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Vor dem Sturm

Der Gouverneur von Panama. – Ein Schrei aus dem Dunkeln. – Oheim und Neffe. – Verzagte Seelen. – Der Feind im Land. – Eine Begegnung im nächtlichen Wald. – Der Weg unter der Erde. – Das brennende Dorf. – Der Bruder. – Ahnungen.

 

Herr Eberhard von Owelglas, Gouverneur der Stadt und Provinz Panama, ging unruhig auf dem Wehrgang des an der See gelegenen Forts Sarmiento auf und ab, das eine halbe Stunde vor dem Weichbilde der Stadt errichtet war. Es war das stärkste Werk Panamas; seine hundert schweren Kanonen beherrschten die Hafeneinfahrt, so daß die Stadt jedem Schiff unerreichbar blieb, das nicht dieses Fort in Grund und Boden geschossen hatte. Dabei fielen die Mauern nach der See zu wohl achtzig Fuß steil ab, so daß es für den Angriff einer Fußtruppe schier uneinnehmbar erschien. Und wenn in jenen Januartagen des Jahres 1671 auch die Mauern in den Flanken noch nicht so stark ausgebaut waren, wie es die Ingenieure planten, so erschwerten doch im Norden wenigstens unabsehbare Sümpfe den Zugang, während im Süden das tiefe Wasser des Hafens einen Überfall unmöglich machte.

Trotzdem schienen schwere Sorgen den Gouverneur zu quälen. Seit zwei Monaten nun schon erwartete er vergebens die Flotte Don Alfonsos, die ihn endlich von der Angst um dieses verwünschte, von Lima neuerdings nach Panama geschaffte Gold für die Madrider Münze befreien sollte. Den Gerüchten, die in der Stadt umliefen und besagten, daß eben diese Flotte von den dreimal verwünschten Flibustiern gekapert sei, – nein, er hatte ihnen zunächst keinen Glauben geschenkt. Vor einer Stunde freilich hatte ihn ein Brief des Statthalters von San Miguel erreicht, und dieser Brief hatte ihn denn doch bedenklich gestimmt. Es hieß in dem Schreiben nämlich, daß das wöchentlich zweimal zwischen Panama und der Insel San Miguel verkehrende Nachrichtenboot auf jener letzten Fahrt eine große Flotte mächtiger Linienschiffe von fremdartigem Bau gesichtet habe. Der alte Herr, der nun an die dreißig Jahre treu dem spanischen König auf diesem wichtigen Posten diente, hatte sich sofort nach dem Seefort begeben, um selbst sich umzuschauen. Die Glocke von dem Dome der fernen, Stadt begann das Vesperläuten, die Dämmerung sank rasch auf die dunkelviolette See, und der Gouverneur ließ mißmutig das Fernrohr sinken, das er eben gehandhabt hatte. »Es können ebensogut Ruderboote wie Schiffe sein, was wir dort vorn sehen«, wandte er sich an seinen Adjutanten, einen hochgewachsenen jungen Andalusier, der erst vor kurzem aus Europa gekommen war.

»Ich bin«, antwortete dieser geringschätzig, »ohne weiteres davon überzeugt, daß dieses Gerücht ein müßiges Gerede ist. Wie sollten vollends diese Piraten es wagen, des Königs stärkste Kolonie, eine wohlbesetzte Seefestung, anzugreifen!«

Owelglas seufzte. »Ihr redet, Don Bartolo, wie Ihr es versteht. Maracaibo, das sie vor dreißig Jahren angriffen und eroberten, war nur wenig schwächer als Panama, und ihre Kräfte sind seitdem gewachsen. Aber kommt, ich will noch einmal den Wall in seiner ganzen Länge abschreiten.«

Sie stiegen zur See hinab und schritten die kleine, vom Wasser bespülte Vormauer des Walles entlang. Sie wollten eben die schmale Wendeltreppe, die zum Wehrgang hinaufführte, wieder emporsteigen, als sie plötzlich wie gebannt haltmachten. Was war das für ein Schrei gewesen, der dort langezogen über das dunkle Wasser hallte? Sie lauschten gespannt und glaubten schon an den Ruf eines die Einfahrt suchenden verspäteten Fischers. Als sich aber der Schrei, diesmal in größerer Nähe, wiederholte, zuckte er doch zusammen, dieser alte Gouverneur, der trotz der dreißig Jahre spanischen Dienstes seine Muttersprache nicht vergessen hatte. »Hilfe!« hatte es dort in gut verständlichem Deutsch gerufen, und »Hilfe!« kam es noch einmal aus dem Dunkel, immer näher, immer dringlicher, wie eben ein Mensch in höchster Lebensgefahr ruft.

Ein Pfiff des Adjutanten, und in der Wachtstube oben, deren rötlicher Feuerschein unheimlich aus der schweren Flut spielte, wurde es lebendig; gleich darauf ruderte der unten am Fuß des Walles liegende Kutter, von zwanzig bis an die Zähne bewaffneten Spaniern besetzt, auf die See hinaus. Der Ruf hatte sich inzwischen nicht wiederholt, wohl aber sahen Owelglas und sein Adjutant einen dunklen Schatten, der dort vorn, wohl dreihundert Schritt von ihnen entfernt, rasch durch das Dunkel glitt. Es war ein Boot, das von zahlreichen Ruderern getrieben in Zickzacklinien steuerte und offenbar nach irgendeinem Ertrinkenden oder Entflohenen im Wasser zu suchen schien. Owelglas gab zwar sofort Befehl, auf das Boot zuzuhalten, aber noch ehe der Kutter volle Fahrt hatte, kam ein neuer Anruf, aus nächster Nähe jetzt, an ihr gespannt lauschendes Ohr; gleich darauf streckte sich ein weißer Arm nach der Reling des Kutters aus. »Barmherzigkeit, um Gottes Willen Barmherzigkeit! Sie sind hinter mir! ...« Dann war dieser Mensch, den sofort hilfreiche Arme in den Kutter emporzogen, gänzlich erschöpft niedergesunken. Und ehe sich die Spanier noch aus ihrem grenzenlosen Erstaunen über den fremden, blonden Menschen erholt hatten, war der Bootsschatten da vorn wie ein Spuk der Nacht verschwunden. Nur der Takt hastiger Ruderer klang noch aus dem Dunkel zu ihnen herüber ...

Während der Feldscher Frühere Bezeichnung der Feld-Wundärzte. des Forts in der Wachtstube sich um den Erschöpften bemühte, traf der Gouverneur, der hinter diesen geheimnisvollen Vorgängen eine Gefahr witterte, weitere Vorbereitungen. Die Geschütze wurden geladen und blieben während der ganzen Nacht bemannt. Die Besatzung der Außenwälle wurde verstärkt, und vor dem Werk kreuzten der Kutter und zwei kleinere Ruderboote, jedes Fahrzeug dicht bemannt, hin und her. Nach allen diesen Vorsichtsmaßregeln ging der Alte in die Wachstube zurück, wo der Unbekannte sich von seiner Erschöpfung einigermaßen erholt hatte. Einen Augenblick sah der Gouverneur überrascht in die Züge des Fremden, den er doch nie gesehen hatte, und der ihm doch so seltsam bekannt vorkam. »Wie heißt Ihr?« redete er den jungen Menschen an, der seinerseits forschend in des Gouverneurs Züge blickte.

»Justus von Owelglas«, antwortete er mit matter Stimme.

»Alle Wetter ...« Dem Alten blieb ein derber spanischer Fluch in der Kehle stecken. » Wie heißt Ihr?«

»Justus von Owelglas, gebürtig aus Schloß Papenbrook im westfälischen Kreis, unterwegs zu meinem Oheim Eberhard von Owelglas, dem Gouverneur dieser Stadt.«

Der Alte begann sich die Augen zu reiben. Nein, er träumte nicht; dieser junge Mensch, der da eben aus dem Wasser gezogen war, wollte nicht nur seinen, des Gouverneurs eigenen Namen führen, er konnte auch das Wappen der Owelglas genau beschreiben, er wußte sogar den Geburtstag jenes halbvergessenen Bruders anzugeben, den er vor dreißig Jahren in der niederdeutschen Heimat zurückgelassen hatte. Der durchnäßte kaiserliche Freibrief endlich, den der junge Mensch da aus der am Halse getragenen Tasche zog, dieser Brief, der dem Justus von Owelglas und seinem Bruder frei Geleit und Hilfe bei ihrer Reise nach Panama erbat, – nein, das konnte kein Betrug sein. Sein leibhaftiger Neffe stand da vor ihm, es war sein eigenes Bruderkind, das er eben aus einer unbekannten Gefahr errettet hatte.

Der Alte war als guter Soldat sich allzusehr der dem Fort drohenden Gefahr bewußt, als daß diese Begrüßung zwischen Onkel und Neffe längere Zeit hätte währen können. Justus mußte berichten, kaum daß er sich einigermaßen erholt hatte.

Owelglas hatte alle Anwesenden, auch seinen Adjutanten, aus dem Zimmer fortgewinkt und hörte nun aufmerksam der Erzählung zu. Erst als sein Neffe von der Vernichtung der spanischen Flotte, von Georgs Brander und ihrem abenteuerlichen Durchbruch bei Tortuga berichtete, zuckte er zusammen. »Also ist's doch wahr, was man sich hier zuraunt! Und Ihr hättet dabei mitgeholfen? Meines eigenen Bruders Söhne Spießgesellen dieser Flibustier im offenen Kampf gegen den König?«

Justus richtete sich auf. »Was hättet Ihr an meiner Stelle getan, Ohm? Sagt mir doch auf Ehre und Gewissen, hätte dieser Don Alfonso, den Ihr doch offenbar gekannt habt, hätte er uns etwa geschont, wenn wir in seine Hand gefallen wären?«

Der Alte fuhr sich mit der Hand über die sorgenvolle Stirn. »Gewiß, gewiß, du kannst es mir glauben, ich habe sie ja selbst kennengelernt, die Spanier, in diesen dreißig Jahren! Tut mir nur leid um euch beide, daß ihr in so blutige Händel verwickelt wurdet. Aber sprich leise, um Gotteswillen! Ich bin ihnen heute als Deutscher noch immer ein Dorn im Auge, und wenn sie nun erfahren, daß ihr beide an der Seite dieses de Graff kämpftet ... sprich leise, sag ich dir, ich bin sicher, daß wir belauscht werden.«

Nu« berichtete Justus, was sich seit der Vernichtung der spanischen Flotte ereignet hatte. Die Flibustierschiffe hatten zwar, begünstigt von Wind und Wetter, in kaum vier Monaten die Reise um das Kap Horn zurückgelegt. Aber immer heftiger war auf dieser Fahrt der Zwist zwischen de Graff und Morgan geworden. Es war schließlich, als auf der Insel Chiloe die Schiffe zum Wasserholen angelegt hatten, sogar zu einer wüsten Schlägerei zwischen den beiderseitigen Mannschaften gekommen, bei der es Tote gegeben hatte. »Ich sagte Euch schon, Ohm«, fuhr Justus fort, »daß dieser Morgan Georg und mich vom ersten Tage an, seit ich die Goldschätze der ›Santa Maria‹ versenkt hatte, haßte. Als wir uns dann Panama näherten, verlangte dieser Mensch von de Graff, daß wir beide, weil er uns des Einvernehmens mit den Spaniern verdächtigte, auf seine Schiffe überführt werden sollten, damit er uns dort in festeres Gewahrsam nehmen könne. Es ist so weit gekommen, daß de Graff ihm heute morgen schließlich nachgab, um es unter den Kanonen von Panama nicht zum offenen Streit kommen zu lassen. Heute abend, als wir eure Küste eben gesichtet hatten, sollten wir von Morgans Boot abgeholt werden. Nun, wir wußten, was uns beiden an Bord dieses blutdürstigen, rachsüchtigen Menschen bevorstand. Wir wagten den Sprung ins Wasser und schwammen auf eure Küste zu. Wir glaubten Fischerboote vor uns zu sehen und hofften auf Rettung. Unseligerweise aber waren es die Boote Morgans, die er zur Erkundigung eurer Seebefestigungen inzwischen ausgeschickt hatte. Wir haben unseren Irrtum in der Dämmerung zu spät bemerkt. Wir suchten ihnen noch im letzten Augenblick durch häufiges Tauchen zu entkommen, und so ist es uns doch noch gelungen, bis hierher, bis dicht vor eure Wälle zu kommen. Ich weiß, daß schließlich das eine Boot gerade auf Georg traf, und daß er jenen Schrei ausstieß, den Ihr ja wohl gehört habt. Ich habe auch noch gesehen, daß sie ihn zu sich ins Boot zerrten, ich weiß aber nicht, was aus ihm geworden ist. Ich selbst tauchte im gleichen Augenblick und schwamm eine Weile unter Wasser, bis ich gerade vor eurem Boot auftauchte.

Das, Oheim, ist meine Geschichte, und Ihr mögt nun tun mit mir, wie Ihr wollt!«

Der Gouverneur war nachdenklich im Zimmer auf und ab gegangen. »Neffe, was du mir auch von der Ritterlichkeit dieses de Graff und von seiner Liebenswürdigkeit euch gegenüber erzähltest, er ist nun einmal des Königs Feind und ich bin des Königs Offizier. So frage ich dich auf Ehre und Gewissen: wann wollen diese Flibustier mich angreifen?« Er heftete den Blick durchdringend auf den jungen Mann, der ihm keineswegs auswich.

»Ihr werdet in jedem Falle einen schweren Kampf haben, Oheim!« antwortete er. »Morgan hat es sich ertrotzt, zu Lande mit seinen Leuten den Angriff zu eröffnen, vermutlich, um beim Plündern der Erste zu sein, über seine weiteren Pläne weiß ich nichts. Sicher erscheint es mir nur, daß sie zunächst Eure Befestigungen erspähen wollen.«

»Und wie stark ist er?«

»An die zweitausend Mann, wenn Ihr die Leute aller seiner Schiffe zusammenzählt.«

Ein lautes Schreien und Sprechen unterbrach diese leise geführte Unterhaltung. Als Owelglas die schwere, nach dem Wehrgang führende Tür öffnete, sah er, daß die spanischen Soldaten sich bemühten, eine Anzahl erregter Menschen, augenscheinlich Bürger der Stadt, von ihm fernzuhalten. Irgendwie mußte die Nachricht von der Ankunft der Flibustierflotte sich in Panama bereits verbreitet haben. Diese Leute wollten jedenfalls nichts anderes, als den alten Kommandanten um eine Kapitulation anflehen. Sie wollten lieber jedwede Summe Lösegeldes zahlen, als eine Belagerung durch die Flibustier erwarten, die in ihren Augen nun einmal unbesiegbar waren. Verächtlich schob Owelglas die Bittenden beiseite. »Don Bartolo«, sagte er zu seinem Adjutanten, »Ihr werdet einen Trommler mit ein paar Leuten durch die Stadt schicken und unter Trommelwirbel verkünden lassen, daß ich in Zukunft jeden unbarmherzig niederschießen lasse, der von Ergebung spricht. Im übrigen haben sich dreihundert Bürger innerhalb einer Stunde mit Hacken und Spaten hier in Sarmiento einzufinden, widrigenfalls ich den Bürgermeister nebst allen Ratsherren hier gefangensetzen lasse.« Mit einem derben deutschen Fluch ließ der alte Haudegen die verängstigten Leute stehen und trat auf den Wehrgang hinaus, ohne sich um die halblauten Verwünschungen gegen den »verfluchten Deutschen« zu kümmern, die dieser energischen Rede folgten.

Draußen war es schwarze Nacht, aus deren Dunkel sich kaum die Gestalten der an ihren Geschützen wartenden Artilleristen abhoben. Im Norden nur leuchtete der Himmel in seltsamem, fahlem Schein, der zusehends heller und heller wurde, bis das matte Leuchten sich zur blutroten Glut steigerte. »Don José!« rief der Gouverneur den wachthabenden Artillerieoffizier an, »wie lange beobachtet Ihr schon das Feuer da drüben?«

»Meiner Treu, Herr«, stammelte der Spanier verwirrt, »ich sah es nicht früher als Ihr selber!«

»Das Kloster San Sebastian, das dort brennt«, sagte Owelglas seufzend. »Es ist aus Stein erbaut und kann nur durch gewaltsame Brandlegung entzündet sein. Sie sind also schon dort.«

Im gleichen Augenblick schob sich unten am Fuß des Walles ein dunkler Schatten über das Wasser. Es war eines der Späherboote, die er zwei Stunden vorher gegen den Feind ausgeschickt hatte. Die Nachrichten, die es brachte, konnten seine Vermutung nur bestätigen: eine große Anzahl von feindlichen Flößen und Booten war beobachtet worden, die augenscheinlich mit zahlreichen Bewaffneten nordwärts gerudert waren. Inzwischen lohte der Brand des Klosters wie eine Riesenfackel am nächtlichen Himmel auf. Finster sahen es die spanischen Musketiere, die hier Wache hielten. Sie wußten wohl, daß es einen schweren Kampf galt, aber sie bewahrten die stolze Haltung ihres Volkes. Bei den Geschützen aber, die Owelglas vor allem mit Kreolen besetzt hatte, wurden die Leute unruhig, und aus den dunkeln Ecken bei den Unterständen kam halblautes Flüstern und Murmeln erregter Menschen. Schließlich löste sich dort eine einzelne Gestalt ab, ein Kreole, der zaghaft in den trüben Laternenschein vor Owelglas trat.

»Was willst du?« herrschte der Gouverneur den totenblassen Menschen an, der angstvoll und verlegen vor ihm stand.

»Herr«, stammelte der Soldat, »wir wollten Euch fragen, ob es wirklich wahr ist, was man von diesen Flibustiern sagt, daß sie sich nämlich allesamt dem Teufel verschrieben haben, und daß gewöhnliche Menschen im Kampf gegen sie nichts ausrichten können. Verhält es sich wirklich so, dann wollten wir Ew. Exzellenz gebeten haben, doch lieber morgen die weiße Fahne ...«

Er kam nicht weiter. Owelglas hatte trotz seiner sechzig Jahre noch immer eine feste Hand, und der feige Bursche hatte mit dieser Hand eine so unsanfte Bekanntschaft gemacht, daß er auf die Steinfliesen getaumelt war. Die Fackel ergreifend und über den Daliegenden hinwegschreitend, leuchtete der alte Offizier in den Unterstand des Wehrganges, wo sich mindestens zwanzig solcher Feiglinge verkrochen hatten, jeder sich bekreuzigend und die Hilfe aller Heiligen anflehend. »Verdammte Memmen«, schrie Owelglas sie an, »verdammte Memmen, die sich zwanzig Jahre hier gemästet, auf den Wällen gefaulenzt haben und nun sich beim ersten Kampf verkriechen. Heraus mit Euch aus dem Winkel! Und der Erste, der heute nacht oder morgen früh nicht auf seinem Posten ist, hängt am Galgen, so wahr ich Owelglas heiße!«

Er wandte dem jammernden Haufen den Rücken zu und zog Justus mit sich fort. »Da magst du sehen, was das Geheimnis für die Erfolge dieser Flibustier ist: Aberglaube und Feigheit bei ihren Gegnern! Und mit einem solchen Pack soll ich mich morgen gegen sieggewohnte Menschen schlagen, die nur ihr Leben zu verlieren haben!« Er ging seufzend wieder dem Wachtturm zu, wo Don Bartolo ihm eilends entgegenkam.

»Gute Botschaft, Ew. Exzellenz«, rief der Offizier von weitem: »im Rathaus ist soeben ein Mensch auf abgetriebenem Pferd angekommen, ein Bote vom Statthalter von San Miguel. Er verspricht Euch Hilfe, wenn Ihr Euch nur zwei Tage halten wollt. Er hat alles an Truppen und Eingeborenen gesammelt, was ihm erreichbar ist. Alles das findet Ihr in diesem Briefe, den der Bote bei sich hatte.«

Owelglas durchflog den Brief. »In zwei Tagen«, sagte er seufzend, »in zwei Tagen! Wenn diese Menschen bis dahin mich nicht im Stich gelassen haben.« Er wies auf die Kreolen, die wie geprügelte Hunde auf ihre Posten schlichen.

»Und wie steht es mit den Bürgern, die ich hierher befahl?« fragte er nach einer Weile.

»Sie sind bereits unterwegs hierher.«

»Gut, so will ich mich inzwischen selbst davon überzeugen, was dort bei dem Kloster vor sich geht. Euch bitte ich, sogleich mit den Leuten dreißig leichte Geschütze aus den Lafetten zu nehmen und sie auf dem Wege nach San Sebastian zu bis an jene Stelle schaffen zu lassen, wo der Sumpf beginnt. Desgleichen nehmt Ihr alle ausgehobenen Bürger und dreißig Musketiere mit. Auch will ich bei den Geschützen zehn Sack Pulver finden, wenn ich von dem Kloster zurückkehre. Ihr werdet mich an jener Stelle erwarten. Gott befohlen!«

Er ging mit Justus in den Hof des Forts hinab, wo geschwind zwei Pferde für sie gesattelt wurden. »Willst du mich begleiten?« fragte er kurz, seinen neugefundenen Neffen mit einem raschen Blick prüfend.

»Unter allen Umständen!«

»Gut, dann also vorwärts!«

Es mochte zwei Stunden vor Mitternacht sein, als sie aufbrachen. In raschem Trab durcheilten sie die weite, mit Reis- und Kakaopflanzungen bestandene Ebene, die sich zwischen dem Fort und dem nordwärts gelegenen Sumpfwalde ausdehnte. So stark war jetzt der Flammenschein vor ihnen geworden, daß er ihre Schatten auf das feuchte Gras zu werfen begann. Und wiewohl die Entfernung immerhin noch eine gute Seemeile betragen mochte, so vernahmen sie doch ab und zu wildes Schreien und Johlen, das der Wind herübertrug. Dann verengte sich die Straße zu einem Hohlweg, der zu beiden Seiten von undurchdringlichem Wald umgeben schien.

»Hier werde ich sie empfangen, wenn sie mich wirklich von jener Seite her angreifen wollen«, sagte Owelglas und band das Pferd an den nächsten Baum. Als aber Justus das gleiche tat, bäumten sich plötzlich die beiden Tiere in jähem Schreck kerzengerade auf: unmittelbar vor ihnen, wo der Sumpf begann, in dessen trüben Lachen sich schon der Flammenschein spiegelte, kreischte es in gellenden, entsetzlichen Lauten auf, so angstvoll und schauerlich, daß beiden ein eisiger Schrecken durch die Glieder fuhr. Gleichzeitig huschte zwischen ihnen und dem Sumpf eine menschliche Gestalt durch das dunkle Gras. Beherzt sprang Justus hinzu und faßte den Unbekannten an einem Zipfel seines hellen Mantels. Als er ihn aber mit dem Gesicht dem hellen Schein der Feuersbrunst zuwendete, da erkannte er, daß sie einen Mönch vor sich hatten, einen alten, weißhaarigen Menschen, dem Blut über das Gesicht rann. Entsetzt fuhr Justus zurück. Geblendet war dieser Mann, und aus leeren Augenhöhlen rannen die Blutbäche über das verzerrte Gesicht.

Da riß sich auch schon der arme Mensch mit jähem Ruck los. »Teufel! Teufel!« kreischte die heisere Stimme in höchster Angst, und gleich darauf sprang der arme Gemarterte, dem die ausgestandenen Qualen wohl die Sinne verwirrt hatten, in das dichte Unterholz, wo er im Dunkeln verschwand. Nur seine Schreie gellten noch schauerlich durch die Nacht.

»Was wollt Ihr noch mehr wissen?« sagte Justus finster. »Ich kenne Morgan und weiß, daß nur er solcher Ruchlosigkeiten fähig ist.«

Owelglas sah eine Weile auf die zuckende Flamme, die dichte Funkengarben in die Nacht hinaussandte. »Ich wüßte immerhin gern, wie stark sie sind, und ob dieser Morgan selbst zugegen ist. Ist das der Fall, so darf ich wohl annehmen, daß er morgen, und zwar auf diesem Wege hier, mich angreifen wird. Komm nur, ich kenne einen Schleichpfad, der uns rasch und sicher zum Ziel führen wird.«

Vorsichtig schritten die beiden vorwärts. Der faulige Geruch sagte Justus, daß sie sich schon mitten im Sumpf befanden.

»Halte dich genau in meinen Spuren«, riet Owelglas, »rechts und links ist unergründlicher Morast. Übrigens ist dieser Sumpf mein guter Verbündeter, und ich denke, Herrn Morgan hier eine kleine Überraschung zu bereiten.«

Wohl eine halbe Stunde dauerte es, bis sie so, vorsichtig von einem festen Grasbusch zum andern hüpfend, den Morast überquert hatten. Eine Weile spähten sie dann über das trockene, ebene Feld, das sie noch von dem Kloster trennte. Menschenleer lag es vor ihnen, taghell von den noch immer hoch zum Himmel sich bäumenden Flammen erleuchtet. Kein Posten, keine Streifwache war zu erblicken, nur das Gröhlen trunkener Zecher kam aus dem Klosterhof, dessen Mauern keine tausend Fuß vor ihnen lagen.

»Folge mir jetzt; wir können sie ohne jede Gefahr beobachten«, sagte Owelglas und zog Justus an der Hand ein wenig nach rechts, wo eine kleine, kaum mannshohe Erhöhung, ein Grenzzeichen wohl, sich aus der Ebene erhob. Hier bückte sich Owelglas, um gleich darauf kriechend in einem dunklen Erdloch zu verschwinden, das hier wie die Röhre eines Dachsbaues in die Tiefe ging. Wenige Schritte nur war ihm Justus kriechend gefolgt, da wurde dieser Gang weiter und auch höher. Die Wände, an denen sie sich entlangtasteten, waren ganz glatt, und bald merkte Justus, daß ihre Füße auf harte, offenbar bearbeitete Steinfliesen traten.

»Ein alter Gang«, sagte Owelglas leise, »noch aus der Zeit, als die Mönche häufig vor den Überfällen der Eingeborenen flüchten mußten. Diesmal scheint er ihnen nichts genützt zu haben. Er führt uns gerade auf den Kreuzgang zu. Erschrick übrigens nicht, der Stollen ist auch als Begräbnisort benützt worden und zeigt noch Spuren aus jenen Tagen.«

Sie waren noch nicht weit gegangen, als ein Lichtschimmer den Gang auf eine kurze Strecke erhellte. Eine Felsspalte durchbrach oben den steinigen Boden, und diese Spalte ließ von dem grellen Licht der Feuersbrunst genug herein, um Justus die stillen Bewohner dieses Ganges zu zeigen. Die Mumien von Mönchen waren es, die, wie es in südländischen Klöstern noch heute Brauch ist, in Steinnischen beigesetzt waren. Da lagen sie, diese Zeugen menschlicher Vergänglichkeit, und unter den verrotteten Kapuzen grinsten Schädel und blitzte der phantastische Goldflitter, mit dem man dieses Gebein geschmückt hatte. Die nächtliche Begegnung mit dem armen Geblendeten im Walde – die stillen Bewohner dieses unterirdischen Reiches hier – über ihnen das immer näher kommende Toben der wüsten Horden – es waren Augenblicke, die Justus das Blut aus dem Antlitz treten ließen. Dann wurde es wieder dunkel, und sie schlichen etwa hundert Schritte vorwärts. Da begann Owelglas, mit einer Gebärde Justus größte Stille gebietend, eine schmale Treppe in die Höhe zu steigen. Wenig Stufen nur hatte sie. Oben, wo ein Fleck kreideweißen Lichtes auf die Decke des Ganges fiel, blieb der Gouverneur stehen. Zwischen den Stäben einer längst verrosteten Gittertür, kaum so groß, daß ein gebückter Mann durch sie hätte durchkriechen können, fiel dieses Licht hindurch. So klein und unauffällig mußte dieses Gitterfenster von außen erscheinen, daß man dahinter nichts anderes als einen Keller vermuten konnte.

Der Gouverneur schlich sich alsbald wieder hinunter und ließ Justus an seine Stelle treten. »Sieh vor allem, ob Morgan selber, und ob er mit seiner ganzen Besatzung zur Stelle ist«, flüsterte er ihm zu.

So verwirrend in der Fülle seiner einzelnen Erscheinungen und in seiner phantastischen Beleuchtung war das Bild, das sich Justus von da oben bot, daß er sich nicht so rasch über alles klar werden konnte. Grell beleuchtet war der Klosterhof von der riesigen Feuersbrunst, die jetzt, nach dem Ausbrennen von Kirche und Wohnräumen, sich auch der Stallungen und Speicher des reichen Klosters bemächtigt hatte. Unmittelbar vor ihm lag, beschattet von einem dicken Rundpfeiler, ein Mensch, dessen Gesicht er zunächst nicht sehen konnte. Weiter nach der Mitte des Hofes zu sah er mehrere anscheinend leblose Körper daliegen, Knechte und Mönche wohl, die man hier niedergemacht hatte. Zertretene Meßgewänder, halbverbrannte Bücher, Möbel und zerbrochene Weinfässer – es war ein Bild trostloser Zerstörung, auf das er sah. Durch diese Wirrnis eilten, aus der brennenden Kirche kommend, die Justus wohlbekannten Leute Morgans, eben damit beschäftigt, den großen, golddurchwirkten Baldachin mit seinen schweren goldenen Quasten aus der Kirche zu schaffen. In der Mitte aber, wo der Springbrunnen des Hofes noch immer seinen Strahl friedlich in die glutheiße Luft sandte, waren neben einem mächtigen, aus dem Keller heraufgeschafften Weinfaß alle Kostbarkeiten auf einem Haufen zusammengetragen; und neben diesem Haufen saß, blutunterlaufen die Augen und anscheinend gänzlich betrunken, der Herr und Meister dieser wüsten Szene, Morgan, in höchsteigener Person. Bezecht wie er selbst schien im übrigen diese ganze wilde Horde, die in ihrer Trunkenheit jedwede Vorsicht außer acht gelassen hatte.

Als Justus wohl eine Minute auf dieses Bild gestarrt hatte, die Menschen rasch zählend, die es belebten, fuhr er plötzlich zurück. Dicht vor das Gitter war ein Flibustier getreten, die Fackel in der Hand, offenbar nach irgend einem Gegenstand am Boden suchend, den er dort verloren haben mochte. So nah kam er dabei mit der brennenden Fackel dem Gesicht des Justus zunächst liegenden Menschen, daß dieser vor der Flamme zurückfuhr, in seiner Bewegung durch die Fesseln gehemmt, die er an Händen und Füßen trug. Aber in diesem Augenblick hatte die Fackel grell sein Gesicht erleuchtet; sie war doch lang genug gewesen, diese kurze Weile, um Justus etwas Furchtbares erkennen zu lassen: es war sein Bruder Georg, der dort, keine drei Fuß von seinem Versteck entfernt, gefesselt am Boden lag.

Noch gerade zur rechten Zeit riß der Gouverneur Justus zurück. Der Manu mit der Fackel beugte sich suchend zur Erde, und es war nur ein glücklicher Zufall, daß sein Blick nicht auf die beiden spähenden Männer fiel. Vorsichtig schlichen sie aus der Nähe des Gitters davon, um dann in eilendem Laufe den Gang zu durchmessen. Erst an seinem Ende gönnte der Gouverneur sich so viel Zeit, daß Justus über seine Beobachtungen berichten konnte.

»Du irrst dich vielleicht doch«, tröstete Owelglas den Besorgten. »Am Ende haben dich der Schreck und das Licht getäuscht.«

»Unmöglich!« erwiderte Justus. »Ich erkannte sein Gesicht nur zu deutlich. Morgans Boote haben ihn sofort hierher geschleppt, und Gott mag wissen, zu welcher Teufelei!«

Väterlich strich der alte Mann mit der Hand über den blonden Kopf. »Laß gut sein, mein Jung, laß gut sein! Wir können ja nun nichts anderes tun, als uns unserer Haut wehren. Wollen doch sehen, ob es morgen nicht doch noch besser kommt, als du es heute befürchtest!«

»Ihr wollt die Betrunkenen nicht auf der Stelle überfallen?«

Owelglas seufzte. »Ich mit meinen feigen Kreolen? Ich werde froh sein, wenn ich sie morgen an die Geschütze bringen kann! Und nun komm, wir haben noch viel zu tun.«

Am andern Ende des Sumpfes fanden sie bereits Don Bartolo mit seiner Schar.

Sofort ließ Owelglas die Musketiere Vorposten am jenseitigen Rande des Sumpfes beziehen. Im Schutz dieser Sicherung wurden dann eilends die Arbeiten ausgeführt, die er zur Verteidigung vorgesehen hatte. Der Weg durch den Sumpf wurde zunächst mit einer dünnen Schicht frischen Erdreichs bedeckt, die zu einem Betreten verlockte, bei dem ersten Schritt aber natürlich nachgeben mußte. An dem der Stadt zu gelegenen Ende dieses Sumpfweges wurde eine Erdmine ausgehoben und mit dem hierhergeschafften Pulver gefüllt. Diese Mine war ja nicht so kunstvoll angelegt wie etwa Bruder Georgs Brander; aber sie mußte im Notfall, wenn der Sumpf wirklich von den Flibustiern durchschritten wurde, den Feind heiß genug empfangen. Unmittelbar dahinter, seitlich gedeckt durch die dicht bewaldeten Flanken des Hohlwegs, wurde aus den mitgebrachten Geschützen eine einzige große Batterie gebaut, die in dem engen Weg fürchterlich wirken mußte.

Der Vollmond war aufgegangen, düsterrot und unheimlich, als verkünde er ein schreckliches Blutbad. In seinem Lichte, das seltsam über den Waffen und Geräten der arbeitenden Menschen spielte, begann der schweigende Tropenwald sich zu beleben: Nachtvögel flatterten mit widerlichem Schrei durchs Geäst, und unter den Schlingpflanzen begann es verdächtig zu rascheln, daß Justus schaudernd an die Schlangenhaufen von Culebra dachte. Wieder spürte er jenen fauligen, von den Sümpfen herkommenden Geruch verwesender Pflanzen und Tierleiber, und zum ersten Male begann er vor der wilden Schrecklichkeit der Tropennatur zu erbeben.

Die Bürger waren nach der Vollendung ihrer Arbeiten zur Stadt zurückgeschickt worden und zogen ab, froh, der Nähe des Feindes entkommen zu sein. Eine Weile blieben Onkel und Neffe allein bei der fertiggestellten Batterie, wo der Gouverneur noch in dieser Nacht weitere Verstärkungen für den Kampf erwartete. Auch Owelglas war plötzlich seltsam still geworden und sah eine Weile mit trübem Blick, wie das blutrote Mondlicht durch den schwarzen Wald wanderte. »Ich werde morgen fallen«, sagte er plötzlich ganz leise und langsam, jedes Wort mit großer Bestimmtheit betonend.

Justus, der selbst trüber Gedanken voll gewesen war, fuhr zusammen. »Aber Oheim, was fällt Euch ein! Wie ...«

»Laß nur, mein Kind«, sagte der Alte mit seltsam weicher und gütiger Stimme, »ich bin ein Westfale wie du; und du weißt ja, daß man uns das zweite Gesicht Das »zweite Gesicht« ist eine den Schotten, den Westfalen, Friesen, Ostpreußen und andern Küstenvölkern zugesprochene Fähigkeit, gewisse der Zukunft angehörende Dinge mit aller Deutlichkeit vorauszusehen. zuschreibt. Gewiß, ich werde morgen fallen! Grüß mir die deutsche Heimat, mein guter Junge. Ich habe sie nun volle dreißig Jahre nicht gesehen und dachte wahrhaftig schon, ich hätte sie vergessen. Sieh, nun merke ich doch, daß es nicht so leicht ist, hier in der Fremde zu sterben.«

Justus wollte erwidern. Aber der alte Mann schnitt ihm das Wort ab, sanft seine Hand ihm aus den Mund legend. So saßen sie schweigend eine Weile, bis sie gedämpfte Stimmen und leises Waffenklirren hinter sich hörten. Es waren die Truppen, die Owelglas an diesen Platz bestellt hatte, wo er am nächsten Morgen dem Feind das erste Gefecht liefern wollte.


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