Josef Ponten
Die Studenten von Lyon
Josef Ponten

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Einen Erfolg aber hatte auch dieser menschlich tief rührende, trotz seiner Verzweiflung ehrenvolle Brief nicht. Wohl kamen die Schweizer Pfarrer, vom Pfarrer Gwalther in Zürich, an welchen Hans Leyner den Brief mit Eilpost sandte, berufen, in Eilritten und Eilfahrten in Zürich zusammen und ordneten sogleich eine Gesandtschaft an den französischen Gesandten in Solothurn ab. Herr de Bassefontaine empfing Bullinger und Gwalther, er zeigte sich freundlich und hätte gern alles für die 226 Befreiung der Gefangenen getan. Aber er konnte als ein königlicher Beamter auch nichts anderes tun, als ein Gesuch an den König senden, so wenig Hoffnung er selbst habe, wie er freimütig äußerte, und obgleich er sich selbst, wie er auch betonte, dadurch beim Könige vielleicht in Ungnade bringen werde. Trotzdem, er gab ein Gesuch nach Paris! Die unkluge Drohung gegen den Kardinal und gegen den Statthalter in Lyon auszusprechen und dadurch den König zu übergehen aber weigerte er sich entschieden. Das könne gerechterweise niemand von ihm verlangen, vernünftigerweise, denn Kardinal und Statthalter würden sich über ihn beim Könige beschweren, und er würde wegen seiner Eigenmächtigkeit das Ohr des Königs vollends verlieren, falls er dieses nach Empfang des Gesuches überhaupt noch habe.

Der König erhielt das Gesuch. Er war aber zu fest entschlossen, in seinem Reiche mit der zu lange schon geduldeten unseligen Verwirrung, die das eben zum Staatsgrundsatz erhobene Streben nach Einheit in Frankreich in den Anfängen zu vernichten drohte, ein für allemal und endgültig aufzuräumen, als daß er seinem Gesandten keine ablehnende, aber wegen seiner Freundschaft zu diesem höfliche und in seiner persönlich beliebten Art gar scherzhafte Antwort geschickt hätte. Die Schweizer möchten weiter gute Käse machen, aber keine schlechten Briefe schreiben und Frankreich seinen eigenen Sorgen überlassen, ließ er schreiben.

Als einige Tage nach Abgang des hilfeschreienden Briefes Peter am Abend allein in seiner Zelle war, trat Ory herein. Peter stand am Fenster und hatte eine Taube auf der Hand. »Wie heißt denn diese?« frug Ory 227 freundlich (er zeigte, daß er wohl im Gedächtnis behalten habe, was Peter ihm bei seinem ersten Besuche gesagt hatte). – »Klothilde.« – »Sie hat ihr Fest am 3. Juni des kirchlichen Kalenders,« sagte Ory, »war die Gemahlin Klodwigs und war schon vor diesem getauft. Also eine wichtige Persönlichkeit unserer Geschichte. Ist es erlaubt, sich zu setzen?«

Das erschien Peter unter diesen Umständen als zu große und als unangebrachte Höflichkeit, er warf die Taube zum Fenster hinaus und sagte: »Ihr seid der Hausherr.«

»Gezwungenermaßen,« lächelte Ory ein wenig gekränkt. – »Wenn man von Zwang sprechen soll –! Jedenfalls bin ich ein Gast, der gern sobald als möglich darauf verzichten wollte, eure Gastfreundschaft zu gebrauchen!«

»Kommen wir zum Ernst und zur Sache,« sagte Ory. »Auch ich wünsche nichts mehr, als unseren Gästen, wie ihr beliebt zu sagen, die Straße wiederzugeben.« – »Was hindert euch?«

Nun, das war eine den Umständen nach unangebrachte Äußerung Peters, und sie empfanden es beide. Indem also die beiderseitige Schuld des Unmutes durch beiderseitige Ungeschicklichkeit getilgt war, war die Gemütslage für eine würdige und vielleicht fruchtbare Unterhaltung gegeben. »Im Ernst,« sagte Ory, »sollten wir beide nicht zu einem beide Teile befriedigenden Ende kommen? Ihr seid doch nicht irgendein starrer Fanatiker, ebensowenig wie ich einer bin. Sollte es nicht auf unserer Stufe eine Möglichkeit in Würde und Freiheit geben, beiderseitige gerechte Ansprüche anzuerkennen und zwischen den beiden festen Punkten, von denen niemand abgehen kann, eine mittlere Linie zu ziehen, zwischen zwei 228 Felsen sozusagen einen Kurs zu entdecken, den wir beide schiffen können?«

»Gerechte Ansprüche? Ihr erkennt gerechte Ansprüche auf meiner, auf unserer Seite an?« frug voll Staunen Peter.

»Nun ja,« wand sich ein wenig mit verbindlichem Lächeln der Inquisitor vor der harten Deutlichkeit dieser Frage, »wenn wir uns über den Ausdruck ›gerechte Ansprüche‹ einigen können.« – »Wir werden uns nie darüber einigen,« sagte entschlossen und finster Peter, »weil ihr nur euren Anspruch, nie den meinen anerkennen werdet.«

»Versuchen wir's,« sagte Ory, unermüdet und unerschütterlich, »und versuchen wir diesen Stein des Anspruches und Anstoßes, diesen anstößigen Stein des Anspruches (lächelte er) aus dem Wege zu räumen. Auf daß unser wegsuchender Fuß nicht mehr daran anstoße,« sagte er, mit Behagen auf seinem rhetorischen Bilde ausruhend. »Was sind denn schließlich diese Ansprüche? Gut, die Anerkennung eurer Thesen auf der einen, gut, die Anerkennung der meinen auf der andern Seite. Aber sind denn diese Thesen nicht irgendwie biegsam, nicht beweglich, biegsam und beweglich wie das Leben ist? Sechs und zwei ist doch dasselbe wie fünf und drei, nicht wahr? Gäbe es Leben, wenn nicht im Biegsamen und Beweglichen? Im Starren gibt es kein Leben, das Leben ist Anpassung, Aneignung, Angleichung – Assimilation, sagt die Wissenschaft und meint damit die Angleichung, die verzehrende Angleichung und den konstituierenden Aufbau in einem neuen Organismus. Das Leben ist ein Fließendes. Solange es nur Starres auf der Welt gab, gab es kein Leben.«

229 Peter hörte mit höchstem Staunen zu. Er sah den Inquisitor an mit großer stummer Frage, ob er alles so zu nehmen habe wie es gegeben sei. Dann sagte er: »Ihr seid ein Lutheraner, Herr Inquisitor!«

»Oh! Oh!« rief dieser süß und bitter, annehmend und ablehnend zugleich, »das geht zu weit! Aber ihr seid, wenn ihr meine Gedanken anzunehmen geruht, kein Lutheraner mehr. Darauf gründet sich gerade meine Hoffnung, daß wir uns jenseits beider Lehren und jenseits ihres etwaigen Zeitlichen im Unvergänglichen, also im Ewigen finden werden. Denn seht, nehmt ihr meine Gedanken über das Leben an, so könnt ihr nicht mehr Lutheraner sein. Ist das Lutherische nicht auch starr? Haltet ihr nicht an gewissen Thesen? Habt ihr etwa alle Positionen des Festlands des Glaubens aufgegeben und treibt auf dem freien Meere des religiösen Gefühls? Seht, Herr Escrivain, ich habe das Luthertum wohl studiert, aber das, was mich zuletzt und überhaupt im Grunde von ihm abhält, ist – soll ich's sagen dürfen? – ist, daß es nicht weit genug geht. Ist, daß es doch eigentlich nichts anderes als ein verbesserter oder sagen wir denn in einigen Positionen gelöster Katholizismus ist. Z. B.: sieben Sakramente hat die Kirche. Was macht es nun im Grunde für einen Unterschied, ob das Luthertum noch zwei oder andere Sekten noch drei oder vier und wieder andere noch eins haben? Sagt das etwas gegen die Idee aus? Die Kirche könnte siebenundsiebzig und das Luthertum eins haben– ist das nicht im Grunde nur ein Maß- und Zahlenunterschied? Nein, eine neue Religion, denke ich mir, müßte auf ganz etwas Anderes, ganz etwas Neues, etwas unerhört Neues gegründet werden. Z. B. auf das Gefühl. Und selbst dann wäre 230 es nicht etwas unerhört Neues, das haben die Mystiker schon versucht, die Italiener und namentlich die Deutschen. Und schließlich, ihr wißt es auch, vertrug es sich ganz wohl mit der Kirche und hat in ihrem Schoße geblüht.«

»So? Hat in ihrem Schoße geblüht? Und hat nicht die Kirche die Mystiker nur so lange geduldet, als sie sich nicht auffällig machten, hat sie sie nicht auch verfolgt, und hätte sie nicht schließlich dem Ordensobern Meister Eckehart in Köln den Prozeß gemacht, wenn er nicht rechtzeitig gestorben wäre?«

»Nicht alles zu wörtlich nehmen,« rief Ory, auf seinem Sitze unruhig hin- und herrückend, »und auf das ›auffällig machen‹, darauf kommen wir noch zurück. Tut mir zuerst einmal die Ehre an und folgt meinen Darlegungen, wenn sie euch unterhalten. Tut mir die Ehre an und denkt einmal mit mir, unverbindlich und zum Spaße meinetwegen, aus, wohin nun der Weg der sogenannten Reform weitergeht. Laßt mich hier schnell eine Zwischenbemerkung machen. Reform! Seht, an diesem Worte stoße ich mich besonders. Erstens, wer leugnet, daß es nicht überall und von Zeit zu Zeit, auch in der Kirche, nötig sei, an Reformen zu denken? Die Kirche nimmt sie ja von Zeit zu Zeit selbst vor, denkt an den siebten Gregor. Zweitens, Reform, das schließt doch ein, daß es nur eine Arbeit an der Form, also eine Arbeit zweiter Ordnung, mindern Grades ist. Ich bitte, mich wenn möglich ausreden zu lassen,« sagte er mit langgestreckter Hand, als Peter heftig widersprechen wollte, »ich bitte, einfach der Technik des Denk- und Diskussionsprozesses wegen vorläufig einmal unverbindlich und dialektisch zuzugeben, daß reformatio etwas Anderes, technisch, 231 dialektisch, logisch nur Minderes, sagen wir denn im Sinne der Zeitfolge, Jüngeres ist gegenüber – wie soll ich mich ausdrücken? – sagen wir: conformatio. Conformatio, das dürfte vielleicht heißen: neue Form. Ich meine, unerhört neue eigene Form von unerhört neuem und eigenem Grunde aus. So wie es einmal das Christentum war, was ja auch ihr nicht, was Luther nicht, was euer Meister Calvin nicht bestreitet. Also das einmal zugegeben. Da ist also nun diese Reform – ich spreche die Worte, die Namen ohne alle Gefühlsbetonung, ohne Gefühlswertung, rein sachlich aus: worin besteht sie? Nicht darin, neue Form anstelle der alten oder auch nur neben der alten zu bilden, das wäre – seht, in meinem Sinne – conformatio, sondern sie führt vorhandene, angeblich – logisch gesprochen! – verderbte Formen auf die reine Grundform, auf die Urform zurück, sie tut das, indem sie Nebenformen, in ihrem Sinne akzessorische spätere Formen, verwirft. Sie vereinfacht, nicht wahr?«

Das mußte Peter zugeben.

»Wohl. Ich danke euch. Also, sie lehnt gewisse Formen, akzessorische Formen ab, behält aber die Grundform bei. Doch wie lange? Die akzessorische Form gehört auch zur Sache wie die Farbe des Steins, die ja an sich akzessorisch, nämlich wahlfrei ist, auch zur Sache, zum Steine gehört. Nur in unserem Gehirn, also als logische Form, gibt es einen farblosen Stein, in der Wirklichkeit, als praktische Form gibt es ihn nicht. Auch darauf kommen wir noch zurück, wenn ihr so gütig sein wollt, es abzuwarten. Wir sehen hier also einen Vorgang, der ein Lösen der praktischen Form, ein Entformen ist – wo wird dieses Entformen haltmachen, nachdem einmal das Band der praktischen Form gelöst ist? Liegt es nicht 232 im Gesetz allen Geschehens, daß es, wenn nun einmal das Werden, nicht das Sein zum Prinzip erklärt wird, daß es dann zuletzt gar kein Sein, nur noch Werden gibt? Ich denke, das müßt ihr zugeben – – ihr tut es durch Stillschweigen. Nunwohl, laßt mich jetzt euch zeichnen, wohin es mit der Reform geht. Es ist keine Frage, daß Luther nichts anderes als Reform gewollt hat, daß auch Calvin und Zwingli nichts anderes wollen, und wir könnten uns damit abfinden. Aber nicht bei Luther und Zwingli und Calvin, bei diesen ehrenwerten Männern liegt nicht die wahre Gefahr, die wahre Gefahr liegt darin, daß sie ein Prinzip in Bewegung gebracht haben, daß sie das Prinzip der Bewegung selbst, ohne es zu wollen und die Folgen überdacht zu haben, aufgestellt haben. Denkt doch daran, daß Luther, daß Calvin selbst gelegentlich sich widersetzt, gelegentlich gebremst, gelegentlich selbst ihren allzu entschlossenen Anhängern gegenüber Widerstand geleistet haben, daß sie selbst als reaktionär erscheinen mußten. Denn jeder Revolutionär erscheint, die Revolution zugegeben, dem Nachfolger als reaktionär. Gestattet nun, daß ich, ohne Namen zu nennen und ohne in der jungen Gegenwart zu bleiben, voranschreite und einen Schritt in die Zukunft hinauswage. Lösen wir fünf von sieben Sakramenten auf, warum sollen dann die zwei verbleibenden unauflöslich, heilig sein? Laßt euch sagen: in Zukunft, in naher Zukunft werden die zwei, wird das letzte Sakrament geleugnet werden, ebenso wird es mit den Artikeln des Glaubens gehen, es gibt kein Halten mehr. Es geht wie mit einem Gewebe, das an einem Knüpfpunkte aufgelöst wurde – es entfädelt sich von selbst, es fällt auseinander. Nicht die Kirche allein ist bedroht, das 233 Christentum ist bedroht! Ihr kämpft gegen die Kirche, aber kämpft für das Christentum– wenn ich nun selbst den Kampf für die Kirche als einen Kampf zweiter Ordnung bezeichne, wie ja ohne Frage die Kirche das zweite im Verhältnis zum Christentum ist, sind wir dann nicht Kampfgenossen? Kampfgenossen für dieselbe heilige Sache? Denken wir einmal ein bißchen entschlossen und kühn in die Zukunft hinaus: In wenigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten ist alle christliche Form gelöst, eine freie Philosophie greift an ihrer Stelle Platz, ihr könnt es nicht hindern, ihr müßt sogar zugeben, daß es zu recht geschieht, denn wer den Anfang bejaht, muß auch den Fortgang und das Ende bejahen. Das Christentum wird in eine freie Philosophie münden, und diese natürlich, da auch sie vom dogmatischen Urgrunde zu immer freieren voraussetzungsloseren Ideen fortschreitet, in Skeptizismus. Man wird bald soweit kommen, die Zuständigkeit des Philosophierenden selbst in Frage zu stellen, ich möchte wünschen, wir erlebten es. Aber es wird wohl für unser Leben zu langsam gehen, doch sehe ich voraus, daß es so kommen wird, weil es logisch und biologisch ist, daß es so kommt. Man wird schließlich die Hand an die letzte Form legen, das eigene untersuchende Ich leugnen und fragen: Ist denn dieses Ich überhaupt und kann denn dieses Ich überhaupt etwas erkennen? – Wird es nicht so sein? Denke ich etwa nicht folgerichtig? Dann sagt es unumwunden und offen.«

Peter hörte betroffen, mit offenem Munde, zu.

»Ihr sagt nichts und gebt es vielleicht zu. Ihr tätet recht daran. Es würde zeigen, daß ihr ein klarer und scharfer Denker seid. Wahrlich, das Ende der Kirche hat geschlagen, aber nicht allein der alten, auch der neuen Kirche! 234 Der Kirchen überhaupt! Das Prinzip der Kirche, das Prinzip der Form um ihrer selbst willen, das ist es in der merkwürdigen Logik des Lebens, der Biologik, ist aufgegeben. Ihr kämpft für die neue Kirche, schön! Ich kämpfe für die alte Kirche, schön! Aber beides wäre unsinnig, wenn wir nicht für die Kirche, für die kirchliche Sache, für die ewige unvergängliche Kirche, wenn wir für eine zeitliche, für eine vergängliche, für eine Kirche von heute oder morgen und nicht mehr von übermorgen kämpften. Das tun wir nämlich beide. Einfach weil wir vernünftige Menschen sind. Nun, zum Wesen der Kirche gehört also, wie ich klar und einwandfrei zu beweisen glaube, ihre Unveränderlichkeit im Wesentlichen, weil das Unveränderliche ihr Wesentliches ist. Es ist der Dienst der Form, der, wie ich dargetan habe, der Dienst der Sache ist. Seht, dafür trage ich ein besonderes Gewand, ein gewisses Kleid, das eine Form, eine in den Moden unveränderliche Form, eine Form in der Form ist, eine nicht wesentliche natürlich, und darum brauchen nicht alle es zu tragen, aber es ist Dienst an und in der Form. Die anderen sagen: sie tun Dienst am Geiste. Aber ich habe bewiesen, daß der Geist Form und die Form Geist ist. Also man streitet sich um Worte. Doch wir in der alten Form streiten außerdem um das seinem Wesen nach Unvergängliche, weil als Form an sich dem Gesetze der Zeiten Enthobene. Seht, ich habe nie den Ausdruck ›Ketzer‹ in den Mund genommen. Das Wort ›Ketzer‹ ist dumm. Es gebrauchen's die Dummen. Aber auch die Sache ›Ketzer‹ ist dumm. Es hangen ihr nur die nicht klar Denkenden an. Die, welche sich die Folgen nicht klargemacht haben. Die Folge, das ist die Auslieferung an das Gesetz des Wandels, der 235 Veränderlichkeit, der Wandlung. Ihr wollt ein Protestant sein? Laßt mich euch sagen, ich verstehe nicht, wie man Protestant sein kann. Ich verstehe aber wohl, wie man Heide sein kann! Katholik und Heide, das ist ein Gegensatz, Katholik und Protestant ist keiner. Wofür wollt ihr eigentlich sterben? Für eine Form, die im nächsten Augenblicke schon diese Form nicht mehr ist? Erst in Jahren werdet ihr es freilich erkennen, denn langsam geschieht Wachstum und Zerfall. Für eine neue Kirche, eine neue Lehre, die nach wenigen Jahren, Jahrzehnten meinetwegen schon wieder eine alte, eine – von euren Nachfolgern aus – bekämpfenswerte alte ist wie die alte, die ihr, die Vorgänger bekämpft? Und für etwas wollt ihr sterben – das ist das Lächerliche an der Sache –, das, euer Prinzip zugegeben, ganz von selbst kommt? Revolutionäre seid ihr und gefallt euch darin, aber ihr werdet den Folgenden Reaktionäre sein und ein Gegenstand des Spottes! Man wird euch nicht wie Heilige und Märtyrer verehren, wie ihr im heimlichen Herzen vielleicht glaubt, sondern euch als Narren verlachen! Weil ihr das Lächerlichste, das Närrischste, was zu tun möglich ist, getan habt: das Überflüssige. Und das Überflüssige mit dem höchsten Einsatz bezahlt habt, mit eurem Leben! Das ist die vollkommene Narrheit, der Widersinn an sich. Bitte also, junger Held, wofür wollt ihr sterben – –?? Könnt ihr es mir vielleicht sagen, ich weiß es nicht . . .«

»Ihr seid furchtbar!« rief Peter aufspringend aus. »Ihr höhlt mich aus! Ihr höhlt mich von hinten her aus!«

»Ich will euch kein Leid tun. Ich will euch retten,« sagte der Inquisitor, auch aufgestanden und Peter die 236 Hand schwer und stark auf die Schulter legend, ernst und ohne allen Ton der Ironie, der seine letzte Rede so verletzend, so tödlich gemacht hatte. »Ich lasse euch jetzt allein. Ihr bedürft des Alleinseins. Ihr müßt nachdenken. Ihr habt eine Nacht vor euch. Nützt sie wohl. Denkt nach. Morgen beizeiten komme ich wieder. Dann tragt mir eure Gegengründe vor, unumwunden, unbekümmert. Frei sollen sie euch vom Herzen und Munde kommen. Wir streiten wie zwei Denker und streiten wie zwei gute alte Kameraden, die über dies und jenes anderer Meinung sind und die, ich zweifle nicht daran, im Grunde dasselbe denken und wollen. Und seid tief überzeugt,« setzte er mit der letzten Wärme, deren er fähig war, hinzu, »daß ich euer Freund bin. Daß ich euch retten will. Daß ich euer junges und unschuldiges Blut den Händen der Toren entreißen will, die danach gierig sind, es zu vergießen. Denkt die Nacht über nach, und vor allem: denkt an die Zukunft und ob sie, völlig frei und formlos und aufgelöst, euer Opfer, das ihr so männlich zu bringen gedenkt, für nötig gebracht zu haben erklären wird. Und vergeßt nicht, daß ich euer Freund bin . . .«

»Ihr seid der Satan! Der Satan!« schrie Peter und warf sich zerbrochen auf die Pritsche. Und vernichtet lag er da.

Der Inquisitor ging leise hinaus.

 

Oh, welch eine Nacht! Nein, sagt nicht, er durfte nicht. Es wäre ein Verrat, es wäre Schmach gewesen. Ihr in der süßen Freiheit habt billig reden. Gefangenschaft wird erst hinter den Mauern verstanden. Der Gefangene hat die Mauer, die Grenze seiner Freiheit, mit seinen Augen bestarrt, mit seinen Händen behämmert, sie 237 beschworen und verflucht und im Wahne auch verlacht – plötzlich öffnet sich ihm ein Spalt ins Blaue, eine Gasse in die Freiheit, eine Schlucht ins Leben. Ob er sich in der Gasse auch ein wenig die Haut zerschindet und die Kleider zerreißt und ob der Schleichweg nicht ganz würdig und ehrenvoll ist: Wird er die Gasse nicht gehen? In die Schlucht nicht tauchen? Unter allen Umständen gehen? Sei es wie es sei hineintauchen?

Beizeiten am Morgen nach dieser furchtbaren Nacht, von der er nur die letzten zwei Stunden, ganz plötzlich bewußtlos geworden, wie ein Holz, wie ein Stein geschlafen hatte, begab sich Peter zu den Freunden. Er setzte den aufs höchste Erstaunten die Gedanken auseinander, die der Inquisitor entwickelt hatte, dies und das wörtlich genau, denn es hatte sich in seine Seele wie in eine Wachstafel eingegraben, und es schien wohl auf Strecken, er gäbe seine eigenen Gedanken von sich. Er war ja auch selbst im Zweifel, er erwog hin und her, prüfte und verglich, nahm an und verwarf wie eine Seele in Ungewißheit tut. Oh ja, die Gedanken fielen bei den Freunden nicht auf Stein, sie faßten Wurzel und schlugen aus, sie bestockten und begrünten sich, es schien, als möchte die junge Pflanzung bei dem einen oder andern schnell Früchte tragen, verführerische Früchte vom Baume der Erkenntnis. War ein Verrat die Bedingung der Freiheit? Nein! Was war die Bedingung? Ein weitsichtiges Denken! Ein Gelöstsein vom Zeitlichen, Geschichtlichen und – wie hatte der Mönch gesagt? – vom Zufälligen! Vom Vorübergehenden! Vom Geschichtlich-Wandelbaren! So denken, fürwahr, es hieß denken wie ein Unbeteiligter denkt, wie ein Zuschauer denkt und nicht wie der Spieler, es hieß nur, den 238 geistigen Ort wechseln und von der Bühne ins Publikum treten, ins Publikum, das mehr weiß als die Spieler auf der Szene. Von der Szene ins Publikum treten, von den Handelnden hinüber zu den Schauenden, das war alles! Der geistige Ort war zu wechseln, nicht zwischen rechts und links, zwischen gut und böse, zwischen wahr und falsch, oh nein, in gerader Linie, in der Linie eines schnurgeraden Weges waren zwei Orte zu wechseln, ein Überspringen vieler Stationen eines langen Lebens- und Leidensweges der Menschen war nötig, ein Sichhinübertragenlassen auf den Schwingen des Geistes, ein Flug über die Zeiten! War das ein Widerruf? So wenig wie der Sommer den Frühling und der Herbst den Sommer und der Winter sie alle widerruft und doch jeder ein anderer ist als sie alle. Ein Vorwegnehmen der Zukunft war es, ein Kürzen der kommenden Zeiten durch die Fantasie!

So sprachen Gedanken, Erwägungen, Erklärungen in lebhafter Wechselrede der Fünf sich aus, namentlich Bernard schien besessen von der Aussicht auf Freiheit, der Möglichkeit der Rettung. Peter, erzählend und relata referens, behielt sich seine persönliche Entscheidung fürs erste ausdrücklich vor, schien wohl im Ganzen und endlich ablehnen zu wollen (oder geschah es nur, um den anderen seine Gründe nicht aufzudrängen, sie selbst ihre Meinung finden zu lassen?) Nahe zu Peter hielt Peterlein. Für ihn, den bisher in erster Linie mit den realen Dingen der Philologie beschäftigt Gewesenen und noch so Jungen mochten solche Gedanken auch ungewohnt und schwer sein. Bernard malte Freiheit und Rettung in glühenden Farben, er schien für Augenblicke wie trunken, und die Hoffnung machte ihn rasen. Wäre der Inquisitor 239 jetzt hereingetreten, dieses eine Opfer wäre ihm sofort zu-, der Jüngling wäre ihm vor Dankbarkeit glühend vielleicht um den Hals gefallen. Karl war gewiß ein Bundesgenosse Bernards, aber er hielt an sich mit seinen Gründen, wenn seine Wünsche auch offenkundig waren und der Entschluß, sie auf eine nur noch eben zulässige, noch irgendwie anständige Weise zu erkaufen. Er hörte eifrig an, was für und wider vorgebracht wurde, mit jenem heißen Blicke eines Menschen, der wünscht, es möchten recht viele Gründe für sein Begehren genannt werden und dieses schließlich siegen.

Martial hielt die Mitte. Martial, der Nüchternste, Sachlichste, Kühlste (seine Eltern waren Bauern) und in gewisser Weise Klügste, der Weltlichste jedenfalls und die Realitäten nicht Verachtende. Wäre er nicht in Lausanne zufällig in die Gesellschaft der Freunde gekommen, die er liebgewann, und hätten ihn nicht die glühenden Reden des kaum zwanzigjährigen Pierre Viret, des jungen Pfarrers und Akademielehrers, für die Sache der geistigen Freiheit entzündet und hätte nicht, was vielleicht das Wichtigste war, sein Stipendium ihn, wie Bauernsöhne oft, verpflichtet, gerade die Theologie zu studieren (der gute Landpfarrer, der das Stipendium gab, war so unwissend, daß er Lausanne für eine katholische Universität hielt), wer weiß, er hätte vielleicht Jura studiert und wäre nachher ein brauchbarer Beamter des Königs geworden. Martial also hörte jetzt nach rechts und hörte nach links, seine Augen hingen gleich aufmerksam an Bernard, in den der Geist des Inquisitors gefahren schien, und an Peter, der nun die Rolle der Gegenpartei wohl oder übel spielen mußte, aus dem, kurz gesagt, Calvin sprach. Inquisitor oder Calvin, Form oder Seele, 240 Begnügen oder Ungeduld, Sicherung und Stützung eines leidlich Bestehenden durch Wissen und Dialektik oder rücksichtslos kühne Unbekümmertheit im Begehren nach vermutlich besserer und reinerer Zukunft und schlafwandlerische Sicherheit im Regieren aller dazu nötigen und geeigneten Taten. »Wo ist Wahrheit? Wer weiß Rat?« rief gequält Peterlein, der ach so gern noch gelebt und griechische Dichter übersetzt hätte. – »Wessen Haus nicht brennt, der gibt Rat umsonst; aber wenn das Haus brennt, braucht man nicht Rat sondern Wasser.« Doch das war eine mutlose Weisheit Martials, und: »Schwätz' doch nicht!« war Bernards zornige Antwort. – »Besser Unsinn geschwätzt und richtig gedacht als falsch gedacht und richtig geschwätzt, mein lieber Bernard, denn bei dir heißt es ja doch nur: Sagt eure Meinung, aber die meine ist richtig – ich will zu Mama!«

Bernard schwieg betroffen. Und alle schwiegen.

»Jetzt wollen wir eine andere Stimme hören,« unterbrach Peter den würdelosen Streit. »Im Gang übergab mir der Wärter einen Brief des Kaufmanns. Er ist von unserem Meister. Hört: ›Meine Brüder. Wir sind in größerer Sorge und Traurigkeit als je zuvor, denn es ist uns zu Ohren gekommen, daß der letzte für Euch seitens der Gesamtheit der Schweizer Pfarrer beim französischen Gesandten getane Schritt auch ergebnislos gewesen ist. Während der Bote, der von Solothurn hier durchkommt, wartet, will ich in aller Eile, damit ihr die schmerzliche Kunde zugleich mit meinem Troste bekommt, einen Brief für Euch aufsetzen und ihm mitgeben. Gott hat Euch so viel geschenkt, daß den Seinen allen noch etwas davon zugute kommt. So erwarten wir das Ende, das ihm gefällt, bitten ihn aber stets, Euch 241 seine starke Hand zu reichen und Euch nicht fallen zu lassen. Ich bin ganz sicher, daß nichts die Kraft ins Wanken bringt, die er in Euch gelegt hat. Schon seit langem habt Ihr den letzten Kampf voraus bedacht, den Ihr aushalten müßt, wenn es sein Beschluß ist, es bis dahin kommen zu lassen. Ja, Ihr habt bisher so gekämpft, daß Euch die lange Erfahrung gestählt hat, auch das Übrige noch zu bestehen‹ . . . Wollt ihr noch mehr hören?« frug Peter abbrechend, Tränen in den Augen.

Als die Freunde wie angenagelt still dasaßen und wie Tote schwiegen, fuhr er fort: »›Freilich kann's nicht anders sein, als daß auch Ihr einige Schwäche spürt. Aber verlaßt Euch darauf, der, in dessen Dienst Ihr steht und in dessen Auftrag Ihr handelt, wird seinen Geist so in Euch herrschen lassen, daß seine Gnade über alle Versuchungen weghilft . . .‹«

»Genug,« rief Peterlein, »ich schwöre zum Meister!«

Peter klopfte dem Kleinen die Schulter und sagte im Aufstehen seufzend: »Ja, das ist nun eine andere Sprache als die Kunstrede unseres Versuchers. Was sagt ihr nun? Gibt es zwischen den zwei Sprachen ein Verstehen? Zwischen den zwei Männern eine Brücke? Was sagt ihr nun, ihr anderen außer Peterlein?«

Sie sagten nichts. Sie standen im Banne dieses schlichten schweren Briefes. Sie starrten vor sich hin. Ja, da gab es nun wohl keine Brücke zwischen solchen steilen Ufern. Da gab es wohl nur Hier oder Dort, Hüben oder Drüben, kein Und, nur ein Oder.

»Die uns gestellte Frage,« nahm Peter in einer gewissen Eile auf (denn man konnte nicht wissen, ob nicht der Inquisitor kommen werde, und im Wunsche zu einem Beschlusse zu gelangen, bevor der Inquisitor etwa käme) 242 »die Frage ist die: Darf man die Zukunft im Geiste vorwegnehmen? Braucht man seine Zeit nicht zu leben?«

Ja, das war die Frage, keine andere und nichts anderes, sie fühlten es alle.

Die Tür klinkte auf, der Inquisitor trat herein.

Es war wohl oder übel für Matthieu Ory der Zeitpunkt gekommen einzugreifen, kein so günstiger wie vorher, als Bernard so laut aufbegehrt hatte und so leicht zu gewinnen gewesen wäre, der freiwillig verpaßte (er hatte es über sich gebracht, ihn vorübergehen zu lassen, denn er kannte bereits Bernard als den geistig Mindestbedeutenden, und es hätte sein können, daß ihm der volle Sieg gerade dadurch verlorenging, daß er einen Teilsieg vorzeitig davontragen wollte). Doch auch der Augenblick nach den Worten Peters war nicht ungünstig. Er kam also herein, er schien wie aus weiter Ferne zu kommen.

Unwillkürlich fuhr Bernard von seinem Sitze auf. War in seiner Seele der Ruf: Der oder niemand! Jetzt oder nie! –? Oder war es nur der unwillkürliche Ausdruck der Achtung vor dem Mächtigen, dem Verwalter einer Gewalt, dem Herrn über Leben und Tod? Auch die anderen erhoben sich, langsam, einer nach dem andern, zuletzt Martial, und das langsame Anziehen seiner langen Beine und das gemächliche Hochrichten seines großen Körpers hieß: Wenn es denn sein muß! Wo's Mode ist, wischt man sich den Hintern mit einer Distel!

Angst, hellbrennende Angst aber rief das plötzliche Erscheinen des Furchtbaren auf dem Gesichte Peterleins hervor. Ach Peterleins, des Knaben, dem das Leben, weil unbekannt, noch so lieb war. Doch da ging in Peterlein im Augenblicke eine merkwürdige Verwandlung vor sich: Einen Blick werfen in dieses Gesicht voll 243 von schlecht verhehlter Zufriedenheit, von Sorglosigkeit und Problemferne, auch von Sattheit und jener leichten feinen ewigen Gekränktheit, wie sie den Geistlichen eigen ist, den Besitzern der Wahrheit, der leider unbegreiflicherweise nicht alle und ohne weiteres zustimmen – Peterlein stellte sich sehr entschieden an des großen Peter Seite, und das hieß für Ory: Wenn du etwa meinst, mich Jungen und Kleinen beschwatzen zu können –! Karl, in dem im ersten Augenblicke das Erscheinen des Gewaltigen eine Stichflamme der Hoffnung und auch schon des Entschlusses entzündet hatte, sodaß er (einen Augenblick lang) ganz besinnunglos gewesen war, Karl wurde durch das Gesicht des Mönches an einen Pfarrer in Avignon erinnert, von dem er in seinem fünften Schuljahre ganz und gar und in jeder Hinsicht unberechtigter- und unverdientermaßen einen Schlag mitten ins Gesicht erhalten hatte – solche Kränkungen gehen einem Menschen oft ein ganzes Leben lang nach und fressen wie ein Wurm an seiner innersten Würde: erscheint der unglückliche Täter des Unrechts wieder oder auch nur ein ihm Ähnlichsehender, da in geheimer Formenstetigkeit die Gesichter von Menschen sich wiederholen, sofort wird im tiefsten Herzen eine Abneigung gegen den Menschen, gegen alles, was er sagen oder tun mag, und sei es das Beste und Vernünftigste, erzeugt. Nur der Hund hat noch in gleicher Weise ein Gedächtnis für das Unrecht. Und das Herz sagt, unbedenklich und unbedingt: Von dorther kann nichts Gutes kommen – – obgleich Ory für seine Ähnlichkeit mit dem Pfarrer von Avignon nichts konnte. Martials Gesicht war wie das eines jungen Bauern, der mit seinem Vater auf einsamer Farm lebend wenig Männer gesehen und Miene und Haltung des in 244 Lebensdingen Überlegenen angenommen hat: wenn er auf den Markt im Flecken geht und der Händler dieses und jenes anpreist, so bleibt des jungen Bauern Gesicht unbeweglich, er läßt reden und schwätzen, und nur sein Ausdruck sagt: ›Ich weiß ja, daß du ein Betrüger bist, aber ich bin noch um ein Haar schlauer als du. Laß Seil ab, Ehrenwerter, doch das Kalb bekomme ich heute Abend zum halben Preise!‹ Peter sah den Inquisitor an mit dem hellen Blicke des Zugewachsenen, des Gleichstarken, dessen Art es ist, auf alle Künste zu verzichten, der sich gegen Verführungen einigermaßen gefeit weiß und sowohl entschlossen wie bereit ist, seine Sache nur gegen eine gleichwertige aus der Hand zu geben.

Ory erkannte mit einem einzigen Blicke rund über die kleine Gesellschaft hin, daß es für ihn nicht so einfach stand, wie er wohl gehofft hatte. Aber das Vertrauen in sein Können und das Gewicht seiner Sache, wenn nicht schon die Eitelkeit eines Erfolggewohnten ließen einen Zweifel am endlichen Erfolge bei ihm nicht aufkommen. Er lud mit geübter sicherer Bewegung seiner feinen Hände wie ein Gastgeber zum Niedersitzen ein, und man gruppierte sich auf Bänken und Hockern je nach Zufall des Ortes und auch Charakterart zum anscheinend und vielleicht entscheidenden Gespräche.

Nun gab es kein Fackeln mehr, es war genug eingeleitet und höflich ausgeholt worden, er fiel jetzt natürlich mit der Tür ins Haus. Er begann: »Es ist wohl erlaubt zu sagen, daß die jungen Männer sich die Frage gestellt haben, wie sie einfach und rein gestellt werden muß, die Frage, um die alles sich dreht. Wenn ich versuchen darf, sie zu formulieren, wobei ich um die Unterstützung der jungen Herren bitte,« sagte er galant, aber nur zu Peter 245 gewandt, »so würde ich vielleicht sagen: Darf man seine Zeit mit der Tat übergehen und sich damit begnügen, sie zu betrachten? Nicht sehr geschickt gesagt,« kritisierte er sich selbst, und sein beim Reden sich heftig bewegendes Gesicht beteiligte sich eifrig an der Arbeit seines Geistes. »Darf man die Gegenwart einer Zukunft opfern? Darf man« (jetzt hatte er es, sie konnten es seinem Gesichte absehen) »die Zukunft – sozusagen – im Geiste vorwegnehmen? Braucht man die Gegenwart, seine Zeit nicht zu leben? Ja, das dürfte die Formulierung sein – wäre ich geschickter, ich hätte sie gleich gefunden.«

Martial war einer von den Menschen, denen der Mut immer in der Gefahr kommt. Vielleicht sind sie zaghaft und mögen einmal feige erscheinen, wenn man von Gefahr redet oder wenn sie sich vorbereitet – ist sie da, so gehen sie hinein, besinnungslos, in einer Art Rausch, in einem Taumel von Notwendigkeit. Martial stand auf, stellte sich vor Ory hin und sagte ohne alle Form: »Mönch, gebt es zu, ihr habt gelauscht!« – »Was . . . was wißt ihr . . .? Also das heißt . . .,« stammelte aus der Fassung gebracht der Inquisitor. – »Weil ihr Pierre Escrivain schmeichelt, daher weiß ich's.«

Ei, das war fatal! Das war fatal! Leugnen? Es hätte nichts geholfen . . . Nun ja, man hatte die Entschließungen nicht stören wollen. Man hatte nicht im unrechten Augenblicke, nicht verfrüht erscheinen wollen. Man hatte die Dinge, die Meinungen, die Entschlüsse möglichst von selbst werden, sich entwickeln, sich bilden lassen wollen. Man hatte vor der Tür gewartet, nun ja, und beim Warten hatte man gehört. – »Die Sprache ist genauer,« sagte unerbittlich und in der Wollust der Tollkühnheit Martial, »sie hat das Wort: gehorcht.«

246 Der rote Zorn stieg dem Inquisitor ins Gesicht, aber der Genuß der Kunst wog mehr als der Genuß der Rache, und im Zugeben, selbst des Schmachvollen, liegt etwas Ehrenhaftes. »Lassen wir das denn,« sagte Ory, und das war würdig. Und förderte.

Martial setzte sich wieder hin und strich sich mit der Hand über die Stirn wie ein Erwachender.

»Darf man also? Braucht man nicht?« frug jetzt Peterlein geradheraus und heiß den Dominikaner.

Dieser freute sich, aus den Klippen ins freie Fahrwasser hinauszukommen. Er hatte vom Rufe des jungen Gelehrten, des philologischen Wunderkindes gehört, und er hätte drei heilige Reliquien dafür gegeben, dem jungen Graecologen mit einem griechischen Zitat aufwarten zu können. Aber man war eben nur Lateiner, das Griechische war eine Art Luxus. Es war höchste Zeit, daß die Kirche sich auch dieses Luxus' annahm, sie die Freundin des Luxus', die ihn so meisterhaft nutzte, da sie die Kunst nährte und großzog, die des Luxus' bedarf und selbst Luxus ist. Hatten es die Väter, Thomas und alle Erleuchteten, anders gemeint? Was war die Welt, wenn sie sich nicht vollendete im Geiste und sich nicht durch Gestalt und Form der höchsten Gestalt, der reinsten Form, Gott, näherte? Form, das war das Geheimnis, und sie gab dem Geiste genug zu tun, sie zu erforschen und zu erkennen, zu bewundern und anzubeten. Die Neuen aber, die Häretiker, verschmähten die Form, sie schätzten ihr Geheimnis gering, sie leuchteten in die Trübnis der Herzen und wühlten im Chaos der Natur. Überhaupt, sie sprachen immer von »Natur«. Sie sprachen vom »Instinkt«, vom »Unbewußten« und »Angeborenen«, sie forschten nach Gesetzen im dicken Blute und wußten 247 von »natürlichen Rechten«. Sie setzten den dunklen Tyrannen des Gewissens ein, überlieferten sich der Pein persönlicher Verantwortung und setzten das Gericht der alten heiligen Satzungen ab. Sie waren, mit einem Worte, formlos, die Burschen. Sie trugen dunkle Gewänder und ihre Prediger beim Gottesdienste lange schwarze Totenkleider, die nichts weiter als arme Askese aussagten, statt der sinnvollen Gewänder gebändigt-freudigen Prunkens der Priester bei der Messe, diesem lithurgischen Wunder, wo jedes Linienrund der Bewegung eine besondere geheimnisvolle Bedeutung hat. Sie waren Puritaner. Immer waren Revolutionen puritanisch – pfui Satan!

Das dachte er in der Sekundeneile, mit der Gedanken durch das Gehirn gehen, ohne daß dadurch der Fluß der Geschehnisse aufgehalten wird. Und merkwürdig, immer wenn einer aus seinem Wesen denkt, so weiß, ahnt der Gegner, was gedacht wird. Dann denkt die Luft, die Lage. Die Gehirne sind Apparate der Kraft. Die Atmosphäre handelt.

Peter sagte: »Herr Mönch! Redet unsere Sprache, vielleicht versteht man sich. Ihr wart schon so freundlich, die Frage in unserer Art zu stellen: Ist es erlaubt, die Zukunft vorwegzunehmen? Braucht man seine Zeit nicht zu leben? Also: darf man sich ihren Forderungen entziehen mit der aus guter, ja nach menschlichem Ermessen sicherer Erkenntnis folgenden Begründung, daß die Zukunft sie ohnehin nicht mehr stellen wird? Daß sie nichts Ewiges sind? Oder ganz deutlich an Beispielen: Darf man den Kriegsdienst verweigern, weil es ganz gewiß ist, daß man in Zukunft, wenigstens innerhalb gewisser Gemeinschaften, keinen Krieg mehr führen wird, weil 248 die Staaten sich zu einem höheren Gebilde zusammenschließen werden? Wie z. B. jetzt in Frankreich, wo der König heute noch mit Territorialherren kämpft, während doch in naher Zukunft – das ist gewiß – ganz Frankreich ein Körper sein wird? Darf man sich ein gewisses Eigentum aneignen, fürs erste in einem Falle, wo es für den Besitzer garnicht fühlbar ist, weil in Zukunft wahrscheinlich einmal das Privateigentum abgeschafft werden wird? Darf man also – in unserem Falle – den Glauben, die Behauptungen eines Glaubens, den Kampf für einen Glauben drangeben, weil es in Zukunft möglich und vielleicht selbstverständlich ist, daß der besondere Inhalt dieses Glaubens, sein meinetwegen unwichtiger Inhalt, also deutlich: die Glaubenssätze, von der Zukunft überholt, überlebt, abgetan werden? Darf man, oder darf man nicht? So lautet unsere und auch eure Frage, wenn ihr euch erinnern wollt. Sie ist eine ewige Frage. Sie ist nicht von Heute und Morgen, denn wenn auch ihr Stoffliches von Heute und Morgen sein mag, sie selbst, die Frage selbst wird immer wieder gestellt werden. Also: Darf man? Darf man nicht?«

»– Man darf!«

Bewegung unter den Zuhörern.

Nach einer kurzen Weile sagte Peter: »Das nenne ich eine schöne klare, nicht mißzuverstehende Antwort. Und ich antworte euch und meinen Freunden ebenso klar und unmißverständlich: Man darf nicht!«

So! Wer hatte nun recht?

»Beliebt, ausführlicher zu sein und euch zu erklären,« sagte ›unser Vorstand‹, der auch hier ›unser Vorstand‹, zum Ärger, nicht Martials aber des Inquisitors, war. Denn Peter hatte offenbar die Führung der 249 Unterredung, und der Inquisitor hatte fürs erste seine überlegene Haltung preisgeben müssen und war nur auf Sicherung seines geistigen Ortes bedacht. Ja, er war in diese »schöne« Antwort sozusagen hineingesprungen, weil sie sich irgendwie aus der Lage ergab und von dem gegeben werden mußte, der sich an diesem Punkte behaupten wollte. Sie war wirkungsvoll, sie schob ihm für diesen Augenblick das Steuer zu. Er war hineingesprungen – er wußte selbst nicht, ob er sich auch wieder herausfinden, ob er die Antwort auch werde begründen können, genug, ein Künstler der Rede und Fechtmeister im Gedankenkampfe traut sich zu, etwas wagen zu können: die Begründungen werden sich schon einstellen, wenn man für die Worte nur Zeit und Raum schafft. Also begann er (zu den Vieren außer Peter sich für einen Augenblick wendend): »Ich habe neulich unserem Freunde den Unterschied zwischen logischer substanzieller und praktischer akzessorischer, zwischen Grund und Beiform erklären dürfen und habe versprochen« (mit einem erinnernden Blicke auf Peter), »darauf zurückzukommen.« (Peter nickte.) »Ich durfte auseinandersetzen, daß die logische Form des Steines eben nur eine logische, nämlich in unserem Geiste ist, daß aber die praktische Form nicht ohne das Akzessorische z. B. die Farbe sein kann. Daß also in Wirklichkeit das Akzessorische wesentlich ist und zur Sache selbst gehört. Nunwohl: Wenn Gott vernünftige Menschen wie in unserem Falle« (lächelte er), »ja gescheite Menschen« (mit einer kaum merklichen Verbeugung vor den Hörern) »denken läßt, wenn Gott es in sie legt, über die Zeiten hinwegsehen und wegdenken, eine andere leibliche Zukunft, die sie nicht mehr erleben werden, als eine geistige Gegenwart sehen 250 zu können, so ist das eben in gewissem Sinne ihre Gegenwart, ihre Zeit, die sie leben – unsere Gegenwart, unsere Zeit, die wir leben, vorher-, vorwegleben. Sodaß die Frage, ob man seine Zeit erleben müsse, in sich zusammenfällt, denn für den Denkenden ist die ferne Zukunft seine Gegenwart, seine Zeit, genau so wie für den Geschichtskundigen die ferne Vergangenheit seine Gegenwart, in der er lebt« (mit einem Blicke auf Peterlein), »ist – nicht wahr?«

»Das ist ausgezeichnet dargelegt, nicht wahr, Peter, Martial?« rief Karl sehr froh, »dagegen kann man doch nichts sagen, nicht wahr?« Auch die anderen gaben die logische, mindestens formale Richtigkeit zu, aber Peter sagte: »Das ist zwar noch immer nicht und wieder nicht unsere einfachere und weniger unterrichtete Denkweise und Sprache, aber wir wollen sehen, was der Herr Dominikaner daraus folgt.«

»Daraus folgt,« sagte dieser, »daß man alles vorwegleben kann in Gedanken . . .«

»Hört! In Gedanken!« rief Martial.

»Nun ja, natürlich in Gedanken,« gab der Mönch zurück, indigniert, wie man dann zu sein pflegt, wenn man Selbstverständliches betonen muß, »wie anders? Theoretischer-, spielerischerweise«, stellte er mit fast kränkender Ausführlichkeit dar, »so wie die Schützen einen Holzvogel auf die Stange setzen, um ihn abzuschießen.«

»Aha!!«

»Denn unseren Gedanken hat Gott die Freiheit gegeben in Gestalt der Fantasie, die man darum auch die göttliche nennt. Niemand weiß ja bei aller technischen Richtigkeit und Sicherheit des Schließens, ob die Wirklichkeit einmal den Weg der Schlüsse gehen werde und 251 ob man nicht also eine unwirklich richtige, aber wirklich falsche Zukunft als Gegenwart erlebt. Darum darf man einfach aus Vorsicht den festen Boden eines Gegebenen in dieser unserer Wirklichkeit oder mit anderen Worten: die wirkliche Form mit allen Akzessorien, die Form der Wirklichkeit nicht verlassen.«

»Und da liegt der Knüppel beim Hunde!« sagte Martial. Es klang abschließend.

Ory war sichtlich peinlich berührt von den wiederholten banalen Einwürfen Martials (die so richtig waren wie das Banale immer ist). Er sagte: »Ich habe nicht geglaubt, daß die jungen Männer den Begriff der Freiheit so wörtlich nehmen.«

»Wörtlich nehmen?« polterte Karl ungehemmt und töricht, ohne Fassung und jammernd los, »wir wollen heraus aus diesem Kasten! Ins Leben! In die Welt! Zu unseren Büchern! Zu unseren Müttern! Zu unseren Eltern! So verstehen wir Freiheit, und alle andere Deutelei . . .« – da überschlug sich seine Stimme, und Schluchzen erfüllte die Kehle.

»Diese körperliche Freiheit wird erkauft durch jene geistige,« sagte kühl der Inquisitor. »Freiheit, die geistige, was ist sie? Sie ist, frei und verantwortungslos denken zu können, fantasieren zu können, denn Fantasie ist doch das Spiel der Einbildungskraft, das Spiel! Gott hat uns diese Freiheit des Spielens eingeräumt sozusagen als Erlösung, als psychologischen Akt, damit wir anspruchsvollen Denker nicht in jener nötigen wirklichen Unfreiheit und Gebundenheit des Gesetzes jener Wirklichkeit, in die er uns einmal gestellt hat, müde und schwunglos werden. Ah, die Fantasie! Welch eine göttliche Erfindung! Welch ein Labsal für uns Denker! Wir 252 Denker sind unbändig von Natur, wir spielen mit Allem und Jedem, mit dem Höchsten und Niedrigsten, wir haben das Bedürfnis, Möglichkeiten zu sehen und zu erleben, unser Geist ist hungrig danach, er braucht einfach diese Beweglichkeit und Freiheit, diese, wenn ihr wollt, revolutionäre Suveränität. Nur jene Schlichten und Geraden, die keine schönen Umschweife kennen und alles wörtlich nehmen, die Nicht-Denker, brauchen sie nicht, die sich genügen an ihren Schranken, die wahrhaft also ›Beschränkten‹, kurz die«, (warum nicht auch einmal eine grobe Eindeutigkeit?) »welche der Fantasie die Borniertheit vorziehen.«

»Dann ist also der Glaube auch eine Borniertheit!« sagte Martial geradheraus.

»Nun ja . . . mein Gott, ja . . . wenn ihr so wollt . . . in diesem Sinne . . .« – der Inquisitor lächelte in einer gewissen Weltmannsweise, und er hatte jenes gesagt, weil er im Augenblick nichts anderes zu sagen wußte und weil zu verhindern war, daß ihm das Wort abgeschnitten werde.

Aber Martial schnitt ihm das Wort ab. »Gut, wir werden uns das merken, Herr Inquisitor. Das war das einzige vernünftige, weil geradeheraus kommende Wort, das ihr gesprochen habt, alles übrige war Gerede.«

»Oho! Oho! Nun ja, wenn man in gewissen ländlichen Bezirken unseres schönen Vaterlandes urbane Eloquenz – wie sagtet Ihr? nun ja« (spitzig) »Gerede nennt . . .« (Er dachte: »Ländlich – schändlich«).

»Mit jenem Ausspruch werdet ihr es in der Kirche weit bringen, Herr Mönch!« rief der hartnäckige Martial. – »Ich danke euch für eure Besorglichkeit, o adversarie,« sagte bittersüß der Mönch, »aber ich möchte euch nicht 253 mit der Sorge um mein Fortkommen in einem Augenblicke belasten, wo ihr selbst lebhafte Sorge um euer Fort-Kommen« (er sprach das Wort mit Trennungsstrichen aus) »haben werdet.« (Das saß, Martial schwieg.) »In der Kirche macht man seine Laufbahn, indem man ihr dient, keine Macht dankt Dienste wie sie, und so bin ich um meine Laufbahn nicht bänger, als ein unbegabter Mensch halt immer sein muß.«

Aber Karl hatte genug von diesem Scharmützel, er glaubte, es gäbe ein wichtigeres Verhandlungsziel, und dieses heiße Freiheit. Und er sah garnicht ein, warum man diese Brücke in die Freiheit, diesen pons sublicius, die Pfahlbrücke da mit seinen glühenden Sarkasmen anbrennen müsse, ehe man hinübergegangen sei. Sein Gesicht wechselte denn auch, indem es von Martial zum Inquisitor hinüberwechselte, aus einem finster-rügenden in ein höflich-heiteres, und er sagte: »Ihr spracht von der Fantasie und ihren Eigenschaften, Herr Inquisitor.«

Der Inquisitor wandte sich dankbar Karl zu (der war sein Mann! Ohne Frage, wir zwei werden schon einig werden, bedeutete das freundliche Blinzeln seines Auges) und nahm seine Rede über die Fantasie nach diesem Zwischenfall wieder auf. Aber damit der Ernst, mit dem er sprach, gar nicht angezweifelt werden könne und die logischen Zusammenhänge nicht unterbrochen seien, griff er ein wenig zurück und wiederholte: »Gott hat uns also diese spielerische Freiheit gegeben . . .« – »Ihr fälscht eure Texte! Vorher sagtet ihr: Freiheit des Spielens,« rief Martial, »wir wollen nicht übersehen, daß das ein wenig etwas anderes ist und daß ihr in eurer Verführungslogik einen unbeachteten Fortschritt machen wollt!« – »Aber nun schweig doch endlich mal, Martial, wenn du 254 kannst!« schrie Karl in ungehemmtem Zorn. »Laß doch andere auch mal reden!« Martial sah Karl gutmütig-freundlich an und sagte: »Wenn du nur nicht soviel Angst hättest, Karlchen! Aber fahrt fort, Herr Scholaste, unser Karl hängt an eurem Munde. Gott hat uns diese Freiheit des Spielens oder spielerische Freiheit, meinetwegen, eingeräumt . . .«, gab er das reichliche Stichwort. Und mit leicht spöttisch-peinlichem Lächeln, in dem aber auch der Anspruch auf Anerkennung seiner Nachgiebigkeit enthalten war, nahm der Redner das Stichwort an und fuhr fort: ». . . damit wir in der notwendigen Gebundenheit und Unfreiheit des Gesetzes nicht müde werden und unsere Schwingen nicht erlahmen. Die Freudigkeit der freien Fantasie ist uns geschenkt, damit wir uns umso freudiger in die Gebundenheit des Notwendigen, des Gesetzlichen begeben, beziehungsweise, wenn wir, wie in unser aller Falle, durch das Glück der Geburt schon darin sind, darin aushalten. Sie ist, einfach gesagt, Erholung. So wie wir zur Erholung spielen, d. h. das Unwirkliche einmal setzen und für einen Augenblick, im Kampf des Spielens, Feinde sind – nachher, nach beendetem Spiel kehren wir in die Wirklichkeit unserer natürlichen Freundschaften zurück.«

»Ihr meint: der Kirche?« sagte Martial kurz und grob.

»Ja, der Kirche,« sagte leise und schlicht der Mönch, denn da gab es nichts anderes.

»Das Wort mußte fallen, und gut, daß es fiel,« sagte Martial. »Es war ›fällig‹, sozusagen. Fällig wie die Pacht zu St. Michaeli. So peinlich der ›Fall‹ immer ist.«

Der Inquisitor, Sohn einer Kathedralstadt Toulouse, zuckte blitzschnell die Brauen. Bauernsprache war dem Städter verhaßt. Und ärgerlich, immer bedrängt zu 255 werden, hielt er es für an der Zeit, den übermütigen Angreifer ein gewisses Bild der place des Terreaux »vorwegnehmend« sehen zu lassen, er sagte: »Oder ihrer Feindschaften, von denen eine ein rauchender Scheiterhaufen ist.« Er sah denn auch Bernard, den er jäh anblickte, erbleichen.

»Bange machen gilt nicht,« sagte der unverbesserliche Martial. – »Es trübt die Logik,« nahm Peter ablenkend auf, und auch der Inquisitor gab seine Entgleisung zu, sehr geschickt, denn es bezog sich sowohl auf ihn wie auf Martial, als er sagte: »Man soll Temperamentsausbrüche und den Bezug auf aktuelle Dinge aus geistigem Spiele lassen.«

»Aber die aktuellen Dinge sind heiß!« rief der törichte Karl (er konnte einfach nicht an den Scheiterhaufen denken ohne verrückt zu werden), und schon freute sich wieder der Inquisitor der Wirkung dessen, was er im Hintergrunde hatte – da zerstörte ihm dieser Martial aufs neue die Freude, er rief: »Auch der Sohn meiner Mutter schrie au! als er mit Feuer spielte und sich verbrannte, aber die Mutter sagte: ›Früh übt sich, was ein – Ketzer werden will‹ . . .«

Ja, wer die Lacher hat! Selbst Karl mußte lachen.

Der Inquisitor lächelte sein feines Lächeln des wohlerzogenen, aber auch in der Komik nicht aus der Fassung zu bringenden Mannes, er sagte: »Ich glaube, Herr Alba wird noch den Henker lachen machen, man kann es solch peinlichem Handwerk gönnen.«

Ja, in dieser Form war das flüchtige Enthüllen seines letzten Mittels (jenes im Hintergrunde) einwandfrei, fein und äußerst wirksam, und das Lachen vereiste denn auch auf den Wangen der Studenten.

256 »Um für heute zum Schluß zu kommen,« sagte der Inquisitor, die ihm wieder zugefallene Führung weise nutzend. »Es sind, ihr wißt es, weite und breite Bemühungen für euch im Gange. Aber ich kann euch unter uns sagen, sie alle werden zu nichts führen, der König ist entschlossen. Nur bei mir ist, wenn ich mich so aufspielen darf, die Rettung. Und ich darf mich – vielleicht – sehr empfohlen halten« (die Lederriemen des Sitzes seines Faltstuhles knarrten leise).

»Euer Stuhl verkündet uns die Absicht eures Allerwertesten, sich erheben zu wollen . . .«

Da hielt auch der Inquisitor ein lautes Lachen nicht bei sich, er meinte: »Humor in allen Lebenslagen, eine wahre Gottesgabe! Behaltet sie ja, Freund Martial, sie kann euch nützen.« Ja, so diskret und doch unmißverständlich machte die Andeutungen »aus dem Hintergrunde« nur der Teufel, schon vor jenem Baume, der Meister der Dialektik . . . »Indessen,« fuhr Martial fort (natürlich, aufstehen hätte der Inquisitor in diesem Augenblicke nicht können), »eure lange Rede war Schaum ohne Bier, und wir sind so durstig wie zuvor.«

»Ihr wolltet noch auf Verschiedenes zurückkommen,« erinnerte Peter Ory an seine Unterredung mit ihm, und der Stuhl knarrte aufs neue, der Mönch sank mit der Last seines Körpers in ihn zurück. »Schaum ohne Bier,« scherzte er leise, denn wenn auch er scherzte, war das Nachgeben und der neue Verlust der Führung nicht so bemerkbar.

»Wir sprachen von der Mystik, den Mystikern, grob gesagt: den Ketzern, obgleich ihr das Wort nicht liebt, Herr Mönch, und ich sagte: Sie waren der bestehenden geistigen Macht so lange genehm, als sie sich nicht 257 auffällig machten. Auf das ›Auffälligmachen‹ wolltet ihr zurückkommen, ihr erinnert euch.«

Der Inquisitor blieb nie die Antwort schuldig, obgleich er im voraus nicht immer wußte, wie sie ausfallen würde, aber das Wort ›auffällig‹ setzte ihn sofort wieder fest in den Sattel seines Stuhles und seiner Kunst.

»Zu Diensten,« sagte er. »Mir persönlich – es ist vielleicht doch am wirksamsten, man spricht vom Persönlichen, denn man steht ganz dahinter – ist nichts an der neuen Bewegung so widerwärtig, als daß sie sich so auffällig macht, so aufdringlich gibt. Das ist proletarisch. Alles wirklich Große, Bedeutende, Feine vollzieht sich im Geiste, das ist in der Verborgenheit, und auch in der Entsagung, die neue Bewegung aber sucht die Straße, das ist den ›Erfolg‹. Man predigt auf der Straße! Man läuft der Masse nach, denn man sieht ›Erfolg‹ in der Zahl von Köpfen, man rühmt sich gewisser Zahlen – doch lassen wir das,« sagte er abbrechend, »sprechen wir vom Auffälligen in einem höhern Sinne. Ich meine im Sinne von: deutlich, gerade (brutal deutlich, pedantisch gerade, meine ich) von nüchtern und hintergrundslos, von nichtsymbolhaft. Ah, das Symbol! Ist es nicht Weite? Ist es nicht Tiefe? Ist es nicht ferner Horizont und Weltenahnung? Die Messe ist solch ein unbegreifliches Symbol, denn sie ist tägliche Feier des Opfers – was gibt es Menschlicheres als das Opfer, das jeder von uns irgendwo und irgendwie täglich bringen muß. Dieses unbegreifliche Wunder der Liturgie! Und so hat jede Form Sinn und Bedeutung und Hinterland sozusagen. Ist nicht meine Kleidung in Weiß und Schwarz, wenn ich wieder – ich tat es schon gegenüber Herrn Peter,« unterrichtete er die anderen, – »darauf 258 hinweisen darf, eine schöne Form? Ist sie nicht etwas Anderes als die Weltmode, die jedes Jahrzehnt in Augsburg gemacht und der Welt durch eine geheime Schneidertyrannei aufgezwungen wird? Warum sich dieser schönen unvergänglichen Form, dieser ewigen Schönheit sozusagen nicht willig fügen? Der wirklich freie Mensch fügt sich, so ist für uns Freiheit doch nur zu verstehen. Freiheit, laßt euch das von den feinsten Denkern aller Zeiten lehren, ist Entsagung! Freiheit ist – kurz gesagt – Glauben! Kann man im Letzten eine Toleranz zulassen? Toleranz! Ah! Macht die Toleranz nicht müde? Ist sie nicht fade, billig und bequem im Grunde? Aber wie sicher ruhst du im Glauben! Ist die Welt nicht schöner, das Leben nicht fester, gediegener im unbedenklichen, im fröhlich und frei gewählten und erfaßten Glauben?«

»Vorher habt ihr vom Glauben ein anderes und weniger liebenswürdiges Wort gesagt, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt,« warf Martial ein.

»Nun ist's aber genug!« schrie Bernard und schlug auf den Tisch. »Wenn du doch einmal schweigen könntest!« – »Ich könnte wohl, aber es scheint, ich kann nicht«, sagte Martial, mit den Händen in den Hosentaschen auf dem Tische sitzend und die Beine schlenkernd.

Da sagte Peterlein freundlich: »Lieber Martial, würdest du vielleicht den Herrn Inquisitor zu Ende reden lassen wollen . . .« – »Aber natürlich, mein Kleiner, will ich das, wenn du es willst,« rief Martial, nach Peterlein hinüberlangend und ihm das reichliche Haar krauend. – »Gut,« sagte Peter mit einem Lächeln für Martial »unser Martial, der vielleicht ein wenig mutiger und schneller im Denken ist als wir und gleich das 259 ausspricht, was vielleicht auch uns durch den Kopf geht, will seinem schönen Ungestüm Zügel anlegen und ausreden lassen. Darf ich bitten, Herr Inquisitor, ihr spracht lebhaft und anscheinend überzeugt vom Glauben. Beliebt es euch fortzufahren?«

Ach, der Inquisitor war gar nicht kleinlich-bösartig und nachträgerisch, er hatte vielmehr selbst eine kleine, ja im Heimlichen sogar eine ehrlich bewundernde Freude an diesem ungeschlachten Burschen, diesem ländlichen Heros, diesem Ritter auf Ackergäulen, der blond und blauäugig dasaß und der aus einer gewissen seelischen Derbheit heraus sich um den drohenden Tod einen Pfifferling zu kümmern schien. Er, der Inquisitor würde im gleichen Falle Furcht haben, er haßte das brüllende Mitreden der Masse, er scheute die »moralische« Kraft der Brutalität, er verachtete die »Beweis«kraft eines Stockes, er würde widerrufen, ja, ja! Er würde schon irgendeine erlösende »Möglichkeit«, einen »Ausweg«, eine Formel finden. Er hatte keinen Respekt vor der physischen Gewalt, bah. Der Geist! der Geist soll herrschen und siegen! In allem und unbedingt der Primat des Geistes! »Also,« sagte er, »nachdem nun auch unser tapferer Herr Martial sich zur Urbanität der Diskussion bekannt hat und seinen Diskussionsgegner ausreden lassen will: Freiheit ist Entsagung, der freie Mensch fügt sich sogar in die vergängliche Mode, in die Landessitte, in die Formen und Geschmacksbegriffe der guten Gesellschaft – warum nicht in die dauernde Mode der Kleidung, Einkleidung des Geistes, wenn ihr wollt, d. i. Gedanken einer erwählten Gemeinschaft, in die höhere feine Sitte und Denkweise eines internationalen Vereins, in dem, wie es sich gehört, nur 260 Männer herrschen, in die Formen der besten weil der geistigen Gesellschaft der geistigen Männer aller Länder? Wollen wir nicht so die Kirche verstehen? Nur der Emporkömmling tut sich etwas auf seine Eigentümlichkeiten zugute, nur die proles pocht auf kleine alberne Rechte, nur das grobe Volk – ich hasse das ›Volk‹ und seine Schweißgerüche! – wirft sich auf Naturrechte, die angeblich mit ihm geboren sind. Sollte es schwer sein, die Manieren der besten Gesellschaft, die durch die Zeit schon hieratische Würde bekommen haben, sich anzueignen und die daraus entstehenden Vorrechte zu genießen? Wer die großen Rechte genießen will, muß die kleinen Pflichten tragen. Die erste Pflicht aber ist, die lange Zeitdauer der Formen verlängern helfen, denn eben die Dauer ist ihre Würde. Dürfte es etwa einem Könige einfallen, statt der Krone irgend ein anderes Zeichen seiner Würde und Macht einführen zu wollen? Niemand würde ihn verstehen, niemand ihm gehorchen, alle ihn verlachen. Der König hat sich der Krone zu unterwerfen, weil sie ihm Macht gibt. Welcher König wird so irrsinnig sein, selbst seine Macht zu morden, indem er ihre Zeichen verwirft? Alle Formen sind von Gott vorher gedacht, und wenn sie göttlich sein sollen, müssen sie auch das Zeichen des ewigen Gottes haben, nämlich Dauer und Unveränderlichkeit, ›Ewigkeit‹. Ihr werdet sagen, einmal sind auch diese Formen geworden. Gut. Aber einmal ward auch die Welt. Und nachdem Gott einmal die Formen gemacht hat wie er auch die Welt gemacht hat, kann auch nur er sie abschaffen. Und was etwa an neuen Formen hinzutritt, langsam hinzuwächst mit der Langsamkeit und Unauffälligkeit alles wahren Werdens, das muß sich der alten Form anschließen wie die Koralle an den 261 Stock und mit ihr und sie mit ihm wachsen, nicht sie zerbrechen. Was ist mit dem Zerbrechen? Das ist roh, das ist brutal, das ist revolutionär – ich hasse das Gebrüll der Gassen. Gerade weil neue Formen möglich sind – für uns sind es, ich legte es schon dar, die Formen des Denkens, die Blüten und Kühnheiten der freien Fantasie –, gerade darum muß die alte, die große, die Mutterform heilig sein und immer heiliger werden. Hier schließt sich Gesetz und Freiheit zusammen, hier verbrüdert sich Alt und Neu – im organischen Wachstum! Und darum wird sich ein gewisses Neues in das Alte organisch fügen, wie die Kirche selbst ja schon durch weise und vorsichtige Reformen bekundet: gewisse Erfrischungen eines alten ehrwürdigen Baumes, Aufgraben der Erde um seine Wurzeln, Ablesen der Schädlinge, Pflücken verdorrter Blätter und Schneiden der äußersten toten Zweiglein. Aber an den alten mächtigen lebensvollen Stamm selbst wird kein vernünftiger Gärtner die Hand legen wollen. Glaubt es mir, die Kirche hat größere Gefahren bestanden als die heutigen, der Baum hat Wind und Sturm getrotzt, er hat sich auch wohl gebogen und einen jungen Ast in eine neue Richtung hinausgesandt, er selbst blieb der alte heilige Baum. Sie hat sich auch nie neuen und wirklich gesunden Wünschen verschlossen. Da sind die Frauen! Immer war die Kirche eine Sache der Männer, das ist wahr, und muß es bleiben, nicht wahr, mulier taceat in ecclesia, es hat seine guten Gründe. Die heilige Herrschaft der Männer in der Kirche ist durch die Folge der hieratischen Weihen gesichert; aber hat die Kirche nicht dem Drängen der Frauen nachgegeben, Teil an ihr zu haben, indem sie die pneumatischen Weihen einführte und die 262 pneumatischen Stände schuf? Wißt ihr nicht von der Jungfrauenweihe im pontificale? Sie eröffnet den Eintritt in den Stand derer, die sich so dem Wirken des Geistes Christi in sich hingeben, daß sie das Leben der Vollkommenheit erstreben. Die besondere Form weiblicher Vollkommenheit und Heiligkeit war seit den Tagen der Apostel die Jungfräulichkeit. So wurde neben dem hieratischen Stande der Männer, der Kleriker in der Kirche, noch ein anderer für die Frauen bestimmter, von der Gemeinde sich absondernder Stand geschaffen. Ihr seht, für alles Gute und Schöne ist Platz, ist Feld und Raum, für alles, was nach der Vollkommenheit verlangt – man äußere es in Vertrauen, und es wird in Vertrauen gewährt. Am Unwichtigen aber wollen wir uns nicht aufhalten und auf das Vergängliche nicht versteifen, sondern auf das Wesentliche und Ewige wollen wir sehen. So wie das berechtigte Streben der Frauen wird auch euer schöner Wille nach Vollkommenheit sich einordnen lassen in die große Form, und, ich zweifle nicht daran, wir werden die richtige Formel dafür finden, jene Formel, die das Ewige erhält und das Diskutierbare zuläßt. Wir werden sie schon so abfassen, daß ihr euer Gesicht wahren könnt und die Kirche doch nicht vermindert wird. Die Formel braucht ja nicht für die Masse verständlich zu sein – was geht uns die Masse an, genug wenn die Masse sieht, daß Einheit und Friede wiederhergestellt wurde! Wir müßten keine in der Kunst der Gedankenfügung und Wortsetzung geübten Männer sein (lächelte er), wenn wir nicht die lösende, alle befriedigende und jedem genugtuende Formel finden sollten. Ihr seid nicht die Ersten, die zwischen Alt und Neu einen Einklang suchen und ihre gerechten Ansprüche mit älteren gerechten 263 Ansprüchen verbinden müssen. Ihr werdet nicht die Letzten sein. Immer wird sich den Jünglingen der Gegensatz zwischen Alt und Neu aufdrängen, noch Viele werden nach euch in anderen Umständen, in fremden Welten Alt und Neu vergleichen und zwischen Alt und Neu einen Vergleich schließen müssen. Möchten sie dann einen guten Berater haben! So wie ihr einen habt, erlaubt. Wir werden also morgen eine feine Formel aufsetzen, und euer junges Leben wird den gewissen Grobschlächtigen und Plumpsäcken entrissen. Ich kann euch sagen, auch dem Kardinal kommt es sehr darauf an, daß die Formel gefunden wird – – – würde sie nicht gefunden, so würde er freilich unerbittlich sein. Aber ich zweifle nicht, meine Freunde, zweifelt auch ihr nicht . . .«

Seine Worte waren in einen süßen Schwall gekommen, und er hatte in leicht tönender, ein wenig an Chorgesang erinnernder Weise gesprochen. So waren vom Tönen der Worte und irgendeiner neuen, ganz unbestimmten Hoffnung die Freunde, auch Martial, leicht benommen und wie unter dem Klange von Musik ein wenig unaufmerksam geworden, und es erschien plötzlich alles wieder so einfach und leicht. Sie saßen verschränkt und versenkt auf ihren Stühlen, der eine den Kopf tief sinnend in die Hand gestützt, deren zugehöriger Arm auf dem Tische stand, der andere das Haupt gar auf die beiden Arme gelegt. Und als sie leicht seufzend aus ihrer Versunkenheit aufsahen, war der Inquisitor fort.

»Ach, wer doch auch so reden könnte!« stöhnte plötzlich Peterlein auf. Es war, als erwachten sie aus einem Rausche. Es schien aber, als ob Peter ganz etwas anderes gedacht hätte, ganz irgendwo anders gewesen wäre, 264 als nähme er eine nur eben unterbrochen gewesene Tätigkeit auf, als er Calvins Brief hervorzog und weiterlas: » . . . ›Wenn er verheißen hat, er wolle sogar die mit Geduld stärken, die um ihrer Schwachheit willen gezüchtigt werden, so wird er doch noch viel weniger die verlassen, die seine Sache führen und die er braucht zu dem so herrlichen Amte, seine Zeugen zu sein. Erinnert Euch an den Spruch bei Johannes: ›Der, welcher in Euch wohnt, ist stärker als die Welt‹. So möge er sich mehr und mehr verherrlichen in Eurer Standhaftigkeit und möge Eurem Geiste versüßen und lieb machen, was dem Leibe bitter ist, und Euer Wesen so an sich ziehen, daß Ihr ohne Bedauern bereit seid, alles zu verlassen, was von der Welt ist‹ . . . Das ist Calvin!« rief Peter in plötzlichem Stimmungsumschwung und schwang den Brief in der Luft.

Er las weiter: »›Ich habe auch die Nachricht erhalten, daß die unglückselige Bestie Ory von Paris her wieder erschienen ist und auf Euch losgelassen werden soll. Hütet Euch vor diesem gleißenden Sprecher – was warne ich Euch! Ihr werdet ihn sofort in seiner Hohlheit und menschlichen Leere durchschauen, das übertünchte Grab, den armen Schwätzer. Sein Herz ist ohne Gewicht und kann sich drehen wie ein Windwimpel. Solche Menschen können alles, indem sie nichts müssen. Sie können vorwärts und zurück, nach rechts und links, sie können sich hingeben und zurücknehmen. Aber ein gerades Herz, einmal gegeben, nimmt sich nicht zurück.‹ Nimmt – sich – nicht zurück –!« wiederholte Peter laut und ausdrücklich. – »Den ganzen Satz!« rief Martial, und Peter wiederholte feierlich: »›Ein gerades Herz, einmal gegeben, nimmt sich nicht zurück‹ . . .« 265 – »So spricht ein Mann!« rief Martial, »Karl, Bernard, hört ihr, so spricht kein ›armer Schwätzer‹!«

Karl und Bernard hörten. Sie hatten ihre Köpfe von den Armen und der Tischplatte und ihre Herzen aus der Trostlosigkeit erhoben und schauten und horchten mit großen erwartenden Augen drein. Nein, solcher schlichten starken Männlichkeit konnte man sich nicht verschließen! Diese einfachen unverbogenen Worte übten ihren Zauber. Calvin stieg vor ihnen auf, wie sie ihn vor mehr als einem halben Jahre in Genf gesehen hatten, damals, als sie frisch und fast ahnungslos aus dem frohen Lausanne herübermarschiert waren, damals, als sie draußen in Möglichkeit und Freiheit, ihre Taten zu wählen, sich noch kein Bild davon gemacht hatten, was es heißt, sich seine Taten vorschreiben lassen. Damals, als sie begeistert und kühn Calvins Warnungen und Abmahnungen in den Wind schlugen, vor ihm in die Knie sanken und riefen: »Wir gehen nach Frankreich, Meister!« Damals, als noch keine lange Gefangenschaft ihren Geist verdorben, ihre Seele zermürbt hatte. Damals, als sie noch unschuldig waren – und jetzt waren sie schon halbe Schuldige . . . Sie sahen nach ihrem eigenen Bilde zurück über die lange schwere Zeit und verglichen das kühne jugendfrische mit dem verstaubten und zerdrückten von heute – oh, da faßte sie Entsetzen! Oh, da ergriff sie Reue! Und ein Auftrieb ward ihren Herzen zuteil und Schwung ihren Seelen, sie riefen: »So spricht ein Mann! Das ist ein Mann!«

»Hört weiter, hört weiter!« rief Peter, der während der Unterbrechung den Brief weitergelesen, überflogen 266 hatte und begeistert von dem, was der Herrliche schrieb, aufgesprungen war – er las jetzt, den Brief in der Linken, und die zur Faust geballte oder auch ausgestreckte Rechte sprach mit: »›Oh, meine Brüder! Als Ihr in Genf bei mir ward, habe ich Euch die Gefahren gemalt, denen Ihr entgegengingt, die ich voraussah. Ich habe Euch gebeten, ich habe Euch beschworen, ich habe Euch abgeraten und geschmeichelt – zu bleiben. Ich habe es Euch leicht gemacht zurückzutreten und habe Euch gesagt, vor angetretenem Wege, vor eingeleiteter Tat könntet Ihr immer noch zurücktreten – aber wenn Ihr einmal den Fuß auf den Weg gesetzt und einmal die Hand an die Tat gelegt habt, dann gibt es kein Zurück mehr . . .‹«

»Ein gerades Herz, einmal gegeben, nimmt sich nicht zurück!« rief Martial dazwischen (der Satz klang wie Evangelium in ihm. Er kostete ihn, er genoß ihn) und ». . . nimmt sich nicht zurück,« stimmten auch Bernard und Karl ein.

»› . . . dann gibt es kein Zurück mehr,‹« rief Peter lesend. »›Ich habe Euch gesagt: Ich, Calvin, bin nicht für die Aktion gemacht. Ich habe Euch gesagt, meine Brüder, ich, Calvin, habe nur Mut am Schreibtische, ich fürchte das Gebrüll der Gassen, mich erschreckt jede Drohung, mich erschreckt schon ein Stock. Gott hat nicht allen alles gegeben, er hat jedem etwas vorenthalten, um ihn bei Demut zu erhalten, und mich züchtigt er und hält er in Schwäche auf der Höhe meiner Macht durch das Wissen um meine Schwäche. Ich habe Jacques Pavannes, den ersten Märtyrer der Reform, in Paris auf der place de Grève brennen sehen, ich habe gezittert und wußte nur von Flucht. Ich habe 267 die Köpfe jener Männer der Amboiser Verschwörung, die den König der katholischen Partei entreißen wollten, auf dem Platze in Amboise am Markttage auf dem Zaune aufgereiht stehen sehen, als ich mit meinem Vater einritt. Und mein Vater rief – und rief es laut aus auf dem Markte, denn er war ein mutiger Mann! –: ›Sie haben Frankreich enthauptet, die Schurken!‹ Ich habe gezittert und nur an die Flucht gedacht, die Flucht! Und gewünscht, daß die Bauern und Städter nicht möchten gehört haben, was mein Vater gerufen hatte; aber mein Vater hielt ruhig sein Roß an und legte seine Hand von seinem Pferde herüber auf meine Schulter und sagte: ›Mein Sohn, auch deinen Kopf darfst du nicht sparen, wenn er gefordert wird. Wer sich spart, verspielt sich.‹ Ich aber dachte nur an Flucht, an Flucht und drückte mein Pferd in den Haufen der Leute und tat, als hörte ich ihn nicht, und bahnte dem Vater den Weg. Und wir entkamen. So bin ich, ich habe es Euch gesagt: Ich bin feige! Feige vor Schreckhaftigkeit! Aber wenn ich hier an meinem Schreibtisch sitze, bin ich mutig. So bin ich, Calvin, ein Halber! Da kamt Ihr durch Genf, da kamt Ihr in meine stille Stube, da ward Ihr da, und die stille Stube des halben Calvin sah Eure glühenden Gesichter und hörte Euren entschlossenen Ruf: ›Wir gehen nach Frankreich, Calvin!‹ Und der halbe Calvin hörte und sah auf einmal den andern halben Calvin, den mutigen und unerschrockenen, den Angst und Gefahr, Tod und Teufel verachtenden. Und war froh! Gott hat nur das Eine gegeben und das Andere vorenthalten, aber indem er den in Euch schuf, den er in mir vergessen hatte, da richtete sich mein Glaube auf, und der halbe Calvin in mir grüßt den andern halben Calvin in Euch!‹«

268 »Wiederholen,« rief Martial, aber er selbst wiederholte schon: »Grüßt den andern halben Calvin in Euch! Lies weiter, Petrus, du unser Fels, du unser Vorstand . . .,« jubelte er, Scherz und Bibelspruch durcheinandermischend.

»›Jeder von Euch ist ein halber Calvin,‹« rief lesend Peter »›der bessere Calvin! Nicht dieser, der im sicheren Genf sitzt und sich mit einer Stadt und den Leibern seiner Freunde schirmt und hinter dieser Rüstung mutig denkt und mutig schreibt, sondern der andere, der bessere, der sich in das Lager der Feinde, in die Höhle der wilden Tiere begibt wie Judith zu Holofernes und wie Samson in die Häuser der Philister . . .‹«

»Wie Judith zu Holofernes, wie Samson in die Häuser der Philister!« rief Martial und mußte dem Sturm seiner Seele Luft machen, indem er mit seinen gewaltigen Bauernfäusten auf dem Tische trommelte, daß es wie Paukenbegleitung zu Peters, zu Calvins starken Worten klang . . . Und Peter rief aus, laut, die Hand hocherhoben, Hand und die Finger gereckt: »›Und so schließe ich: Der schlechtere Calvin grüßt den bessern Calvin – in jedem von Euch, meine Brüder!‹«

»In jedem von uns! . . . Den bessern Calvin! . . . So spricht ein Mann! . . . Der schlechtere den bessern! . . . Deus in excelsis! . . . Mut, Brüder! . . . Wer versagt sich dem Rufe? . . .«

So riefen sie alle entfesselt durcheinander, Martial, Peterlein, Bernard, Peter und Karl, und sie riefen den Wärter herein und ließen dem Dominikaner sagen: Er brauche sich morgen nicht zu bemühen, es gäbe da keine Formel, keine Formel! . . .

269 Als die Begeisterung sich etwas gelegt hatte, sagte Peter: »Was ich dem Mönch gesagt, meine Brüder, war nicht richtig. Natürlich darf man seiner Zeit voraus sein und ihr vorausdenken und danach handeln, denn wenn Gott die Gedanken schon in uns legte, so sind sie da, um gelebt zu werden, und es mag sogar sein, daß einer Mut zeigen muß, indem er sich da und dort seiner Zeit verweigert. Aber er muß Mut zeigen! Er muß Mut zeigen, wenn es von ihm gefordert wird! Und der Mönch hat ganz richtig gesagt: Man darf – in Gedanken! Und die Fantasie ist göttlich und frei! Aber es kommt nicht so sehr auf den Gedanken als auf den Mut an! Und ob ein Mann dahinter steht! Und darum hatte ich doch wieder recht und unrecht der Mönch. Was ist ein Gedanke? Ein Traum, ein Spiel, sagte der Mönch. Und es kann mehr Mut dazu gehören, sich zu verweigern als sich zu geben, dem Kriegsdienst, dem Zeitgesetz, der Bürgeranschauung verweigern. Aber ein Gedanke, ob so oder so, hinter dem kein Mann steht, ist wie ein Bild ohne eine Mauer, an der es hangen soll. Wir haben uns dort zu behaupten, wohin wir gestellt sind, Calvin an seinem Schreibtisch, Farel bei seinen tobenden Bauern, Viret unter andächtigen gläubigen Studenten in Lausanne – und diese fünf Studenten im Gefängnis von Lyon. Jeder steht an seinem Platze! Gott hat ihn dahin gestellt – dort gibt er sich und nimmt sich nicht zurück.«

». . . und nimmt sich nicht zurück,« wiederholten die anderen, alle, langsam und tönend, Martial mit seiner schweren und lauten, Peterlein mit seiner noch hellen, noch ein wenig knabenhaften, mit seiner noch nicht ganz männlich gewordenen Stimme, und auch Bernard und Karl, zurückgefunden in stiller Entschlossenheit.

270 »Man nimmt sich nicht zurück von seinem Platze,« sagte Peter, »das sagt uns der Meister, einfach und ohne Künste, und wir werden es halten! Man wird an seinem Platze stehen – ohne Wanken!«

Und damit schloß diese Schicksalsunterredung, und die Studenten gingen jeder in seine Zelle, denn das Bedürfnis nach Einsamkeit war jetzt in ihnen. Und damit jeder sich sammle in sich. Und damit jeder das Letzte ausmache mit sich . . .

 


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