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36

Vergeblich hatte sich Evelyn bemüht, Ronnie zurückzuhalten. Er war unberechenbar, und sie fürchtete, daß er in seinem Übereifer nur Unheil bei Pra Upatet anrichten würde.

Der Haftbefehl verschärfte die gefährliche Lage plötzlich noch viel mehr. Auch der Gedanke, daß Warwick längst an Bord der »Manchuria« und außerhalb der Reichweite der siamesischen Gesetze sein mußte, gab ihr wenig Trost.

Um über ihre innere Unruhe hinwegzukommen, versuchte sie sich zu beschäftigen. Wieder nahm sie den Browning, der neben ihr auf dem Tisch lag, aus der Ledertasche, rief den Boy und machte eine Runde um die mächtigen, gemauerten Pfeiler, auf denen das ausgedehnte Haus ruhte.

Dicht bei dem großen Wasserreservoir hörte sie Schnarchtöne, und als sie um die Ecke bog, sah sie, daß der weißgekleidete indische Wachtmann friedlich auf einer Kiste saß und sich an den eisernen Tank lehnte. Er war fest eingeschlafen.

Der Boy wollte ihn wecken, aber sie hinderte ihn daran.

Von der Nutzlosigkeit all ihrer Unrast überzeugt, stieg sie in trüber Stimmung wieder zur Veranda hinauf. Vor eineinhalb Stunden würde Onkel Gregory nicht zurückkommen – wie sollte sie nur bis dahin die Zeit verbringen?

Mechanisch zählte sie ihre Schritte, während sie auf und ab ging, aber unzufrieden mit sich selbst, blieb sie schließlich stehen. Eine Fliegerin durfte doch auch in einer katastrophalen Lage nicht nervös werden und den Kopf verlieren!

Aber schon nach fünf Minuten nahm sie ihre Wanderung wieder auf. Worauf wartete sie eigentlich? Onkel Gregory konnte ihr doch auch nichts Neues berichten oder ihr helfen! Aber es war dann wenigstens ein Freund in der Nähe. Sollte sie ihn ins Vertrauen ziehen – Was würde er dazu sagen, daß Warwick mit Amarin geflohen war? Wahrscheinlich würde er furchtbar empört über ihn sein.

Am Vormittag hatte sie in der Eile und Aufregung keine Zeit mehr gehabt, mit Warwick über weitere Pläne zu sprechen. Sie wußte nur zu gut, daß er nach dem Gebot des Augenblicks handeln mußte und sich an kein Programm binden konnte.

Sicher wollte er Amarin in Singapur auf den Postdampfer nach Europa bringen und dann zurückkehren. Aber inzwischen hatten sich die Ereignisse hier derartig überstürzt, daß sie die Ausführung dieser Absicht vereitelten. Der Haftbefehl und der unvermeidliche Skandal machten Warwicks Stellung in Bangkok unmöglich. An eine Rückkehr nach Siam war vorläufig nicht zu denken. Warwick liebte Amarin leidenschaftlich. In Singapur erfuhr er bestimmt, daß ihm der Aufenthalt in Bangkok nun versagt war. Würde er sich unter diesen Umständen von ihr trennen?...

Sie blieb am Tisch stehen und grübelte.

Sollte sie nicht der »Manchuria« mit ihrem Flugzeug nach Singapur vorauseilen, um im entscheidenden Augenblick bei ihm zu sein? Aber um solche Entschlüsse fassen zu können, mußte sie positive Nachrichten abwarten, und bis dahin hatte es auch keinen Zweck, Onkel Gregory einzuweihen.

Die Zeit schlich unerträglich langsam vorwärts. Es war erst kurz nach elf.

Evelyn ging zum Schalter und drehte das Licht auf der Veranda aus, dann trat sie an das Geländer und schaute in die mondhelle Tropennacht hinaus.

Draußen zirpten die Grillen so schrill, daß die Luft schwirrte. Plötzlich brach der ohrenbetäubende Lärm ab, und es folgte eine unheimliche Stille. Aber kurz darauf setzte der ganze Chor mit unverminderter Kraft aufs neue ein.

Warwicks Haus lag am anderen Ende des Grundstücks. Sie konnte von ihrem Platz aus den vorderen Teil des Gebäudes mit der Veranda erkennen. Als sie genauer hinübersah, glaubte sie anfangs sich zu täuschen. Aber hatte sie nicht eben das Geräusch eines Motors gehört? Und bewegten sich nicht dort unten am Ufer Gestalten?

Sie rief den Boy zu sich, und da sie sich unsicher fühlte, holte sie die Browningpistole.

Zwei Leute kamen näher, ein Mann und eine Frau. Was suchten die beiden hier zu so später Stunde?

»Nai Warbury!« flüsterte der Boy.

Nun erkannte sie Warwick auch.

»Mache Licht!« rief sie dem Boy zu und eilte die Treppe hinunter.

Sie war so erregt, daß sie zuerst nicht sprechen konnte; sie faßte nur Warwicks Hände und drückte sie.

»Der Kapitän der ›Manchuria‹ hat uns nicht mitnehmen wollen«, sagte er matt und niedergedrückt.

Evelyn stand einen Augenblick wie versteinert, aber dann raffte sie sich zusammen.

»Unsere Flucht scheint schon bekannt zu sein.«

Evelyn reichte jetzt auch Amarin die Hand, aus deren Augen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit sprachen. Vorher hatte sie tiefe Bitterkeit gegen die Prinzessin erfüllt, aber jetzt sah sie nur einen armen, gehetzten Menschen vor sich, und starkes Mitleid erwachte in ihr.

»Verlieren Sie den Mut nicht«, sagte sie freundlich. »Bestimmt finden wir einen anderen Weg, Sie ins Ausland zu bringen. Kommen Sie bitte mit nach oben, damit Sie sich ausruhen und stärken können.«

Die Worte klangen so herzlich, daß Amarin sofort Vertrauen zu ihr faßte, obwohl sie sich vorher vor dieser Frau und der Begegnung mit ihr gefürchtet hatte.

»Ist Breyford nicht zu Hause?« fragte Warwick schnell.

»Er kommt erst spät, er ist zu dem Gesandten gefahren. Wir wollen nach innen gehen, auf der Veranda können wir zu leicht beobachtet werden«, schlug Evelyn vor, als sie die Treppe hinaufstiegen.

Sie erschrak heftig, als sie im hellen Licht des Speisezimmers Warwicks fahle Gesichtsfarbe, den müden, ausdruckslosen Blick seiner Augen und seine eingefallenen Wangen sah. Auch Amarin war völlig erschöpft.

Auf Evelyns Wink brachte der Boy ein großes Glas Brandy für Warwick. Sie selbst ging zum Büfett und schenkte für Amarin Rotwein ein, dem sie ein Stärkungsmittel und etwas Kognak beimischte.

Der Trank belebte beide wieder zusehends und gab ihnen neue Kräfte.

Inzwischen bereitete der Boy in aller Eile eine Mahlzeit. Evelyn wollte den Koch nicht einweihen, und sie wußte, daß sie dem Boy trauen konnte. Er war schon über zehn Jahre in seiner Stellung.

»Warwick, lege doch die schwere Lederjacke ab«, sagte sie besorgt.

»Er ist verwundet«, rief Amarin ängstlich und erhob sich rasch, um ihm behilflich zu sein.

»Was ist denn geschehen?« fragte Evelyn bestürzt. Auch sie sprang auf, prallte aber zurück, als sie die großen Blutflecken auf seinem weißen Rock sah.

Sofort eilte sie in ihr Zimmer und holte Leinen und Medikamente, während der Boy eine Schüssel mit lauwarmem Wasser brachte. Dann verband sie Warwick. Amarin half, so gut sie konnte, und auf Evelyns Fragen berichtete sie kurz von dem Überfall bei der Garage.

Wenn die Fleischwunde auch nicht gefährlich war, so überlegte Evelyn doch, daß Warwick in der Nacht noch schwere Strapazen bevorstanden. Sie mußte ihm ein starkes Mittel geben, das ihn wieder belebte und seine Energie auf der Höhe hielt.

Kurz darauf servierte der Boy das Essen.

»Die Rückfahrt von der ›Manchuria‹ muß sehr anstrengend und deprimierend gewesen sein«, sagte Evelyn und sah Warwick fragend an. Sie hätte gern Einzelheiten darüber erfahren.

»Nach der schroffen Ablehnung des Kapitäns wäre uns nur der tollkühne Versuch übriggeblieben, aus eigner Kraft Singapur oder einen anderen südlichen Hafen zu erreichen«, erwiderte Warwick. »Dazu brauche ich aber das große, seetüchtige Motorboot unserer Firma, das hier in der Nähe meines Bungalows verankert liegt. Trotz der drohenden Gefahr, daß wir entdeckt und verhaftet werden konnten, mußten wir zur Hauptstadt zurückkehren.

Wir benützten den Kanal Muanglong, der dem Menam parallel läuft, denn an der Zollstation in Paknam hätten wir nicht vorbeifahren dürfen. Dort wären wir unweigerlich angehalten worden. Die einsetzende Flut brachte uns vorwärts, und schon nach zwei Stunden kamen wir in Bangkok an.«

Evelyn sah zu Amarin hinüber, die sie sich eigentlich ganz anders vorgestellt hatte, und deren zurückhaltendes, fast scheues Wesen anziehend auf sie wirkte. Sie bewunderte das feine Profil, die dunklen, samtweichen Augen, und sie verstand, daß diese seltene Schönheit Warwick gefesselt hatte. Für Amarin bedeutete es sicher eine schwere Demütigung, daß sie in diesem hilflosen Zustand gerade zu ihr kommen mußte. Aber Evelyn wollte alles tun, um ihr darüber hinwegzuhelfen.

Mit Befriedigung bemerkte sie, daß Warwick und die Prinzessin von den Speisen nahmen. Sie überlegte fieberhaft, wie Sie den beiden helfen könnte.

Der erste Fluchtversuch war mißglückt und der alte Plan zusammengebrochen. Auf Warwicks Zähigkeit und Energie konnte sie rechnen, aber er war durch die Verwundung geschwächt. Sie selbst war dagegen noch konzentriert und frisch – sie mußte jetzt die Leitung übernehmen.

Auf ihren Rat gingen alle nach dem Essen zu Warwicks Bungalow hinüber, weil sie es dort für sicherer hielt. Es war immerhin möglich, daß Breyford doch früher zurückkehrte, und wie er sich in dieser Lage verhalten würde, konnte man nicht wissen. Sie wollten sich durch ihn in ihren Plänen und in ihrer Handlungsfreiheit nicht behindern lassen.

Auf dem Wege beruhigte sie Amarin, die wieder etwas zuversichtlicher geworden war. Die weiteren Pläne wollte sie mit Warwick allein besprechen, während sich die Prinzessin durch einen kurzen Schlaf stärken sollte.

Evelyns aufopfernde Fürsorge, ihr souveräner Wille und ihre überlegene Großzügigkeit gaben Amarin ein ähnliches Gefühl der Sicherheit, wie sie es in Warwicks Nähe empfand, und sie fügte sich gern ihren Anordnungen.

Den Boy, auf den sie sich unbedingt verlassen konnten, nahmen sie mit, damit er Warwicks Diener helfen sollte, den nötigen Proviant herzurichten und zu verpacken.

Als Amarin sich gelegt hatte, breitete Evelyn eine große Spezialkarte von Südsiam und den angrenzenden Gebieten auf dem Tisch aus.

»Diesen Weg machen wir«, sagte Warwick und zeigte ihr die Route, die er nach Singapur einschlagen wollte.

»Nein, das geht nicht«, erwiderte sie entschieden. »Vorhin habe ich dir nicht widersprochen, um Amarin nicht noch mehr zu verwirren. Nach Singapur sind es weit über tausend Kilometer, und die Gefahren einer solchen Reise in einem kleinen Motorboot sind zu groß, selbst wenn es noch so seetüchtig ist.«

Sie überlegte, und plötzlich kam ihr ein guter Gedanke, den sie ihm auch sofort auseinandersetzte.

Schweigend hörte er ihr zu, aber ihre ruhige, abwägende Art und ihre ungetrübte, klare Urteilskraft überzeugten ihn.


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