffenrockes und somit alle Merkmale, die im Leben den Toten von diesem Verwundeten hier unterschieden hatten. Verräterisch hätten nur, wofern sie unter dem Mantel sichtbar geworden wären, die Achselstücke wirken können. Der Kosak aber, der sich nun über seinen vermeintlichen Regimentsführer beugte, kam ja beileibe nicht auf den Gedanken, ihm diesen Mantel abzuziehn. Er knöpfte ihn vielmehr, wie er über den Schultern 178 des Verwundeten hing, vorn fest zu und tat dann das, was angesichts des Blutverlustes auch einigermaßen vernünftig und zweckmäßig erschien. Nach einigen Klagelauten nämlich und nach einigen energischen Aufforderungen, es möge der Bewußtlose doch zum Leben erwachen, flößte er dem Prack eine ziemlich kräftige Dosis von jenem nicht wenig übermäßig reinen, dafür aber um so kräftigeren Schnaps ein, wie er damals im Jahre 1919, als die Regierung den gewöhnlichen russischen Monopolbranntwein nicht liefern konnte, aus Kartoffelschalen, Getreide und allerhand dunklen Bestandteilen von den Bauern und Soldaten der Roten Armee selbst gebraut wurde und unter dem Namen »Samagonka« bei den Truppen beliebt und begehrt war.

Dann winkte der kleine schlitzäugige Mensch seinen beiden Kameraden zu, die auf ihren kleinen Pferdchen eben auf den Hof geritten kamen, und zu dritt versuchte man den vermeintlichen Regimentsführer in den Sattel zu heben. Es ist festzustellen, daß der Hengst Krassawtschik als einziger von den hier anwesenden Männern den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Prack mit der Witterung des Tieres insofern vermerkte, als er bei dem eben erwähnten 179 Versuch schnob und stieg und auskeilte. Das aber war man an Krassawtschik von jeher gewöhnt, hob Prack also auf einen der geduldigen Kosakenkunter und trottete so, nicht ohne in der bekannten Kosakenweise an den Hengst gerichtete Vorwürfe, nach Mitau zurück.

Kurz vor drei Uhr langte dieser Zug dortselbst vor der Trinitatiskirche an. Da es einen Arzt bei »Bakunin« nicht gab, bettete man ihn kurzerhand auf Stroh, bedeckte ihn mit einigen Woilachs und überließ ihn des weiteren der Pflege jenes in bewegte Klagen ausbrechenden Soldaten, der Ninotschka hieß und dem roten Prack sozusagen als Bursche gedient hatte. Es ist zu bemerken, daß bei den obwaltenden schlechten Beleuchtungsverhältnissen niemand, auch Ninotschka nicht, daran zweifelte, es sei in diesem zunächst ja recht apathischen Verwundeten tatsächlich der Genosse Kommandeur eingeliefert worden.

Der Verwundete war zunächst so apathisch und zunächst wohl auch so fieberwirr, daß er von seiner Umgebung kaum Kenntnis nahm. Mit halboffenen Augen sah er über sich diese verrußten Gewölbe, hörte Pferde schnauben, sah ab und zu mit einer Stallaterne die eingemummelten Gestalten der Soldaten vorübergehen, hätte 180 aber natürlich bei diesem Licht auch in gesundem Zustande nichts Näheres unterscheiden können und war viel zu benommen, um auf das Sprechen ringsherum zu achten. Da lag er also. Aus den roten Schleiern des Fiebers löste sich einmal mit lustig aufgestülpter Juchheinase der Kopf eines kleinen rotwangigen Soldaten, der kleine Soldat brachte Wasser, und man trank gierig und sank wieder zurück und lag. Und es schlossen sich wieder die roten Schleier und man war gar nicht hier. Man war weit zurück, man ritt Anno 1914 durch die sagenhafte Durchbruchsnacht bei Lodz und sah mit leeren Augen neben sich den toten Bruder reiten, man war in Kärnten und saß in der Maschine, und vorn hinter dem Propeller saß rittlings der rote Vetter und fuchtelte mit den Armen . . .

»En bas, mon cousin«, schrie der rote, tote Vetter und zeigte nach unten, und unten war ein ganzer Wald von riesigen aufwärts gerichteten Säbeln und die Maschine sackte und es half kein Höhensteuer, und vorn der Vetter juchzte . . .

»Merde«, schrie auf seinem Sitz der Vetter und war dabei schaurig klein geworden wie eine 181 Maskottfigur und fuchtelte wie eine Marionette mit den Armen, »he, hop olé, frère cochon...«

Das schrie der Vetter und purzelte von seinem Sitz in die Tiefe. Und man selbst sauste ins Bodenlose hinter ihm drein und sah auf sich zukommen diese infamen Schwertspitzen und riß am Steuer und schrie auf und erwachte. Einmal sah er in dieser Pause wirrer Bewußtheit vor sich mit einem Uniformierten einen häßlichen kleinen Zivilisten stehen und fühlte, wie dieser Mensch da mit der Stiefelspitze nach ihm zeigte und hörte ihn zu dem Uniformierten Worte sprechen, die unverständlich blieben . . . einmal war es ihm, als käme, gleichsam aus der Erde, zu ihm Musik . . . frommer Choralgesang, Sterbelieder, weiß Gott was . . . im wirren Hirn geisterte der Gedanke herum, er sei tot und werde begraben. Das aber war schon ein friedlicherer Eindruck, es war der Vorbote eines kurzen, aber ungemein erquickenden Schlafes, der mit dem Absinken des Fiebers kam. Es war gegen sechs Uhr früh, als er erwachte.

Er erwachte von einer heftigen Berührung seines Fußes, die davon herrührte, daß jemand über seine ausgestreckten Beine gestolpert war – Prack sah den Menschen, der eine Laterne trug, aufstehen und hörte einen furchtbaren 182 Fluch, war aber noch nicht soweit wach, um von der Tatsache Vermerk zu nehmen, daß der Mensch auf russisch fluchte. Dann freilich kam ein Stückchen vollen Bewußtseins, und bezeichnenderweise knüpften die ersten halbwegs klaren Gedanken dort an, wo gestern die Sinne erloschen waren. Beim toten Tasso. Beim brennenden Gehöft Lievenbärsen. Bei dem Mann, den man gestern erstochen hatte. Er tastete an sich herum. Der Waffenrock war voller Blut, Blutkrusten saßen auf dem Gesicht, der Schädel brummte furchtbar. »Ein Kognak wäre jetzt kaum zu verachten«, dachte der Prack. Da aber traten Ereignisse ein, die vor seinen Sinnen die letzten Schleier zerrissen.

Zunächst hatte er ja das unbezwingliche Bedürfnis, wieder einzuschlafen und schloß die Augen. Draußen in weiter Ferne fielen Schüsse und er dachte an Trips und an dessen miserable Vorhutführung und an die große, dicke Zigarre, die er Trips verabreichen wollte, er war sich über den Ort, an dem er sich befand und über alle Zusammenhänge mit dem Gestern noch im unklaren, fuhr aber plötzlich auf. Draußen schmetterte ein wohlbekanntes russisches Signal, das Signal riß ihn vollends aus seiner Nirvana und zeigte ihm die Dinge ringsum in einer 183 Deutlichkeit, die von einer Minute zur anderen wuchs und zeitweilige Trübungen nur dann erfuhr, wenn er sich aufzurichten versuchte und der Aderlaß von gestern sich kundtat in plötzlicher Blutleere des Hirnes und dem unbezwinglichen Bedürfnis, wieder zurückzusinken in Schlaf und Traumschleier.

Erwachend also sah der Prack einen Raum, der offensichtlich eine Kirche war, sah Menschen, Waffen und kleine Pferde, die ja nun eigentlich in keine Kirche gehörten und die man doch hier dicht vor seinem Lager aus den dunklen Seitenschiffen hervorzerrte und sattelte. »Miserable Gäule«, dachte mit einem der ersten völlig klaren Gedanken der Prack, und »Du Himmelhund hast deine Kinnkette verloren«, dachte er weiter, als dicht vor ihm ein kleiner pockennarbiger Mann seinen Kunter auftrenste. Das wichtigste freilich bemerkte er zum Schluß: diese Menschen da vor ihm trugen russische Uniformen und die Chargen, die allenthalben herumliefen und die Leute zur Eile antrieben, sprachen russisch. Es sprach allerlei dafür, daß man gefangen war. –

Man war gefangen, und, so fuhr es ihm durch's Hirn, es gab in diesem erbitterten Kriege keine Gefangenen – es gab nur Vernichtung 184 und Auslöschen des Gegners! Und dicht vor ihm stand jetzt, geschniegelt und aufgedonnert wie eine Modepuppe, ein Zivilist, und der Zivilist sprach mit einem baumlangen Wachtmeister, und in der langen Suada konnte man ein Wort verstehen, das immer wiederkehrte: »ubitj«, hieß das Wort. Der Prack schloß die Augen.

»Ubitj«, hieß »hinrichten«, und so weit war der Prack noch nicht, daß er über sich hinaus an gewisse andere Gefangene denken konnte, die man nach Mitau verschleppt hatte – der Prack hörte das Wort und bezog es zunächst auf sich. Der Tod aber? In Finnland hatte er einen Russen gesehen, der sich gleichmütig und auf seinen Wunsch mitten in der Henkersmahlzeit von Speck und Grütze hatte erschießen lassen, und man selbst bildete sich keineswegs ein, von Todesmut zu triefen und wußte wohl, daß es zum Schluß bei fast jedem ein bißchen Gezappel gab . . .

Der Tod aber? Der Tod war für den Prack wirklich nur eine Kommißangelegenheit, die von Sanitätsgefreiten und alten Hofdamen ungebührlich aufgebauscht wurde. Er dachte es und versuchte, sich auf die andere Seite zu legen und fühlte, wie schwach er doch noch war und hätte 185 gern eine Zigarette geraucht. Jemand rüttelte ihn auf . . .

»Ew. Hochwohlgeborn bringe ich Wasser.«

Na schön. Den kleinen Soldaten mit der lustigen hochgestülpten Nase mußte er schon heute nacht gesehen haben, er trank gierig und wunderte sich über die schlanken Hände des Burschen da . . .

»Ew. Hochwohlgeborn geruhn, sich nachher waschen zu lassen«, und der kleine Soldat entfernte sich mit dieser Ankündigung und der Prack amüsierte sich über die Höflichkeit des Mannes. »Ew. Hochwohlgeborn« war gut, und »geruhn« war fast noch besser, und wenn das ja auch nur die Prack durchaus bekannte Soldatensprache der alten zaristischen Armee war, so blieb es doch an diesem Orte einigermaßen bemerkenswert, und nachher würden die Bolschewiken geruhn, Se. Hochwohlgeborn den Rittmeister von Prack zu erschießen. Beinahe hätte er nun gelacht. Er ahnte nicht, daß die Fürsorge des kleinen Soldaten nicht ihm, sondern jenem stillen Manne galt, mit dem man ihn verwechselte und den er gestern getötet hatte und der sein spukhafter Vetter gewesen war. Nein, an diese Verwechslung dachte er nicht – er sah auf das Treiben ringsum und legte es sich aus 186 als alter Krieger. Draußen knallte es ziemlich heftig, der Kavalier von vorhin mit den englischen Reithosen schnauzte und trieb die Leute zur Eile an – das Ganze sah durchaus nach Abbruch der Zelte, nach schleunigem Verduften und Räumung von Mitau aus. Was aber hatte der Kerl von vorhin gesagt? Er hatte »ubitj« gesagt, und noch überall hatten die Bolschewiken vor Räumung einer Stadt ihre Geiseln erschossen, und wenn sie's hier noch nicht getan hatten, so sicherlich nur, weil sie überrascht waren, zunächst mal ihre Nachhuten sichern mußten und vielleicht auch den Morgen abwarteten. Der Prack sah, daß die Chorfenster, bislang unsichtbar, sich grau abzuheben begannen von der dunklen Wand, er wußte, daß es zu tagen begann und wollte sich so ruhig wie möglich ins Unvermeidliche fügen und schloß die Augen und tat sie doch gleich wieder auf. Es schien so weit zu sein und es sah ganz so aus, als ob das »Unvermeidliche« nun schon da war: dicht an ihm vorüber führte man Leute zur Hinrichtung. –

Zuerst hatte er, deutlich unterschieden von dem Hufgeklapper ringsum, den Marsch einer geschlossenen Kolonne gehört – er hob den Kopf und sah es den Mittelgang herabkommen: 187 Soldaten mit umgehängtem Karabiner voran, Soldaten hinterdrein, in der Mitte Zivil. Männer und Frauen durcheinander, ein paar ältere Herren von sehr würdiger Haltung, zwei zerlumpte und übel aussehende Individuen, ein paar ältere Damen vom Gepräge der baltischen Gesellschaft, eine ziemlich stumpf dahertrottende rundliche Bürgersfrau, gegen Ende des Zuges mit einer weiteren, bitterlich weinenden und die Hände ringenden Frau lettischen Typs ein junges Mädchen. Die Frau war gänzlich zusammengebrochen und mußte gestützt werden. Das fast noch kindliche Geschöpf an ihrer Seite, das sie untergefaßt hatte, ging ruhig und sicher und mit einem Lächeln, in dem beinahe schon so etwas wie Verklärung war. Auf Prack aber, der derlei ja nicht zum erstenmal sah und sehr genau wußte, was diese Verklärung und was dieser ganze Zug bedeutete – auf Prack also stürzte sich wie Blitz und Donner zum ersten Male seit gestern abend der Gedanke an eine andere Frau, die man ja auch nach Mitau verschleppt hatte . . .

Das aber war nur ein flüchtiger, ein sofort wieder verflatternder Gedanke – der Prack sah es vorüberziehn und sah, daß keine von diesen Frauen hier an jene andere erinnerte, er ließ den 188 Kopf wieder sinken und sah aus dem blutleeren Hirn wieder die Schleier kommen. Rote Schleier, giftgrüne Sonnen, Brausen ringsum und die verworrenen Geräusche durcheinanderlaufender Menschen, weit draußen das Rattern eines Maschinengewehrs und nahes und fernes Schießen, und dann in weiter Ferne das Wummern von Geschützfeuer. »Geruhen Ew. Hochwohlgeboren jetzt.« Der kleine Soldat war mit Eimer und Schwamm da.

Zuerst das Gesicht mit vorsichtigem Erweichen der Blutkruste. »Die Wunde wird man lassen.« Wie behutsam der Bursche arbeitete und wie mädchenhaft das Gesicht war! »Bist du ein Mann?« fragte, noch immer etwas benommen, der Prack, und der Kleine sah ihn an mit erstaunten Augen. »Ew. Hochwohlgeboren wissen doch.« Nichts wußte der Prack. Dafür kam jetzt, wo das Blut wieder in das leere Hirn floß, wieder der Gedanke von vorhin. »Habt ihr viel Gefangene?« fragte der Prack, und wieder sah ihn der Kerl an mit seinen runden verwunderten Augen . . .

»Viele. Im Keller. Ew. Hochwohlgeboren wissen ja. Keineswegs kann man alle auf einmal . . .« Dann tupfte er mit einem entsetzlich dreckigen Taschentuch das Gesicht trocken.

189 »Man wird gut tun, auch am Hals . . .« »Meinetwegen«, dachte der Prack. »Man wird die Knöpfe öffnen müssen«, sagte der kleine Soldat und hakte den Mantel auf. »Belieben Ew. Hochwohlgeboren jetzt ein wenig . . .«

Damit richtete er den Liegenden auf. Der Mantel glitt von den Schultern. Da kam es.

Der Prack nämlich, dem beim Aufrichten das Blut sofort wieder aus dem Hirn wich, fühlte noch, wie der Soldat an seinen Achselstücken herumtastete, sah ihn aufspringen und davonlaufen und purzelte, sowie er den Halt verloren hatte, hin und hörte nur noch den Burschen schreien . . .

»Keineswegs, Ew. Hochwohlgeboren, ist es einer der unseren . . . es ist einer von drüben, ein Weißer . . .«

Das hörte der Prack.

»Was der Kerl nur haben mag?« dachte der Prack und wußte nicht, daß mit »Ew. Hochwohlgeboren« dieses Mal ein anderer gemeint war, und wollte auch dieses neue Theater geduldig über sich ergehen lassen, und schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als man ihn aufrüttelte und mit der Taschenlampe beleuchtete. Vor sich aber sah er mit dem kleinen Soldaten und dem langen Wachtmeister jenen 190 ekelhaften Kerl in Reithosen, man hatte seine Taschen ausgeräumt und seine Papiere weggenommen, und über ihn ergoß sich ein Sturzregen von Fragen . . .

»Führen Sie weitere Waffen? Führen Sie weitere Papiere? Wie kommen Sie zu dem russischen Mantel?«

Was die Kerle nur mit dem Mantel wollten . . .

»Sie heißen Prack? Haben Sie Beziehungen zu dem Prack, der bei uns kommandiert? Sind Sie der Rittmeister Prack, der gestern in Doblen unsere Genossen in der Kirche verhaftet hat?«

Der Prack schwieg.

»Nun gut, mein Lieber, wir werden also sehen . . . keineswegs wird es Ihnen gelingen . . .«

Der kleine Mensch trampelte vor Wut auf seinen zu kurz geratenen Dackelbeinen herum . . .

»Man wird Sie zum Reden bringen . . . nicht lange werden Sie zu warten brauchen . . .«

»In den Keller«, schrie Petraschewski, und man riß Prack von seinem Lager.

Wie heftig draußen die Schießerei geworden war, hörte er nicht mehr – er war, kaum daß man ihn in die Höhe gerissen hatte, ohne klares 191 Bewußtsein, und durch den Gang mußte man ihn tragen. Unten angekommen, warf man ihn einfach auf den Boden. Seine Wunde hatte wieder zu bluten begonnen. Er war ohnmächtig geworden.

 

Bei den russischen Vorposten war es in jener Nacht gegen drei Uhr zu einem Vorfall gekommen, der alle Hoffnungen des Kommissars Petraschewski, Mitau wenigstens noch bis zum Mittag zu halten, über den Haufen warf, und den von mir berichteten Dingen, wenigstens für die Nächstbeteiligten, eine Wendung gab, wie sie sich zur Stunde, als man den weißen Prack einsperrte, kaum noch erhoffen ließ. –

Gegen drei Uhr nachts also, als man die Deutschen weit zurückgedrängt hatte, da geschah es, daß eine im wesentlichen aus Kosaken bestehende, ehedem der »Stabswache« des roten Prack zugehörige Seitenpatrouille, die von der vergeblichen Suche nach ihrem verschollenen Regimentsführer heimkehrte und zu weit nach Norden abgekommen war, im tiefen Dunkel auf das Gehöft des bislang von allen Kampfhandlungen unberührten und von dem geflüchteten Besitzer längst verlassenen Gutes Padden stieß, 192 in einem der Nebengebäude ein einsames Licht entdeckte und eindrang.

Durchfroren und hungrig wie die Wölfe, hatten die Leute von dem alten WaggerWagger – in Kurland ein Mittelding zwischen Gutsinspektor und Kämmerer. und seiner Frau, die als einzige Hüter der weiten Gebäude zurückgeblieben waren, zu essen verlangt, hatten, als das alte Weiblein auf den Knien ihren gänzlichen Mangel an allen Vorräten beteuerte, den Mann grimmig verprügelt, mit den gezogenen Säbeln, daß die Federn in Wolken herumtanzten, auf die dick gestopften Bauernbetten eingehauen und mit den blanken Klingen die alte Frau bedroht. »Lüg, wie es dir bequem ist . . . gib zu essen, sonst wird es euch nicht gut ergehen.«

Da also hatte in ihrer Ratlosigkeit das Weib zwar beteuert, daß sie nichts zu essen habe, hatte dann aber die Leute über den verschneiten Hof zu dem sorglich vermauerten Gewölbe der Spiritusbrennerei geführt und ihnen im Putz die richtige Stelle gezeigt, und damit das ihre beigetragen zu dem vorzeitigen Falle von Mitau: die Leute hatten die Mauer eingeschlagen, hatten die sauber gestrichenen und verlockend duftenden Spiritustanks gesehen und, nach 193 einigen Proben auf die Güte, sofort Nachricht an die benachbarten Feldwachen gegeben.

Mit Windeseile aber hatte die Nachricht von diesem köstlichen Funde sich auf der ganzen Vorpostenkette verbreitet – sie war durch das Feldtelephon sogar dem in der Stadt liegenden Haupttrupp mitgeteilt worden, und im Nu hatte auf dem verlassenen Gutshof eine unausdenkliche Orgie begonnen. Wenn man auch nichts zu essen hatte, so hatte man doch gewaltige Feuer angezündet, man hatte sich nicht Zeit gelassen, aus den Hähnen der Tanks ordnungsmäßig zu zapfen, sondern man hatte die Tanks einfach eingeschlagen und den ganzen Keller auf diese Weise mit Fusel überflutet, und hatte die Kameraden einfach mit den Feldkesseln schöpfen lassen: »Da Rußland tot ist . . . trinkt, Genossen!« Es war ein bestialisches Gelage. Es gab Leute, die »stocksteif« vor Alkoholvergiftung in der Winternacht hinfielen und am nächsten Tage erfroren aufgefunden wurden – es gab schauerlicherweise noch andere, die sich nicht erst die Mühe des Schöpfens genommen und sofort aus jenem Fuselsee getrunken hatten, und die man dann ertrunken im Keller vorfand. Es half zu nichts, daß die wenigen besonnenen Leute sich ins Zeug legten, es half noch viel weniger, daß 194 die Truppenkommissare erschienen und diesen Rasenden drohten, man werde telegraphisch aus der Tiefe der roten Stellung Elitetruppen herbeiziehen und sie zusammenschießen lassen. »Mögen sie nur kommen«, schrien die Leute, »haben Rußland verkauft . . . werden schauen, wenn sie kommen.« Und sie drohten, ihre Kommissare zu erschießen. Als Petraschewski, den man gegen vier Uhr mit dieser Botschaft geweckt hatte, persönlich auf dem Hofe erschien, wurde er verjagt: »Seht, Brüder, diesen da . . . ist selbst kein russischer Mann, wird uns belehren wollen.« Sie drohten ihm, man werde ihn in Spiritus tauchen und anzünden, sie brüllten hinter ihm, als er flüchtete, schauerlicherweise mit ihren besoffenen Stimmen die alte Zarenhymne her – er war noch viel schneller als auf seiner Ausfahrt wieder zurückgekehrt nach Mitau. –

Was nun die mittelbaren Folgen dieses Vorfalles angeht, so war es ihm zu danken, daß der in den Morgenstunden erfolgte erneute deutsche Vorstoß die russischen Vorposten einfach überrannte, daß Mitau, wenn ja auch nur für kurze Zeit, um volle fünf Stunden früher fiel, und daß für die Nächstbeteiligten die Dinge, wie 195 gesagt, eine sehr viel glimpflichere Wendung nahmen, als es sich hatte voraussehen lassen. –

Was die unmittelbaren Folgen anbetrifft, so bewegten sie sich in der gleichen Schicksalsrichtung und bestanden in ihrer Auswirkung auf den russischen Höchstkommandierenden Petraschewski. Heimgekehrt nämlich, hatte dieser wegen seiner Brutalität und seiner Wutanfälle weithin gefürchtete MannMan glaube ja nicht, daß er eine Romanfigur ist. Er war im Baltikum der gefürchtetste Henker jener Tage, und er hat seine Tätigkeit später, wie die Berliner Polizeiakten ausweisen, nach Berlin verlegt, als er dort im Februar 1923 als Urheber eines Spitzelmordes auftauchte. getobt, seine nächste Umgebung schwer mißhandelt und dann, nach Abklingen des ersten Anfalles, die in der Kirche liegende Mannschaft alarmieren lassen. Aber er hatte, da auch hierher die Kunde von den Vorgängen auf Schloß Padden gedrungen war, noch nicht die Hälfte der Leute auf die Beine gebracht – die andere war schon vorher heimlich dorthin verritten, und als dann Alarm geblasen war, da drückte sich auch von dem Rest ein großer Teil in die Nacht hinaus und ritt in gestrecktem Galopp nach Padden, mitten in die Glückseligkeit hinein. Tatsache ist 196 also, daß auf diese Weise ihm seine Streitmacht unter den Händen zerrann, daß im Westen zur gleichen Stunde die deutsche Artillerie erwachte. Tatsache ist, daß Petraschewski in diesen Stunden noch einige sehr schlimme Befehle ausgab und seine Wut an den Wehrlosen ausließ – Tatsache aber ist auch, daß er selbst um so unsicherer und hilfloser wurde, je mehr der Gefechtslärm sich den westlichen Vorstädten näherte. Als er den weißen Prack entdeckt hatte, da waren ihm schon dunkle Aengste aufgestiegen, er könne am Ende doch noch von den deutschen Vorhuten erwischt und für die Ermordung eines deutschen Offiziers verantwortlich gemacht werden. Er war unsicher, weil er im Grunde feige war, und ich erlaube mir die Feststellung, daß ich diese Eigenschaft oft genug gepaart gesehen habe mit jener Brutalität, die diesem Manne seinen abscheulichen Ruf gab – in jedem Falle aber war es dieser Unsicherheit zu danken, daß Prack sein Gefängnis überhaupt lebend erreichte. –

Was nun zunächst das Schicksal der übrigen Mitauer Gefangenen anbetrifft, so kann ich ihre Geschichte unmöglich erzählen, ohne zunächst jenes jungen Mädchens zu gedenken, das während jener Tage mit ihren sechzehn Jahren 197 sozusagen die Seele und der Mittelpunkt jener kleinen Gemeinde der Verdammten war und es bis zum Ende blieb . . .

Wenige leben heute noch, die jenem Todeskeller entronnen sind, fast alle haben sie das Examen des Todes bestanden auf ihre Weise, und wenn's die alten Aristokraten mit überlegenem Spott und wohl auch etwas Zynismus schafften, so schaffte es das alte Fräulein von Strieken nebst ihren Damen mit Kant und Schopenhauer. Wie aber jenes junge Geschöpf dazu kam, in diesen Tagen all diesen doch so viel älteren Menschen Vorbild und Leuchte zu sein, das läßt sich wohl schwer sagen. Unvergeßlich ist noch heute allen, die noch von ihr erzählen können, ihre süße Stimme und ihr Gesang – aber man soll keineswegs denken, daß es immer nur Choräle waren, mit denen sie diese armen Lebendig-Begrabenen tröstete. Volkslieder und Schubert erklangen in dieser Gruft, im übrigen gab sie fort, was sie hatte, fror, damit die anderen warm lagen, lebte wie ein kleiner Vogel von beinahe unsichtbaren Rationen, sparte ihr Essen auf für die, deren gealterter Körper diese Ernährung nicht mehr ertragen hätte, und schien selbst unter all den Entbehrungen auch nicht im geringsten zu leiden . . .

198 Wer nun glaubt, daß sie eine Frömmlerin gewesen sei und ständig Bibelsprüche im Munde geführt hätte, der irrt gewaltig. Auch dort unten in diesem Keller, an dessen Wänden doch sozusagen schon der Hauch des Grabes haftete, blühte sie wie eine bunte und gesunde Blume und war von einer Fröhlichkeit, die allen ihren Leidensgenossen unfaßbar dünkte: sie hatte den Tod, kaum, daß sie selbst das Leben gesehen, schon überwunden . . .

In ihr Grab hat sie den Namen eines alten deutschen Geschlechts mitgenommen – ich aber werde, da sie so zeitlos und unirdisch und längst über alle Namen und Adelsprädikate hinausgewachsen war, diesen Namen auch in letzter Stunde nicht bekanntgeben und werde sie, obwohl sie doch beinahe so etwas wie die gute Mutter all dieser älteren Leute war, nur »das Kind« nennen . . .

»Liebes, Liebes«, sagte zu ihr, wenn sie in diesen eisigen Nächten wieder all ihre dürftigen Hüllen an die beiden Lettenkinder abgegeben hatte, das alte Fräulein von Strieken, »Liebes, werden Sie denn nie ein wenig an sich selbst denken?«

»Oh, es geht mir ja so gut«, sagte das Kind.

199 »Glauben Sie denn, daß wir sterben müssen?«

»Ja.«

»Mein Gott, Süßes«, sagte die alte Dame, »wo wir alten abgelebten Menschen doch unsere schwache Stunde haben – fürchten Sie sich denn nie?«

»Das Leben«, sagte das Kind, »war so schön, warum soll es das Sterben denn nicht sein?«

So war sie. Und es war eben dieses Kind, das an jenem Abend nach der kurzen und dramatischen Begegnung mit dem roten Prack sich der kranken und verwirrten Maria von Dostheim annahm. Das aber war keineswegs leicht, denn die Kranke schrie und stieß um sich – sie hörte auf keinen Zuspruch und nahm weder Speise noch Hilfe an, und um ihr armes Hirn tanzten die Bilder der Angst und des Todes.

»Ich will . . . will nicht.«

»Sie wird es nicht leicht haben«, sagte zu der alten Lehrerin das Kind, »sie wehrt sich und schließt sich ab.« Besser wurde es, als sie die Hand der Kranken in die ihre nahm . . .

»Wer sind Sie?« fragte mit geschlossenen Augen Maria.

»Nicht fragen«, sagte das Kind, »ganz still . . .«

200 Sie schlug nicht mehr um sich, lag nun ruhiger, nur ab und zu zerrte an ihr das wunderliche Erleben . . .

»Ist er denn noch da?«

»Ach nein, gewiß nicht.«

»Wer sind Sie?«

»Ich bin bei Ihnen.«

»So kalt . . . so kalt«, jammerte die Kranke.

»Warten Sie«, sagte das Kind und legte sich neben Maria und streckte sich aus und nahm sie wärmend in ihre Arme.

»Ist es besser so?«

»Ach ja.«

Es wurde wirklich besser. Friede kam wieder. Schlaf kam. Ich glaube, daß es nicht nur das Sinken des Fiebers war – es war wohl die Anwesenheit der Mutter, Geborgensein, Sicherheit, Friede, wie sie von allen starken Menschen ausgehen. Gegen drei Uhr, als oben unter der Maske des roten und toten Prack der weiße eingeliefert wurde, schliefen Arm in Arm die beiden Mädchen ein.

Was die übrigen, die Alten, angeht, denen am Abend zuvor der rote Prack für den Morgen »eine Veränderung ihrer Lage« angekündigt 201 hatte, so waren sie in ihr Gefängnis zurückgekehrt voller Ahnung für das, was diese »Veränderung« zu bedeuten hatte. Mit dem verbliebenen Lebenswillen hatten sie auf die Schießerei draußen gelauscht, hatten mit dem Zunehmen und Abschwellen des Gefechtslärmes ihre Hoffnung wachsen und sinken gesehen, hatten anfänglich von den Deutschen gesprochen, die ja in der Nähe waren und am Ende doch noch zur Zeit kommen würden. Eine Ausnahme aber hatte von vornherein der alte Graf Westen gemacht, der durchaus an keine Rettung glauben wollte und dem Tod achselzuckend und mit dem gewohnten Zynismus entgegensah. »Veränderung unserer Lage . . . Unsinn, lieber Freund! Wir kennen doch beide die Russen und wissen doch beide, was die meinen, wenn sie sich so blumenreich auszudrücken belieben! Und dann Befreiung im letzten Augenblick? Bitte Sie, lieber Rosen, derlei passiert allenfalls in der Oper, und gerade, wenn man denkt, es ist aus mit dem Heldentenor, dann bläst hinter der Bühne eine Trompete und der Retter kommt, und alle Guten werden befreit, und wer von miserabler Gesinnung gewesen ist und den ganzen Abend Baß gesungen hat, wird eingebuchtet, und man selbst freut sich dessen und geht nachher ins Hotel 202 de RomeBekanntes Hotel in Riga. soupieren. Nein, so ist das hier nicht, und wir sitzen hier nicht im ›Fidelio‹, sondern im Lausekeller, und was die heute im Hotel de Rome für einen Schlangenfraß zusammenkochen mögen, will ich lieber nicht untersuchen . . . bitte Sie, lieber Rosen, ist denn bei derartigen Zuständen noch so viel dran am Leben, daß man sich partout was vormachen soll?«

Hatte der alte Graf gesagt und sich, ohne übrigens einzuschlafen, ruhig niedergelegt. Die anderen hatten ihr Schicksal auf ihre Weise getragen. Die Landstreicher hatten stumpfsinnig vor sich hingestarrt, ein paar Frauen hatten den Choral »Jesu, meine Freude« gesungen, das alte Fräulein von Strieken hatte strenge, wie sie sonst in der Schule zu tun pflegte, mit dem gekrümmten und gichtischen Finger auf die einzige vorhandene Pritsche geklopft und aus ihrer abgetragenen perlengestickten Handtasche Schopenhauers Versuch »Ueber den Tod« gezogen und ihre Damen zusammengerufen: »Wir werden sonst nicht mit dem letzten Kapitel fertig.« Der alte Graf hatte brummig bemerkt, daß »die Strieken morgen abend im Himmel wahrscheinlich den Erzvater Jakob wegen der ollen 203 Betrugsaffäre mit dem Linsengericht zur Rede stellen werde« – als dann aber aus dem Winkel, wo die Stallaterne hing, diese strenge Altweiberstimme zu hören gewesen war, da hatten die alten Sünder doch zugehört . . .

»Der Tod ist die große Zurechtweisung, die der Wille zum Leben durch den Ablauf der Natur erhält.«

»Na schön«, hatte der alte Herr gesagt, »im Grunde, Rosen, hat sie ja recht, und je älter man wird, desto mehr sieht man das ja auch ein. Gegen mich alten Kerl sind Sie, nebenbei gesagt, mit Ihren Sechzig noch ein junger Hund, der mit dem Fell klappern kann. Ihnen also wird die Sache wahrscheinlich etwas schwerer fallen wie mir. Aber schaffen, denke ich, werden wir's ja wohl beide . . .«

Gegen vier Uhr früh nun waren Ereignisse eingetreten, die in unerbittlicher Weise das Schicksal der Gefangenen klärten. Es waren drei Soldaten erschienen und hatten außer drei jüngeren Herren auch die beiden alten Kavaliere aufgerufen. Da also hatte man sich in aller Form von allen Bekannten verabschiedet, hatte den Damen die Hand geküßt, und noch auf der Treppe hatte der alte Herr bemerkt: »Haben Sie gesehen, Rosen, wie die beiden Mädel 204 schliefen? Und ich habe ganz vergessen, mich von der kleinen Dostheim zu verabschieden, wo der Prekalnsche und ich doch Nachbarn waren. Aber ich brachte es nicht recht über mich – die beiden schliefen da so wie die kleinen Schwestern im Märchen, ehe die Hexe kommt – na, und aufwecken wird der Hexerich die beiden noch früh genug.«

Damit waren die Herren die Treppe hinangestiegen und hatten die anderen zurückgelassen in einer bitterlichen Spannung, die sich löste, als nach etwa zehn Minuten in nächster Nähe die Schüsse krachten. Und dann war die Tür wieder gegangen und die Reihe war an die lettische Kaufmannsfrau, die ihre Kinder schlafend zurückließ, an einen russischen Deserteur und an ein paar Landstreicher gekommen, die den Gang schweigend und stumpf und mit unbewegten Gesichtern antraten. Dann waren – Petraschewski war gerade in Padden – anderthalb bange Stunden vergangen, und dann, als die Tür sich zum dritten Male öffnete, rief man allerdings das Gros der Anwesenden auf. Kleinbürger, Sträflinge, vier Studenten, den Doktor aus Frauenberg und auch jenes Kind, von dem ich gesprochen habe. Das aber löste sich, als es aufgerüttelt wurde, ganz sanft 205 aus den Armen der Gefährtin, küßte sie auf die Stirn, stand auf, stützte tröstend die dicke lettische Näherin, die sich nicht abfinden konnte mit dem Sterben und in die Knie knickte und die Hände rang und kaum gehen konnte und beinahe getragen werden mußte . . .

Ich aber verlasse diesen Zug der Todgeweihten und werde erst später ihren Schatten noch einmal vorüberziehen lassen und wende mich jener anderen Schläferin zu, die aus so weiter Ferne vom Schicksal in diesen Keller verschlagen war und der dieses Schicksal dennoch das Leben und nicht den Tod bestimmt hatte. Was nämlich das Fräulein Maria von Dostheim betrifft, so hatte sie ihr Zurückbleiben, wie später festgestellt werden konnte, der Tatsache zu verdanken, daß man die Gefangenen nach der Liste und mithin in derjenigen Reihenfolge aufrief, in der man sie verhaftet hatte. Da sie aber auf dieser Liste die letzte war, so ließ man sie zunächst liegen, und da oben die eingetretene Verwirrung und ein weiterer und noch zu erwähnender Zwischenfall den Ablauf der Dinge ganz erheblich verzögerte, so störte sie in den nächsten Stunden niemand. Sie merkte es somit nicht, wie ihre kleine Gefährtin sich von ihr löste und sanft ihre Stirn küßte, sie merkte es nicht, daß bald darauf ein 206 neuer Häftling nach unten geschafft wurde – sie erwachte erst kurz vor sieben Uhr, als durch die kleinen Fenster das erste graue Licht des neuen Tages in den Keller kam . . .

Sie sah es vorerst nicht, sie lag mit geschlossenen Augen, war entfiebert und eben nur noch sehr schwach, und langsam, ganz langsam kamen zu ihr die Bilder des gestrigen Tages. Pa war tot. Man war verhaftet. Man war nach Mitau geschafft. Man hatte schrecklich gefroren, man war eingesperrt in einen Keller mit vielen, vielen Menschen zusammen . . .

Hier trübten sich die Bilder.

Sie trübten sich und wollten immer nur für Augenblicke auftauchen aus ihren Schleiern und vermischten sich miteinander, und man wußte nicht, ob man diese Dinge wirklich erlebt oder ob man sie eben nur geträumt hatte . . .

Viele vertraute Gesichter glaubte man gesehen zu haben, und wieder (vielleicht aber war dies eben wirklich nur ein Traumbild!) . . . wieder war man oben in der Kirche gewesen, und es war jener Unbekannte aus München gekommen und war doch so fremd und so anders und war wahrscheinlich nur ein Fieberbild . . .

Und war in nichts zerronnen, wie jenes ferne, ferne und nun schon unwirkliche Erlebnis selbst. 207 Sicher aber schien eines: viele, viele Menschen mit vertrauten Gesichtern waren hier unten gewesen, etwas Gutes und Freundliches hatte sie berührt. Aus weiter Ferne sprach eine milde Stimme, vorüber glitt ein zarter Schatten, und zerrann doch, sowie man seiner sich erinnern wollte. Da schlug sie die Augen auf. Der Tag war da, das Elend war da, in der Brust stach es bei jedem Atemzuge . . .

Der Raum aber, gestern noch vollgestopft mit Menschen, war nun fast leer. Da ahnte sie eine schreckliche Wahrheit und erschrak und wollte sich vergewissern und kroch hinüber zu den Menschen, die drüben an der jenseitigen Wand noch unter dem Fenster lagen . . .

Und fand unter Lumpen und schmierigen Schafspelzen nur fremde und dumpfe Gesichter von Unbekannten, die mit offenem Munde in den Tag hineinschnarchten . . .

Und begriff nun das Schreckliche und fühlte über sich die furchtbare Vereinsamung stürzen und kroch wieder zu ihrer Wand und wollte die Hände vor das Gesicht schlagen und sich verkriechen und weinen . . .

Und verfehlte, krank und unsicher wie sie war, die Richtung und stieß auf einen Mann, der lag gerade unter der Oellampe, und man hatte ihn 208 während der späten Nachtstunden hinabgestoßen in diesen Kerker. Und sie hatte geschlafen und hatte es nicht gemerkt. Da lag er. Entfiebert. Sehr matt. Mit offenen Augen. Kein Gespenst . . .

Und vielleicht, liebe Menschen, lebt ihr hinein in euern Tag und tretet brav das Rad eurer täglichen Sorgen und Freuden, und ihr denkt, immer werde sich dieses Rad so gemächlich drehen bis ans Ende eurer Wege: gebt acht, daß nicht einmal auch euch die Schicksalshand kommt, und sie greift plötzlich in die Speichen des Rades und wirbelt es herum. Und erschreckt und verwirrt steht ihr zuerst und hört es sausen und meint, es werde zerspringen und euch selbst zerschmettern und das bescheidene Haus eures Lebens . . .

Menschenkinder, und wenn je zu euch dieses unerwartete große Schicksal kommen wollte – hattet ihr da vorher nicht immer geglaubt, ihr müßtet vor ihm zittern und um euch schlagen? Und wenn es dann wirklich kam: war es dann nicht immer so, daß ihr viel ruhiger wart und viel schlichter und viel gefaßter, als ihr es euch selbst zugetraut hattet?

Und so war es zunächst auch hier. Sie beide waren herumgewirbelt vom Schicksal, sie waren 209 hineingerissen in einen wilden Strom und hatten so viel Strudel und Stürze gesehen und waren nun beide müde und ergeben in dieses Schicksal und wunderten sich nicht mehr. Er lag still und lächelte. Zu seinen Füßen kauerte sie und faßte seine Hand und hielt sie.

Und keiner von ihnen mochte sprechen und in der tiefen, tiefen Ermattung an das Gestern und alle die wunderlichen Bilder . . .

Sondern es dachte jeder von ihnen nur »du bist da«, und es dachte jeder »nun bin ich nicht allein«, und jeder dachte »alles wird man nun zusammen tragen«. Ach ja, es hatte ja wohl so sein müssen seit ihrem ersten Händedruck und seit ihrem Gang durch die ferne, schöne Stadt – es hatte wohl so sein müssen bis zu diesem Sichfinden hier auf der Schwelle des Todes. Und oben tobte und schrie es, und sie hörten's nicht, und hier unten drängten sich an die Fenster diese zerlumpten Strolche und redeten durcheinander und hofften wohl noch immer auf Rettung . . .

Und diese beiden sahen es nicht und hörten es nicht und waren versunken ineinander und wußten nur, daß sie beisammen waren und daß es gut so war. Und so blieb es eine Weile, bis sie endlich im ungewissen Licht die Stirnwunde und 210 das Blut bemerkte und aufschrie und sich über ihn beugte . . .

»Mußt du sterben?«

Er lächelte müde. »Nicht hieran.«

»Was ist denn geschehen . . . ach, was ist denn geschehen?«

Er aber beschwichtigte sie: »Laß . . .«

Nun aber kamen sie, die Fratzen, die Fragen, die Erinnerungen . . . der andere, der Schreckliche! »Gestern . . . hier oben, ein Mensch war da . . . Du warst es, warst es nicht . . .«

Da streichelte er ihre Hand . . .

»Es war nur ein Gespenst.«

»Und nun bist du wirklich da?«

»Hier. Wirklich bei dir.«

Da kam über sie langes, wildes Schluchzen . . . Versiegen und tiefe, tiefe Erschöpfung. Und oben schoß es und kam ganz nahe zu ihnen, und sie fürchtete sich sehr und zitterte und barg sich in seinen Schutz . . .

»Und wenn die Tür geht, kommt der Tod.«

»Vielleicht.«

»Müssen wir denn sterben?«

»Ja.«

»Wird es schwer sein?«

»Nein.«

»Muß man sich denn nicht fürchten?«

211 »Ach nein.«

»Was aber muß man tun . . . ach, was muß man tun?«

»Man muß sich nicht sträuben.«

»Wirst du dann bei mir sein?«

»Immer.«

Sie schmiegte sich an ihn. Erschöpfung kam, ungeheure Erschöpfung. Müde nun der Leib und noch müder die Seele, unsäglich müde. Entspannung kam und die Gewißheit, nach Hause gefunden zu haben und geborgen zu sein. Etwas ist nun da, das hält stand und gibt Sicherheit und Friede. Und auch die Kraft, den Tod zu schmecken.

Sie schlief.

Eingekauert in seinen Arm.

Er seinerseits lag mit offenen Augen. In der freundlichen Ermattung der Blutleere und des bestandenen Schicksals.

Es war nun alles wohl in Ordnung.

Es war ganz gut so, wie es war.

Es war nun bald gelitten, was zu leiden war, und bestanden, was bestanden werden mußte, und der steile Pfad der Menschenmühe erklommen. Und nun mochte es talwärts gehen.

212 Er schlief keineswegs, aber was um ihn herum noch geschah, nahm er nicht mehr wahr.

Bald nach acht Uhr, als der erste kümmerliche Sonnenfleck in den feuchten Keller fiel, ging die Tür. 213

 


 


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