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Kampf und Seenot

An Bord. – Ein schlechtes Vorzeichen. – Neue Verräterspuren. – Vor dem Kommodore. – Feind in Sicht. – Ein schwerer Treffer. – Der Schrei aus dem Dunkel. – Trübe Stunden. – Ein Schlupfwinkel.

 

Bald nach den Brüdern war auch de Graff an Bord gekommen, im Harnisch und von der Hellebardierwache begleitet, ein strenger Kriegsheld nun, dem man den schweren Abschied so ganz und gar nicht ansah. Auch jetzt hatte Justus keine Gelegenheit gefunden, sich ihm zu nahen; der Kommodore war gleich in der Staatskabine verschwunden, vor deren Türe man strenge Wacht hielt. Auch Lussan war dem jungen Deutschen nicht erreichbar. Als sie an Bord gekommen waren, hatte man eben den »Ulenspeegel«, den der junge Offizier befehligte, vor den Eingang der Bucht gebracht, wo er jetzt gespenstisch seine Rahen Quer zum Schiff an den Masten angebrachte runde Segelstange, an der die Segel hängen und festgemacht werden. (Großraa, Großmarsraa, Kreuzoberbramraa usw., je nachdem an welchem Mast die Stangen angebracht sind.) in die sinkende Dämmerung hinausstreckte. Auch der kleinere Schnellsegler, der mit den beiden anderen Schiffen heute noch auslaufen sollte, war nicht mehr im Hafen. Von Kellermann, dem alten Leibarzt, der diese Reise mitmachte und als einer der wenigen Deutschen sich den beiden Brüdern angeschlossen hatte, erfuhren sie, daß er vor der Bucht kreuze und irgend ein Schiff erwarte, das von Haiti her mit wichtigen Nachrichten kommen sollte. Die übrigen Schiffe hatten auch jetzt ihre Anker nicht aufgenommen. »Sie werden uns folgen«, sagte Kellermann; »sie laufen nicht so rasch wie wir, und mich deucht, der Kommodore hat ganz unerwartete Nachricht vom Feind bekommen, weil er mit den schnellsten Schiffen allein auszulaufen gedenkt. Möglich, daß wir voraus und den Spanier, den man erwartet, aufhalten sollen, und daß Morgan dann mit den schweren Schiffen ihm den Rest geben soll.«

Justus erschrak bei dem Namen, den er eben gehört hatte. »Wer befehligt die nachfolgenden Schiffe?« fragte er den Schweizer noch einmal.

»Morgan, mein junger Herr«, erwiderte der Alte lächelnd. »Nun, ich denke, Ihr solltet ihn doch von der ›Santa Maria‹ her kennen!«

Justus krauste die Stirn, hinter der die Gedanken plötzlich einander zu jagen begannen. Morgan hatte ihn mißhandelt, vor Morgan hatte Lussan ihn gewarnt, Morgans Stimme ... nein, er konnte sich nicht täuschen, die Stimme jenes Mannes, die er zuerst vor seiner Ohnmacht auf dem sinkenden Spanier gehört, diese Stimme war es, die heute da unten in dem Pulverkeller von Verrat und Meuterei gesprochen hatte!

Der Alte lachte wieder. »Ihr schaut gar verdrießlich drein! Habt Ihr ihm den Peitschenschlag und die Narbe auf Eurer Stirn da nicht vergessen? Aber glaubt mir, er ist so schlimm nicht, dieser Morgan. Es ist eben noch ein Kapitän aus der alten Zeit dieses Flibustierbundes, als man mit einem Menschenleben nicht gar so vorsichtig und gnädig umging wie nun unter unserem milden, freundlichen Herrn. Zudem, er ist der geschickteste von allen, und de Graff hält große Stücke auf ihn.«

Da konnte Justus seiner Gedanken und seines quälenden Verdachtes nicht mehr Herr werden. »Sagt mir, hält er am Ende nicht gar zu viel von der Verläßlichkeit dieses Menschen?«

Der Alte trat einen Schritt zurück. »Was habt Ihr da für krause Gedanken, Herr von Owelglas! Er ist dem Kommodore und der Flibustiersache ergeben mit Leib und Leben. Als einer, der diese Menschen doch nun seit drei Jahrzehnten kennt, junger Herr, rate ich Euch gut: laßt Euch nicht von solch seltsamen Gedanken leiten und hütet Eure Zunge. Es könnte Euch sonst übler hier ergehen, als Ihr vermeint. – Aber seht dort!«

Er wies nach dem Ausgang der Bucht, wo sich langsam an den düsteren Schattenriß des wartenden »Ulenspeegel« der eines zweiten Schiffes heranschob. »Das ist die Nachricht«, sagte Kellermann, »auf die wir warten. Gebt acht, nun gehen auch wir in See!«

Als ob die Ereignisse sein Wort bestätigen wollten, ging am Fockmast des »Ulenspeegel« eine Signallaterne in die Höhe, und gleich darauf stieg als Zeichen des Verständnisses vom Vorschiff des »Egmont« eine grüne Rakete senkrecht zum nächtlichen Himmel auf, helleuchtend wie ein Meteor und dann zerstiebend und verlöschend, ein Abbild des Menschenruhmes und der Menschenpläne. Gleich darauf rasselte die letzte Trosse Starkes Hohltau. Ankerketten., die den »Egmont« mit dem steinernen Kai Uferstraße. verband, durch ihre Öse, auf einen halblauten Befehl von der Back Erhöhter Teil des Vorderschiffes. Lagerplatz der Anker. her zogen die vor dem Bug liegenden Ruderboote mit scharfem Ruck an, und gleich darauf begann der »Egmont« mit der auslaufenden Ebbe aus der Bucht zu gleiten.

Die beiden Brüder samt dem Schweizer Arzt hatten sich, um diese Manöver besser beobachten zu können, in die Nähe des Großmastes begeben, wo eine Laterne den Zugang zur Brücke schwach erleuchtete. In dem Augenblick aber, als das Schiff raschere Fahrt zu gewinnen schien, fuhr ein klagender Windstoß durch die Luft, und gleich daraus schraken die drei zusammen; neben ihnen war, von oben kommend, klatschend ein Gegenstand auf die Planken gefallen, und als sie es aufhoben, siehe, da war es die Admiralsflagge mit dem weißen Schädel im schwarzen Felde, die man wohl durch ein Versehen bei Sonnenuntergang einzuziehen vergessen hatte, und die nun oben durch einen Windstoß losgerissen und schwer und naß auf die Planken geworfen worden war.

Kopfschüttelnd hob sie der Alte auf. »Ein schlechtes Vorzeichen, meine ich. Vor der Schlacht bei Lützen, wo König Gustav Adolf Leib und Leben verlor, soll ihm ein ähnliches Vorzeichen den Untergang angezeigt haben. Gott gebe ...« Er kam nicht weiter. Aus dem Dunkel jenseits des Laternenscheines war eine verhüllte Gestalt vor sie getreten und hatte das niedergesunkene Zeichen aufgehoben. Sie wichen scheu zur Seite; es war de Graff, der, in schweres Ölzeug gehüllt, eben die Brücke hatte ersteigen wollen und nun nachdenklich auf die niedergerissene Flagge sah.

In dieser Nacht suchten die Brüder ihre für die Verhältnisse eines Kriegsschiffes ungewöhnlich geräumige und bequeme Kabine nicht auf. Das Gewitter schien schlechtes Wetter für längere Zeit heraufgeführt zu haben. Kaum hatten die drei Schiffe die Bucht verlassen, als ein eisiger Nordost einsetzte, der mit seiner starken Dünung die auf schnelles Segeln in diesen doch sonst ruhigen Gewässern berechneten Fahrzeuge arg hin und her warf, so daß die Leeseite Die vom Winde abgekehrte Seite des Schiffes. ständig unter Wasser ging. Pfeilschnell ging es so, immer hart am Winde, nach Süden. Vor Mitternacht schon war wie ein riesiger Sarg der Schatten der Insel Haiti an ihnen vorübergezogen, und dann hatten sie zu Beginn der Hundswache die offene See gewonnen.

Unermüdlich strich Justus in dieser Nacht durch das Schiff, immer von Georg begleitet, der den verschlossenen Bruder wohl kannte und ihn nicht erst nach dem Grunde seines Treibens fragen mochte, übrigens schienen die Schiffe kampfbereit. Im Batteriedeck und an den Deckgeschützen standen die Kanoniere mit brennenden Lunten, im Windschutz der Reling lagerte am Großmast die Entermannschaft in vollen Waffen, und ab und zu blitzten auf den Brücken der dicht beieinander segelnden Schiffe Lichtsignale auf. Vier Uhr war es, als die Bö Kurzer, starker Windstoß. mit einem feinen, kalten Regen Nebelfetzen über die hochgehende See jagte, die immer dichter und dichter wurden und schließlich eine Verständigung der Schiffe untereinander unmöglich machten. Um diese Zeit, bald nachdem die Wache gewechselt hatte, erhob sich Justus mit seinem Bruder zu einem neuen Rundgang durch das Schiff. Die Dämmerung schien die ersten blassen Lichtstreifen an den Himmel zeichnen zu wollen, als sie über das Hauptdeck der Back zugingen, die sie bisher nicht betreten hatten.

Ganz still schien dort alles. Zwei dunkle, unförmige Massen, deren Bedeutung sie nicht erraten konnten, türmten sich zu beiden Seiten des Buges auf, dort wo die Ankerketten in ihren Klüsen Loch im Schiffsbug für die Ankertaue. laufen mochten. Eine Laterne brannte auf diesem Platz, der durch die sich im Bug vereinigenden Wände der Reling einigermaßen gegen den Wind und die überkommenden Wellen geschützt schien.

Als die beiden Brüder eben die Treppe, die zur Back hinaufführte, emporgestiegen waren, huschte eine kleine, gebückte Gestalt aus dem Schatten hervor, stahl sich eilends, so daß die beiden das Gesicht nur einen Augenblick zu sehen vermochten, aus dem Lichtkreis und war gleich darauf über die Treppe gehuscht und im Dunkel des Hauptdecks verschwunden. Aber dieser Augenblick war doch lange genug gewesen, um den mißtrauischen Justus stutzig zu machen. In dieses merkwürdige Gesicht mit der langen Spitznase und dem vorspringenden Unterkiefer hatte er schon einmal gesehen. Der Italiener war es und kein anderer, dieser nämliche Bursche, mit dem er gerungen, ehe er das Gold der »Santa Maria« versenkt hatte. Im Nu war Justus, Verdacht schöpfend, die Treppe hinabgesprungen, aber wie er auch das schrägliegende Hauptdeck in allen Winkeln durchstöberte, er konnte den Gesuchten nicht mehr auffinden. Offenbar war er durch die in den vorderen Raum führende Luke bereits im Innern des Schiffes verschwunden, wo er unter den eben von der Wache kommenden und das nasse Zeug wechselnden Leuten schwer zu finden gewesen wäre.

Justus kehrte auf die Back zurück. »Hast du den da erkannt?« fragte nun auch Georg, der dort zurückgeblieben war, betroffen.

»Ich habe ihn erkannt, und ich kann nicht sagen, daß es mir sehr angenehm ist, ihn hier wiederzufinden.«

»Ist nicht die ganze Mannschaft der ›Santa Maria‹ von Tortuga fortgeschafft worden?«

»Sie sollte fortgeschafft sein. Um so auffälliger, daß gerade dieser Mensch an Bord sein kann!« Justus ging kopfschüttelnd nach vorn, wo der Vordersteven ab und zu die Spritzer einer besonders hohen See heraufschickte. Jenen dunklen Massen, die ihnen vorher, als sie die Back betreten hatten, aufgefallen waren, stand er jetzt ganz nah. »Siehe da«, sagte er und hob einen Zipfel der verhüllenden nassen Segelleinwand empor, »die berühmten Kriegsmaschinen der Flibustier!«

Was da beiderseits des Schiffes so unförmlich über die Bugreling emporragte, war nichts anderes als die großen Messingkanonen, die man mit Segelleinwand bedeckt hatte, um sie gegen den Seegang zu schützen. Seltsam unförmig erschienen die Lafetten, auf denen diese Ungetüme lagerten. In eine lange Bank schienen sie hinten zu enden. Als er auch hier die Segelleinwand hob, merkte er, daß die vermeintliche Bank ihrer Länge nach von zwei Gleitbahnen durchmessen wurde, die in ihrer Tiefe sorgfältig mit Seife oder Fett eingerieben waren. Nun begriff er den Sinn dieser seltsamen Vorrichtung. Das Geschützrohr lagerte nicht fest verankert auf dieser Lafette, sondern auf einem Schlitten, der in diesen Gleitbahnen sich hin und her bewegen konnte. Gewiß, kein Schiff war stark genug, beim Abfeuern eines so mächtigen Stückes den Rückschlag des Schusses zu ertragen, ohne in seinem Gefüge gelockert zu werden. Das Rohr glitt jedesmal in seinen Bahnen, die sich an ihrem Ende ein wenig erhöhten, zurück, ohne daß ein so harter Stoß zu spüren sein konnte Dieser erste einfache »Rohrrücklauf« wurde damals zuerst im Seekriege an der nordfranzösischen Küste von dem berühmten Kaper Jan Barth angewendet.. Außerdem ließen sich auf diese Weise die zurückgeglittenen Rohre, deren Mündung in der Feuerstellung wohl sechs Fuß außenbords lag, viel leichter laden.

So stark war in Justus das Interesse an diesen Dingen gewesen, daß er einen Augenblick seine Unruhe und seinen Verdacht vergessen hatte. Er wollte eben seinem Bruder diese Maschinerie erklären, als ihn plötzlich in einer Pause zwischen den Stößen der Bö ein seltsames Geräusch von neuem stutzig machte. Das klang geradeso wie das Stöhnen eines Verletzten oder das Schnarchen eines Betrunkenen. Er sah sich um. Wo war denn eigentlich die Bewachung und Bedienung dieser wichtigsten Geschütze des ganzen Schiffes? Jetzt, wo das Fahrzeug offenbar dicht am Feinde war, konnte sie doch unmöglich fehlen! Er suchte in dem geräumigen Winkel, den die Lafette mit dem Bug bildete, um gleich darauf über das Bein eines dort regungslos liegenden Menschen zu stolpern. Er sah erschreckt in das Halbdunkel vor sich; bei Gott, da lag die ganze Bedienung der beiden Geschütze, die hier in dem stillen Winkel wohl Schutz vor der Bö gesucht hatte, im tiefsten Schlaf schnarchend auf den Planken.

Justus beugte sich zu dem ihm Nächstliegenden hernieder; er versuchte ihn aufzurütteln, er schrie, er brüllte ihm in die Ohren. Alles blieb vergebens. Es gelang wohl, den einen oder anderen hochzuzerren, daß er stier für ein paar Augenblicke um sich sah; aber immer wieder fielen dann diese Leute mit allen Zeichen tiefster Benommenheit zu Boden. Kein Zweifel mehr, hier sah er die ersten deutlichen Spuren jenes Anschlages vor sich, den er am Tage zuvor in der Pulverkammer von Tortuga belauscht hatte. Irgend ein Schlaftrunk war den Leuten beigebracht worden, um den Hauptwaffen des Schiffes im Augenblick des Kampfes die Bedienung zu nehmen.

Sofort erkannte Justus die Gefahr, in der er selbst mit seinem Bruder schwebte. Wurde er jetzt, wo sich mit dem zunehmenden Morgenlicht das Hauptdeck immer mehr belebte, hier bei den Betäubten betroffen, so mußten sie selbst als die Täter erscheinen. So rasch er konnte, zerrte er Georg die Treppe hinab, vorbei an der Feuerwache, die auf dem Hauptdeck gerade ihres Weges kam, der Brücke zu. An ihrem Zugang streckte ihm eine Wache die Pike entgegen; er schob sie dem verdutzten Manne beiseite und war – Georg nur wurde hinter ihm zurückgehalten – mit ein paar Sätzen vor de Graff, der da noch immer mit einem seiner Offiziere stand.

»Eure Wache ... bei den Buggeschützen ...«

Justus war vor Erregung außer Atem und konnte die Worte nur stammelnd hervorbringen. Der Holländer, der eben noch mit dem Glas den Horizont abgesucht hatte, sah ihn erstaunt und mit gerunzelter Stirn an. »Wer erlaubte Euch, die Brücke zu betreten?« fragte er.

Das klang zornig und drohend fast. Da wußte Justus, daß er kaltblütig und besonnen bleiben mußte, wollte er hier nicht selbst in Verdacht kommen. »Ich habe eben mit meinem Bruder Eure Wache bei den Buggeschützen schlafend oder betäubt vorgefunden.«

De Graff verzog keine Miene; nur daß sein Gesicht, wenn das Frühlicht nicht trog, noch ein wenig bleicher geworden war. Ein paar Weisungen an den Offizier neben ihm, dann stieg er mit Justus und dem auf seinen Wink freigegebenen Georg die Treppe hinab. Als sie nach vorn gingen, kam ihnen schon mit allen Zeichen der Erregung der Maat Matrose im Range eines Unteroffiziers. (Niederländ.: Genosse.) der Feuerwache entgegen. Er habe, berichtete er, eben die Lampe auf der Back löschen wollen, da hätten sie die Leute an den Geschützen, Gott wisse ob nur betäubt oder sterbend, vorgefunden. Vorher aber hätte er genau gesehen, daß diese beiden Herren – er wies auf die Brüder – von der Back gekommen seien. »Hat jemand außer den Leuten von deiner Wache die da vorn liegen sehen?«

Der Alte, der die beiden Brüder mit wütenden Blicken maß, als sähe er sie im Geiste schon oben an der Oberbramrah Die zum Bramsegel gehörige Rahe. baumeln, verneinte. Er habe von seinen Leuten auch sofort die zur Back führende Treppe besetzen lassen.

»Gut«, sagte de Graff, »du meldest das alles jetzt dem Wachthabenden und sorgst mir im übrigen dafür, daß niemand im Schiff von dieser Sache etwas erfährt.« Dann betrat er mit den beiden Deutschen, denen sich jetzt auf seinen Wink zwei bis an die Zähne bewaffnete Leute zugesellt hatten, die Back.

»Den Arzt hierher!« sagte de Graff, als er vergebens versucht hatte, die Daliegenden zum Bewußtsein zu bringen. Kellermann, der alsbald zur Stelle war, hob den Bewußtlosen die Augenlider. »Ein Schlaftrunk, Ew. Exzellenz, nichts weiter. Die Pupillen sind nicht größer als einer Stecknadel Kopf. Wie es scheint, hat man ihnen Mohnsaft zu trinken gegeben. In einer Stunde werden sie vielleicht wieder erwachen, wenn es nicht allzuviel gewesen ist, was man ihnen reichte.«

De Graff wandte sich an Justus. »Und Ihr habt sie so gefunden?« Messerscharf war jetzt dieser sonst so liebenswürdige Blick. Justus wich ihm nicht aus. »Ja, Ew. Exzellenz!«

»Und was suchtet Ihr in der Nacht hier an Deck?«

»Einen Verräter!«

Der Holländer runzelte die Stirn. »Wollt Ihr nur Rätsel aufgeben? Ihr selbst wurdet in der Nähe gesehen!«

Justus richtete sich bolzengerade auf. »Und ich selbst, wie Ihr vergessen zu haben scheint, habe Euch auf das Schlafen der Leute aufmerksam gemacht.«

De Graff neigte ein wenig das Haupt. »Gewiß, Ihr wurdet hier angetroffen, und so erschien es Euch vielleicht das Klügste, mir einen Verrat zu melden, den Ihr selbst angezettelt haben mögt. Immerhin – Ihr wollt mir etwas anvertrauen?«

»Ja!«

Ein Wink, wieder nahmen die beiden Flibustier die Brüder in die Mitte. Auf dem Weg nach dem Achterschiff, wohin sie jetzt gingen, rief de Graff den Wachthabenden an. »Sind sie noch zu sehen?« fragte er den jungen Mann, der grüßend vor ihm stehen blieb.

»Nein, das Wetter ist zu unsichtig.«

»Gut, Ihr wißt Bescheid und ruft nach mir im Notfall!«

Er ließ die beiden Brüder hinter sich gehen und schritt selbst voran dem Kajüteneingang zu, vor dem er dann die beiden bewachenden Leute warten ließ. Ein großer, heller Raum öffnete sich vor den beiden Brüdern, die sich staunend einen Augenblick hier umsehen konnten. Das war allerdings der Wohnraum eines Mannes von erlesenem Geschmack. In das Getäfel der Wände waren Bilder eingelassen, die den beiden mit niederländischer Kunst wohlvertrauten Deutschen unschwer des berühmten Snyders und van Dycks Meisterhand verrieten, und Gestelle liefen rund umher, auf denen die Bände einer ausgewählten Bücherei standen. Das einzige, was an das rauhe Handwerk des Bewohners gemahnte, war ein Geschütz, das zu dem mittelsten der großen, in der Hinterwand sich öffnenden Fenster hinaussah und mit seinem schlanken, kunstvoll gegossenen und ziselierten Lauf wohl ebenfalls mehr ein Kunstwerk als eine Waffe darstellte.

De Graff lehnte lässig und mit scheinbar gleichgültigem Gesicht neben seinem Schreibtisch, als Justus von den Erlebnissen des gestrigen Nachmittags berichtete. Dennoch zuckte es manchmal seltsam in seinen Zügen auf, als berühre ihn das, was Justus da gehört hatte, schmerzlich. Eine Weile durchmaß er dann den weiten Raum in tiefem Sinnen, um dann schließlich wieder dicht vor Justus stehen zu bleiben. »Und Ihr habt keinen bestimmten Verdacht oder Anhaltspunkt, wen Ihr da unten gehört hättet?«

Da erinnerte sich Justus der Warnung, die ihm gestern der alte Arzt gegeben. Gelang es ihm, den Kommodore davon zu überzeugen, daß der Verrat nicht von ihm, sondern eben von einem anderen, Unbekannten, angezettelt war, so konnte er es füglich diesem Manne selbst überlassen, jenen Verräter ausfindig zu machen. »Nein«, antwortete er, »die ich dort hörte und sah, waren mir gänzlich unbekannt.«

»Und Ihr bleibt auch dabei, einen Mann der ›Santa Maria‹ auf der Back gesehen zu haben, ehe Ihr die Leute fandet? – Gut, so wird sich doch wohl dieser Mann an Bord finden lassen!« Er war an seinen Tisch getreten, wo eine offenbar nach der Brücke hinaufführende Sprachrohrleitung endete. Alle Räume des Schiffes nach einem Fremden zu durchsuchen gab er Befehl; inzwischen sollte der Profos Strafbeamte. In diesem Falle der Henker. nach unten in die Kajüte kommen. »Es tut mir leid, Herr von Owelglas«, wandte er sich dann wieder an Justus, »solange Ihr mir Offiziere meiner Flotte, wer sie auch sein mögen, verdächtigt, ohne Beweise für ihren Verrat beibringen zu können, muß ich Euch wohl oder übel selbst für den Anschlag schuldig halten und in Eisen legen lassen. Habt Ihr nichts weiter vorzubringen?«

»Nein.«

De Graff zuckte mit den Achseln, während seine Hand lässig mit dem kostbaren Dolch spielte, der auf der Schreibtischplatte lag. Den beiden Brüdern verging eine bange Viertelstunde. Sie erinnerten sich jener finsteren Verliese auf Tortuga. Würde dieser Mann da, dessen Gastfreundschaft sie, wie er glaubte, so schlecht vergalten, glimpflicher mit ihnen verfahren, als seine Vorgänger wohl mit anderen vermeintlichen oder wirklichen Verrätern umgegangen waren?

Schwere Schritte auf der zur Kajüte herabführenden Treppe unterbrachen das lastende Schweigen. Der als erster hereintrat, war wirklich der Profos, ein uraltes, eisgraues Männchen mit stechenden Augen, der schon manchem Missetäter hier an Bord die Schlinge um den Hals gelegt haben mochte. Die Handschellen trug er wohl bei sich, aber die beiden Flibustier, die hinter ihm kamen, führten noch einen dritten zwischen sich, und in diesem dritten, der wie ein Trunkener hin und her taumelte, erkannten die beiden Brüder alsbald einen von der betäubten Geschützwache, den sie vorher vergebens aufzurütteln versucht hatten. In Justus erwachte wieder ein wenig Hoffnung; war dieser Mann imstande zu berichten, wer ihnen jenen Schlaftrunk eingeschenkt, so waren sie am Ende doch noch gerettet.

Der Profos trat vor den Kommodore. »Ew. Exzellenz wollen es mir verzeihen, ein Fremder, wie Ihr ihn an Bord sucht, ist in keinem der Räume zu finden. Wohl aber ward mir, eben als ich mit dem Suchen fertig war, berichtet, daß dieser Mann hier« – er wies auf den Wiedererwachten hinter sich – »zu sich gekommen sei. Haltet zu Gnaden, ob es nicht besser wäre, ein Zeugnis zu hören, ehe ich an den Beschuldigten« – dieses Mal galt der Blick der stechenden Vogelaugen den beiden Brüdern – »die Hand lege. Sind Edelleute wie ich hörte, und würden durch des Henkers Hand nicht sonderlich geehrt werden. Halten zu Gnaden, Exzellenz.« Der redselige Alte neigte sich tief zur Erde und gab dann de Graff Platz, der vor den Mann von der Geschützwache trat.

»Du hast auf Wache geschlafen«, redete er ihn an. »Weißt du, welche Strafe darauf steht?«

»Meiner Treu, Herr, das Baumeln an Eurer höchsten Rah, denke ich«, antwortete der Mann, dem die Zunge noch immer nicht recht zu gehorchen schien. »Aber glaubt mir, es wäre mir wohl nicht vorgekommen, wäre nicht der verfluchte Welsche gekommen mit seinem Wein.«

Gerettet! dachte Justus bei diesen letzten Worten. Dennoch behielten beide Brüder ihre gelassene Haltung bei und überließen das weitere Verhör wohlweislich de Graff, der jetzt weiter in den Mann drang. Der erzählte in seiner treuherzigen Art, er und seine Kameraden hätten sich vor der Wache in der Schiffsschenke des schlechten Wetters wegen stärken wollen. Da sei an Stelle des bisherigen Schenkwirts ein brauner Teufelskerl gesessen, ein Spaniole oder Kroate oder Italiener, Gott wisse, was für eine Brut. Und dieser Kerl, der erst seit Tortuga an Bord sei, habe mit ihnen gewürfelt und gezecht, bis sie plötzlich ganz müde geworden seien. Da hätten sie denn auch schon auf die Back gemußt, und dort sei ihm plötzlich ganz schwindlig geworden; er habe sich niedergelegt, und seitdem wisse er nichts mehr.

»Sieh dir diese beiden Herren an!« sagte de Graff scharf. »Ist's einer von ihnen, der dir zu trinken gegeben hat?«

Da brachte es der allmählich zur vollen Besinnung Gekommene zu einem treuherzigen Lachen. »Meiner Treu, Herr, nein, der Teufel mag mich holen, wenn ich in meinem Leben überhaupt schon so seidenhaarige Bürschlein gesehen hätte!«

»Gut«, sagte de Graff, »geh dieses Mal und schlaf deinen Rausch aus! Das nächstemal – du weißt Bescheid ...« Er winkte den beiden Flibustiern, die den Mann wieder abführten. »Ihr werdet noch einmal den Welschen suchen«, wandte er sich an den Profos; »in einer Stunde will ich den Mann vor mir sehen!« Eilends verließ der Alte die Kajüte. In diesem Augenblick, als die drei allein blieben und de Graff sich eben, mit ganz anderer Miene als zuvor, an die Brüder wenden wollte, schrillten zwei Pfiffe aus dem Hörrohr an dem Schreibtisch durch den Raum. »Vergebt, ich werde abberufen«, sagte de Graff und lauschte auf die den Brüdern unverständlich bleibenden krächzenden Worte, die aus dem Hörrohr kamen, um im nächsten Augenblick mit dem Ruf: »An Deck, wir werden angegriffen!« an ihnen vorbei die Treppe draußen hinanzustürmen. Noch ehe hinter ihm die beiden Deutschen das Deck erreicht hatten, schrillten die Pfeifen der Bootsleute von allen Seiten durch das Schiff, und im selben Augenblick rollte dumpf, offenbar aus weiter Ferne noch kommend, Geschützdonner über die See.

Als sie oben angelangt waren, war vom Feinde nichts zu sehen. Der Wind hatte zwar ein wenig nachgelassen, aber unaufhörlich stürmten Nebelschwaden über das Wasser, so daß die Sicht eben nicht weiter reichte als einen Büchsenschuß. Sie bohrten, wie die an den Geschützen stehenden Kanoniere, wohl die Augen durch das vorüberjagende Grau, aber so sehr auch die durcheinanderwallenden Schwaden immer wieder die Formen von Schiffen vortäuschten, es war eine Weile weder vom Feind, noch von den beiden Begleitschiffen des »Egmont« etwas zu entdecken. Da aber, als sie neben den großen Geschützen auf der Back angelangt waren, deren Arbeit in der Nähe zu sehen Justus aufs höchste gelüstete, da eben frischte die Bö plötzlich wieder so auf, daß zwischen den zerrissenen Schleiern sogar ein wenig Sonne das Bild erhellte. Dann schien das Gestirn endlich die Herrschaft über die Nebel zu gewinnen, und allmählich lösten sich aus den Schleiern, deutlicher und deutlicher werdend, die Umrisse von Fahrzeugen los, die in stattlicher Zahl mit ihrem Südwestkurs den nach Süden gerichteten Weg des »Egmont« kreuzten.

»Spanier«, sagte Justus, durch den Tubus Fernrohr. spähend, »alle vom gleichen Typ wie die ›Santa Maria‹: Kommandobrücke vor dem Großmast, gelbe und rote Stückpforten im Batteriedeck.«

»Fünf gegen drei«, sagte Georg bedenklich »eine ungleiche Partie für de Graff!«

Gegen drei? Ja, wo waren die beiden Begleitschiffe des »Egmont«? Hinter ihnen lag jetzt grau und undurchdringlich die Nebelwand, die der »Egmont« eben durchfahren hatte, seitwärts nichts als die im helleren Licht schwarzblau sich färbende See mit ihren weißen Schaumkämmen. Dort vorn aber, getrennt durch die feindliche Flotte von dem Admiralsschiff, lag mit zerflatterten zerschossenen Segeln ein wohlbekanntes Fahrzeug. Der »Ulenspeegel« Lussans war es, der offenbar bei dem bisher unsichtigen Wetter dem Feind vor die Breitseiten gelaufen und schwer beschädigt worden war. Von der kleinen Kuff aber, die gestern die Nachricht vom Feinde gebracht hatte und offenbar bestimmt war, die Verbindung zwischen den beiden Schiffen aufrechtzuerhalten, war überhaupt nichts zu sehen; der Nebel hatte die Schiffe getrennt. Der »Egmont« lief allein auf den Feind zu, der, scheinbar durch besseres Wetter während der Nacht begünstigt, seine Fahrzeuge hatte zusammenhalten können.

Dennoch, eiserne Ruhe war auch jetzt in jedem Gesicht. Es schien nachgerade, als käme diesen wilden Gesellen überhaupt auch nicht der leiseste Gedanke, daß sie jemals im Kampf gegen die Spanier unterliegen könnten. Immer schärfer wurde die Brise, und mit rascher Fahrt, so daß an ein Ausweichen nicht mehr zu denken war, liefen die Schiffe aufeinander zu. Drüben, hinter der spanischen Flotte, begann eine neue Nebelwand, in der jetzt eben der »Ulenspeegel«, allmählich mit Notsegeln wieder an den Wind gebracht, verschwand. Hier aber, wo es zum Kampf kommen mußte, zerriß die Sonne für ein paar Augenblicke die letzten Schleier, und eben jetzt klappten bei den fünf gleich großen Spaniern mit einem Schlag die Luken der Geschützpforten herunter, daß die fünfmal vierzig Läufe der Breitseite im Sonnenschein aufblitzten. Starr wie die Bildsäulen standen in diesem Augenblick die Flibustier vor den Lafetten, nur der Richtkanonier, scharf über das Rohr visierend, drehte leicht das Rad, um die richtige Höhe zu fassen. Mehr als eine halbe Seemeile, eine mächtige Entfernung für die Schiffsgeschütze jener Tage, lag zwischen den Gegnern, als auf dem »Egmont« eben jene Richtkanoniere im Überholen des Schiffes das Zeichen zum Feuern gaben, daß der helle Schall der Messingrohre gewaltig über die See zum Feind hinüberschrie.

Mit klopfendem Herzen verfolgten die Brüder die riesigen Kugeln in ihrer Flugbahn, als sie hie und da einen besonders hohen Wellenkamm durchschnitten und schließlich dann doch hundert Fuß vor dem Feind unschädlich in die See fielen. Gewiß, bei dem schweren Seegang war die Entfernung noch zu kurz gemessen; der zweite Schuß mußte um so sicherer treffen.

Aber es sollte zu diesem zweiten Schuß nicht kommen. Niemand auf der Back hatte sie gehört, diese beiden Schreie, die von dem Donner der Geschütze erstickt wurden, als aber der erste Windstoß in den zwischen Lafetten und Bug liegenden Winkel fuhr und den dichten Pulverschwaden zerriß, sahen die vor dem Abfeuern aus dem Bereich der Geschütze zurückgetretenen Kanoniere auf ein wildes Bild der Zerstörung; die beiden Richtkanoniere, die einzigen, die beim Abfeuern zur Seite der Lafetten bleiben mußten, lagen, offenbar von den umherfliegenden Holzsplittern getroffen, auf dem Boden. Das schlimmste aber: beide Rohre waren, ohne daß der Grund dafür sofort ersichtlich gewesen wäre, aus ihren Verankerungen gerissen. Das Backbordgeschütz war dabei völlig von seiner Lafette getrennt und wurde bei jedem Überholen des Schiffes im Seegang hin- und hergerollt, so daß man jeden Augenblick ein Durchbrechen der Reling befürchten mußte. Es blieb keine Zeit zu untersuchen, was hier eigentlich geschehen war. Die Geschützbedienung, durch das Gewirr der Trümmer und die Schreie der Verwundeten aus der Fassung gebracht, flutete die zum Hauptdeck führende Treppe hinab und hätte ihre Panik wohl auch der dort zum Enterkampf bereitstehenden Bemannung mitgeteilt, wenn nicht an der Spitze der für solche Fälle bestimmten Feuerwache ein Offizier, die Pistole in der Hand, sich den Fliehenden entgegengeworfen hätte. So gelang es wenigstens, die Verwundeten hier fortzuschaffen und mit den zum Verschieben der Lafette dienenden Hebebäumen das hin- und herpolternde Geschütz einstweilen festzuhalten.

 

Die Tatsache freilich, daß der »Egmont« nun, seiner überlegenen Hauptwaffen beraubt, unaufhaltsam und ohne dem Kampf ausweichen zu können, auf die Kiellinie des Feindes zuraste, diese Tatsache blieb freilich bestehen. Das Gefährlichste war, daß er bei dem eingehaltenen Kurse in spitzem Winkel den des Feindes kreuzen mußte; blieb dieser spitze Winkel bei der gegenseitigen Annäherung erhalten, so konnte der Feind seine fünffach überlegenen Seitenbatterien gegen das Flibustierschiff ins Feuer bringen.

Justus kannte von der »Santa Maria« her noch sehr gut die Entfernung, auf die die spanische Schiffsartillerie zu feuern pflegte. Deutlich konnte man jetzt sehen, wie drüben die blinkenden Geschützrohre der Bewegung des Schiffes langsam folgten. Hundert Fuß noch, und die Salven des Feindes mußten über dieses Deck mit seinen dicht sich drängenden Menschenmassen fegen.

Aber in diesem Augenblick, in dem die Flibustiermannschaft untadelige Ruhe bewahrte, geschah etwas, was man wohl hüben wie drüben nicht erwartet hatte. Auf dem »Egmont« begannen plötzlich die Segel zu schlagen; haarscharf hatte der Kommodore, der nun selbst das Steuerrad in der Hand hatte, um ein paar Striche das Schiff in den Wind gedreht, daß es jetzt senkrecht auf die spanische Linie zulief. Die Brüder sahen noch, wie die Wanten Die unteren Teile der Pardunen und Schoten, die in Strickleitern auslaufen. sich belebten und die Segelmanöver begannen, die das Schiff wieder, dem neuen Kurs entsprechend, an den Wind bringen sollten. Gleich darauf entlud sich drüben das Ungewitter aus zweihundert Kanonenschlünden. Die plötzliche Schwenkung hatte die spanische Artillerie überrascht. Ihre Breitseiten hatten nur jene Stelle des Meeresspiegels getroffen, wo der »Egmont« in diesem Augenblick ohne jene Schwenkung – gewesen wäre. In zierlichem Spiel tanzten die Kugeln über das Wasser, und überall spritzten die Wassersäulen der Einschlagstellen auf. Auf dem »Egmont« aber begrüßte eine ungeheure Lachsalve die schwerfälligen spanischen Kanoniere.

De Graffs plötzliche Schwenkung war ein Zeichen dafür, wie geschickt dieser Flibustier jeden geringfügigen Vorteil sich zunutze zu machen wußte; dem Breitseitfeuer des Feindes war er, indem er rechtwinklig auf dessen Kiellinie zulief, ein für allemal entgangen. Die feindliche Artillerie besaß ja nur wenige auf dem Oberdeck aufgestellte Geschütze. Die Mehrzahl war im Batteriedeck untergebracht, und ihre Rohre sahen aus engen Stückpforten hervor. Je näher aber jetzt der »Egmont« auf sie zukam, um so größer wurde der Winkel, in dem die Geschütze auf ihn hätten gerichtet werden müssen, eine Bewegung, die durch die engen Stückpforten unmöglich gemacht wurde. Zugleich aber erreichte das Flibustierschiff, das in seiner raschen Fahrt binnen kurzem die feindliche Linie durchbrochen haben mußte, die Wiedervereinigung mit dem »Ulenspeegel«, von dem es eben noch getrennt gewesen war.

Und wirklich, das kühne Unternehmen des Kommodore schien zu glücken. Das Admiralsschiff der Spanier hatte die Spitze, und zwischen diesem Schiff und dem etwa tausend Fuß hinter ihm liegenden zweiten schoß jetzt der »Egmont« in stolzer Fahrt hindurch, so dicht, daß man deutlich die Gesichter der Mannschaft drüben auf dem Deck erkennen konnte. Die Flibustierflagge, die seit dem Beginn des Kampfes vom Großtopp wehte, senkte sich spöttisch grüßend vor dem Feind. Die Versuche der Spanier, zur Verfolgung des Feindes einzuschwenken, erschienen bei ihrer schwerfälligen Takelung und der raschen Fahrt von vornherein aussichtslos. So schien der »Egmont« schon der schwierigen Lage entkommen, in die er durch das unsichtige Wetter und durch den unaufgeklärten Vorfall bei den Buggeschützen geraten war.

Die beiden Brüder waren, nachdem die Panik auf der Back beseitigt worden war, bei den zerstörten Geschützständen geblieben, von denen aus sie den Kampf am besten übersehen konnten. Wenn sie auch vor zehn Tagen noch selbst Gäste eines spanischen Schiffes gewesen waren, – hier blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf den Sieg oder das Entkommen des »Egmont« zu hoffen. Wurde das Schiff im feindlichen Artilleriefeuer versenkt, so war an eine Rettung der hochgehenden See wegen nicht zu denken. Kam es aber zum Entern Erstürmung eines Schiffes, nachdem es durch Enterhaken herangezogen und festgehalten wird. Rasches Erklettern der Schiffsmasten., so war es immerhin zweifelhaft, ob die Spanier in ihrem blinden Haß zwischen ihnen und der Bemannung des Flibustiers einen Unterschied machen würden.

So hatten sie mit klopfendem Herzen den Durchbruch durch die feindliche Kiellinie verfolgt. In dem Augenblick aber, als der »Egmont« hinter dem Heck des feindlichen Admiralsschiffes den spanischen Kurs querte und der Abstand der beiden Schiffe so gering war, daß durch Rufen eine Verständigung von Deck zu Deck möglich gewesen wäre, in diesem Augenblick wurden sie durch eine merkwürdige Erscheinung auf dem spanischen Schiffe gefesselt. In den Wanten des Besanmastes Der hinterste Mast einer Bark. stand drüben eine Gestalt, die sie so sehr an jenen jungen, bei den Geschützen der »Santa Maria« gefallenen Offizier erinnerte, daß ihnen beiden unwillkürlich für einen Augenblick der Gedanke kam, Don Dario sei aus seinem nassen Grab aufgestiegen. Haltung, Wuchs, die Tracht selbst, das schwarze Wams der spanischen Artillerieoffiziere mit dem roten Federbusch auf der Kesselhaube, all das sprach dafür. Die zufällige Ähnlichkeit des Mannes da drüben auf dem hohen Achterdeck war so groß, daß sie beide beinahe übersehen hätten, was sich zu Füßen dieses Mannes dort abspielte. Auf dem Deck nämlich ruhte – das Admiralsschiff allein schien diese besondere Waffe zu führen – auf einer, einem niedrigen, stumpfen Turm gleichenden Lafette ein Geschütz. Es war kein großes Kaliber und sein Schuß konnte, wie sie glaubten, nicht allzugroße Verheerungen anrichten. Aber es war infolge jener eigenartigen Lafette nach allen Seiten zu richten, und deutlich war jetzt zu erkennen, wie sein tief zur Wasserlinie niedergesenkter Lauf dem »Egmont« folgte. Zugleich schwenkte der in den Wanten stehende Offizier seinen Hut, und im gleichen Augenblick zuckte der rote Strahl des Mündungsfeuers zu dem Flibustier herüber. An dessen Bug, unmittelbar unterhalb der Stelle, wo die Brüder gestanden hatten, bäumte sich jetzt der Wasserstrahl des Treffers auf, und jenes ihnen vom Todeskampf der »Santa Maria« wohlbekannte gurgelnde Geräusch verriet, daß der Schuß unterhalb der Wasserlinie gesessen hatte.

Über das Hauptdeck sahen sie jetzt Zimmerleute mit Äxten und großen hanfumwickelten Holzpfropfen eilen und in der Vorderluke verschwinden. Die Feuerwache, von einem Offizier geführt, folgte, und auf ein paar Kommandorufe von der Brücke her wurden die auf Deck stehenden Pumpen besetzt. Wohl wissend, was dieser feindliche Treffer auch für sie selbst bedeuten konnte, drängten die Brüder hastig den im Raume Verschwindenden über die engen Stiegen und Leitern nach.

In jenem engen, dunklen, unmittelbar hinter dem Vordersteven liegenden Raum, der die Trommel der Ankerkette barg, hatte der Schuß eingeschlagen. Wenigstens leckte aus dem schmalen, kaum das Durchkriechen eines Menschen gestattenden Spalt, der den einzigen Zugang bildete, eine dünne Zunge eindringenden Wassers über den Schiffsboden. Offenbar hatte der Schuß unglücklicherweise die dort liegende Ankerkette zerrissen und durch deren springende Eisensplitter ein viel größeres Leck geschlagen, als es sonst ein Treffer von diesem Kaliber zu tun vermocht hätte. Das Wasser stieg hier vorn zusehends so rasch, daß es beim Überholen des Schiffes polternd bald hin- und herzuschießen begann. Die weite rote Lichtbahn der Laternen, die sich im eingedrungenen Wasser widerspiegelten, das gurgelnde Geräusch, mit dem jetzt die arbeitenden Pumpen anzuziehen begannen, – es war ein banger Augenblick, der jedem die Gefahr deutlich genug ins Bewußtsein rief.

Auf einen Wink des Offiziers begannen die Zimmerleute mit ihren Äxten in das Deckengebälk des niedrigen Raumes zu steigen. Als die Brüder sich an das dort oben herrschende Halbdunkel gewöhnt hatten und hinaufsahen, erkannten sie jene eigentümliche Vorrichtung, die sie später auch in den übrigen Räumen des Schiffes bemerkten, und die dieses Flibustierfahrzeug unsinkbar zu machen bestimmt war. Oben an dem Balkenwerk hing an dicken Tauen eine schwere, eisenbeschlagene Falltür aus Eichenbohlen, die in einer seitlich angebrachten Gleitbahn niedergelassen werden konnte. Kappte man oben die Haltetaue, so mußte diese Falltür den hinter ihr liegenden Raum einigermaßen gegen das von vorn eindringende Wasser schützen, ohne daß deswegen das ganze Schiff in Gefahr geriet. Diese Vorrichtung, eine Vorläuferin der Schotten moderner Schiffe, wurde erstmalig auf den Seglern der holländisch-indischen Kompanie im 17. Jahrhundert angebracht. Auch die englische Kriegsmarine verwandte schon bald nach dem Elisabethischen Zeitalter diese Fallgatter.

Hastig hieben oben die Leute auf die armdicken Haltetaue ein. »Macht rasch dort oben, wenn euch euer Leben lieb ist!« schrie der Offizier hinauf. Hatte der Seegang das Leck noch erweitert, oder hatte das eindringende Wasser irgend ein Hindernis fortgespült, das sich ihm entgegensetzte: es brauste jetzt in immer mächtigerem Strahl aus dem Spalt hervor, und die Leute der Feuerwache, die inzwischen auf einen Befehl des Offiziers die schweren Sandsäcke des Schiffsballastes aus den weiter hinten liegenden Räumen herbeischleppten, wateten schon bis an die Knie im Wasser.

Plötzlich fuhr Georg, der erwartungsvoll dem Kappen der Haltetaue zugesehen hatte, zusammen. War das nicht Stöhnen, der Laut eines sich in höchster Not befindenden Menschen, den er da eben gehört hatte? Er rüttelte den neben ihm stehenden Offizier am Arm: »Hörtet Ihr nichts?«

Ehe dieser antworten konnte, ließ sich wieder jener unheimliche Ton vernehmen, lauter diesmal als das Brausen des eindringenden Wassers, zweifelsohne aber aus dem Spalt kommend, der in den getroffenen Raum führte. »Bei Gott«, schrie Georg, »ein Mensch! Ein Mensch, der dort stirbt!«

»Unsinn«, sagte der Offizier, »niemand betritt den Raum, außer hin und wieder der Zimmermann, wenn er die Ketten schmiert. Bleibt hier, das Gatter ...«

Noch gerade zur rechten Zeit hatte er Georg, der sich schon niedergebeugt hatte, um in den engen Zugang zu kriechen, zurückgehalten; fast gleichzeitig waren oben die Leute mit dem Kappen des Taues fertiggeworden, und langsam zuerst, und ächzend das verquollene Holz der Gleitbahn überwindend, setzte sich das Gatter oben in Bewegung, um dann mit dumpfem Aufschlag, der das ganze Schiff in seinen Fugen erbeben machte, niederzusausen.

Noch einmal glaubten sie dort drinnen dieses furchtbare Stöhnen zu hören, dann erstarb das alles im Poltern des abgeschlossenen Wassers. In stummem Grauen standen sie noch eine Weile vor dem Gatter, das dem da drinnen auf immer den Weg zur Rettung abgeschnitten hatte. Und die Not des Augenblicks machte es wohl, daß sie den so ganz und gar vergessen hatten, der noch eine Stunde zuvor vergeblich im ganzen Schiff gesucht worden war.

Auch jetzt galt es, rasch zu handeln. Offenbar war das Leck wirklich durch den Seegang erheblich erweitert worden, denn jede Welle, die das Vorschiff durchschnitt, warf sich polternd gegen das Gatter, daß die schwere Tür in allen Fugen zitterte. Erst als eine dicke Lage von Sandsäcken bis zur Decke des Raumes hinauf hinter die Falltür gelagert war, schien auch diese Gefahr vorüber.

Das Wetter war aufs neue trüb geworden, als sie wieder das Deck erreichten. Vom Feinde war nichts zu sehen, und der »Egmont« selbst war wieder in einer jener Nebelbänke, die an diesem Tage so unvermittelt mit klarer Sicht wechselten. Im übrigen hatte der Treffer des Feindes dem Fahrzeug übel genug mitgespielt; tief bohrte sich das Vorschiff in jede Welle, daß es bis zur Brücke unter Wasser lief, und eisige Spritzer warf der Wind bis zum Großmast, wo noch immer alles zum Entern bereitstand. Von der Brücke kamen die langgezogenen Töne eines Nebelhorns; offenbar suchte man nach dem »Ulenspeegel«, der bald nach dem Durchbrechen der feindlichen Linie wieder im Nebel verschwunden war. Aber ohne Antwort verhallten die Signale, und noch immer auf sich allein angewiesen arbeitete sich der »Egmont«, der jeden Augenblick zum zweiten Male dem suchenden Feinde vor die Geschütze laufen konnte, durch die hochgehende See.

In trübem Sinnen verbrachten die beiden Deutschen diesen Tag an Deck, wo sie hinter der Reling ein wenig Schutz vor dem kalten Wind und den Spritzern suchten. Die Ungewißheit ihres Schicksals, die geheimnisvollen Vorgänge, die an ihnen seit dem vorhergehenden Tage vorübergezogen waren, die heute überstandenen Fährnisse, das alles stand quälend vor ihnen, bis die durchwachte Nacht ihr Recht verlangte und sie für lange Stunden in bleiernen Schlaf fielen.

Von einem lauten Tosen erst erwachten sie. Es war später Nachmittag geworden und das Licht schon im Sinken. Die See hatte sich gelegt, und das Wetter war ganz klar. Hinter ihnen nur, im Norden, streckte die Nebelbank, aus der sie gekommen, lange, im Abendwind verflatternde Schleier aus. Das brausende Geräusch aber, das vom Hinterschiff kam, bedeutete eine neue Überraschung; der »Egmont« ließ, weil die Ketten der Buganker wirklich beschädigt worden waren, seinen Notanker fallen. Als die Brüder aber mit dem Glas den Horizont absuchten, lag vor ihnen über dem stillen Wasser ein flacher Streifen, so fahl und blaß, daß sie ihn bisher übersehen hatten. Land war es, eine scheinbar baumlose, sandige Insel, die dort, gar nicht so weit von ihnen, sich kaum über die See erhob. Unmittelbar vor ihnen schien ein Fluß in das Meer zu münden, denn sie sahen auf einen schmalen Wasserlauf, der weiter landeinwärts sich anscheinend zu einer größeren, lagunenartigen Fläche erweiterte. Übrigens war es in der Nähe dieses Eilandes seltsam warm geworden, und der leichte Wind trug den fauligen Dunst weiter Sümpfe herüber.

 

»Hier wären wir also«, sagte der alte Arzt, der zu ihnen getreten war, »und ich hoffe, dieses Mal bringt uns diese verfluchte Insel kein Unglück!«

»Wo sind wir«, fragte Justus hastig, »und welches Unglück hat diese Insel Euch schon gebracht, daß Ihr so sprecht?«

»Culebra Culebra spanisch = Schlange. heißt der Höllensumpf«, antwortete der Alte, »und wie mich deucht mit Recht! Denn es wimmelt da von diesem verfluchten Gewürm. Übrigens ist diese Insel der Treffpunkt und Schlupfwinkel aller Flibustierschiffe, die vom Wetter verschlagen sind. Was aber das Unglück anbetrifft, das hier ...«

Er kam nicht weiter, denn in diesem Augenblick rollte wieder, wie am Morgen aus der Nebelbank, hinter ihnen der Donner einer Geschützsalve herüber. Gleich darauf löste sich aus dem Grau der Umriß einer wohlbekannten Takelung; die kleine, schnellsegelnde Kuff war es, die in voller Fahrt gerade auf den »Egmont« zuhielt. Täuschte nicht alles, so hatte das Schiff einen schweren Kampf hinter sich, denn deutlich erkannte man mit dem Glase, daß die Gallionsfigur fortgerissen war, und daß das Großsegel des Fockmastes in Fetzen geschossen hin und her schlug. Dann stiegen in rascher Folge drüben bunte Leuchtkugeln von der Back. »Drei rote, drei grüne«, sagte der Arzt; »wir werden verfolgt und sollen hier von den Spaniern aufgestöbert werden.«

Wieder rollte es dumpf aus dem Norden herüber, wo offenbar der noch immer fehlende »Ulenspeegel« sich mit dem Feinde herumschlug. Dann schallten scharfe Kommandorufe über Deck des »Egmont«, der seinen Anker wieder aufzunehmen begann. Ein Kutter wurde zu Wasser gebracht und ruderte dichtbesetzt auf die linke der beiden die Flußmündung flankierenden Landzungen zu. Vor halbgerefften Ein Reff einstecken oder reffen heißt ein Segel kleiner machen, was zum Beispiel bei den Marssegeln in der Weise geschieht, daß die Reffzeisinge um Raa und Segel zusammengeknotet werden. Bramsegeln Das zweithöchste Raasegel an jedem Mast. begann das Schiff leichte Fahrt zu machen und näherte sich, ständig Flaggensignale mit der Kuff austauschend, der Einfahrt. Langsam folgte diese, ein Segel nach dem andern reffend, dem Führerschiff.

De Graff selbst stand am Ruder, während auf der Back ein Bootsmann fortwährend die Lotleine Tiefenmesser. Entweder Leine mit Knoten markiert und einem Bleistück am Ende, oder dünner Draht mit Bleikugel und entsprechender Maschine oder Echo- oder Radiolot. auswarf und dem Admiral die Zahlen zurief. Vorsichtig, eine offenbar wohlbekannte Fahrrinne einhaltend, glitt der »Egmont« den schmalen Kanal entlang, ab und zu mit dem Kiel den weichen Schlick des Grundes streifend. Vor ihnen weitete sich jetzt das Wasser zu jener mächtigen Lagune, in der sie Schutz suchen wollten. Mäßig hohe Ufer gelben Sandes, rings von einem breiten Sumpfgürtel gesäumt, umgaben die stille, bleigraue Fläche. Nach der See zu stieg das Ufer hoch genug an, um jedes sich hier bergende Schiff gegen ein vom Meer herkommendes Artilleriefeuer zu sichern.

»Sie können uns hierher nicht folgen«, sagte der Arzt; »ihre schwerfälligen Kasten laufen zu tief für diese Fahrrinne.«

»So werden sie draußen warten und uns einzeln vernichten, wenn wir, Schiff für Schiff, aus unserem Versteck hervorkommen.«

»Das laßt«, sagte der Alte, »des Admirals Sorge sein. Wir werden hier zunächst unsere Schäden ausbessern. Um eine weitere Zukunft läßt sich ein Flibustier keine grauen Haare wachsen; die meinen zumal sind nachgerade grau genug! Seht, da wäre auch der ›Ulenspeegel‹ wieder!« Er wies seewärts, wo sich langsam die Umrisse des Flibustierschiffes aus dem Nebel lösten. Wiederum stiegen Signalkugeln auf. Dann wendete der »Egmont« mit scharfer Ruderdrehung links und ließ erst ganz nahe bei dem Lagunenufer die Anker fallen, als der Vordersteven sich tief in den weichen Schlamm gebohrt hatte.


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