Max Pulver
Selbstbegegnung
Max Pulver

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Mutter und Sohn

1.

        Schon lang genoß ich stillen Blicks den Schein
Und ließ mein Selbst im Fluß der Zeit sich spiegeln;
Stumm lag mein Herz mit unerbrochnen Siegeln,
Und keines Tages Ahnung glitt herein.

Nun brach mit einem Ruck ein Morgenwind
Die Türe auf, die mich so streng bewachte;
Die Ruh zerstob, ich juble und ich schmachte:
Mich traf ein Gott! ich brenne um ein Kind

Nicht älter als der Schütz, der mich durchschoß,
Nicht klüger als des Kleinen Wehr und Waffen.
Erst meiner harten Einsamkeit Genoß,
Hat er mein Wesen völlig umgeschaffen.

Was leid- und liedlos sonst ich mocht vollbringen,
Schmerzliches Glück befällt mich nun zu singen.

 
2.

              Ich sah dich oft in deiner Mutter Schoß
Auf sommerblauer Trift in Alpentalen.
Mit Knabenaugen, tief und teilnahmsgroß,
Die eine Welt mit Sonnenschein bemalen.

Die Mutter sah dir sinnend ins Gesicht.
Ein Spiegel, der die Forschende beseelte;
Aus dem die Schönheit ihrer Jugend spricht
Und sich mit edlem Liebesglück vermählte.

Ein goldner Strom von Flechten schuf den Rahmen,
Darin du lagst und in die Wolken schautest,
Und ferner Brunnen Worte flohn und kamen
Im Wind ersterbend bald, bald nah und lautest.

Ehrfurcht und Einsamkeit – sie knieten beide
Vor meinem Traumgesicht im Blust der Heide.

 
3.

        Ich bin ein Tor und mir ziemt Torenglück –
Ich bete wo ein Andrer flüchtig streifte.
Ich sehne mich in jene Wett zurück,
Da ich verwirrt der Welt entgegenreifte.

Mit deinen Augen öffnet sich die Frage,
Die uns das Einerlei der Stunden ändert,
Die Hoffnung pflanzt in staubiggraue Tage
Und Hut und Himmel maienfroh bebändert.

In deinen Augen liegt des Lebens Sinn,
Du fühlst ihn und ich mochte ihn erkennen –
Allein wie Falterstaub und Sonngespinn
Muß er im lichterwärmten Glas verbrennen.

In deiner Augen Schacht warf spöttisch Hebe
Die goldne Frucht, um deren Saft ich lebe.


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