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Der erste Angriff. – Der Tod im Morast. – Feinde im Rücken. – Eine Kriegslist. – Der zweite Sturm auf die Batterie. – Verrat. – Wie Eberhard von Owelglas starb. – Die Flucht nach Sarmiento. – Feinde ringsum! – Das Fort im Artilleriefeuer. – Meuterei. – Eine neue List. – Das Ende.
Die düstere Stunde, die er an der Sumpfstellung mit seinem Oheim verlebt, und die Ungewißheit über Georgs Schicksal ließen Justus lange nicht zur Ruhe kommen. Als er endlich wenige Stunden vor Sonnenaufgang in einen unruhigen Schlummer verfiel, ängstigten ihn quälende Träume. Er sah den Mönch, dem sie in der Nacht im Sumpf begegnet waren, schreiend auf sich zukommen, er irrte durch den unterirdischen Gang, er wußte sich von Morgan verfolgt und konnte den Ausgang nicht finden.
Kurz vor sechs Uhr endlich rüttelte der Oheim ihn auf. Es war ein unendlich trübseliger, nebliger Morgen. Vorn bei den Vorposten am andern Ende des Sumpfes knallten die ersten Schüsse. Meldegänger, die zurückkamen, berichteten, der Feind beginne sich mit einzelnen Plänklertrupps vorzutasten. »Sie sollen warm empfangen werden«, sagte der Alte grimmig und ging mit Justus zu der feuerbereiten Batterie. Dort fanden sie einen Boten von Don Bartolo, dem Owelglas in seiner Abwesenheit den Befehl im Fort übertragen hatte. Der Mann brachte die Nachricht, daß die Schiffe der Flibustier, zwei Linienschiffe voran, sich Sarmiento näherten. Owelglas schien die Botschaft, offenbar auf die starke Artillerie des Werks vertrauend, gleichmütig hinzunehmen.
»Ohm«, warnte Justus, an die großen Geschütze des ›Egmont‹ denkend, »seht Euch vor, sie haben Stücke, die fast doppelt so weit tragen wie die Euren und ...«
Er kam nicht weiter. Im gleichen Augenblick nahm mit einem Schlage das Gefecht vor ihnen an Heftigkeit zu, und Salven des Kleingewehrfeuers rollten zu ihnen herüber.
»Soll mich wundern, wenn sie ihren Rausch schon ausgeschlafen haben«, brummte Owelglas, von dem jetzt alle trüben Gedanken gewichen zu sein schienen, und der nun ruhig seine Pfeife rauchte. Aber da erschienen vor ihnen im Sumpf auch schon die Gestalten der Vorposten, die, den ihnen wohlbekannten sicheren Pfad einhaltend, sich in guter Ordnung auf den Haupttrupp zurückzogen, wie ihnen für den Fall eines überlegenen Angriffs befohlen war. »Brav, meine Jungen«, lobte Owelglas die spanischen Musketiere. »Ihr schlagt euch so gut, wie ich es von euch erwartet habe.« Er ging ihnen entgegen, um ihren Bericht über das Gefecht entgegenzunehmen.
Justus, der bei der großen Batterie geblieben war, lauschte inzwischen auf den tiefen Geschützdonner, der, den Lärm des Gefechtes vor ihnen übertönend, aus dem Süden zu ihnen herübergrollte. Er hatte ihn wohl wiedererkannt, diesen tiefen Ton: das waren die Messingkanonen des ›Egmont‹, die den ersten Gruß nach den spanischen Wällen herübergesandt hatten.
Als sei dieser Geschützdonner ein verabredetes Signal für den Angriff gewesen, jubelte dort vorn, wo jenseits des Sumpfes der trügerische Weg begann, ein wilde Musik auf, Dudelsackpfeifen und Zinken, von dumpfen, rüttelnden Trommelschlägen begleitet. Rote Menschenmassen erschienen in den zerstiebenden Nebelwänden, einzelne Gestalten lösten sich aus diesen Massen ab: die Offiziere, die den angreifenden Flibustiertrupps voranschritten.
»Zurück alles, was vor den Geschützen steht!« – und sofort sprangen die Musketiere hinter die drohenden Feuerschlünde der Batterie zurück. Bange Stille herrschte einen Augenblick unter den Leuten, so daß man die schweren Blätter der Sumpfpflanzen im leichten Seewinde hin- und herschlagen hörte. Owelglas selbst stand hoch aufgerichtet in der feuerbereiten Batterie. »Keinen Schuß, meine Jungen, ehe ich's euch sage!« Er prüfte selbst noch einmal die Richtung der Rohre, hier und da die blaß gewordenen Leute mit einem derben Scherze ermunternd.
Näher und näher kam der kriegerische Lärm. Fünfhundert Schritt mochte die Kolonne entfernt sein, die sich jetzt mit ihren Spitzen dem jenseitigen Rande des Sumpfes näherte. Man sah einen der voranschreitenden Offiziere bis zum Leib im Morast versinken, man sah die andern stutzen und die dahinter schreitenden Glieder der Flibustier sich dann doch enger zusammenziehen. Unbekümmert um die einzelnen Leute, die hie und da die trügerische Erddecke durchbrachen, wurde der Vormarsch fortgesetzt. Man konnte einzelne Stimmen unterscheiden und wilde, verwegene Gesichter erkennen. Säbel und Enterbeile blitzten in den ersten Strahlen der Morgensonne auf, die endlich den Nebel da vorn durchbrach.
Die Spanier an den Lafetten begannen nun doch unruhig zu werden. War dieser Deutsche da toll, daß er so lange mit dem Feuerbefehl wartete? Der Alte verzog keine Miene. Starr richteten sich seine grauen Augen unter den buschigen Brauen auf jene Stelle des Sumpfes, auf die die Geschützrohre wiesen. Dreißig Schritt ... fünfundzwanzig noch war die feindliche Kolonne von jener Stelle entfernt. Gellend fiel drüben nach einer kurzen Pause wieder die Feldmusik ein, und ein ohrenbetäubendes, wildes Feldgeschrei, wie Justus es an Bord der Flibustierschiffe noch nicht gehört hatte, rüttelte an den Nerven der den Krieg nicht gewöhnten Spanier. Vorbei war es einen Augenblick mit der Ruhe, und leise Stoßgebete kamen von einzelnen Geschützen her. Der junge kreolische Kanonier vollends, der an dem Rohr neben den beiden Deutschen stand, war totenblaß geworden. Und plötzlich, noch ehe die feindliche Kolonne die Stelle erreicht hatte, auf der der Alte sie haben wollte, hatte sich die brennende Lunte in seiner zitternden Hand dem Zündloch des Geschützes genähert. Ein unterdrückter Schrei ... Der Gouverneur hatte den Feigling fortgestoßen, daß er in das feuchte Gras neben das Geschütz kugelte.
Im selben Augenblick aber war drüben die Feldmusik mit einem gellenden Mißklang abgebrochen, und Wutschreie gellten herüber. Jene Stelle im Sumpf war offenbar besonders gefährlich. Man sah die Führer bis an den Hals versinken, man sah die andern fluchend mit den Arm in der Luft winken. Aber das Verhängnis war nicht mehr abzuwenden; die im Laufschritt heranrückende Kolonne, deren hinterste Glieder nicht die vorne Versinkenden sehen konnten, schob unerbittlich alles vor sich her, was vor ihr einherlief. Wie eine Wasserwelle erhob sich jetzt unter dem Gewicht dieser Menschenmassen der trügerische Sumpfboden, die Grasnarbe zerriß, und schwarze Lachen taten sich plötzlich auf, wo eben noch fester Boden gewesen zu sein schien. Man sah die ersten Glieder hilflos unter gellendem Geschrei die Arme in die Luft werfen, man sah sie wie die Figuren eines Schattenspieles versinken. Wasser spritzte auf, und Hände streckten sich aus der schwarzen Flut. Aber der Stoß der nachdrängenden Masse wirkte unerbittlich fort: übereinander fielen die Rothemden, eine Gruppe immer von der dahinter andrängenden niedergetreten, bis das alles nur noch ein Knäuel versinkender, schreiender Menschen war.
Eiskalt, ohne eine Miene zu verziehen, hatte Owelglas diesem Schauspiel zugesehen. »Sie werden rasch nüchtern geworden sein«, sagte er. »Los, meine Burschen, gebt es ihnen! Feuer!«
In den zuckenden Haufen durcheinandergeworfener, schreiender Menschen fuhr die Höllenladung von dreißig Geschützen. Drüben zerrissen die Kugeln die Sumpfdecke vollends, mächtige Säulen schwarzen Morastes aufwerfend. Als sich der Pulverdampf langsam verzog, war die Stelle leer. Nur noch ein schwaches Wimmern klang herüber und erstarb dann vollends. Dahinter aber flüchteten in wirrem Durcheinander die roten Massen zurück, manchen der Ihren liegen lassend, den zu guter Letzt noch eine Büchsenkugel der spanischen Musketiere erreicht hatte. Dann war auch das verschwunden. Die Ochsenfrösche im Sumpf begannen wieder ihr eintöniges Lied in den heißen Morgen zu brüllen. Die spanischen Kanoniere wischten sich den Schweiß von der Stirn, der reichlich unter ihren schweren Eisenhelmen hervorquoll.
Nicht lange freilich währte die Stille. Hinter ihnen grollte das Artilleriefeuer von Sarmiento, das sie während der letzten Minuten überhört hatten. Zwischen den langhallenden Donnerschlägen aber glaubten sie noch etwas anderes zu hören, was sie stutzig machte. Kleingewehrfeuer war es, so nahe, daß es unmöglich von dem Fort herkommen konnte. Der hin- und herschralende Wind ließ die Richtung nicht genau erkennen. Täuschte aber nicht alles, so war hinter ihnen auf der Straße, die sie mit Sarmiento verband, ein Gefecht im Gange. Beklommen lauschten die beiden, die sich außer Hörweite der Leute begeben hatten, auf den Lärm. Kein Zweifel mehr! Der Feind hatte auch an der zwischen ihnen und dem Fort liegenden Küste Truppen gelandet und war somit im Begriff, ihnen den Rückweg abzuschneiden.
»Ich habe einen Pulvertransport für diese Stunde hierherbestellt«, sagte der Gouverneur. »Mir ist's nicht zweifelhaft, daß sie ihn überfallen haben. Sind denn diese Seeräuber wirklich so zahlreich, daß sie an so vielen Stellen zu gleicher Zeit angreifen können?« Er stampfte wütend mit dem Fuß, der alte, tapfere Haudegen.
Justus schwieg und sah traurig in das finstere Gesicht seines Oheims. »Laß gut sein«, erwiderte der, »laß gut sein. Es gibt ein gutes Jägersprichwort, und das heißt: ›Viele Hunde sind des Hasen Tod.‹ Ich fürchte, es wird heute auf mich zutreffen. Aber bei Gott, es sind kühne Burschen!« Er wies nach dem Sumpf, wo wieder die roten Hemden der Flibustier durch das satte Grün schimmerten. Weit und breit schien jetzt der ganze Wald von ihnen voll. Offenbar wollte Morgan um jeden Preis hier durchbrechen und jetzt nach Vernichtung der ersten Sturmkolonne den Haupttrupp zum Stoß ansetzen.
Die beiden Owelglas fanden kaum Zeit, zur Batterie zurückzukehren. Blitzschnell hatte sich der Feind gesammelt und rückte von neuem an. Dabei kam er nicht mehr in breiter Front, sondern in langen Reihen, ein Mann hinter dem andern, heran. Was die beiden Deutschen aber am meisten in Erstaunen setzte: sie hielten jetzt genau den richtigen Weg über den Sumpf ein, keinen Schritt breit rechts oder links von dem festen Pfad abweichend.
Owelglas runzelte die Stirn. »Bei Gott«, sagte er leise zu Justus, auf den rasch und sicher sich nähernden Feind weisend, »sie scheinen ... Verflucht!« unterbrach er sich plötzlich, »es sind Teufel, die ihr Handwerk gut verstehen! Sieh dorthin!«
Der Feind war mit seinen langen Reihen jetzt vollends aus dem Walde hervorgetreten und näherte sich in raschem Laufe der Stelle, an der die erste Kolonne vernichtet worden war. Sehr bald wurde es nun klar, weswegen plötzlich diese verwegenen Angreifer so mühelos den Sumpf überschreiten konnten: an ihrer Spitze eilten zwei Offiziere, die blinkenden Pistolen in der Faust. Vor sich her aber trieben diese beiden Männer – von weitem her erkannten die Spanier den hellen Mantel der Dominikaner – einen Mönch. Durch Grausamkeit und List erzwang man sich diese Stellung, die Owelglas bisher so tatkräftig verteidigt hatte. Augenscheinlich hatte man diesen armen Kuttenträger gefoltert, bis er das Geheimnis verraten hatte; und die beiden geladenen Pistolen, die er in seinem Rücken wußte, hatten dann eben das übrige getan, um ihn zum willigen Führer dieser Mordbande zu machen.
Sehr viel ungünstiger war jetzt die Lage der Spanier. Der Feind bot ja jetzt nur eine schmale Front, in der das Artilleriefeuer bei weitem nicht mehr so verheerend wirken konnte. Außerdem erschien die Übermacht, die Morgan jetzt ins Feuer führte, geradezu erdrückend diesem schwachen Häuflein gegenüber. Immerhin hatte der erste Erfolg das Vertrauen der Kanoniere zu ihrem Führer gestärkt, und einigermaßen ruhig harrten sie jetzt hinter ihren von neuem geladenen Geschützen.
»Recht so, meine Kinder!« ermunterte Owelglas. »Ihr werdet es ihnen zum zweiten Male geben. Wartet ein wenig!« Er lief nach vorn, wo unmittelbar vor dem Rande des Sumpfes das sorgfältig mit Gras bedeckte Feld der Mine begann. Justus sah, wie der alte Mann sich niederbückte und mit der Lunte, die er einem Kanonier entrissen, die Zündschnur in Brand steckte. Der Feind, der jetzt bei der Stelle angelangt war, wo die zerschmetterten Leichen seiner Leute in den trüben Lachen des Sumpfes trieben, schien Verdacht zu schöpfen. Einen Augenblick jedenfalls stutzte die wilde Schar da drüben vor dem einzelnen Mann, der sich dort allein, dicht vor den Schlünden der Batterie, am Boden zu schaffen machte. Aber nur einen Augenblick dauerte dieses Zögern, und während Owelglas zu den Geschützen zurücksprang, setzte sich der Trupp von neuem in Bewegung.
Wiederum entlud sich die Salve, und die Lage von dreißig Kartätschen fuhr in den anlaufenden Feind, daß einen Augenblick dort alles auseinanderzustieben schien. Wehrufe und lautes Fluchen kamen auch jetzt aus der dichten Pulverwolke, die alles verhüllte. Aber dann hörte Justus deutlich durch den Lärm Morgans gewaltige Stimme auf die verwirrten Leute einwettern, und als der Dampf sich ein wenig verzog, hatten die Offiziere wieder Ordnung in den Wirrwarr gebracht. Unbekümmert stampften die wilden Gesellen über die zerrissenen Leiber ihrer Kameraden fort, wieder erklang das gellende Kampfgeschrei von drüben, wieder sah man die geschwungenen Waffen in der Sonne blitzen. War der Dominikaner drüben unverletzt geblieben oder hatte man einen zweiten mitgeschleppt ... die weiße Kutte leuchtete auch jetzt an der Spitze des Zuges. Wenige Minuten noch, und diese Masse von fünfzehnhundert Leuten mußte auf die hundert Spanier stoßen, die in verzweifelter Hast ihre Geschütze abermals luden.
Owelglas allein schien in diesem Augenblick seine Ruhe zu bewahren. Er hatte den Degen gezogen und stand ruhig da, gelassen auf die kleine Flamme schauend, die durch das feuchte Gras unaufhaltsam auf die Mine zukroch. Und es ist wohl möglich, daß dieser tapfere Mann Morgans wilden Ansturm noch ein zweitesmal aufgehalten hätte, wenn nicht ein neues Verhängnis über ihn gekommen wäre.
Justus selbst war, als er den Feind in so bedrohlicher Nähe sah, an die Geschütze gesprungen und half eine neue Achtpfünderkugel in den Lauf schieben. Plötzlich aber fuhr er zusammen; er hatte den Galopp eines heranjagenden Pferdes gehört, er sah, daß von diesem Pferd, das durchgeschnittene Stränge hinter sich herschleifte, ein Reiter absprang und mit angstverzerrtem Gesicht auf die Kanoniere zulief. »Wir sind verraten ... hinter uns ... die Flibustier!« Der erschöpfte, aus einer Stirnwunde blutende Mann, brach bei den Geschützen zusammen.
Was nun folgte, spielte sich mit so rasender Geschwindigkeit ab, daß sich Justus später kaum Rechenschaft über die Einzelheiten geben konnte. Im selben Augenblick, als der Reiter die Batterie erreicht hatte, prasselte in ihrem Rücken so nahe schon das Gewehrfeuer, daß es selbst das Geschrei der andrängenden Leute Morgans übertönte. Feinde dicht vor den Geschützen, Feinde im Rücken: da brachen plötzlich die Ordnung und der Mut der Leute zusammen, die der Gouverneur bis dahin durch sein Beispiel aufrechterhalten hatte. Ins feuchte Gras flogen die brennenden Lunten, auf den Boden Pistolen und Säbel, und jämmerlich flehende Arme streckten sich in die Höhe.
»Hunde verdammte!« Der Alte schrie auf die Leute ein, beschwor sie, drohte und bat. Vergebens: das alles entmutigende Wort ›Verrat‹ gellte, von hundert angstvollen Kehlen geschrien, immer von neuem auf, und in den sumpfigen Wald zerstob die kleine Schar, die sich bis dahin so tapfer verteidigt hatte. Justus sah noch, wie der Oheim selbst von Geschütz zu Geschütz eilte und eins nach dem andern abfeuerte. Er selbst war sofort an seiner Seite, er half, so gut es ging, die Rohre auf die geringer gewordene Entfernung richten, er feuerte selbst Schuß um Schuß in die dicht gedrängten Scharen, die nun keine hundert Schritte mehr von den Geschützmündungen entfernt sein mochten. Aber die flüchtig gezielten Schüsse fuhren ins Leere, und noch ehe sich der Dampf verzogen hatte, drang ein baumlanger Offizier Morgans, der den andern weit vorausgeeilt war, auf Owelglas ein. Zu spät konnte Justus dem Oheim zu Hilfe kommen. Wenige Male nur kreuzten sich die Klingen, dann schlug der starke Mensch mit brutalem Hieb die Parade Parade nennt man beim Fechten die Abwehrstellung, mit der die eigene Klinge den Hieb des Gegners auffängt. des alten Mannes nieder. Die leichte Klinge flog aus der tapferen Hand und mit weit ausgebreiteten Armen empfing Eberhard von Owelglas den Todesstoß, mit brechendem Auge noch in dem wilden, fremden Tropenwalde ringsum die längst versunkene nordische Heimat suchend.
Sofort stürzte sich der habgierige Geselle, an den reichen Kleidern des Gefallenen den vornehmen Mann erkennend, auf den Toten, um seine Taschen durchwühlen, bevor die nachfolgende Horde ihm die Beute streitig machen konnte. Einen Augenblick sah Justus, verwirrt von all diesen Vorgängen, um sich, auf diese wilden Menschen da vor den Geschützen, auf den regungslosen Leib des Oheims, auf die fliehenden Spanier, die eiligst im Walde verschwanden. Das Geschrei, die Schüsse, die Erregungen der vorhergehenden Augenblicke – er war plötzlich so verwirrt von allen diesen Dingen, daß er fast teilnahmslos dastand und für Augenblicke das Gefühl hatte, daß das alles in meilenweiter Ferne von ihm sich abspiele und ihn ganz und gar nichts angehe. Da hörte er wieder das Schnauben des Pferdes neben sich, das sich mit den Enden der abgeschnittenen Stränge in der nächsten Geschützlafette verfangen hatte und nun, scheu geworden von dem Lärm, wild ausschlagend an dem Riemenzeug zerrte. – Im selben Augenblick, während der Flibustieroffizier sich noch immer bei dem Toten zu schaffen machte, hörte Justus eine wohlbekannte Stimme: »Da ist er, dort! Den Burschen nehmt zuerst!« Es war Morgan, der es geschrien hatte, und Justus wußte wohl, wen er meinte. Mit einem Schlage erwachten seine Sinne wieder, und jetzt erst wurde er sich klar, daß er der einzig Überlebende dieser Schar war, der sich noch in der Batterie aufhielt. Nur nicht in die Hände dieses Morgan fallen, nur hier nicht gefangengenommen werden, wo er seiner Willkür schutzlos ausgeliefert war! Da vor ihm lag der Säbel eines der geflohenen Artilleristen. Hastig riß Justus die Waffe an sich und ließ die Klinge auf die Stränge des Pferdes niedersausen. Im nächsten Augenblick saß er im Sattel, den Säbel dem Flibustieroffizier durch das Gesicht ziehend, der inzwischen seinen Leichenraub beendet und jetzt erst den Flüchtling bemerkt hatte. Mit mächtigem Griff riß er das Pferd herum. Das bäumte sich noch einmal mit hellem Wiehern, als hinter ihnen die Mine aufflog. Justus sah nichts von dem, was hinter ihm geschah, er wußte nicht, wie viele Flibustier von der Sprengung zerrissen wurden. Er drückte die Absätze dem scheu gewordenen Tier in die Flanken, daß es in gestrecktem Galopp davonflog. Unmittelbar hinter ihm ergoß sich die rote Sturzwelle in die eroberte Batterie.
Es war ein wilder Ritt, eine Jagd auf Leben und Tod. Kugeln pfiffen ihm nach, Schüsse prasselten zu seiner Seite aus dem Wald, in dem sich der an der Küste gelandete Feind eingenistet hatte. Tief gebeugt auf den Sattelbug sauste der junge Deutsche den Weg entlang, den er gestern gekommen war. Nur einmal richtete er sich auf, als er auch vor sich rotgekleidete Menschen sah, Flibustier, die durch den Flüchtling wohl selbst überrascht worden waren und sich ihm im letzten Augenblick noch vergebens in den Weg zu stellen suchten. Es war nicht notwendig, daß er den Säbel um sich sausen ließ; das scheu gewordene Tier unter ihm gab seine letzte Kraft her, und die Leute wichen auseinander vor den donnernden Eisenhufen des Wallonenhengstes. In wilder Jagd zog es an ihm vorbei: der Wald mit seinen niedrigen Bäumen, deren Äste ihm schmerzhaft das Gesicht peitschten, die grell von der Sonne beschienene Straße unter ihm, verlassene Wagen darauf mit toten Menschen daneben, der Pulvertransport wohl, den Owelglas erwartet und der hier im Walde überfallen worden war. Er merkte es kaum, er war nur darauf bedacht, den Gefahren dieses Waldes zu entkommen.
Der Flüchtende wurde erst ruhiger, als zu seinen Seiten sich das dichte Grün lichtete und er jenseits der freien Ebene die Türme der Stadt sah. Die lag friedlich in der heißen, flimmernden Luft, als stünde der Feind nicht vor ihren Mauern, und über den weißen Wänden der Landhäuser strahlte die blitzende Kuppel des neuerbauten Domes. Dort aber, wo aus den weiten Reisfeldern sich die Wälle von Sarmiento hervorhoben, lagerte eine dichte schwarze Wolke. Erst jetzt hörte er wieder den Kanonendonner von der See her, und jetzt erst, als sein ermüdetes Pferd in schweren Trab fiel, sah er düstere Flammen um den geborstenen Wachtturm des Werkes züngeln: Sarmiento war in Brand geschossen, niedergekämpft vielleicht schon von den Kanonen des »Egmont«, der dort drüben vor der Linie der übrigen Flibustierschiffe auf der blaßblauen See schwamm. Übrigens schien er jetzt das Gefecht für eine Weile wieder zu unterbrechen. Langsam teilte sich die träge Wolke des über der See lagernden Pulverdampfes, und ein Segelboot wurde sichtbar, das die weiße Unterhändlerflagge im Topp Mastspitze., auf die Wälle des Forts zuhielt. Er wußte wohl, was das alles zu bedeuten hatte: die Zerstörung des Werkes war weit genug gediehen, daß de Graff Don Bartolo, der dort befehligte, zur Übergabe auffordern konnte.
Durch die in der glühenden Sonne kochende Ebene trieb Justus den Hengst wieder zu rascherer Gangart an. Aber das matte Tier kam nicht mehr recht von der Stelle, und außerdem merkte er bald, daß er die Entfernung bis zum Tor unterschätzt hatte. So wuchsen die zerschossenen Wälle nur langsam über das satte Grün der Pflanzungen ringsum hervor, und das Boot auf der Bucht erreichte lange vor ihm sein Ziel. Dem müden Reiter flutete jetzt ein Zug fliehender Bauern entgegen, die ihre Höfe unmittelbar unter den Fortwällen gehabt haben mochten und mm ihre wertvollste Habe in die Stadt zu bringen trachteten. Von der Stadt her aber tönte jetzt durch die lastende Mittagsstille das angstvolle Sturmläuten der Turmglocken, ab und zu unterbrochen von dem Psalmodieren eines Pilgerzuges, der wohl in einer nahegelegenen Kapelle den Schutzheiligen der Stadt um Rettung anflehen mochte. Einen Augenblick sah Justus erstaunt auf dieses Bild, das sich mit seinen Kirchenfahnen und blitzenden Kruzifixen seltsam genug von den blutigen Szenen dieses Morgens unterschied. Aber da zerstob auch schon dieses Bild vor dem Schrecken des Krieges. Die Entfernung war wohl zu groß, als daß er Näheres hätte unterscheiden können. Wohl aber bemerkte er jetzt auch in den Büschen der Kakaopflanzungen neben sich das Flimmern roter Hemden; die Flibustiertrupps hatten mit ihren Spitzen schon das Vorgelände des Werkes erreicht und stürzten sich jetzt heulend aus diese Schar wehrloser Pilger. Justus hörte die jammervollen Schreie und sah die Fahnen sinken. Einzelne von den fliehenden Menschen, auf diese weite Entfernung klein erscheinend wie die Püppchen eines Marionettenspiels, sprangen in die Gräben, die die Ebene durchzogen, kamen wohl auch eine kurze Strecke weit auf ihrer Flucht und überschlugen sich dann noch, von den nachgesandten Pistolenkugeln getroffen, so wie Wild sich überschlägt, das an einer feuernden Jägerkette vorübergetrieben wird. Gewiß, es waren Morgans Scharen, die dort wüteten. Im Gedanken an die arme Stadt wandte er dem gräßlichen Bilde den Rücken.
Er mußte eilen, denn auch in der Nähe des Meeres näherten sich jetzt einzelne Plänkler dem Fort. Das Boot mit der weißen Fahne hatte jetzt wieder das Werk verlassen und war bereits dicht bei dem Kommodoreschiff angelangt. Abgebrochen waren also die Verhandlungen mit Don Bartolo! Und wirklich rollte, gleich nachdem das Boot dort drüben wieder an Bord gehievt Den Anker aufwinden. worden war, der erste Donner über die See. Wieder schlug eine der mächtigen Kugeln in den Wall ein, für Minuten das ganze Werk in eine dichte Staubwolke einhüllend. Das antwortete übrigens noch immer nicht. Seine Artillerie schwieg nun schon eine Weile, als sei sie bereits niedergekämpft.
Mit dem letzten Trab, den sein müdes Pferd hergeben wollte, erreichte Justus das Tor, hier schon von den ersten Kugeln umsaust, mit denen Morgans Plänkler ihn begrüßten. Wüst genug sah es in dem Werke aus, das bisher der schweren Beschießung durch eine überlegene Artillerie noch getrotzt hatte. Auf den nach der See zu gelegenen Bastionen stand auch nicht ein einziges Geschütz mehr. Tief aufgewühlt war dort das Erdreich, daß sogar die Gewölbe der von den Spaniern für bombensicher gehaltenen Kasematten eingestürzt waren. Zertrümmert waren selbst die schweren Eichenflügel des äußeren Tores, und in dem Gang dahinter stöhnten todwunde Menschen auf, die sich hierher geschleppt haben mochten, wo sie sich vor dem mörderischen Kanonenfeuer einigermaßen sicher glaubten.
»Wie steht's?« fragte Justus hastig die Wache, die ihn durch das innere Tor eingelassen hatte.
»Schlimm, Herr«, erwiderte der Mann; »die Spanier schlagen sich ja wohl gut. Aber die Kreolen haben die Waffen fortgeworfen und wollen nicht mehr fechten. Hört nur!«
Es war ein wüster Lärm, der ihm aus dem Hof entgegenschallte. An der Mauer des Kasernengebäudes stand, den Degen in der Faust, umringt von wenigstens fünfzig sich halbtoll vor Angst gebärdenden Kreolen Don Bartolo, der Adjutant des gefallenen Gouverneurs. So erregt war dieser Zwist, daß es über kurzem zu Tätlichkeiten kommen mußte. Um was es übrigens dabei ging, das erkannte Justus, als sein Blick auf die Zinnen des Walles fiel. Dort balgten sich einige bei ihrer Pflicht gebliebene spanische Söldner mit kreolischen Troßknechten um einen großen, weißen Tuchfetzen, der, vom Streit halb zerrissen, bereits am Fuß des dort oben stehenden Flaggenmastes flatterte. Ohne Zweifel also wollte das farbige Gesindel die spanische Besatzung zur Annahme jener Übergabebedingungen zwingen, die de Graff soeben hatte anbieten lassen.
Ein Widerwillen gegen diese vor Angst und Wut rasenden Menschen erfaßte Justus. Ein Schenkeldruck – mitten durch das in seiner Haltung immer drohender werdende Gesindel stampften die schweren Eisenhufe des Pferdes, und einem Kerl, der ihm in die Zügel fallen wollte, verging nach einem Hieb mit der flachen Säbelklinge die Lust zu weiteren Handgreiflichkeiten. Neben Don Bartolo, der totenblaß, in die Enge getrieben von den Meuterern, dastand, stellte sich jetzt der junge Deutsche, entschlossen, die Waffenehre seines gefallenen Oheims bis zum Äußersten verteidigen zu helfen.
Aber es schien nun doch, als sollte sich das Schicksal dieses unglücklichen Forts und der bedrohten Stadt rasch vollenden. Denn kaum hatte Justus den Säbel fester gefaßt, um die Andrängenden in gebührendem Abstand zu halten, da erbebte die Erde unter einem fürchterlichen Donnerschlag, der ihn und alle Umstehenden zu Boden warf. Gelber, beizender Dampf, der ihnen für Sekunden das Atmen unmöglich machte, wirbelte auf, und bei den Ladepodesten der Geschütze auf dem südlichen Walle züngelten Flammen empor. Erst nach einigen Sekunden erkannte Justus, daß die Brandbombe mitten im Hofe des Forts eingeschlagen war, daß die entfernter stehenden Meuterer, getroffen von ihren Splittern, sich in ihrem Blute wälzten. Wieviel die Bombe in den Sand geworfen, konnte Justus nicht feststellen; dem ersten folgte ein zweiter Schlag, der die Front des Mannschaftsgebäudes zum Einstürzen brachte. Das ganze Innere des Werkes war in diesem Augenblick ein Gewirr von stürzendem Gestein und Feuer und Dampf und flüchtenden Menschen. Zerstoben war die Schar der Meuterer, die nun winselnd hinter dem Stumpf des lichterloh brennenden Wachtturms Schutz suchten.
»Zurück hier! Um Gottes willen zurück!« Der junge Spanier, dem er zu Hilfe gekommen war, riß ihn gerade noch zur rechten Zeit von dieser Stelle fort. Im nächsten Augenblick warf die in ihren Grundfesten erschütterte Turmmauer krachend ihre Steinlast auf den Fleck, auf dem er soeben noch gestanden. Als die Staubwolke sich verzog, war der Wall, auf dem sich kurz zuvor noch die Spanier mit den Kreolen um die weiße Flagge gebalgt hatten, verschwunden, und eine gewaltige Bresche klaffte in der Bastion, durch die man das freie Meer und, in den Dampf ihrer Kanonen gehüllt, die Flibustierschiffe sehen konnte.
Unaufhaltsam erfüllte sich jetzt das Geschick der spanischen Besatzung. In die drückende Stille, die nun folgte, und die nur durch das Jammern und Stöhnen der Getroffenen unterbrochen wurde, knallte plötzlich rasendes Musketenfeuer. Ein zitternder Mensch, totenblaß wie sie alle, die diese Schrecken durchlebten, kam über den Hof gelaufen. Der Torwächter war's, den Justus vorher gesprochen, und der jetzt vor Don Bartolo stehen blieb, entsetzt den jungen Offizier anstarrend.
»Am Nordwall, Herr ... sie stürmen dort!«
So rasch sie vermochten, kletterten die beiden über die Trümmerhaufen des Forthofes und stiegen die Treppe zum Wehrgang der bedrohten Bastion hinan. Vorerst waren es nur kleine Plänklertrupps gewesen, die einen Handstreich gegen diesen Teil des Werkes versucht hatten und nun durch das Schnellfeuer der spanischen Musketiere verscheucht worden waren. Wohl aber leuchtete es jetzt allenthalben in der weiten Ebene von heranrückenden roten Masten. Das Artilleriefeuer, das Don Bartolo sofort eröffnen ließ, blieb unwirksam. Geschickt benützten die Flibustier das dichte Gebüsch der Kakaopflanzungen, um völlig gedeckt bis auf fünfhundert Schritt vor die Wälle zu kommen.
»Weshalb habt ihr das nicht alles niederlegen lassen?« fragte Justus, auf die Büsche deutend.
Der Spanier zuckte traurig die Achseln. »Wir wußten ja bis gestern nichts von der Gefahr. Und heute? Keiner von den Kreolen wagte sich auch nur einen einzigen Schritt aus dem Fort heraus, seit der erste Kanonenschuß gefallen war.« – Jetzt erst berichtete Justus von den Vorgängen des Morgens und dem traurigen Geschick seines Oheims. Bartolo hörte stumm zu, und sein an sich schon blasses Gesicht war noch um einen Schatten fahler geworden. Aber er gab sich doch Mühe, seine stolze Haltung zu bewahren und schritt gleich tapfer den Wehrgang entlang, die Musketiere ermutigend, die hinter den Schießscharten mit frischgeladenen Gewehren bereitstanden. Der Kanonendonner der Schiffe, die jetzt offenbar ihre heiß geschossenen Rohre abkühlen ließen, war verstummt, und auch der in seinen Verstecken im Vorgelände lauernde Feind regte sich jetzt nicht. Ab und zu nur unterbrach ein auf diesem Teil des Walles gelöster Kanonenschuß die brütende Mittagsstille, in deren sengender Sonne langsam die Blutlachen des Hofes trockneten. Eilends wurde die Bresche, die kurz vor Justus' Ankunft auch in diesen Teil des Walles geschossen worden war, mit den Trümmern der seewärts gelegenen Bastion wenigstens notdürftig angefüllt. In der augenblicklichen Ruhe war es, als wenn der bedrohten Besatzung ein Schimmer von Hoffnung aufgegangen sei. Und wie es immer in den Stunden geschieht, die dem Verderben vorangehen: es tauchten auch hier, ohne daß jemand über den Ursprung eine Rechenschaft zu geben vermochte, Gerüchte von einem Entsatz der Stadt, von der Ankunft des Statthalters von San Miguel auf, der mit zweitausend Mann am Osttore der Stadt eingetroffen sein sollte.
Ach, nur zu bald sollte diese Hoffnung zerflattern! Justus erwog eben mit dem jungen Spanier die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit jenes Gerüchtes, als plötzlich neben ihnen auf dem Walle wieder rasendes Schnellfeuer zu prasseln begann. Diesmal waren es dichte Knäuel von Angreifern, die aus dem Grün hervorsprangen und den Wall anliefen, um sehr bald im spanischen Schnellfeuer unter einem Verlust von vielen Toten zurückzufluten, deren rote Hemden wie Mohnblüten aus dem satten Grün der fruchtbaren Ebene heraufleuchteten.
Trotz dieses rasch abgeschlagenen Angriffes schien es mit der zuversichtlichen Stimmung der Leute wieder vorbei zu sein. Allzu zahlreich schienen die neu eintreffenden feindlichen Trupps, die sich drüben, unerreichbar den spanischen Schützen, in die Reihen der eben Zurückgeschlagenen einschoben. Über kurz oder lang war ein zweiter, furchtbarer Angriff zu erwarten, der die gelichteten Reihen der Spanier über den Haufen rennen mußte.
Wieder verging eine kurze Frist unheimlicher Stille. Gedankenvoll blickte Justus nach Norden, nach den dichten Wäldern hinüber, wo sein Oheim nun schon volle drei Stunden den Todesschlaf schlief. Dann fielen seine Blicke auf die Flibustierreihen da vor ihnen, die sich wiederum zusammenzuziehen schienen. Ob man wohl Georg ebenfalls hierher geschleppt hatte? Ob er gar durch eine verirrte Kugel bereits getroffen war? Die quälenden Gedanken der Nacht begannen ihn von neuem zu foltern. Aber da setzte drüben schon wieder die gellende Feldmusik ein, die er in der Frühe beim ersten Angriffe Morgans gehört hatte. Und mit einem Schlag war nun die brütende Stille vorbei, die über dieser Mittagsstunde gelastet hatte.
Aus den Gebüschen quoll es abermals hervor: Gruppe bei Gruppe, Hunderte von Flibustiern, tausend wohl gar, Morgans ganze Streitmacht, soweit sie gelandet war. Die Offiziere waren ihren Leuten auch jetzt weit voraus, und da, wo in der Mitte der Sturmkolonne die schwarze Fahne flatterte, glaubte Justus Morgans gedrungene Gestalt zu erkennen.
Die Pulverkammern waren bei dem letzten Artillerietreffer verschüttet worden, und fast alle Geschütze dieser Front hatten ihren letzten Schuß schon verfeuert. Don Bartolo, sich ganz auf die Sicherheit seiner Scharfschützen verlassend, erwartete ruhig den Augenblick, in dem der Feind die richtige Entfernung für die Büchsen haben mußte. Auch einige von den Kreolen, die nun wohl oder übel eingesehen hatten, daß sie weder auf eine Übergabe ihres Befehlshabers noch auf Gnade bei diesem wilden Gegner zu rechnen hatten, griffen zu den Gewehren. So erwartete die kleine Schar mit dem Mut der Verzweiflung den anstürmenden Gegner.
Plötzlich aber, als die Flibustier die Zone des Gewehrfeuers erreicht haben mochten und Don Bartolo eben den Befehl für die Salve geben wollte, teilten sich die Massen des Feindes und ließen einer andern, bisher sorgfältig hinter der vordersten Front verborgenen Kolonne den Vortritt. An den Baretten mit den schwarzen Büschen erkannte Justus ohne weiters die Zimmerleute, die auf allen Flibustierschiffen auch für Pionier- und Sappeurdienste Schanzgräber. ausgebildet waren und eine Truppe für sich bildeten. Diese Leute trugen lange Leitern, die sie wohl aus dem verbrannten Kloster herbeigeschleppt hatten. In ihrer vordersten Reihe aber, ein jeder mit starken Stricken bei den Handgelenken an die des Nachbars gefesselt, liefen wiederum gefangene Mönche, an ihren weißen Kutten von weitem kenntlich, durch die drohenden Pistolen der Offiziere willfährig zu solchem Dienst gemacht. Diesmal aber waren sie nicht nur Pfadfinder, diesmal sollten sie den dahinter anstürmenden Flibustiern als Kugelfang dienen.
Ein Wutschrei über diese feige List Morgans kam aus den spanischen Reihen. Wohl knallten auch jetzt einzelne wohlgezielte Musketenschüsse auf, und drüben ließ mancher der Zimmerleute die Sturmleiter mit einem Weherufe fallen. Aber ein Salvenfeuer, mit dem Don Bartolo diesen Gegner hatte empfangen wollen, war nun unmöglich. Als drüben diese armen Kuttenträger die Hände hoben und jämmerlich zu dem spanischen Wall hinaufflehten, verstummte das Feuer vollends. In rasendem Lauf konnten die Flibustier unbehelligt die gefährliche Zone durcheilen, und gleich darauf legte sich die erste Sturmleiter an den Wall an.
Eine fürchterliche Verwirrung herrschte auf dem Wehrgang. Jeder schrie auf den Nachbarn ein, keiner wußte, ob er feuern sollte oder nicht. Als die Leute vollends sahen, daß man die Mönche nicht nur Leitern anlegen, sondern sie auch als Erste hinaufsteigen ließ, warfen sie die Waffen fort und streckten, nun selbst Gnade heischend, die Hände den andringenden Flibustiern entgegen. Nur an einzelnen Stellen feuerte noch der eine oder andere der Musketiere, der bei dieser teuflischen List sich seine Besonnenheit bewahrt hatte, hinter den Schießscharten hervor, so daß mancher Flibustier von der Leiter herab in die Tiefe stürzte.
Justus stand neben dem Befehlshaber, der den Degen gezogen hatte und entschlossen schien, sich aufs äußerste zu verteidigen. Eine blinde Wut gegen diese rohe Horde mit ihrem widerlichen Gebrüll war über den Deutschen gekommen. Unmittelbar vor ihnen erklommen die ersten Flibustier, die Enterbeile in der Faust, die breiten Säbel zwischen den Zähnen, den dreißig Fuß hohen Wall. Ein Rütteln an den Mauerhaken der angelegten Leiter – einer der wenigen sich noch wehrenden Spanier leistete Justus kräftige Hilfe dabei – und die Mauer entlang fiel die Leiter, die Kletterer mit sich in die Tiefe reißend. Halb toll vor Freude über den Sturz des Feindes liefen die beiden den Wall entlang, mit wohlgezielten Pistolenschüssen die Angreifer auf den obersten Sprossen verscheuchend, eine Leiter nach der andern in die Tiefe stoßend. Kugeln sausten ihnen um die Ohren, und von unten, wo eben eine neue Welle Stürmender angelangt schien, erschollen Wutschreie. Justus beachtete es kaum. Er hatte eben einem Gefallenen die Muskete abgenommen, er hatte sich ebenfalls hinter eine der Mauerscharten geduckt und jagte Schuß um Schuß in die dichtgedrängt stehenden Massen. Die Erregung der Stunde begann ihm die klare Besinnung zu rauben. Feuerfunken, rote Ringe tanzten vor seinen Augen; er fuhr sich mit der Hand über die schweißtriefende Stirn, er feuerte von neuem, er lachte in wilder Kampfeswut auf, wenn wieder einer dort unten in die Knie knickte. Er spähte, er suchte nach dem Scheusal, nach dem verhaßten Führer dieser Bande, er hörte wieder seine brutale Stimme und wußte wohl, daß seine Kugel ihr Ziel nicht verfehlen würde. In seiner Wut übersah er ganz und gar, daß neben ihm Don Bartolo lag, die Stirn zerklafft von einer Pistolenkugel; und fast zu spät bemerkte er, daß nur wenige Schritte von ihm entfernt sich die Mauerhaken einer neuen Leiter in das Gestein bohrten. Er zerrte wieder an den Holmen der Leiter, er hob, als es ihm nicht gelingen wollte, sie hinabzustoßen, die Büchse, um wenigstens den Vordersten noch hinabzuwerfen mit dem tödlichen Blei. Er hob das Gewehr, um es dennoch im nächsten Augenblick wieder fallen zu lassen. Gewiß, es waren Flibustier, Leute von Morgans Schiffen, die da ihre Enterbeile schwangen. Der erste aber auf der Leiter, gefesselt gegen den eigenen Bruder getrieben, war – Georg.
Justus sah es nur noch flüchtig. Wieder tanzte ein roter Funkenregen vor seinen Augen. Daß der Bruder von den hinter ihm Ansteigenden auf die Mauer gestoßen wurde, nur das konnte er noch mit seinen Blicken erfassen. Dann vergingen ihm die Sinne. Über ihn hinweg ging die Welle der Angreifer.
Das Wehgeschrei der Besatzung, die auf dem Hofe bis auf den letzten Mann niedergehauen wurde, hörte er nicht mehr.
Im matten Mittagswind schlug gleich darauf die schwarze Flagge hin und her, die der Sieger über dem zerschossenen Walle gehißt hatte.