Josef Ponten
Die Studenten von Lyon
Josef Ponten

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Das immer wieder hinausgeschobene Ende ihres Schauspiels, ihres in der Geschichte gegebenen Gastspiels, konnte man nun schon sagen, war jetzt aber gekommen. Von den übrigen, dem Lyoner Blutgericht Überlieferten lebte niemand mehr, auch für sie schlug die unwiderruflich letzte Stunde – der Entscheidung: so oder so. Der Inquisitor hatte fast alle seine Künste erschöpft, seine Mittel verbraucht, nur das allerletzte hatte er noch übrig, und er war in seinem freilich sehr beansprucht gewesenen, schon recht klein gewordenen Vertrauen nur noch sicher, daß dieses wenigstens bei dem einen oder andern von ihnen verfangen werde. Es war natürlich die drohende Hinrichtung selbst, der rote Blutrichter, der geschichtete Holzstoß, der ganze schreckliche Apparat des Menschenschlachtens, vor dem so mancher schon in verzeihlicher Weise die letzte Hartnäckigkeit und den Mut des großen Endes eingebüßt hat.

Vom Nahen des peinlichen Tages war der von Allem in der Welt wohl unterrichtete Calvin eher und besser unterrichtet als die Verurteilten selbst. Durch Leyner ging ihnen dieser Brief des Meisters zu:

»Sehr liebe Brüder, ich wollte Euch bisher nicht schreiben, wie unsicher Eure Lage sei, aus Furcht, Euch damit zu betrüben. Nun aber haben wir erfahren, warum der Berner Herold garnicht über Lyon zurückreiste, 304 wie ihm befohlen worden war. Weil er keine Antwort brachte, wie wir sie wünschten. Denn der König hat in hellem Zorn darüber, daß man sogar versucht hat, die Geltung und den Marktwert der französischen Münze an der Augsburger und Antwerpener Börse ins Wanken zu bringen, kurz und glattweg und gegen seine Art sehr unhöflich alles abgeschlagen, was die gnädigen Herren von Bern erbaten, sodaß von dieser Seite nun endgültig nichts mehr zu erwarten ist. So hat überall, wohin wir blicken, Gott uns die Waffen zerbrochen . . . Da ist's nur gut, daß wir unsere Kraft und unser inneres Vertrauen nie auf diese äußeren Hoffnungen, sondern auf uns selbst gestellt haben . . .«

Peter hatte den Brief, der ihm, dem »Vorstand«, übergeben worden war, geöffnet und mit dem Vorlesen begonnen. Aber Bernard hatte sich an ihn herangedrängt, Peter gab ihm den Brief zum Weitervorlesen, und Bernard las: »Ihr habt Euch darauf gegründet zu der Zeit, da es noch schien, Ihr könntet menschliche Hilfe finden und wir es auch dachten. Und so sehr es auch den Anschein hatte, als könntet Ihr durch menschliche Mittel davonkommen, so hat das doch Eure Augen nie so verblendet, daß Ihr Eure Herzen verloren hättet. Nun aber mahnt Euch die Not, dem Letzten entschlossen ins Auge zu blicken. Wir wissen ja noch nicht, wie es ausgehen wird, wer da es scheint, Gott wolle Euer Blut gebrauchen zur Besiegelung seiner Wahrheit, die er Euch hat sehen lassen . . .«

Aber nun entriß Karl Bernard den Brief und las vor: ». . . zur Besiegelung seiner Wahrheit, die er Euch hat sehen lassen, so ist es das Beste, Ihr bereitet Euch 305 auf das Ende vor. Denn Ihr wißt, liebe Brüder, wir müssen uns selbst so abgestorben sein, daß wir uns jederzeit zum Opfer bringen können. Wo soll unter den Menschen das Vertrauen bleiben, daß es große Sachen gäbe, würdig, dafür zu leben und zu sterben, wenn es nicht von Zeit zu Zeit und von den dazu Erwählten durch würdiges Tun und Leiden erwiesen wird. Ich nannte Euch schon das Wort von Johannes (21, 18: ›Man wird Euch führen, wohin Ihr nicht wollt‹). Aber Ihr wißt auch, in welcher inneren Kraft Ihr streitet. Der sich darauf stützt, kann nie überrascht und noch weniger verwirrt werden. So habt Vertrauen, daß Ihr auch in der letzten schwersten Stunde nicht fallen werdet unter der lockenden Versuchung, so schwer sie sein mag, so wenig wie er, unser Herr, der die letzte Versuchung im Garten so glorreich besiegt hat. Da es ihm gefällt, Euch bis in den Tod zu gebrauchen zur Vertretung und Verherrlichung seiner Sache, so wird er Euch auch seine starke Hand bieten zum tapferen Kampfe und nicht leiden, daß ein Tröpflein Eures Blutes ohne Wirkung bleibe. Und wiewohl man die Frucht davon nicht gleich bemerkt, so wird mit der Zeit doch mehr daraus erwachsen, als wir jetzt sehen können. Der Glaube daran, daß es lohnt, für das Große zu leben und das Leben dafür hinzugeben, wird durch todverachtendes Beispiel den Menschen wieder erweckt. Besonders in Eurem Falle; denn Gott hat Euch das Vorrecht gegeben, daß Eure Gefangenschaft berühmt in Europa geworden und daß das Gerücht davon überall hingedrungen ist. Was die Feinde auch tun mögen, sie können das nicht begraben, was die letzte Wahrheit der Welt an Euch leuchten läßt, daß man's von ferne sieht.

306 Euer treuer und unser guter Freund, der Kaufmann, hat mich gebeten, Euch ein letztes Bekenntnis aufzusetzen, das Ihr vor den Feinden verkünden könntet im Augenblicke, wo sie den Sieg davonzutragen scheinen, damit Euch der innere Sieg bleibe vor denen, deren Ohren die Botschaft hören. Aber ich stehe davon ab, denn das Bekenntnis wird viel besser sein und wirken, das Ihr selbst ablegen werdet durch Eure Tat und vielleicht, wenn Ihr Euch erklären wollt und man es zuläßt, in der Stimmung des Geistes, in die Euch der große Augenblick versetzt. Und weil es sonst gar noch scheinen könnte, als sei es Euch eingeflüstert worden. Nein, im Gegenteil, ich werde Euer Bekenntnis und Euer letztes Wort, so wie es fallen wird, lesen zu meiner eigenen Erbauung und Aufrichtung, denn ich habe sie ja vielleicht nötiger als Ihr. Wer wie Ihr der Gnade gewürdigt wurde, der weiß besser, wie es darum steht, als einer, dem die Gnade vorenthalten wurde, der offenbar ihrer nicht würdig ist. Ich habe Euch darüber schon meine Meinung gesagt, Ihr seid aufgespart zu einem größeren Ende als es mir bestimmt sein wird. Aus den Würdigen spricht Gott und die letzte Wahrheit. Und was der Würdige im Augenblicke des würdigen Endes sagt, ist ehrfurchtgebietend und mehr wert als alle Offenbarungen der Engel. Es wird die Freunde der Wahrheit, wo und wann sie auch leben mögen und welche immer sie sein mag, wunderbar stärken und die Feinde beschämen. Es ist dem Menschenverstande zwar ein seltsam Ding, daß die Kinder der Wahrheit bis zur Trunkenheit den Angstkelch trinken müssen, während die Falschen und die Bösen fröhlich sind in ihren Lüsten, ja Jenen den Fuß auf den Nacken setzen. Aber die Erwählten müssen sich trösten, 307 daß einmal das gute Recht des Lebendigen und Wahren ihnen die Tränen von den Augen wischen wird. Nein, unterrichtet Ihr mich, Ihr Erwählten in der Gnade, durch das Letzte, was ich von Euch hören werde, und sei es nur der schlichte Bericht eines geraden Endes. Auf daß ich gestärkt werde in dem, was vom Schicksal mir noch in der Welt zu tun angewiesen wird, nicht Ihr, die Ihr es nicht mehr nötig habt.

Und so seid denn fröhlich, meine Brüder, Ihr Erwählten, Ihr Begnadeten, und gedenkt in Eurer letzten Stunde mit Vertrauen und Heiterkeit derer, die Euer in Sorge und Härmen gedenken, und seid gegrüßt und gesegnet in Ewigkeit.

In Demut, die ihm ziemt, Johannes Calvin, Euer Bruder.

Genf, am 14. Mai.

Als Karl fertig war und gelesen hatte: »In Demut Calvin, Euer Bruder«, da legte er den Brief still aus der Hand und sagte: »Amen, so sei es.«

»Amen,« sagten sie, einer nach dem andern.

 

Du mußt Geld haben! Ohne Geld bist du ein rechtloser Sklave, und deine Schreie wegen erlittenen Unrechtes werden verhallen. Denn um Geld kannst du dir Rechtsschutz und obgleich nicht den Richter, doch den klügsten Anwalt kaufen. Um Geld kannst du dir Freiheit kaufen, Freiheit von unbequemen Verpflichtungen und lästiger, nicht deiner würdiger Arbeit. Um Geld kannst du dir Gesundheit und Leben kaufen: Du kannst den teuersten Arzt, die neuesten Medikamente bezahlen, diese Quelle aufsuchen und Erholung an jenem Orte dir gönnen. Du kannst auftauchende Krankheiten 308 bekämpfen durch Gegenwehr oder Schonung – was alles für Geld zu haben ist. Die Menschen ohne Geld müssen, es hilft nichts, um ein Jahrzehnt früher ins Grab. Um Geld kannst du dir Freundschaft erwerben, denn wenn du Geld hast, kannst du Freunden in Not helfen, und kannst den Freunden, die nicht in Not sind, zur rechten Zeit das passende Geschenk machen, das die Freundschaft stärkt. Um Geld kannst du dir Liebe kaufen, denn die reiche Gabe und der schöne Blumenstrauß wirken im rechten Augenblicke Wunder, und die Reise im Monat Mai, zu der du einlädst, hat noch selten ihre Wirkung auf die zögernde Geliebte versagt. Und um Geld kannst du dir ein letztes Wiedersehen kaufen mit Vater und Mutter, wenn ein Gericht in einer Stadt fern der Heimat dich zur peinlichen Exekution verurteilte, denn du kannst die Eltern einladen, zu dir herzureisen und dich noch einmal aufzusuchen zum letzten Abschiednehmen. –

Aber die Studenten waren arm! Dem einen lebten auch Vater und Mutter nicht mehr, und anderen war der eine von beiden Eltern bereits gestorben. Doch vielleicht ist es weder für den Verurteilten noch für die Eltern eine Gnade, sich noch einmal sehen zu können und furchtbaren Abschied voneinander nehmen zu müssen. Vielleicht ist es besser, man scheidet und stirbt schnell dahin, wenn geschieden und gestorben sein muß – es kann trotzdem sein, daß der Schmerz des sichern Abschiedes für immer, so qualvoll er sein mag, ertragen werden muß und leicht wiegt, weil der Vater und die Mutter im banalen Glauben der Welt sind, du stirbst als ein Verbrecher und dein Tod sei eine verdiente Sühne für Übeltat; du aber willst jede Qual auf dich nehmen und ihnen jede Qual bereiten nur um den Preis 309 des reinen Andenkens bei Vater und Mutter; wenn du nur die Möglichkeit hast, in einer letzten Unterredung sie zu überzeugen, daß du für eine reine Sache stirbst, für eine Sache, die einen Tod kosten darf, die Möglichkeit hast, sie in dein entschlossenes und ruhig lächelndes Antlitz schauen zu lassen und sie für ihr Überleben mit dem Bilde deines stillen und starken Todesmutes auszurüsten und zu trösten.

Martials beide Eltern lebten noch, sie waren Bauern im Vivarais, arme kleine Ackerbauern – nein, es war nicht möglich, sie nach Lyon kommen zu lassen. Bernards beide Eltern waren tot, aber Karls Vater war noch am Leben, er war ein Kirchendiener in der Papststadt Avignon – welcher Kanoniker würde dem Sakristan das Geld gegeben haben, um seinen Sohn besuchen zu können, der als Ketzer zum Feuertode verurteilt war! Dazu hätte es schon des weiten Herzens eines Clépier bedurft. Peter Escrivains Vater war in Bordeaux ebenfalls Küster einer Kirche und schon alt (die Mutter lebte nicht mehr) – unmöglich die weite Reise zu machen, unmöglich, das Geld dafür zu beschaffen. Nur des kleinen Peter, Pierre Navières' Mutter war recht wohlhabend, sie war die junge Witwe eines Weinkaufmannes aus Cette, der blassen Stadt am Mittelmeere, deren Kais immer voll liegen von Fässern mit Wein, die übers Meer gehen. Und Frau Navières kam nach Lyon.

Der Inquisitor hatte den Studenten eröffnet, daß, wenn sie denn nun nicht Ernst machen wollten, er endlich Ernst machen müsse (der 15. März war längst vorüber). Als ihn darauf Pierre Navières frug, ob »jenes Andere« denn wohl Zeit habe bis zur Ankunft seiner aus Cette herzurufenden Mutter, da ja ohnedies bereits 310 ein ganzes Jahr seit dem Urteilsspruche dahingegangen sei, da hatte Ory, zufällig, während er dem kleinen Peter sein Ohr lieh, an diesem vorbei auf den großen blickend, einen heißen Blick des großen aufgeschnappt, einen Hoffnungsblick sozusagen, einen Blick, aus dem ein besonders glühender Wunsch sprach, glühender wohl noch als der aus den Augen des kleinen – nun, da hatte er sich etwas gedacht! Nun, da war vielleicht in letzter Stunde noch eine allerletzte unerwartete Möglichkeit! Nun, Frau Navières mochte kommen!

Frau Navières kam aus Cette.

Ach, welch ein Wiedersehen! Ach Mutterherz! Ach kleiner Pierre! Vor zwei Jahren war Pierre ausgezogen, ein Knabe noch, der große hatte ihn mitgenommen, jener Pierre Escrivain aus Bordeaux, der Hauslehrer gewesen war in der Familie des reichen Jacques Coeur in Bourges, jenes berühmten Finanzministers des Königs Karl, der diesem den Krieg gegen England finanziert hatte und der in der Verbannung auf der griechischen Insel Chios gestorben war. Vorher hatte er für seinen Sohn, den Erzbischof von Bourges, einen Kapitelsaal anbauen lassen an das achte nördliche Querjoch der Kathedrale: im Maß- und Stabwerk aller Fenster wurde ein »Herz« angebracht. Und auf den Baublöcken und beim Lärm der Bauhütte dieses noch immer nicht vollendeten Neubaus hatte Pierre Escrivain dem Neffen des Erzbischofs, dem zum künftigen Erzbischof von Bourges bestimmten Knaben, dem Enkel des alten Jacques, Unterricht in der lateinischen Sprache erteilt. Die Familie Coeur hatte zwölf Schiffe segeln auf dem Mittelmeer, die ihren Orienthandel besorgten. Und eines Tages, in einer Krisis des Geschäftes, in einer 311 peinlichen Stunde, wo man um einer Vertrauensmission willen sich nach einem zuverlässigen Manne umgesehen, da hatte man im Familien- und Geschäftsrate Pierre Escrivain erkoren und beschlossen, den Hauslehrer nach Cette zu schicken zu dem reichen Weinkaufmann Navières, dem man geschäftlich stark verpflichtet war. So kam Pierre Escrivain in die Familie Navières. Der Kaufmann war alt, aber er hatte hochbetagt mit seiner dritten sehr jungen Frau einen Sohn gezeugt; und dieser Sohn, der im Verkehr mit griechischen Schiffern seiner Vaterstadt schon als Kind das verderbte Griechisch seiner Zeit, vermischt mit Levantinisch, das sich seinerseits aus Griechisch, Italienisch und Türkisch zusammensetzte, sprach, wurde von Pierre Escrivain als Sprachgenie erkannt. Er bestimmte die Eltern, leicht den alten Vater, schwer die junge Mutter, den Sohn ihm mitzugeben auf die Universität der gnädigen Herren von Bern, Lausanne, die er mit Hilfe des im Dienste der Coeur Ersparten und des für geschickte Erledigung seines Auftrags zum Geschenk Erhaltenen beziehen wollte. Der geheime Grund, weshalb der alte Navières seinen Sohn nach Lausanne dahingab, war dieser: Trotz allen blutigen Verfolgungen der Bischöfe der roten Ziegelstadt Albi, die sich gegen ihre Ketzer ihre Kathedrale zu einer gewaltigen Festung hatten ausbauen lassen, trotz den gegen die Ketzer gerichteten Kreuzzügen der katholischen Christenheit war Lehre und Anhang der Albigenser im Süden Frankreichs nicht ausgestorben. Noch lebte da heimlich und verfemt die Sekte der Katharer. Navières war ein Katharer. Die Katharer führten das Leben der Heiligen auf Erden. Sie aßen kein Fleisch, keine Eier, keinen Käse, nichts, was auf tierischem Wege, sie sagten: 312 ex carne per viam generationis entsteht. Sie glaubten nicht an die bequeme Erlösung durch einen Erlöser, dessen Tod die Menschen erlöst, sondern der Mensch wird nur durch die eigene Erkenntnis erlöst. Sie glaubten nicht an die billige Endgültigkeit von Himmel und Hölle, sondern wiesen die unsterbliche Seele auf den unerbittlichen Weg der Hinaufläuterung durch die Tiere, von den niedrigsten und verachtetsten an bis zur Wiederkehr und endlichen Bewährung im »perfectus«, im Vollkommenen – das zu sein bemühten sich die besten von ihnen. Sie verehrten den göttlichen, in ihnen wohnenden Geist, sie fielen vor Ehrfurcht dreimal voreinander zur Erde nieder. Sie trugen, wenn sie unter sich waren, weiße Gewänder, auf der Straße aber die Allerweltskleidung, und dort neigten sie nur den Kopf voreinander. Sie mieden auch jede irdische Beschäftigung, selbst die des Berufes – als Pierre Escrivain mit seiner Ledertasche voll wichtiger Briefe ankam, wies ihn Navières an den bevollmächtigten Schreibstubenvorsteher. Für die Sorgen der Coeur hatte er kein Ohr, aber er hörte leidenschaftlich auf den Vortrag, den ihm Escrivain über seine Pläne hielt. In Bourges, wo eine ausgetretene, aber nicht ganz erloschene ketzerische Glut schwelte, war Pierre schon lange von Zweifeln am kirchlichen Glauben zerfressen gewesen – auf der Reise hatte er sich, plötzlich und entschlossen, freigemacht: oft macht eine Reise frei, das äußere Bewegen erregt in einer harrenden wartenden unentschlossenen Seele die innere Bewegung. Pierre hatte beschlossen, nicht nach Bourges zurückzukehren sondern nach Lausanne zu gehen – mit glühenden Augen im gelben Gesicht unter weißen Haaren stand Navières bei diesem Berichte da, er konnte nicht genug hören, was seine alten, grimmig 313 begrabenen aber nicht toten Hoffnungen anblies. Erzählen! Erzählen! Also wußte der junge Vertrauensmann seiner Geschäftsfreunde Coeur dem Kaufmann zu erzählen, daß an der Universität Bourges, freilich vor seiner, Pierres Zeit, Theodorus de Beza und Johannes Calvinus studiert, daß dieser Letztere dem Rektor der Universität, dem Theologen Jacques Cujas, auf dessen Bitte eine Rede bei Gelegenheit des Rektoratsantrittes aufgesetzt hatte, daß diese, man kann es sich denken, gefährliche Rede wirklich gehalten worden war und daß darauf der Rektor mit seinem Schüler Calvinus unter dem Schutze der Nacht eiligst das Weite gesucht hatte. Alles, was Aufsässigkeit atmete gegen die Herrschaft des Klerus, war dem alten Navières nach dem Herzen – und also gab er sein Kind dahin nach Lausanne in die Nähe von Genf, wo Calvin mittlerweile mächtig war, nach Lausanne, dessen hohe Schule die Herren von Bern der neuen Lehre eingeräumt hatten, in der Hoffnung, sein Sohn Peter möchte, wenn die Gnade ihm leuchte, das vielleicht ergreifen und in der freien Schweiz vor der Welt verkünden können, was er die vielen Jahre seines Lebens heimlich, auch vor seiner Frau heimlich, im Herzen hatte verbergen müssen. Und es war kein großes Wunder der Welt, daß Peter Navières in Lausanne, obgleich nur dem Studium des Altgriechischen hingegeben, auch dem neuen religiösen Geiste von Lausanne sich ergab. Und so war denn alles gekommen, und so mußte denn Frau Navières, die gleich nach dem Fortgang ihres Sohnes durch den Tod des alten Mannes Witwe geworden war, mit Eilpost nach Lyon reisen, um ihren Sohn noch einmal in die Arme zu schließen!

314 »Oh, Pierre, mein Sohn, liebst du die Jungfrau Maria nicht mehr? Steht sie nicht herrlich als zarte Königin am Mittelpfeiler der Kirchentüre? Hast du die Abende vergessen in Notre Dame des flots in Cette, wenn ich dich in die Andacht führte, wo die Fischersfrauen beten für ihre Männer, die zum Fischfang draußen sind auf dem Meere? Erinnerst du dich des Rosenkranzgebetes nicht mehr zur Abendstunde in der Maiandacht? Läuteten nicht die Glocken gewaltig am Weihnachtsfeste, wenn wir in der Nacht zur Mette gingen und der Lorbeer schon frühlingsmächtig zu duften begann in unserer warmen Provence? Wie kannst du das alles vergessen haben, mein Kind, mein Pierre? Pierrot, wie ich dich nannte oder, weißt du noch?« lächelte sie unter Tränen, »Pierrette?«

»Weine nicht, liebe Mutter. Weine nicht, geliebte Mutter. Warum machst du mir alles noch schwerer?«

»Aber weißt du das alles nicht mehr? Warum hast du die Jungfrau vergessen?«

»Ich weiß das noch alles, geliebte Mutter, und es war schön, die Maiandacht und das Gemurmel der Rosenkranzstunde und der Gang in der Weihnacht, wenn der Lorbeer schon zu duften begann in unserer warmen Provence.«

»Was werden deine Tanten sagen, die Nonnen, die schwarze vom heiligen Herzen und die weiße von der göttlichen Weisheit?«

»Laß sie sagen, was sie wollen, Mutter!«

»Was wird der alte Pfarrer sagen von der Kirche Unserer Lieben Frau von den Meereswogen, der dich Latein lehrte, als du keine vier Jahre warst, und der alte Fischer aus Kreta – erinnerst du dich noch: der 315 Elias Miaoulis, der im Logis du vent wohnt, mit dem einen langen gelben Zahn, den er zu deinem Spaße herausnehmen und wieder einsetzen konnte, und der dich schon Griechisch lehrte?«

»Sie mögen sagen, was sie wollen, Mutter, sie werden es tragen müssen.«

»Der Pfarrer sagte: ›Es wird ein Irrtum sein, Witwe Navières. Ihr werdet einen andern in Lyon finden im Gefängnis und der Ketzerei schuldig als euren Sohn, es gibt viele in Frankreich des Namens Navières!‹«

»Es mag wohl viele in Frankreich des Namens Navières geben, Mutter, aber leider nur wenige, welche die Gnade bereits erleuchtet hat. Und auch dich, meine liebe Mutter, sehe ich weiterleben und wandeln in der Finsternis, und ich werde nicht den Trost haben, auch nur Einen zum neuen Geiste Gottes bekehrt zu haben, nicht einmal meine Mutter.«

»Wie kannst du von mir denken, daß ich mein Herz abwenden werde von der Jungfrau und der Kirche? Daß ich einer neuen Lehre zufallen werde, die Menschen gemacht haben?«

»Ach Mutter, auch die alte haben Menschen gemacht und haben sie sogar schlecht gemacht und mit der Zeit arg verderbt. Und wir wollen nichts anderes, als daß wieder gut und rein in ihr werde, was böse und unrein gemacht wurde.«

»Wie willst du das sagen können und wie willst du verurteilen, was soviele kluge und berühmte Männer loben und glauben – ach Gott, ja, du bist ja selbst schon ein kluger und berühmter Mann, aber du glaubst nicht . . .«

316 »Ach Mutter, beruf' dich doch nicht auf die klugen und berühmten Männer, die glauben. Laß das doch. So sagen sie alle. Das tun sie alle, und die Redensart: ›Es gibt doch soviele kluge Männer, die glauben‹ wird alt und abständig. Ach, daß ich dir widersprechen muß, da du hergekommen bist, mich noch einmal zu sehen! Ach, daß wir die Stunde so verlieren müssen! Ach, daß du mich zu bekehren versuchst und nicht ich dich!« . . .

Nein, man soll sich unter solchen Umständen nicht wiedersehen. Was gibt es zu sagen, was gibt es zu tun? Alles erscheint unwichtig vor dem einen Schrecklichen das droht, und doch kann man nicht einzig Wichtiges sprechen. Denn es hieße daran gemahnen, daß für Unwichtiges keine Zeit mehr ist. Am allerwenigsten kann man von dem sprechen, woran jeder allein denkt, von »Jenem«, dem Schrecklichen. Darum war es recht, daß der Inquisitor nicht dafür gesorgt hatte, daß die Verurteilten ihre Eltern wiedersehen konnten, und wohlgetan war es, daß er jetzt mit sanftem Befehl der Unterredung ein Ende machte. Er war diskret im Hintergrunde des Saales auf und ab gegangen, in dessen Mitte Frau Navières am Tische saß mit dem kleinen und dem großen Peter, während die drei anderen um den Tisch hockten und jetzt erwogen, ob sie ein Recht gehabt hatten, den Kleinen zu beneiden, der seine Mutter hatte kommen lassen können; ob es nicht vielmehr besser sei, wie es in ihrem Falle sein würde, die Eltern erführen das Ende als Kunde eines Ereignisses, fertig, abgeschlossen, erledigt, wie einen Donnerschlag. Und es war wohlgetan, daß Ory sich jetzt leise Peter Navières von hinten näherte, ihm durch Auflegen einer Hand auf die Schulter und der Mutter durch wiederholtes eindringliches, ein 317 Verständnis der Lage anrufendes Zunicken zu verstehen gab, daß die Unterredung für heute zu Ende sei. Man würde sich ja morgen noch einmal sehen, es sei »ein Gewisses« auf übermorgen angesetzt. Und er war plötzlich eilig. Denn er hatte eine Hoffnung gefaßt, eine Hoffnung gefaßt . . . und festgestellt, daß die neulich plötzlich aufgetauchte begründet war . . . er hatte aus gesenkten Wimpern immer den großen Peter beobachtet. Den Knaben, den Trotzkopf hatte er aufgegeben, da war nichts mehr zu machen, das hatte er mit schwer unterdrücktem Ingrimm während dessen Unterredung mit seiner Mutter erkennen müssen. Fahre hin, kleiner Dickkopf! Und also führte er die Mutter, während der Knabe laut aufschluchzte, hinaus und ließ seinen Wunsch erkennen, daß alle sich in ihre Zellen begeben möchten. Er fügte es aber so, daß man, als man in Gesellschaft den Saal verlassen hatte und bald der bald jener in bald dieser bald jener Tür verschwand, zuletzt an Peter Escrivains Zelle kam und daß vor deren Tür er nur mit Escrivain und der Frau übrig war.

Der Mönch war ein Mann, ein wackerer Mann, wenn Wackerkeit nur Unerschütterlichkeit bedeutet, und seine Ausdauer wäre wohl eines Lohnes wert gewesen. Wer wird nach so viel Fehlschlägen nicht verzagen? Nur ein Held nicht. Der Mönch hatte Frau Navières bei ihrem Eintritt ins Gefängnis gesagt, er werde, damit sie die letzten Tage in der Nähe ihres Sohnes sein könne, ihr ein würdiges Nachtquartier im Gefängnis bereitstellen lassen: als sie im abenddunklen Gange des Gefängnisses an Peters Zelle ankamen, lud der Mönch die Frau durch eine Handbewegung mir nichts dir nichts ein, Peter zu folgen und einzutreten – da fiel hinter den 318 Beiden die Tür zu, und sie hörten, wie die Riegel von draußen vorgeschoben wurden.

Es war Nacht in der Zelle. Sie sahen kaum ihre Körper und garnicht ihre Gesichter. Frau Navières griff hinter sich nach der Tür. Sie rief auch leise aus: »Herr Escrivain . . .!« Aber das war doch lächerlich. Sie wußte doch überhaupt nicht . . . sie wußte doch nicht einmal . . . oder hatte sie jetzt etwa ihr eigenes Herz enthüllt? Ihr Herz, mit dem es nun so stand die zwei, drei Jahre lang, seit Pierre Escrivain in ihr Haus gekommen war in Cette am blauen Meere? Da sah sie sich keine andere Hilfe als Tränen. Und Peter Escrivain wußte nicht, wie es um sie stand, ob es auch um sie stand, wie es um ihn stand die zwei, drei Jahre lang, seit er damals in Cette gewesen war am blauen Meere . . . Aber ihre Herzen waren jetzt in roher Weise aufeinandergestoßen worden, und sie öffneten sich wie zwei überreife Früchte im Aufeinanderprallen. Peter ging auf die Frau zu, umfaßte sie, legte mit leichtem Druck gegen ihre Stirn ihr Gesicht nach hinten und sagte: »Klothilde.« Und sie drängte sich plötzlich wider ihn – und da war es, als kännten sie sich seit ewiger Zeit, und als hätten sie immer voneinander gewußt, wie es um sie stand, und als hätten sie jetzt eine ewige Zeit, es voneinander zu wissen und glücklich zu sein . . .

Katzen, die sich am Tage in eine nahe Fischhalle eingeschlichen und sich gemästet hatten und bei Dunkelheit darin eingeschlossen worden waren, schrieen jämmerlich und erbärmlich durcheinander. Die stille Nacht trug es über Gassen und Dächer und Höfe in das Gefängnis.

Als aber eine zarte Mondsichel über einem nahen Dache aufging, die Zelle sich schwach erhellte, weiße 319 Frauenschultern in der Nacht schimmerten und eines Mannes Augen ihren Linien nachfolgten, da, ohne das Kleid der Finsternis, schämte sich Klothilde ihrer Hingegebenheit der liebenden Frau und verhüllte sich sozusagen mit dem Körper des Geliebten – und ihr Erröten konnte er mit den Augen nicht, nur mit dem Körper sehen, denn er fühlte, wie ihr an seine Brust geschmiegter Kopf erglühte.

»Nicht erst von Heute und nicht erst von Gestern,« flüsterte er. – »Nicht von Heute und nicht von Gestern,« hauchte sie über seine Brust hin, »und wenn es auch von Heute und Gestern wäre, so wäre es doch von immer her. Im Gefühle ist alles immer da und stirbt nichts . . .« Aber als das Unglückswort ›sterben‹ wie eine schwarze Wolke an den goldenen Himmel ihrer Zärtlichkeiten getreten war, weinte sie, und ihr warmer Mund irrte zitternd und gleichsam Hilfe suchend wie ein auf der Jagd fliehendes Reh über seine Schultern und seinen Hals.

Da schlug es Eins! Die Turmuhr der Kathedrale schlug Eins, tat vier kleine und einen großen Schlag. »Aber wie konnten wir Zwölf überhören, Mitternacht überhören?« rief Peter erschrocken. »Zwölf, das sind doch sechszehn Schläge!« . . .

»Ach, was soll ich anfangen, wenn ich allein zurückbleibe auf der Welt?« schluchzte sie verzweifelt. »Ich habe doch niemanden auf der Welt mehr als euch! Was soll ich anfangen? Soll ich allein bleiben? Ich will nicht allein bleiben!« Sie reckte sich auf, groß und bloß, und ihr Jammer verachtete alles.

»Du mußt zurückbleiben und von uns zeugen.«

»Ja, von euch zeugen . . .,« sagte sie, neben ihm auf einem Arm aufgehockt und in die Nacht starrend. »Ich 320 muß von euch zeugen. Daß ihr Männer wart! Und als Männer starbt! Wenn ich auch nicht weiß wofür . . .«

»Man braucht es nicht zu wissen. Wenn einer es tut, so weiß man, daß er Grund haben mußte, es zu tun. Und es wirkt so wie er gewollt hat.«

»Es wirkt so wie er gewollt hat. Wie bei Jesus Christus . . .« Sie schaute in den Mond.

»Nenne nicht den größten Namen. Aber es ist schon so. Und weil es so ist, darum will der Papst und der Kardinal und der Dominikaner nicht, daß wir sterben. Und gerade darum müssen wir sterben.«

Es schlug deutlich 3 Uhr.

»Drei Uhr! Und die Nacht rückt vor!« rief sie. »Und ihr müßt sterben, ich sehe es, ihr könnt nicht anders. Männer können nicht anders. Wenn ihr Frauen wärt, könntet ihr anders.«

»Beleidige nicht dich und deine Schwestern, Geliebte. Ein Mädchen in der Bretagne weigerte den Meßgang, die eigene Mutter zeigte es an, und es starb den Henkerstod. Und denke an Jeanne d'Arc . . .«

»Jene Frauen waren Männer in der Seele. Aber die Frauen im allgemeinen, die Frauen wie ich, sterben nicht für so etwas. Sie sterben aus Hunger, aus Liebe, sie sterben im Kindbett.«

»Nun, das ist dann ihr Märtyrertod!«

»Ja, ihr Märtyrertod, du sagst es schön. Aber sonst würden sie einen Ausweg wissen aus der Not. Es würde ihnen eingegeben werden . . . Ach, nur ich weiß keinen Ausweg.«

»Es wird auch keinen geben. Sonst hätten wir ihn schon gefunden, wir und die anderen, die sich für uns bemüht haben. Wir haben Zeit genug gehabt zu suchen. 321 Gott weiß offenbar auch keinen, sonst hätte er ihn uns gezeigt.« – »Gott weiß auch keinen,« wiederholte sie nach einer Weile langsam, mit dem Kopfe auf seiner Brust wie auf einem Felsen in der Landschaft der Nacht ruhend. »Das klingt fast tröstlich . . .«

Es war die stillste Stunde, die wahre Mitternacht. Aus der Stadt kam kein Geräusch, kein Ton, alles schlief. Die Mauern, die Dächer, die Türme selbst schienen zu schlafen, es war die tiefste Nacht.

Und indem sozusagen kein Lyon, kein Ort da war, schien es auch keine Zeit zu geben. Wenn die Uhr schlug, es schien nichts zu bedeuten.

Wovon sprachen sie? Davon, daß sie sich geliebt hatten, sobald sie sich gesehen hatten, geliebt, sie wußten nicht warum und wußten kaum wieso. Damals, im Haus des Reeders und Weinhändlers in Cette, wo auf den Kais, den Kähnen und Schiffen nur Fässer, Fässer mit Wein und Weinfässer, zu sehen sind. Nichts als Fässer. Und auf dessen Sandstrand von der See gerollte und verfrachtete Palmbaumstücke, von Palmbäumen in Afrika, liegen. Und wie sie während der Wochen der Zurüstung Pierrots für die Reise miteinander im Hause gelebt hatten, nicht wissend wie es stand um den andern, nur jeder wissend, daß er selbst dem andern schmerzlich ergeben war. Leidend die holde Qual der Frage um Liebe, Frage fragend aus Augenwinkeln, fragend unter dem Wimpernschleier, fragend aus breiter Augenfront im Beisein der anderen Menschen, wenn nichtige Alltagsrede wechseln die Münder. Entzücken des halben Ahnungswissens, wenn ein Schlafengehens-Händedruck um die Sekunde länger als Sitte verstattet getauscht ward. Und des Zweifels nagender Zahn und Bohren, wenn Rücksicht 322 und Zucht unversehens das kühle Gesicht der Gesellschaft erwählte. Hast du dann nicht deine Kammer gesucht und verschlossen die Türe, o Frau, und schamüberlaufen am Fenster gestanden, zwei Schritte vom Fenster, mitten im Zimmer, daß niemand dich sehe, daß er dich nicht sehe, der unten dahinging, gefaßt und gemessen entlang am Kanal und gleichgültig gleichgültigen Menschen erscheinend? Und du, trieb's dich nicht umher in Cette, im Hafen am Meere, im Faßlabyrinth, und klopftest du nicht im Schlendern geistesabwesend mit dem Knöchel oder auch im Gehen mit der Spitze des Schuhs an die Fässer? Und die leeren tönten voll und die vollen tönten nicht – und das Herz war dick und die Brust war erfüllt von nichts anderm, von nichts anderm als von der Frau? Und die Stadt raunte von der Frau und der Himmel tönte von der Frau und das auf den Sand aufrollende Meer sang nur von der Frau, von der Frau? Und der Abschied war da, und kühl von den Lippen kamen die Worte, als vor dem Hause der Vater, die Frau und Knechte und Mägde segneten Sohn und jungen Herrn und den Freund, den Entführer. Aber noch einmal stürzte auf den Sohn sich die Mutter und schüttete Zärtlichkeit über ihn aus, die – ja jetzt weiß mans – für zweie bestimmt war. Und fröhlich blaute die Ferne . . .

Darauf waren sie unversehens eingeschlafen. Peter träumte, er war drüben in der Kathedrale, deren Turmuhr ihnen die Nacht einteilte, eingeschlossen in einem dunklen kleinen Kirchenchore und verurteilt, ein großes Fenster zu malen, eine Folge kleiner Szenen, heiliger Geschichten, Märtyrerlegenden, die er mit allen körperlichen und seelischen Schmerzen der gequälten Märtyrer stark erlebte. Er war elend, verlassen, müde und ohne 323 Hoffnung, je fertig zu werden und herauszukommen. In mehr Scheibchen er aber malte und einsetzte, umso heller wurde es um ihn, und er fühlte die tiefe Freude an einem roten und gelben Lichtstrahl und an einem Stückchen täuschend geratenen Himmelsblaus. Aber die Wände der Kirche rückten auf ihn ein, und er fühlte sich bedrängt – da stand neben ihm ein Reiseköfferchen, kurz entschlossen setzte er sich darauf und fuhr durch das Fensterloch im Giebel der eben von ihm vollendeten Arche Noah hinaus und fühlte sich auf geglückter Flucht. Andere Menschen stellten ihre Reiseköfferchen von innen aus den Häusern heraus in die Giebelfenster der Häuser einer engen Stadt, setzten sich darauf und fuhren mir nichts dir nichts ab durch die Luft. Er sah die Landschaft an der Erde in tiefem Schnee. Ein Rudel Wölfe durchstreifte sie, die, mit spitzem Kopf ohne Hinterkopf, sich mit roten Zungen und gelben glühenden Augen auf Menschen stürzten und sie zerfleischten. Er hörte deutlich die Knochen knacken. Er sah auch gewaltige goldgelbe Löwen langsam durch den weißen Schnee schreiten. Aber dann setzte sich die Reise fort ins Unbestimmte und Leere . . . Und mit einem Gefühl der Leere im Herzen erwachte er.

Sie schlief. Tief und ruhig atmete ihre Brust, und auf dem schwach erkennbaren Gesichte war ein glückliches Lächeln.

Peter schloß die Augen und fiel wieder in Schlaf. Aber – anscheinend gleich darauf – erwachte er davon, daß eine Mücke, von einem Altwasser der Saone hergeflogen, sein metallisch über seinem Kopfe surrte. Er empfand eine Luftbewegung von ihrem Flügelschwirren auf seiner Backe. Er hob vorsichtig die Hand, um die 324 Mücke zu erschlagen – aber dann hielt er den Arm an, denn er fühlte sich plötzlich von Schwermut ergriffen, und er dachte: »Die Mücken nähren sich von Pflanzensaft, aber wenn sie zeugungsfähig sein sollen, müssen sie Blut getrunken haben.« Und plötzlich fühlte er Erbarmen sozusagen mit der Mücke und Erbarmen mit sich. War es nicht genug, daß er diese Welt verlassen mußte, warum auch die Mücke? Und ein törichtes, fast lächerliches, ja irrsinniges Verlangen nach Dauer, nach Nichtausgelöschtwerden, nach Fortpflanzung stieg ihm jäh auf. Konnte er wissen, ob es ein Fortleben geben werde durch Klothilde? Aber wenn nicht durch Klothilde, dann vielleicht – durch die Mücke? Sollte sein Blut nicht zeugen durch die Mücke und leben im Mückenkinde? Und in der Tat – es war Irrsinn – er ließ die Mücke auf seine Stirn einfallen, er duldete eine Weile das peinliche Kribbeln der langen Fadenbeine und darauf den kleinen scharfen Stich, und er ließ die Mücke mit seinem Blute sich vollsaugen und fühlte, wie sie nach einer Weile, etwas schwerer schwirrend als vorher, davonflog . . .

Plötzlich erwachte auch Klothilde. »Ich habe doch nicht geschlafen!« rief sie erschrocken, »diese Nacht verschlafen!« – ach, der gewisse nahe und unvermeidliche Tod machte die Liebesnacht bedrängt. Doch sieh da, wer hatte für Verzauberung gesorgt? Sieh da, ein Krug! »Wein!« rief Peter. »Hat es die ganze Nacht nicht nach Wein gerochen? Ich konnte mir nicht denken, wer ihn sollte hereingestellt haben. Ja, so – Herr Leducq! Den Wein für die gewisse Mahlzeit von morgen stellt er mir schon heute herein wie ein guter und feiner Wirt, der, wenn er Gäste lädt, den Wein schon am Tage vorher im Zimmer aufstellt, und offen. Wein von der Côte d'Or! 325 Ein vergangener Sommer und Herbst voll Sonne grüßen herein in unsere Nacht und unsere Angst! Laß uns ihn trinken, Klothilde, Geliebte, heute, und den guten Henker enttäuschen. Es grüßen die Berge entlang der Saone, es grüßt uns Frankreich und die Welt, das stumme selige Land, das die grausamen Menschen bewohnen, es grüßt mit seinem edlen Blute unser Blut. Es grüßen uns viele Sonnentage, es grüßen uns die Luft und die Weite – komm, wir trinken!« Sie tranken, sie tranken, sie tranken sich Glück und Mut, und sie ertränkten die Verzweiflung.

Und die Mondsichel ging, und mit ihr gingen die Stunden. Vorrückte die Nacht, und die Turmuhr mehrte langsam ihre Zahlen. Und an der Wand stand der schwarze Tod auf, ein Schicksalsschatten, und wich nicht vor dem ersten Grauen und Blauen des Tages, und Angst mischte sich, schwarzer Wein, in den Becher der jäh und wild und verzweifelt gemischten liebesnackten Freuden . . .

Sie hörten ein gewisses Lärmen über den Hof herüber aus den Gassen. Das Leben der Stadt erwachte. »Das sind die Schiffer, die zu ihren Booten gehen, die auf der Saone liegen,« flüsterte er. »Und hörst du ganz ferne das Keuchen und die eintönigen Rufe? Das sind Kahnschlepper, die bereits auf der Rhone gegen den Strom trecken. Gleich wirst du auch die kleinen Fischerkarren hören auf dem Wege zur Fischhalle und die Bauern, die vom Lande hereinkommen und den Gemüsemarkt auffüllen. Wenn es Tag wird, hörst du die Mädchen zu den Seidenwebereien trippeln – oh, ich kenne den ganzen Stadtplan und das Leben Lyons durch mein Ohr, ich hatte Zeit genug dazu.«

326 Aber wahrscheinlich hatte sie das Letzte überhaupt nicht mehr gehört, denn sie schlief. Und sie schlafen sehen, machte auch ihm solchen Schlaf, daß die Lider über seine Augen fielen. »Ein paar Minuten,« dachte er, »lasse ich sie schlafen und schlafe ich selbst, denn diese Nacht, ach diese Nacht dürfen wir nicht verschlafen.«

Aber als sie beide erwachten, war voller Tag. Die Sonne schien durch das Fenstergitter. Draußen an der Tür polterte eine unwirsche Hand, der Wärter (er hätte hereinkommen können, denn Gefängnistüren verschließen sich von außen) hatte schon lange geklopft und war erst vor Ungeduld und dann vor Sorge, der Gefangene könnte entflohen sein, laut geworden.

Sie fuhren erschreckt aus abgrundtiefem Schlafe auf und fühlten sich krank vor Müdigkeit. Peter rief den Schließer an, und der entfernte sich für eine Weile.

Da wurde die Tür geöffnet, und der Schließer kam herein. Sie sahen auf dem Flur den Mönch stehen, erwartungsvoll. Der Dominikaner erkannte sofort den Mißerfolg auch dieses Einsatzes. Er kam herein, und sein Zorn war so groß: er faßte die Frau am Arme, um sie hinauszuschieben. Aber Klothilde stand fest auf ihren Beinen, der Mönch ließ von ihr ab . . . Klothilde stand im hereinreichenden Sonnenschein, sie sah Peter tränenüberströmt an, er sah sie an mit einem Blicke, in dem nur Staunen über das Unbegreifliche war. Und dann drehte er sich fort und winkte ihr mit der Hand zu, sie solle gehen. Und sie ging. Und das war der Abschied.

 

Der Inquisitor ließ die Stadt wissen, daß am überandern Tage das langerwartete Schauspiel des 327 Vollzugs der Gerechtigkeit an den Fünf vor sich gehen werde. Aber schon am Nachmittag des andern Tages wurde die Bekanntmachung widerrufen, denn Frau Navières hatte eben den Wunsch kundgetan, Peter Escrivain einen Brief schreiben zu dürfen, der Gewisses noch zu erledigen habe. Gut, mochte es sein, der Inquisitor gab sich sofort der Erwartung hin, daß dieser Brief endlich den Versuch der Frau enthalten werde, den Gefangenen umzustimmen. Er kam überhaupt nicht darauf, etwas anderes anzunehmen als das, was er wünschte, und so machte er auch keine Anstalten, den Brief durch seine eigenen Hände gehen zu lassen und ihn zu lesen, da er seinen Inhalt ja kannte! Gut, mochte es sein, Frau Navières würde vielleicht im brieflichen Austausch mehr Glück haben als im . . . haha! Aber war es Menschenkunde oder Rache oder Grausamkeit – ein Begegnen der beiden ließ er nicht mehr zu. Er verschob aber sofort wieder die Exekution auf unbestimmte Zeit, ließ sagen, es eile nicht, es eile ganz und gar nicht, er habe Herrn Leducq jetzt eben einen dreiwöchigen Urlaub bewilligt, man solle nur verfügen! Das Jahr stände zu ihrer Disposition!

Als Klothilde Navières die Antwort erhielt, lachte sie. Der gute Inquisitor! Er flötet tauben Ohren! Der Herr Dominikaner, der so gern kutschmächtig und mit scharfem Zügel fuhr, mochte ihn einmal ein Weilchen in andere Hände geben – in allem furchtbaren Ernst der Lage machte es der Frau Vergnügen, ihre sanfte Hand mit im Spiele zu haben.

Sie ließ also eine ganze Woche verstreichen und schrieb dann an Peter sehr entschieden: Sie sei mit sich zu Rate gegangen, es sei ganz unmöglich, daß sie überlebe. Und es sei ihr auch ausgemacht, auch sie sei eine Ketzerin. Sie 328 müsse mit ihnen sterben, denn ohne sie könne sie nicht leben. Und wenn es nicht anders ginge, so werde sie auf der place des Terreaux auf den brennenden Holzstoß springen!

An dieser Stelle waren Tränen auf das Papier gefallen, und sie hatte irgendwelche Kringel und nichtssagende Zeichen darauf gemacht; sie hatte an dieser Stelle nachgedacht. Und sie schrieb weiter, es sei natürlich alles Unsinn, was sie da vorhin geschrieben habe, sie müsse überleben, das sei klar. Sie werde ein Kind von ihm haben, und sie müsse dieses Kind mit der Bestimmung aufziehen, den Vater, die Störung der Sendung des Vaters zu rächen. Er müsse hoffen dürfen, daß ihm seine Arbeit nicht in der Hand zerschlagen, daß sie ihm nur aus der Hand genommen und in eine andere jüngere gelegt werde, daß sie ihm, ihm nicht in der Hand zerschlagen werde, nein, nicht zerschlagen werde . . .

Während sie diese sehr entschlossenen feierlichen Worte niederschrieb, wußte sie noch nicht recht, wie sie das Versprochene und Inaussichtgestellte ausführen werde, aber es war klar, sie mußte das ausführen, was der Geliebte wünschte. Übrigens, sie war nun also mit dem, was sie schrieb, im neuen Glauben, aber sie wußte garnicht recht, was dieser neue Glauben denn enthielte. Wenn nur der Inquisitor selbst sie nicht fragen möchte, sie käme in die größte Verlegenheit! Etwas gefährlich würde es ja auch sein, und es könnte geschehen, daß auch von ihr eine gewisse Probe gefordert werden würde. Aber da war sie garnicht bange, sie war eben überzeugt! Sie wußte nicht recht wovon, aber sie war überzeugt. Wie sollte sie nicht von dem überzeugt sein, für das ihr Geliebter und ihr 329 Sohn starben? Im Grunde, was gingen sie Glaubensartikel an, die Hauptsache war doch der Glaube! Die Männer sollten denken, gut, sie war da, zu verwirklichen. Die Männer würden schon wissen, was sie taten und dachten und würden es verantworten, was sollte sie sich damit beschweren. Das Wichtigste war, sie glaubte, sie wußte nicht was, aber es war das, wofür Peter und Peterlein und die Freunde von Peter und Peterlein ihr Leben dahingaben. Und übrigens, den Inquisitor würde es ärgern, dem Feinde von Peter und Pierrette würde es den Triumph, die Laufbahn verderben! Und mochte er dann vorläufig auch siegen – (da weinte sie wieder einen Augenblick ganz herzbrechend, die Tränen fielen auf den beschriebenen Teil des Papiers, und die Schriftzüge lösten sich auf. Aber es war nicht schlimm, es waren nur ein paar Worte verdorben, Peter würde sie schon aus dem Zusammenhang wiederherstellen, und er durfte auch wissen, daß sie um ihn geweint hatte, ja, das durfte er wissen! Wie sollte sie ihm besser sagen können, daß sie Tag und Nacht um ihn weine? Da richtete sie sich wieder auf, ordnete ein wenig ihr Haar und dachte weiter nach, indem sie neue Schnörkel auf das Papier malte) – mochte der Mönch denn auch vorläufig siegen, mein Gott, man konnte es nicht hindern, den endlichen Sieg, den Zweck seines Sieges ihm zu verderben würde sie mithelfen! Und sie legte plötzlich den für Peter bestimmten Brief unerledigt beiseite, ergriff ein leeres Blatt, und das war ein Brief für Peterlein! Für ihren Sohn, oh, ihren Pierrot! Aber sie dachte doch lieber an Pierrette, denn das war eine Erinnerung an eine scherzhafte Unterhaltung, die sie einmal mit Peter in Cette gehabt hatte: Er liebe den kleinen Pierrot »wie ein 330 Mädchen«, hatte er gesagt, »wie eine Frau«. Ja, nun wußte sie, was sie damals zwar geahnt, leise, von ferne geahnt, aber nicht für wahr zu halten gewagt hatte, es hatte geheißen: anstelle einer Frau, anstelle seiner Mutter, die ich nicht lieben darf! Für seine Mutter, die ich liebe und die es nicht wissen darf! Durch ihn seine Mutter! Seine Mutter in ihm! Ach, was wußte sie, wie sollte sie's ausdrücken, es hieß ganz einfach: Ich liebe dich, Klothilde, ich liebe dich, Klothilde, ich liebe dich, ich liebe dich und alles was mit dir ist und von dir stammt. Und er hatte doch den kleinen Peter mitgenommen, weil er sie selbst nicht mitnehmen konnte, und hatte ihn unterrichtet an ihrer Statt und hatte ihn bekehrt in Lausanne an ihrer Statt – also war sie ja schon bekehrt durch Peterlein, also war sie ja schon eine Schülerin des Großen, also gehörte sie ihm ja schon lange an, nicht nur mit dem Leibe, auch mit der Seele! Wie einfach war doch alles! Er hatte im Sohne die Mutter geliebt, ganz einfach im Sohne die Mutter, das war doch das Alltäglichste von der Welt und ganz einfach, ganz einfach. Aber Peterlein mußte auch seinen Triumph haben! Natürlich, auch Peterlein! Er sollte ihn haben! Er hatte im Saale doch den Versuch gemacht, sie zu gewinnen, und er hatte geklagt, er habe nicht einen Menschen bekehrt und müsse sterben, nicht einmal seine Mutter bekehrt. Oh, der kleine Missionar! Sterben ohne einen einzigen Gläubigen! Nein, das war doch ganz unmöglich, das wäre doch selbst dann ganz unmöglich gewesen, wenn der Missionar nicht ihr Sohn gewesen wäre, wenn er ein wildfremder Missionar gewesen wäre! Man hätte sich doch einfach zu seiner Lehre bekennen müssen, nur 331 um ihm den Schmerz zu ersparen, ohne einen einzigen Gläubigen zu sterben! Und deshalb also griff sie nach dem neuen Papier und machte den neuen Brief, den Brief an Peterchen, und schrieb darin mit sehr schneller Hand (und die Eile der Hand und die Flucht der Zeilen drückte die ganze Entschlossenheit des Schreibers aus): Sie sei bekehrt! Er habe sie bekehrt! Er, und natürlich ihrer beider Freund, der große Peter auch. Und wenn es ihm das Sterben leichter mache, so zeuge sie ihm von seinem ersten Erfolge, der ach, ach – und da weinte sie wieder – auch sein letzter sein werde . . . Und dann schloß sie diesen Brief mit vielen zärtlichen Worten, Küssen und Tränen. Und fügte auch viele viele Grüße und Liebevolles und Ausdrücke der Bewunderung für die anderen Freunde hinzu.

Nachdem sie dann eine halbe Stunde auf ihrem Arme gelegen hatte, während ihre Schultern leicht erschüttert von Jammer und Elend gebebt hatten, nahm sie (ihr Haar ordnend) den Brief an Peter wieder auf und vollendete ihn nun ernst und gefaßt. Sie ließ die Kringel und Zeichen stehen wie sie standen und fuhr unterhalb der Figuren fort: Würde ihm ein Sohn geboren – er würde natürlich wieder Peter heißen! Der Herr Inquisitor solle sich gefälligst merken, daß diese Rasse von Petern nicht ausstürbe! Wenn er auch einige von ihnen zu vernichten augenblicklich die Macht habe. Das solle er sich merken! Gefälligst! – also werde ihm ein Sohn geboren, so werde sie ihn im Glauben und im Geiste des Vaters (Peter!) und ihres ersten Sohnes (Peter!) erziehen und ihn nach Genf zu Meister Calvin auf die Missionarschule schicken oder zu dem, der dann dem Meister vielleicht nachgefolgt sei. Denn es scheine, daß das Werk 332 der Befreiung des Geistes (sie unterstrich mit Lust die Worte: das Werk der Befreiung des Geistes), wie gemeinhin die großen Werke, langsamer gehen werde, als der Mensch mit seinem Alter messe, und man müsse sich überhaupt an etwas überlebensgroße Geduld gewöhnen. (Die ›überlebensgroße Geduld‹ unterstrich sie wiederum, und sie machte zwei Ausrufungszeichen dahinter.) Und man müsse lernen, daß es nur ein kleines Glück sei, ein Werk zu vollenden, ein großes und das wirkliche aber, es einzuleiten, es auf den Weg zu bringen, stark und unüberwindlich zu machen und auszurüsten für den Weg in Gefahren bei eigener leiblicher Not und Gefahr (natürlich ein Ausrufungszeichen). Und als sie den Satz einmal überlas, kam er ihr garnicht schlecht vor, ganz gut kam er ihr vor, ganz männlich kam er ihr vor, und sie meinte sogar, Peter möchte ihn gesagt haben und könnte ihn gesagt haben, und sie war einen Augenblick ganz stolz darauf, daß sie männliche Sätze wie Peter sagen und schreiben konnte. Und wenn es eine Tochter sein werde, fuhr sie, auch mit Eile und Flucht der Schrift, fort, während ein Feuer der Erfindungsfreude und Gedankenlust auf ihren Wangen brannte, nun, auch dann werde Gott wohl um der Treue der Mutter willen ein Mittel und einen Weg finden, daß auch durch diese das Werk getan werde, vielleicht gar erst durch einen Sohn der Tochter, denn es könne lange dauern in Frankreich. (Das vom ›lange dauern‹ zweimal unterstrichen.) Und es brauche keiner zu fürchten zu spät zu kommen, wie sie selbst vor einem Jahre gefürchtet hätten auf dem Marsche nach Genf und hierher – sie lächelte, lächelte über die Ungeduld der Männer, aller Männer, die immer fürchten, zu spät zu kommen, und immer meinen, alles 333 müsse gerade durch sie geschehen, und wenn es nicht durch sie geschähe, geschähe es überhaupt nicht oder geschähe nur schlecht; und lächelte in Erinnerung an eine wundervolle Stunde in der Nacht, da Peter ihr natürlich die ganze Wanderung am See entlang und nach Genf und alles, was sie in Genf und später mit diesem Schurken, diesem Lumpen, diesem Hundsfott in Lyon (sie machte einen Klecks auf das Papier, und der galt diesem Hundsfott) erlebt hatten, und das ganze große herrliche Erlebnis mit Calvin erzählt hatte. Es brauche keiner zu fürchten zu spät zu kommen, wiederholte sie, und es seien in der Geschichte genug würdige Lose zu vergeben.

Der letzte Satz war ohne Frage schön, er würde Peter Freude machen, er machte ihr selbst Freude, mein Gott ja. Und als sie dann ein Weilchen nachdenken mußte, kam ihr wieder der Inquisitor in den Sinn und kam ihr – sozusagen – in die Hand: Sie zeichnete nun, anstelle des Verlegenheitgekribbels der vorigen Seite, auf diese das Gesicht des Inquisitors, sie machte eine Skizze, eine Fratze vom Inquisitor: Das Auge stechend (sie machte den Augapfel spitz), die Nase lang, sehr lang, viel länger, als sie in der Natur war. Und als die Nase fertig war, hängte sie noch schnell einen Beutel daran, wodurch die Nase nicht schöner wurde. Und das Kinn spitz, spitz, ganz spitz, nach außen und aufwärts geschwungen, sodaß es fast als Kleiderhaken hätte dienen können. So! Sie machte einen sehr geraden Hinterkopf, der steil aus dem Genick aufstieg, im Umriß schien der Kopf nach oben sogar ein wenig zugespitzt, einer auf der Öffnung stehenden Spitztüte ähnlich. Man sah dem Kopf sozusagen noch die Enge des Mutterkanals an, durch den er gegangen 334 war. Seine Mutter werde schwer an dem Dickkopf und Ungeheuer geboren haben, dachte Klothilde. Und daß solche Tiere überhaupt von Müttern, von menschlichen Müttern, und nicht von Wölfinnen! oder Tigerinnen!! oder Nashorninnen geboren würden!!! Der Inquisitor werde natürlich, »wenn alles vorbei sein wird«, dachte sie feierlich und in Sammlung, die Briefschaften der Märtyrer an sich nehmen und sie durchstöbern und durchschnüffeln. Nun, dann wird er dieses sein liebliches Konterfei finden und auch die Benennungen finden: Sohn eines Nashorns, eines Schakals. Und wird sich ärgern! Sehr, sehr ärgern! Aber sie würde dann schon aus dem Bereiche des Wolfes und über alle Berge sein . . .

Nachdem nun zwei oder drei Wochen vergangen waren, während deren die Gefangenen wieder miteinander hatten verkehren dürfen, schrieb Martial Alba im Auftrage der anderen dem Inquisitor: Falls Herr Leducq aus dem Urlaub zurückgekommen sei und falls Herr Leducq sich bemühen wolle, sie seien bereit.

Der Inquisitor war wütend. In hellem Zorn ließ er Frau Navières ergreifen und aus Lyon in ihre Heimat abschieben. Aber auch jetzt geschah nicht sein Wille. Sie wurde in Vienne, eine Tagereise südlich von Lyon an der Rhone, von Vertrauensleuten Hans Leyners erwartet und von diesen durch Hochsavoyen auf einem andern Wege als dem über Collonches auf Gebirgspfaden nach Genf gebracht. Und am vierten Tage nachher, als nun jenes geschah, lag sie während der furchtbaren Stunde an Calvins schmaler Brust und hörte den Trost und die Erhebung aus keinem andern Munde als dem des Meisters.

335 Als nun der Tag gekommen war, ein Maitag dieses andern zweiten Jahres, versammelten sich auf dem Flur vor den Zellen der Gefangenen diejenigen, welche die Erlaubnis hatten, Menschen zu töten. Sie versammelten aber mit sich andere Leute, damit dem Akte, Menschen auf eine berechnete und umständliche Weise das Leben zu nehmen, die äußere Würde und das Gesicht des Rechtes nicht fehle. Da stand also der Inquisitor, da stand der Generalvikar, da stand auch ein Vertreter des königlichen Statthalters und standen die minderen zu diesen Ämtern gehörenden Personen. Alle hatten sie feierliche Gesichter, ernst waren sie bis zur Traurigkeit, denn selbst der durch einen anerkannten Urteilsspruch seinen Feind bis in den Tod Verfolgende fühlt auch sein Leben, wenigstens in der Theorie, in Frage gestellt. Man sah sich an, jeder fühlte das Bedürfnis, den andern, und auffällig gar, anzusehen, es hieß immer: Gott sei Dank, mich trifft es ja nicht, und dich trifft es auch nicht!

Auch die deutsche Kolonie war versammelt, der treue Hans Leyner, die guten Brüder Zollikofer, andere Kaufleute, Buchdrucker, Buchhändler. Sie waren feierlich, ja festlich, doch ernst gekleidet. Waren sie nicht erschienen zu einem Feste, ja einem Feste, in seiner Weise, Feste des Geistes? Wobei freilich Leiber sterben mußten. Die jungen Freunde würden ihre Anwesenheit bemerken, würden sehen, daß sie in ihrer schwersten Stunde nicht allein gelassen wurden, würden die Kleidung bemerken und sehen, wie das Ereignis von der Kolonie und also von Genf, und also von der Schweiz, von Deutschland, von der halben Welt verstanden wurde!

Es war ein sehr warmer Mai, ein verfrühter Sommer. Die erzbischöfliche Klerisei war schon in das 336 Sommerhaus des Vikariats, die Villa am Hange des Hügels Fourvière, gezogen, an dessen Fuße Roanne lag, und man konnte von der Villa in das Gefängnis hinabschauen. Da sah Herr Clépier, mit einem Buche in der Hand auf den Balkon tretend (er hielt das Buch, nur den Zeigefinger drin, geschlossen, damit nicht ein Unbefugter etwa von einem höheren Fenster aus oder, wer weiß, mit einem Fernrohr aus der Stadt schauend, gewisse Bilder sehen könne), daß sich da unten im Korridor des Gefängnisses Leute in todernsten feierlichen Haltungen versammelten. Er wußte den Vorgang richtig zu deuten und erinnerte sich der Studenten. »Was,« rief er aus, »die leben auch noch? Ich dachte, sie sind längst hinüber und von Papst Calvin heilig gesprochen!« Und ohne ein Weiteres da unten abzuwarten (allzu spannend war das Buch), ging er zurück in seine luftige Kammer und legte sich wieder auf das noch warme Kanapee, um die unterbrochene Lesung fortzusetzen.

Der Inquisitor! War auch er ernst bis zur Traurigkeit und aus jenem fast metaphysischen Grunde? Ach ja, gewiß, nur stand ihm der Sinn in diesem Augenblicke verdammt nicht nach metaphysischen Gründen. Der Inquisitor! Da war er nun also auf dem Gipfel der Macht, der furchtbaren, der größten irdischen Macht, der Macht, die zu entscheiden hat, ob dieser oder jener der Mitmenschen leben darf oder nicht. Er war ein Herrscher und Sieger! Aber sieht so ein Sieger aus? O Gott! Wohl stand er da in einer weißen Mönchskutte, die Hände hatte er unter das Ordensskapulier und in dessen inneres Stütztäschchen gesteckt, man sah in dem schwarzen Tuche acht Fingernägel scharf sich abzeichnen. Wohl stand er 337 unbeweglich, groß, wie ein geschnitztes Bild da. Wohl war sein Gesicht – oh, Orys Gesicht, das manchmal in den langen Redekämpfen so beweglich, so verschmitzt, so ausdrucksfähig, verwandlungsbereit und geheimhälterisch vielsagend gewesen war –, wohl war es jetzt hart und kalt, die immer dünnen Lippen schienen nur ein Strich, der Mund schien ein mit einem Messer im Gesichte geführter Schnitt zu sein. Das Kinn war spitz, krumm nach oben gerichtet fast wie ein Kleiderhaken, haarige Augenbrauen standen stachlig über glasharten Augen, wie es sich für das Gesicht eines Mannes von historischer Bedeutung ziemt – aber sein Gesicht war fahl, fahl wie ein altes Laken mit gelblichen Stockflecken, käsefarben war sein Gesicht. Ja, er hatte wohl Grund, ein käsefarbenes Gesicht zu haben! Was hätte er im Grunde seines Herzens – man kann es wohl sagen – dafür gegeben, anstelle der jungen Männer, der Knaben, von denen er auch nicht den geringsten sich erobert hatte, zu sein, die gleich aus diesen Türen zum letzten Gange heraustreten würden! Denn das waren die Sieger! Er war viel zu klug es zu übersehen. War nicht soeben der Kardinal davongeschlurft, der Kardinal, der sich selbst und im allerletzten Augenblicke noch eingestellt hatte mit der Frage, ob denn gar keine Möglichkeit sei, den hartnäckigen Sinn der Knaben noch an diesem Tage zu wenden und der Kirche ein Geschehnis zu ersparen, das für diese wohl verderblich werden würde? Nein, es war nicht möglich, es der Kirche zu ersparen, die Gefangenen hatten ja selbst nach Herrn Leducq geschickt. Der Kardinal hatte den Inquisitor noch einmal an seinen oft geäußerten, immer wiederholten Wunsch, ja an seinen Befehl erinnert, den 338 Gefangenen jede Tür in die Freiheit zu öffnen – gegen die eine kleine Bedingung freilich –, er hatte ihm auch seine, des Inquisitors, Worte und Versprechungen ins Gedächtnis zurückgerufen: es werde eine Kleinigkeit sein, bei richtiger Behandlung die Knaben von ihrem falschen Wege abzubringen, bei richtiger Behandlung freilich. Der Kardinal hatte zu wissen gegeben, daß heute noch, daß soeben in der Frühe noch ein Eilbote des Papstes selbst eingetroffen sei mit dem ausdrücklichen, feierlich ausgesprochenen Wunsche Seiner Heiligkeit, von den Verurteilten zu erreichen, Freispruch und Freiheit anzunehmen – gegen die eine kleine Bedingung freilich – und der Kirche ein Geschehnis zu ersparen, das, sich immer wiederholend und furchtbares Drohmittel der Kirche, ihr selbst bedrohlich zu erscheinen begann. Der Vatikan war blutsatt. Fast eine Million Menschen hatten im Laufe von drei Jahrhunderten ihr Leben auf dem Scheiterhaufen gelassen. Hatte man eine Wirkung davon verspürt? Jawohl, aber bei den Anderen! Eine Million Märtyrer hatte die Kirche der Ketzerei verschafft, zur Verfügung gestellt, geschenkt, ja geschenkt! An ihren Märtyrern würde die Ketzerei wachsen wie sie, die Kirche, selbst daran gewachsen war vor einem Jahrtausend, denn jeder Glaube wächst an seinen Märtyrern. Geheimnis, daß der Dunst vergossenen Blutes immer wieder Neue anlockt, die ihr Blut verströmen wollen! Nein, der Vatikan war satt, längst satt der Racheempfindungen und satt der Dummheiten! Er hatte eingesehen, daß man seinen Feinden nicht mit kriminellen, sondern mit diplomatischen Mitteln begegnen müsse. Die Dominikaner hatten sich nicht bewährt – fürwahr, es waren nur Hunde des Herrn, die Ketzer hatten ganz 339 recht, »blutleckende Hunde!« hatte der Kardinal in einem Anfall hilfloser greisenhafter Wut ausgerufen, der Vatikan setzte jetzt seine Hoffnung auf die neuen Streiter des Glaubens, auf die Jesuiten, die diplomatische und geistige Mittel anzuwenden versprachen. Auch daß die Hinrichtung vom König gewollt und vom König betrieben wurde, war dem Vatikan im höchsten Grade zuwider, es war Zeit für die Kirche, auch der Macht eines Königs wieder einmal entgegenzutreten. Welch ein Ansehenszuwachs der Kirche, wenn des Königs böse Absicht vereitelt wurde! Also mußte den Verurteilten das Leben erhalten bleiben! Der Kardinal hatte mit seinem dünnen Stimmchen gekreischt – aber Ory hatte doch seine Würde nicht verloren. Er verschmähte es sogar, den Kardinal daran zu erinnern, daß ja auch er nach dem Mißerfolg im Prozesse auf Ausführung des Gerichtsspruches gedrängt und sogar ein von den Bernern zugunsten der Verurteilten ihm abgewonnenes Wort gebrochen habe; daß ihm der rechte Verstand auch erst später und über den Vatikan gekommen sei; daß man immer klüger sei, wenn man vom Rathaus komme, als wenn man aufs Rathaus gehe! Nein, davon hatte Ory nicht gesprochen. Er hatte nur Seiner Eminenz empfohlen, es nun doch selbst mit diesen Knaben zu versuchen, vielleicht würden sie einem Kardinalspurpur mehr Respekt und Gehorsam erzeigen als einer Mönchskutte. Aber da hatte Seine Eminenz den schlurfenden Rückzug angetreten, er selbst sah ja wirklich keine Möglichkeit mehr, nachdem die Gefangenen nach Leducq geschickt hatten! Und so war er davongeschlurft. Sein völlig kraftloser Tritt ließ es erraten: Dieser Mißerfolg in seiner Diözese würde ihm den Rest geben, und ein paar Tage 340 später, nachdem man die Asche der Gerichteten in einem Loche im Ungeweihten ausgeschüttet habe, würde man auch Seine Eminenz zu Grabe tragen. Schade um Seine Eminenz!

Buatier, der Dummkopf, aber stand da, hämisch lächelnd. Da siehst du, was du erreicht hast, Dickkopf! Spitzkopf! Tütenkopf! Und du wirst es schon erfahren: diese Prozedur wird deine letzte sein, Prahlhans! Du wirst nicht mehr auf einem weißen Pferde in eine Stadt einreiten und den Konsul der städtischen und den Generalvikar der geistlichen Behörde zu deinem Steigbügel kommandieren, sondern ein Kloster wird sich vor dir öffnen und dich in seinem Schweigen begraben . . .

Nein! Schluß! Alles war zu Ende! Das Spiel war verloren, unbedingt, unwiederholbar! Jetzt erst, in dieser Stunde, in diesem Flure – Ory sah es ein. Er setzte auch plötzlich – ganz plötzlich, als längst unterminiertes, aber bis zum letzten Augenblicke sich haltendes und nun durch ein Nichts erschüttertes Gebäude stürzen unsere Berechnungen ein – keine Hoffnung mehr auf jene schwächsten der Knaben und keine mehr auf jenes stärkste Schreckmittel. Machen wir also ein Ende! Das Schicksal soll seinen Lauf nehmen, seins und das dieser Knaben da, die Schicksale waren nun schon miteinander verkettet. Er winkte den Schließern. Fünf derer standen bereit, in gereinigten und gebürsteten Monturen, für jeden der Verurteilten einer, Diener, Adjutant für das Letzte. Gut! Sie bewegten sich leise und mit Andacht sozusagen. Sie öffneten mit steifer Ehrfurcht die Zellen.

Aller Versammelten Blicke richteten sich auf die Türen.

 

Ende

 


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