Josef Ponten
Die Studenten von Lyon
Josef Ponten

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Breit und quer vor das Ende des Sees legte sich die Stadt, grau im Mittagslichte und überragt von dem kahlen Kalkfelsen des Mont Salève, über den auch der König von Frankreich gebot, sie türmte sich mit hohen Häusern ihren Stadthügel hinan. Weit wie breitrandige Hüte ragten die geschindelten Dächer über die schmalen vielstöckigen Steinfronten der Häuser, und alles, Hausdächer und die spitzen Türme der starken Ummauerung, gipfelte sich hoch und zusammen in der Kathedrale 22 St. Peter, der das verflossene katholische Zeitalter die Türme schuldig geblieben war.

Der graue See wurde klar und grün, er dünnte sich zur Rhone aus, die, bis auf den Grund klar, sodaß man die Kiesel und die flitzenden Fische erkennen konnte, vom Drucke des Sees in einen sich verengenden Flußkanal gepreßt reißend zwischen festen Ufermauern nach Westen hinausbrauste. In See und Fluß herab von beiden Ufern her zogen lange Pfahlreihen der Hafenbefestigung, der Wächter in einem vorn auf den Pfahlrosten stehenden hölzernen Wachttürmchen ließ die Hafenkette vor dem friedlichen Schiffe niedersinken. Sie machten am quai de la poste ihre Möve fest neben einem breiten Boote, das als öffentliches Waschhaus auf dem Flusse lag, denn aus der offenen Flanke über gesenkten und gerillten Brettern regten sich hundert rosige Arme der Wäscherinnen, und munteres Geschwätz ertönte.

Doch gedämpft.

Am andern Ufer, dem der Vorstadt St. Jean et Cornavin, klapperten auf verankerten Booten viele Mühlräder, von der eiligen Rhone getrieben. Dort am quai du Seujet wickelte ein Großmarkt in Korn und Mehl sich ab, geschäftig – doch ernst.

Und der tiefe Ernst der Stadt teilte sich den Ankommenden und Gelandeten mit. Sie verabschiedeten sich von Franz Rüdi, dessen letztes Wort war: »Wenn ich nur jünger wäre!« Ohne ein Wort zu wechseln traten sie durch Tor und Turm in die Stadt ein. Im Torwege lasen sie einen Anschlag des Rates besagend, daß Ami Perrin und seine Gattin, geborene Françoise Favre, zu drei Tagen Gefängnis verurteilt worden seien, weil sie in ihrem Hause einen Tanz veranstaltet hätten. Und daß 23 Madame Perrin, kaum aus dem Gefängnis entlassen, wieder getanzt und vor dem Konsistorium frech erklärt habe, sie sei noch jung und werde wieder tanzen. Weshalb der Rat eine neue verschärfte Strafe von drei Wochen Freiheitsberaubung im abgedunkelten Raume über sie verhängt habe, in dessen Finsternis sie die Klarheit ihrer Seele und die Erkenntnis ihrer Sünde vielleicht finden werde. Die Reisenden lasen, sahen sich an und traten stumm auf die lange place du Molard, den Hauptplatz der Unterstadt, hinaus.

Da saßen Weiber mit großen Hüten oder auch unter aufgespannten Sonnenschirmen vor ihren Kramtischen und hielten den kleinen Markt ab. Die Burschen waren hungrig und kauften Brot und Wurst, die ihnen mit zugemessenen Worten verabreicht wurden, und sie setzten sich auf den Beckenrand des Laufbrunnens, dessen Wasser ihnen zum Mittagsmahl willkommen war. Schwarzgekleidete Menschen, Männer und Frauen, gingen über den Markt, und es war nicht ein buntes Gewand zu sehen. Prediger in langen schwarzen Mänteln und mit schwarzen Baretten, dicke Buchschwarten tragend, kamen eilig und schweigend daher und traten, von den Passanten mit schweigender Ehrfurcht tief gegrüßt, in ihre Häuser am Markte, denen hohe hölzerne, bis zum Dachgesims reichende und dieses tragende, Lauben vorgesetzt waren, sodaß die Häuser selbst, da ihre oberen Stockwerke im tiefen Schatten des Laubendaches lagen, gleichsam mit finsteren Stirnen dreinschauten. Auf den Balken des festen galgenartigen Gesperres der Lauben gurrten weiße Tauben. Die Sonne schien auf den mittagwarmen Platz nieder, aber Heiterkeit und fast das Leben waren vom Platze gebannt. So hungrig die Studenten 24 waren – kaum brachten sie, durch die Neuheit und Fremdheit dieses sonderbaren Stadtdaseins erschreckt, ihr Mittagbrot hinunter. Aber da setzte sich ein Spatz auf die bronzene Röhre des Laufbrunnens und trank, indem er, oben auf dem Rohre hockend, nach unten in den Wasserstrahl den Schnabel nach jedem Schlucke hinabsteckte und also gleichsam in den Wasserstrahl pickte. Und dieses süße Zeugnis des Lebens eines Wesens, das nichts von der christlichen Stadt und ihrer zeitgeschichtlichen Berufung in der Welt der Menschen wußte, entzündete wieder jenen Funken von Freude in ihren Herzen, dessen ein Mensch um leben zu können bedarf.

Aber die rue du marché herab, die mit ihren hohen Galgenlauben von der Seite her in den Markt mündete, näherte sich ein Zug Volkes, alles Leute in Schwarz. An der Spitze aber ging ein Mann im Hemde, barhäuptig, eine Fackel in der Hand und immerzu rufend: Misericordia! Misericordia! Auf dem Platze hielt der Zug, und der Verurteilte sprach einem Gerichtsdiener die Worte nach: »Ich werde in Zukunft nie mehr den Minister des göttlichen Wortes Calvin einen Franzosen und Feind unserer Stadt Genf und mehr als einen Bischof nennen.« Dann entfernte sich der Zug durch die rue de la croix, denn jener Ameaux hatte das Bekenntnis und die öffentliche Abbitte noch auf anderen Plätzen der Stadt zu leisten. Der Lärm des Sühnezuges verhallte.

Die Studenten stiegen von der gemeißelten Steinwand des Brunnenbeckens herab und gingen weiter quer in die Stadt. Der kleine Peter flüsterte dem großen zu – denn er wagte in solcher Stadt nur flüsternd zu sprechen –: »Muß es so sein, Peter, daß wer Gott dient 25 dieWelt nicht lieben darf?« Aber Peter antwortete, nicht flüsternd, doch auch unwillkürlich leise: »Nimm es hin, Peterlein. Unser Meister Calvin wird wissen, wozu es nötig ist. Vielleicht muß es so sein – fürs erste,« setzte er wie für sich hinzu.

Sie querten die rue de la croix und schickten sich an, die steile Gasse der rue du perron hinaus zu steigen. Die Gasse, der Boden und die Häuser waren gelbgrau, die Häuser standen da eng und hoch, mit schmalen Fenstern und weit ausladenden Dächern. Es roch nach Katzen. Vor einer Karre, mit Ästen gebremst und mit starren gleitenden Hinterrädern die Neigung hinabrutschend, sodaß ein glatter blanker Streif am Boden zurückblieb, mußten sie zur Seite und auf den brettgedeckten Kellerhals eines der finstern Häuser treten. Ein Schwarm Tauben, der durch die Schlucht zwischen den Dächern sich herabstürzte, verdunkelte die Gasse – dann fiel die helle Sonne wieder herein. Ein Fischhändler schickte seine Ware in einem an einer Schnur hangenden Korbe, der von einem Weibe im dritten Stocke hochgezogen wurde, hinauf.

Die rue du perron endete in einer Treppe, die zu einer Teerasse stieg, und da stand wieder ein Brunnen. In dem Brunnenbecken ließen Kinder papierene Schiffchen fahren, ebenso unbekümmert um den Ernst der heiligen Stadt wie die Spatzen und Tauben. Die Studenten aber verweilten auf diesem Brunnenplatze, gebunden in Schweigen und tiefer Ehrfurcht, denn von diesem Plätzchen auf halber Höhe des Stadtberges ging seitlich die enge Straße ab, rue des Chanoines, in der – sie wußten es – Calvin wohnte. Doch den Heiligen ohne weiteres aufzusuchen getrauten sie sich nicht.

26 Sie schritten den Stadtberg weiter hinauf und kamen vor St. Peter, die Kathedrale, gelegen an einem vielwinkligen, von hohen gelbgrauen Häusern bestandenen Platze, auf dem die Kastanien mit weißen und roten Kerzen blühten, Schwärme von Insekten rauschten orgelhaft darin – doch nicht der strengen Kathedrale galt ihre Aufmerksamkeit, sondern der kleinen Kirche Notre Dame la Neuve, dem Auditorium, in dem Calvin zu predigen pflegte. Es trat eben ein großer Mann in guten Jahren heraus, ein Prediger, mit einem sehr gepflegten langen Barte, der sie aus klaren Augen musterte – »Beza,« sagte Bernard, als der Prediger den Weg, den sie gekommen, davon gegangen war. – »Wir hätten ihn fragen sollen, wann wir vorsprechen dürfen, denn so ohne weiteres zum Meister gehen . . .«, meinte Peter. – Martial sagte: »Ich gehe ihm nach und frage ihn« – und kam nach einer Weile zurück mit dem Bescheide: in einer Stunde. »Beza war sehr freundlich,« sagte Martial, »er sagte: nur wacker, ihr Burschen, das Wort Gottes braucht beherzte Männer.« Da kamen die Studenten wieder zu Mute, und wenn auch nicht laut, so unterhielten sie sich doch wieder, als sie weiter durch die von schwarz gekleideten und gedämpft sprechenden Menschen begangenen hohen und strengen Straßen, die Grand'rue und rue des Granges wanderten, an denen die Bankhäuser für den Schweizer und internationalen Geldverkehr lagen, denn die Genfer lebten vom Geldgeschäfte. Aus den offenen dunkeln Toren der gelben Sandsteinhäuser wehte es jetzt am warmen Mittag die Vorüberschreitenden kühl an. Wo die Straße vom Stadtberge absank, durch die Schlucht zwischen den Dächern, sahen sie den schwarzblauen Jura 27 hereinschauen. Die Vorhalle des Rathauses war mit hochkant gestellten und durch den Gebrauch der Zeiten oben abgeschliffenen Flußkieseln gepflastert. Dort wo die Geschütze der Stadt aufgestellt waren, fand sich ein Propagandabild, ein greller Farbenholzschnitt, auf einer Tafel mit Nägeln befestigt, noch drucknaß, er mochte eben aus der Presse gekommen sein. Es waren Papisten und Reformierte dargestellt. Zwischen den Menschen hing eine Riesenwage. Auf der einen, von Gewicht schwer am Boden ruhenden Schale lag nur die Bibel, die protestantische, auf der andern aber die um ein gut Teil dünnere katholische. Ein feister Mönch hatte sich zu dieser auf die Schale geschwungen, ein zweiter hing an den Schaleschnüren, und ein kleiner Satan zerrte heftig unten an der Schale, um sie niederzuziehen – vergebens, denn diese Schale schwebte wie gewichtlos hoch in den Lüften. Die Studenten lachten, und als sie noch den herzerfrischenden Spruch auf der Sonnenuhr an der Rathauswand lasen: dico lucidas - taceo nubilas, ich künde von den hellen und schweige von den dunkeln Stunden, da war ihre Heiterkeit ganz wiederhergestellt. Sie schritten weiter in der behaglich beschäftigten Neugier, mit der man eine fremde Stadt besichtigt, sie kamen durch Kleinleutegassen, in denen es nach Fettgebackenem roch, am Ende der Stadt in den Hof des Collège de Saint Antoine, der von Calvin für den Missionsdienst in den papistischen Ländern gegründeten Hochschule. Vor deren roten Mauern wandelten viele gleich ihnen zum Missionsdienste sich vorbereitende junge Männer in ernstem Gespräche mit ihren Lehrern einher. Die Freunde traten durch die rue du soleil couchant hinaus auf die hohe Bastion der Stadt, wo der Blick sich auftat auf die 28 weite Ebene des Pleinpalais und die gletschertrübe Arve, die sich hinten mit der Rhone vereinigte: man sah noch weit ins Land hinaus das weißgelbe Wasser der Arve neben dem grünen der Rhone im selben Bette streichen.

Also ein wenig heimisch geworden und mit wieder aufgerichteter, vom Ernste der Stadt entlassener Seele, um die dritte Nachmittagsstunde gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren, am Rathaus vorbei, wo der kleine Satan sich immer noch mühte, der Schale mit der katholischen Bibel Gewicht zu geben. An der Kathedrale vorüber kamen sie wieder zu dem Brunnen über der rue du Perron, und nun schritten sie ernst und gefaßt in die stille rue des Chanoines hinein und standen bald rechterhand vor dem hohen dunklen Hause des Meisters.

Aber da schlug ihnen das Herz, mein Gott ja! Wie sollte ihnen hier das Herz nicht schlagen? Wer hat nicht schon vor einer Tür gestanden, wo das Herz ihm so schlug, daß er nur den einen Wunsch und Gedanken hatte: möchte jetzt doch niemand kommen! Auf daß mir Zeit gelassen werde! Ich könnte nicht einmal die Frage nach dem Begehr beantworten! Sie sahen sich an, und jeder holte sich mit den Augen Mut beim andern.

Während sie noch dastanden, ging der Postbote mit einem Packen Briefe an ihnen vorüber ins Haus. Dann frug Peter: »Gehen wir?« Sie nickten. Sie traten ins Haus.

Der Zugang war offen. Auch die vom kleinen Flur nach oben führende steinerne Spindel war offen, im Hauskörper gelegen, doch von der Straße ohne weiteres zugänglich, wie sie es an allen Genfer Häusern gesehen hatten. Erst von Flur und Treppe aus erreichte man 29 die mit starken schmalflügeligen Türen verschlossenen Stockwerkwohnungen. Das Erdgeschoß schien unzugänglich, dunkel und unbewohnt. Sie stiegen also die offene Spindel der Steintreppe hinan. Die Sandsteinstufen waren, besonders nach dem Spindelbaum hin, tief ausgetreten. Ja, über diese Treppe gingen viele Füße. Hier strömte der diplomatische und Schriftverkehr der halben Welt zusammen. Die Handleite war ausgespart in der Steinmauer.

Da standen sie auf dem ersten Stock vor einer starkbohligen Tür mit zwei engen Flügeln wie unten. Und das war offenbar Calvins Wohnung. Die Spindeltreppe, von der Straße her durch enge offene Mauerschlitze erleuchtet, stieg noch höher, in gleicher Weise, nur mit weniger ausgetretenen Stufen, und statt der ausgesparten Handleite in der äußeren Mauer diente von hier ab ein Seil als Handleite, das sich um den Spindelbaum herumschlang. Und eine durch ein Loch in der Tür laufende Schnur – ein Knoten in der Schnur verhinderte, daß sie sich nach innen verziehen konnte, und an ihrem Ende hing ein kleines eisernes Kreuz – das war die Klingel.

Und Peter klingelte.

Von drinnen antwortete der helle kalte Ton eines hochgestimmten Glöckchens. Sogleich wurde geöffnet. Aha, Calvins Frau, Idelette von Büren, aus Lüttich stammend (die Studenten kannten natürlich alle Personalien des Meisters), ein wenig fremdländisch also und doch mit ihrer strengen Schönheit passend in dieses ernste dunkle Haus. Denn sie war schön, nicht auffällig schön (sie machte nichts aus ihrer Schönheit), aber unwillkürlich schön, nun ja, das hatte der Allmächtige so 30 bestimmt. Und von jener melancholischen Schönheit kinderloser Frauen – wenn sie nicht gewußt hätten, daß der Meister ohne Kinder war, seiner Frau hätten sie es absehen können, falls sie schon so menschenkennerisch waren. Die Feinde legten dem Meister den Mangel an leiblicher Nachkommenschaft als Fluch Gottes aus. Nun ja, ich habe keine Söhne, hatte Calvin gesagt, aber ich habe in der ganzen Christenheit ihrer nach Zehntausenden! Sehr gut, dieses Wort, und wenn der Meister sie zu Söhnen annehmen wollte, sie fünfe, aus Frankreich stammend wie der Meister selbst, wahrhaftig, sie würden ihm Söhne sein bis in den Tod! Das ging ihnen durch den Kopf, während Idelette Calvin sie einen nach dem andern eintreten ließ. Also sie hatte keine Kinder, darum war sie ihrem Manne Kameradin und Gehilfin, darum öffnete sie die Tür. Darf ein vielbeschäftigter Mann, ein Mann, auf dessen Schultern die Last der halben Christenheit ruht, der französische Papst, denn Kinder haben? »Zehntausende in der ganzen Christenheit!« Oh, es waren ihrer noch viel mehr, auf dreihundert Tausend schätzte Calvin seine Anhänger allein in Frankreich, der Venetianer Soranzo hatte sie auf vierhundert Tausend geschätzt. Aber Calvins erbittertster Feind, Guise, der Kardinal von Lothringen, hatte, übertreibend natürlich in seinem Schrecken und Zorn, ausgerufen, schon zwei Drittel Frankreichs gehörten im Geheimen der neuen Lehre, der geistigen Pest! Das war gewiß kein Fluch Gottes wie die Feinde, sondern der offenbare Segen Gottes wie die Freunde glaubten, daß Calvin keine Kinder hatte. Luther ja, Luther freilich hatte Kinder, aber Luther – Gottes Segen über den Gebenedeiten! – war ein gemütlicher Hausherr 31 und trotz seinem Bulldoggengesicht ein zärtlicher Vater und guter Bürger, aber Calvin war ein Diplomat und Staatsmann, der Papst im evangelischen Rom, in diesem Genf, der Ausfallspforte des neuen Glaubens in die römische Welt, augenblicklich der Hauptstadt Europas, dem Tor nach Westen und Süden, dem vorgeschobensten und gefährlichsten Posten der Reformation. Und es galt Tausenden als Sehnsucht »adire Corinthum«, nach Korinth zu gehen und den neuen Paulus zu hören. Von der Würde und dem Berufe eines solchen Mannes wurde die Familie verzehrt – also durfte Calvin keine Kinder haben; denn er brauchte seine Frau ganz für sich allein, die Helferin, Kameradin, damit sie seinen gebrechlichen Körper pflege, seinen Geist aufrichte mit ihrer Schönheit und Güte, wenn er in Sorgen, und seinen Mut stärke, wenn er unter den schweren Entscheidungen eines jeden einzelnen Tages zusammenzubrechen drohte . . . Also, schnell wie Gedanken nun sind, dieses blitzte den Studenten durch den Kopf während der kurzen Sekunde, da sie in einer natürlichen, unwillkürlich sich von selbst ergebenden Rangordnung – der große Peter zuerst, dann Peterchen, darauf Martial, jetzt Bernard und dann Karl – an Idelette Calvin vorbei eintraten.

»Aha, die Lausanner Studenten,« sagte die schwarzgekleidete Idelette. »Gott zum Gruße. Unser Bruder Theodor Beza hat euch angekündigt. Aber ihr kommt an einem schlecht gewählten Tage. Calvin hat heute besonders viel zu tun. Ihr dürft den Meister nicht zulange aufhalten, versteht ihr, auch wenn er euch auffordert zu bleiben. Denn das tut er manchmal, er redet sich fest. Brecht auf, ich werde euch ein Zeichen geben. Die Zeit, 32 die er euch opfert, muß er in der Nacht einholen. Und er schläft ohnehin zu wenig.« Das versprachen die Studenten bereitwillig, den Meister nicht zulange aufzuhalten, aber sehen müssen hätten sie den Meister einmal, brachte Peter hervor, denn auch sie gingen vielleicht allerhand Gefahren entgegen im Lande des Königs, und sie wünschten sich eine Stärkung vom Anblick des Heiligen. »So wartet ein wenig,« sagte Frau Calvin.

Die Studenten standen in dem kalten und dunkeln Flure, er erhielt nicht unmittelbar Licht, nur aus dem Nebenraume, von dem er durch eine bretterne Wand abgetrennt war, mündete hoch oben in der Decke schwacher Tag durch eine Scheibe. Zwei braune hohe belgische unbequeme Lehnstühle standen an der nackten, grünlich getünchten Wand. Auf einem halbrunden Tischchen mit drei nach außen gespreizten Beinen lag eine Bibel.

Nach einer Weile öffnete Frau Calvin die Tür in der Bretterwand und rief die Besucher in den größeren, von der Straße her nicht sehr erhellten Nebenraum herein. Da saßen vier oder fünf Jünglinge und schrieben, offenbar auch Theologen und offenbar auch angehende Missionare, Studenten aus dem Kolleg Saint Antoine, die begabtesten, konnte man annehmen, die Calvin bei Zeiten in die Missionspraxis und namentlich in seinen diplomatischen Dienst einweihen wollte. Sie saßen in engen Pulten und schrieben Briefkonzepte ins Reine. Sie schauten einen Augenblick auf und die Ankömmlinge mit Augen an, die von Arbeit ernst waren, aber auch irgendwie sagten: ›wir sind hier Calvins Kanzlei, daß ihr's wißt.‹ Und dann murmelten sie vor sich hin: »Gott zum Gruße«. Und die 33 Gänsefederkiele raschelten wieder über die Pergamente. In der Fensternische, am Steinkreuz des hohen Fensters lehnte ein Mann, den Raum mit seiner mächtigen Gestalt fast verdunkelnd, in schwarzer Predigertracht, doch leicht aufgeknöpft und überhaupt etwas großartig nachlässig in Kleidung und Gebaren, aber mit Augen wie zwei Feuer und einem großen roten Barte. Sie kannten ihn sofort, natürlich, es war Farel, der Vater der Genfer Reformation, dem Genf seinen Calvin überhaupt erst verdankte und der nun Prediger in Neuchatel war. Er vollendete erst nach einem Konzepte in seiner Hand das Diktat, das ein Schreiber niederschrieb: »Und also Gott hat Euch angetan, was er seinen Erwählten antut. Würde und Lärm der Welt zerstreuen und betäuben. Darum hat er Euch in die Hände der Feinde geraten lassen und hat Euch zur Seite genommen, auf daß Ihr ihn besser hört, gleichsam als wollte er Euch gesonderter Weise ins Ohr sprechen.

Euer Bruder in Christo und Diener der Genfer Kirche

manu propria
. . . . . .

Laß gehörigen Raum frei für die Unterschrift,« sagte Farel zu dem Schreiber. Und dann diktierte er, während er die Studenten aus offenen Augen doch scharf einen nach dem andern musterte, aus dem Gedächtnis die Nachschrift: »Römer 8: Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Gefährlichkeit oder Schwert? Wie geschrieben steht: Um deiner Willen, Herr, sind wir getötet worden den ganzen Tag. Sind wir geachtet wie Schlachtschafe. Aber in dem allen überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat.

34 Und nun die Aufschrift: An Gaspard de Coligny, Admiral von Frankreich, augenblicklich und nach dem Ratschlusse Gottes in der Gefangenschaft des Königs von Spanien in Sluys in den Niederlanden.«

»So,« sagte er, »fertig, und sobald du den Brief überlesen hast, Timotheus, bringst du ihn zur Unterschrift herein. Gott zum Gruße, Burschen,« wandte er sich nähertretend an die Studenten und gab ihnen die Hand. Von dem offenen Zuspruch des fröhlichen Mannes fühlten sie sich in der Ehrfurchtsatmosphäre dieses Hauses erleichtert. »Will sehen, ob der Meister euch schon sprechen kann,« sagte Farel und ging durch eine Tür gegenüber dem Fenster hinaus.

Ein unbeschäftigter Schreiber stand auf und richtete an die Ankömmlinge, sie zum Sitzen auf ledernen Klappschemeln einladend, halblaut, um die übrigen Kanzlisten nicht zu stören, das Wort: »Gott zum Gruße, Brüder. Wir sind unterrichtet über euch. Denkt euch, welch ein Segen Gottes! Der Admiral von Frankreich hat sich in die Gefangenschaft die Bibel schicken lassen und studiert nun in der Einsamkeit das reine Wort Gottes. Wenn der Friede zwischen Spanien und Frankreich geschlossen ist, wird der Admiral frei werden, und dann wohl der Kirche Gottes in Frankreich! Auch Andelot Coligny, des Admirals Bruder, ihr wißt, der bei Parma gefangen wurde und ebenfalls in der Gefangenschaft das reine Wort Gottes kennenlernte, er tritt in Frankreich offen für die reine Lehre ein, hat sich für seine Güter einen Genfer Pfarrer bestellt und den papistischen Unfug abgeschafft. Fürs erste haben ihn die katholischen Wölfe, die Guise, verhaftet. Denkt euch: der Neffe des Marschalls von Frankreich, der Bruder des Admirals 35 und eines Kardinals von Frankreich, als Ketzer im Gefängnis! Aber das ist natürlich alles nur vorübergehend. Die Kirche Gottes macht Fortschritte in Frankreich, und ich fürchte, ihr und wir anderen, die wir hier sitzen und die Genfer Briefe für die Welt schreiben müssen, werden nichts mehr zu tun finden in Frankreich. Schade, schade! Aber wie Gott will!«

Jetzt kam Theodor de Beza, in mittleren Jahren und von vornehmer Haltung, der auch im Predigerhabit nicht den Edelmann verleugnete, der er seiner Herkunft nach war und fast jung scheinend in seiner Gepflegtheit, gemessen eilig mit dem ungestüm brausenden Farel herein. Beza nickte den ihm nun bereits bekannten Besuchern auch freundlich zu, dann aber begab sich jeder von beiden zu einem Schreiber, und sich über dessen Pult neigend flüsterten sie ihr Diktat nach mitgebrachten Konzepten den Schreibern in die Ohren, es mochten diplomatische Briefe sein, denn von diesen Diktaten verstand außer dem Schreiber niemand in der Kanzlei ein Wort. Doch der große Peter, mit unnatürlich scharfen Ohren begabt (er lächelte heimlich darüber, daß man glauben könne, er verstehe ein geflüstertes Wort nicht), meinte »An des Königs Majestät in Polen« gehört zu haben. Farel war zuerst fertig, er verließ wieder den Raum und sagte jovial, als er an den Studenten vorüberging: »Ja ihr müßt schon warten, ihr armen Burschen, heute ist großer Korrespondenztag, zweiundzwanzig Briefe müssen hinausgehen, man wird der reine Kanzleibeamte, und ich selbst bin nur zum Besuche des Meisters gekommen.« Aber kaum war Farel verschwunden, so ging die Tür wieder auf, und die Studenten wurden von Frau Calvin hereingerufen.

36 Das war also nun der große Augenblick! Aber sie waren einfach betäubt, sie taumelten gewissermaßen in das Gemach, und sie standen drinnen, ehe sie recht wußten wie es geschehen war.

Das Gemach war groß und sehr hell. Sie schauten geblendet gegen eine Lichtwand, denn die gegenüberliegende Mauer des Raumes war ganz in Fenster mit Steinkreuzen aufgelöst, durch die sie, als ihre Augen wieder sehen konnten, über die Dächer der unteren Stadt hin, über die rue du marché und die place du Molard und über die Stadtmauer am Hafen hinweg auf den See und über diesen hinaus auf die sanften Landschaften und Hügel der savoyschen Seeseite schauen konnten. Noch immer stand ein Randgebirge von weißen Wolken über diesem Lande, und über den lieblichen graublauen See kamen eben die Boote und Prahme mit den Fuhrwerken der Deutschen in den Hafen herein.

Calvin saß in einem hohen, wenig tiefen unbequemen Lehnstuhl nahe der Ecke des Raumes, wo die leere Langwand an die Fensterwand stieß. Es hatte einen Augenblick gebraucht, ehe sie ihn in diesem lichtdurchfluteten Zimmer gefunden und erkannt hatten. Und da saß er nun!

Die Studenten, in eine Reihe getreten, verneigten sich tief vor dem Meister.

Er sah sie eine Sekunde lang an, einen nach dem andern, hörbar fast, möchte man sagen, ruckte sein Blick vom einen zum andern, und er prüfte im Nu jedem die Seele. Und jeder Angeschaute errötete leicht. Calvins müdes Gesicht straffte sich zusehends, als er die prachtvollen Burschen sah, und er sagte mit einer hohen dünnen Stimme: »Christus segnet euch, ihr Brüder.« Die 37 Studenten beantworteten den Gruß nicht, sie verneigten sich wiederum.

Das war also Calvin! Was für vorgefaßte, was für falsche Meinungen man doch von großen Männern haben kann! Man sieht sie mit vergottender Einbildungskraft wie die Männer der Vorzeit auf den Denkmälern, stolz in der Haltung, gewaltig an Gliedern, mit getürmten Körpern und herrischen Häuptern – und da sitzt nun ein Mensch wie wir, sprechend mit einer Stimme wie wir sie haben, und hier mit einer hohen dünnen und ziemlich kraftlosen (und zwischendrein hustete Calvin einmal stark und hielt eine lange Hand vor den Mund), ein mittelgroßer, doch in seiner Magerkeit lang wirkender Mensch, mit dünnen Beinen, die übereinander geschlagen in dunkeln Kniehosen herausschauten aus dem schwarzen Predigermantel, der gepuffte Ärmel und einen hohen steifen abstehenden Kragen hatte. Auf dem Kopfe ein schwarzes Barett, ein Tellerbarett, aber der Hinterkopf und die Ohren waren von einer langen aus dem Barett heraushangenden kapuzenartigen Klappe ganz bedeckt. Auf den spitzen Schultern lag ein brauner dürftiger, recht schäbig gewordener schmaler Pelz. Calvin, der sich einen Augenblick mustern ließ, hatte wieder einen Hustenanfall, er zog ein Taschentuch heraus, und Peter sah, wie ein kleiner Blutfleck das weiße Tuch färbte. Frau Calvin trat besorgt näher und blieb leicht über den braunen mit Briefen und Büchern bedeckten Tisch geneigt stehen, sie wagte offenbar nicht, den Meister in diesem ersten Augenblicke einer Audienz zu stören. Farel stand an der Wand, mit den Händen auf dem Rücken an die bläulich getünchte gelehnt, ein Kerl von jener Rasse, die hundert Jahre alt wird, mit Augen 38 wie Kohlen und offenbar grundgütigem Herzen. Auch Beza war zurückgekommen und stand mit Briefen da, auch er wagte nicht, ein weiteres zu tun und blieb stehen. Calvin befand sich an Jahren dem Körperanschein nach mitten zwischen den beiden Männern, dem älteren Farel, dem jüngeren Beza. Diese beiden hatten mächtige prächtige Bärte, bei Farel war der Bart flach und breit wie ein Brett, rot, doch ergrauend, bei Beza sorgfältig rund geschnitten und braun, die Bärte hingen unter großen Gesichtern. Calvins Gesicht aber war lang und schmal – oh wie lang, schmal, dünn und fast gläsern zerbrechlich war der Kopf, und nach unten hin verlängerte ihn ein schwarzer Bart, seilähnlich dünn und lang und offenbar oft von nervösen Händen aufgezwirbelt und dünner als er von Natur schon war. Als der Hustenanfall vorüber war, hatte Calvin nasse Augen von der körperlichen Erschütterung. Aber was für Augen hatte er! Nicht die lebensprühenden Farels, sondern Augen wie von Geist und Tod und Jenseits glühend, hell und groß, in dunkeln Höhlen liegend, auffallend nah beieinander stehend, was seinem Gesicht etwas Kindliches gab, und getrennt durch eine lange, sehr lange, sehr dünne Nase, deren Ende krankhaft gerötet war. Hätte man nicht denken sollen, Calvin, dieser Herr der halben Christenheit, habe einen dünnen scharfen, gleichsam mit einem Messer aufgeschnittenen Mund, gleichsam einen Cäsarenmund, den Mund derjenigen, die in Willensanstrengungen oft die Lippen zusammenpressen? Aber nein, Calvin hatte einen zarten, fein geschwungenen, fast kindlichen Mund, gar ein wenig üppig war er, und die Oberlippe ließ einen Amorbogen ahnen – es war eher der Mund eines Leidenden als eines Befehlenden. 39 Zwischen dem sehr dünnen Schnurrbarte und dem langen Barte, der in Strähnen am Ende der mageren Wangen anlief und erst allmählich ein Bart wurde, lag der rote Mund wie eine lebensvolle Oase. Seine Stirn, sehr weiß, sehr weit vorgewölbt, mit scharfen Knochenrändern gegen die Augenhöhlen abschneidend und in gerader Flucht in die lange Nase herabsteigend, war die eines Denkers und eines Kindes zugleich, rein und hell. Und die Augen paßten zu dieser Stirn, etwas Unbeirrbares war im Blicke, aber das Gewinnende an den Augen war ein gewisser Ausdruck des Leidens. Das Schönste, das Schönste an ihm aber waren die Hände, lange, ganz unverhältnismäßig, fast unnatürlich lange Hände, von leicht zitternder Beweglichkeit in den Knöcheln der Finger, das Edelste, was der Schöpfer an Menschenhand erdacht hat. So lagen sie auf den Lehnen des Holzstuhls.

Es war gewiß an ihm, das Schweigen zu brechen und zuerst zu sprechen, die Studenten saßen mit verhaltenem Atem vor dieser, ganz und gar nicht ihrem vorgefaßten Bilde entsprechenden und doch, wie sehr! imponierenden Erscheinung von menschlicher Größe. In Bezas Hand knatterte ein wenig das Pergament, und man hörte den Sand, mit dem die Schrift getrocknet worden war, leise über das Papier niederrieseln. Jetzt sagte Calvin: »Unterrichtet mich mit zwei Worten.«

Die vier der Studenten sahen ihren Peter an, Peter sah Martial an, aber Martial winkte ihm energisch mit den Augenbrauen zu. Da sagte Peter, ein wenig zaghaft zuerst und öfter, sich verlierend, den Satz anders schließend als es nach dem Anfang nötig gewesen wäre, doch bald sicher werdend und voller Ruhe zu Ende kommend, in wenig Worten, woher sie kämen, wohin sie 40 gingen, was sie gelernt und was sie sich als Ziel gesetzt hätten. Calvin nickte befriedigt. Und auf Peterchen hinweisend sagte er: »Und das ist wohl das Wunderkind von Lausanne, der demnächstige Professor, der mit acht Jahren den Kriton des Platon übersetzte?« – »Mit achteinhalb,« warf Peterchen leise ein, und Calvin nickte wieder ob dieser kindlichen Wahrhaftigkeit. »Und nun ist es an mir, euch mit einigen Worten den Mut und den Glauben zu stärken – – denn ihr geht einen schweren gefährlichen Weg, meine jungen Freunde.«

Das klang anders, als was der Schreiber draußen gesagt hatte, und es war also sehr wohl möglich und nicht unwahrscheinlich, daß sie durchaus nicht zu spät in Frankreich ankommen und nicht die Ernte schon geschnitten vorfinden würden, sondern selbst noch schwer und in Gefahr arbeiten müßten auf dem Felde des Herrn. Das erfüllte sie unwillkürlich mit Besorgnis, denn sie hatten doch gern die Siegesnachrichten aus Frankreich im Vorzimmer gehört; aber es erweckte auch ihren Mut. Und nun würde der Meister selbst ihren Mut stärken!

»Du sollst heute nicht zuviel sprechen, Jean,« sagte Frau Calvin, aber er wehrte nur mit der Hand und mit leisem Unwillen auf der Stirn Besorgnis und Einmischung der Frau ab. »Setzt euch auch, ihr Freunde,« sagte Calvin zu Beza und Farel. Aber Beza kam näher und erinnerte: »Die Briefe, Calvin, du weißt . . .« – »Du kannst offen vor diesen jungen Leuten reden, Theodor, wir brauchen mit Geheimnissen vor ihnen nicht ängstlich zu sein sie werden sie wahren, ihre Gesichter sind rein und klug. Gib mir den Brief an den König von Polen . . .« Und er unterschrieb. »Und dieser ist an den 41 König von Frankreich gerichtet,« unterwies er die Studenten, »ich schreibe ihm, er solle sich im vornhinein nicht einlassen in ein babylonisches Wüten gegen die Gläubigen des Herrn, oder der Herr werde ihn wie Nebukadnezar strafen. Denn es mehren sich die Zeichen, daß die Pariser Regierung sich zu einem großen Schlage gegen die junge heimliche Kirche anschickt. Die Kirche breitet sich aus,« fuhr er, von seinem Gegenstande selbst aufgemuntert, fort, »der kleinste Flecken in Frankreich will seinen Genfer Pfarrer haben, in Toulouse fordern vierhundert Studenten eine Kirche zu Genferischem Gottesdienste, und es scheint, als ob sie sogar politisch-föderative Absichten nach Schweizer Art in Hinblick auf das Langued'oc damit verbinden, was ich aber verurteile. Selbst wenn es politisch berechtigt wäre – man soll nicht alles zu gleicher Zeit betreiben wollen, sondern eins nach dem andern, sonst entgeht einem auch das, was man schon in der Hand hat. In Meaux ist bereits eine Vollgemeinde, der Bischof selbst ist uns gewonnen, und ich lobe diesen Kardinal Odet, daß er nicht sofort mit dem König und dem Papste bricht und erst nach und nach den Bilderkult abschafft, aber die Messe vorläufig noch beibehält. Ich lobe sogar die Leute bei Hofe, die man die Nicodemi nennt, mögen unsere Allzueifrigen sie auch nur Halbbekehrte heißen, wenn die Rücksicht auf die Welt und die Aussicht, allmählich ihr Ziel zu erreichen, sie noch vom vollen Bekenntnis zurückhält. Das wäre schönes Theater, aber keine Politik. Unser Herr hat die Klugheit der Schlangen empfohlen. Es kommt auf das Herz an und die ungebrochene Gesinnung. In wenigen Jahren – der Herr gebe, daß ich es noch erlebe – ist ganz Frankreich gewonnen. Aber wenn 42 das sehr rosig aussieht für die Sache, so sieht es sehr grau aus für die Personen. Es wird zuerst eine gewaltige Gegenwirkung des Hofes und der Regierung, des Königs, des Papstes und der Guisen entfesseln, und die nach der Verschwörung von Amboise an die Bäume geknüpften Gläubigen werden viele Nachfolger haben, und die Bäume in Frankreich werden schwer werden von Früchten. Ich sehe nichts weniger als einen Bürgerkrieg in meinem geliebten Frankreich voraus. Ich weiß, daß sich sogar Spanien angeboten hat, Frankreich, seinem natürlichen Feinde und Nebenbuhler in der Weltpolitik, in der Bekämpfung der jungen Kirche zu helfen, wenn erst der Friede zustande gekommen ist. Der Herzog Alba hat von den Niederlanden aus – hört es, ihr Freunde,« wandte er sich zu Farel und Beza, »ihr werdet es auch noch nicht wissen – dem Könige in Paris, denkt euch, dem Feinde seines Königs! angeboten, alle Hilfe, die er zur Bekehrung und Bestrafung der Ketzer, so drückt er sich aus, in Frankreich haben wolle, zu leisten. Genf, sagt er weiter« – Calvin nahm einen Brief und las daraus – »ist die Hölle für dieses Gewürm, der Ausgangspunkt der Agitation. Diesen Herd zu zerstören, müssen, so schlägt er vor, (ich habe das durch einen geheimen Agenten bei Hofe) Frankreich und Spanien sich vereinen. Für uns ist das ein politischer Trumpf,« sagte Calvin, zu seinen Mitarbeitern aufblickend, »denn dann gerät Philipp mit den Schweizern, mit unsern Brüdern zu Bern und der ganzen Eidgenossenschaft aneinander, und ich denke, wir wollen Alba, diesen eisernen Dummkopf, als Politiker dumm wie alle Militärs, auf geheimem Wege ein wenig in seiner Absicht, Genf zu schaden, bestärken. Aber ich fürchte, der schlaue Philipp 43 wird sich nicht verhetzen und sich nicht einen neuen Feind in der Eidgenossenschaft auf den Hals laden lassen, deren Söldner er für sein Heer in den Niederlanden braucht. Aber eine frohe Kunde habe ich für euch alle«, sagte er, und sein Gesicht heiterte sich auf, »für euch alle, auch für dich, Idelette – setzt euch doch, wir haben Zeit, setz' auch du dich, Idelette, – hier brachte die Post einen Brief, der uns das Herz stärken mag. Der Admiral von Frankreich in der Gefangenschaft in Sluys ist uns nämlich viel mehr gewonnen als ihr wißt, der Brief, Farel, den du eben an ihn diktiert hast, hinkt den Tatsachen nach, er ist eher für die Hüter seiner Gefangenschaft bestimmt, denen er ruhig in die Hände fallen mag. Der Admiral ist kein Halber mehr, sondern längst ein Ganzer. Er läßt mir diesen Brief zukommen, und ihr werdet sehen, welch ein weitausschauender Kopf der Admiral ist. Er schreibt: Er werde ganz bestimmt nach der Paraphierung der Friedensbedingungen in nächster Zeit freigelassen, und das Erste was er tue, nun, was wird es sein? Nicht auf seine Güter bei Paris zurückkehren, wo er dem König und dem Zugriff der Regierung zu nahe sei, sondern – ratet! aber ihr werdet es nicht raten – über den Ozean gehen! Nach Amerika! Dort im Golfe von Rio im Lande Brasil hat er schon von Freunden des neuen Glaubens, die ihn noch während der Belagerung von St. Quentin besuchten und die er übers große Westmeer geschickt hat, eine Festung anlegen lassen, die sie ihm zu Ehren – er schreibt, unverdientermaßen – Feste Coligny getauft haben. Ansiedler aus Deutschland, aus den Niederlanden und besonders viele aus Frankreich seien auf portugiesischen und spanischen Schiffen dahin unterwegs, und Gemeinde und Ansiedlung werden bald 44 sehr stark sein. Und der Zweck? Nun, fürwahr, ein Zweck! Eines großen Mannes wert! Der Admiral will von Rio aus dem katholischen spanischen Kolonialreiche entgegen ein französisches protestantisches errichten und auf diesem Wege dann auch das Mutterland, wenn es solche großen politischen Erfolge in der neuen Welt hat, für den Glauben gewinnen. Denkt euch, das Land Brasil und später vielleicht das ganze südliche Amerika protestantisch und in der Hand und Macht der Franzosen – ja, dann folgt das Mutterland bald nach, denn ein katholisches Frankreich kann ein protestantisches Amerika nicht behaupten. Amerika wird Frankreich schon die ungekürzte Bibel wert sein.« Befriedigt und leise um den schmalen Mund lächelnd sah Calvin sich im Kreise seiner Zuhörer um, deren Erstaunen, namentlich Bezas und Farels, groß war.

»Ist es unrecht und unklug, meine jungen Freunde,« wandte sich Calvin plötzlich an die Studenten, »daß ich euch, fremd und unerprobt wie ihr seid, in solche Aussichten blicken lasse und des Mitwissens solcher Pläne teilhaftig mache? Sollte nicht Calvin ein wenig vorsichtiger sein? Aber nein, auch die Vorsicht gehört an ihren Platz, und ein Politiker muß es wagen dürfen, im rechten Augenblicke mit ihr zu spielen. Was ich euch sage, ist bei euch gut behütet. Und selbst, wenn ihr es die Feinde wissen ließet, man würde euch Namenlosen doch nicht glauben. Aber etwas anderes ist nötig: Euch den Mut zu stärken. Und nichts kann ihn euch mehr stärken als der Blick in solche glücklichen Fernen. Denn« – er sprach jetzt von der Sache hingenommen und ohne jede Rücksicht auf die Schwachheit menschlicher Herzen – »ihr werdet nur Blicke in solches glänzende Zukunftsland 45 werfen, aber nicht selbst es betreten dürfen. Ihr werdet sterben wie Moses auf dem Berge. Ich sehe voraus, daß ihr Märtyrer werdet in Frankreich. Ihr geht hinüber im gefährlichsten Augenblicke, wenn es auch nur für ein paar Ferienwochen sein wird. Und ihr werdet nicht zurückkehren, der König und die Kirche werden euch ergreifen. Denn grade jetzt, wo es für uns alle so glänzend steht, ist der gefährlichste Augenblick, jetzt grade, wie immer vor der Niederlage, ist die letzte große Kraftanstrengung des Papismus und des Königtums, ja der beiden vereinigten, bisher feindlichen Königtume zu erwarten. Aber ihr sollt wissen, im voraus wissen, welche Saat aus eurem Blute« – Frau Calvin sah die Studenten erschrocken an, aber Calvin redete hinweggetragen von der Sache und im Gedanken nur an die Sache – »aus eurem Blute aufgehen wird. Dann ist leicht sterben, wenn man weiß, daß man nicht umsonst stirbt, der wahrhaft größte Tod, man kann es sagen, ist der vergebliche. Doch dieser größte wird euch vorenthalten bleiben. Aber wenn ihr vor dem Tode überhaupt zittern solltet,« sagte er, und es war, als kehre sein Geist von weitem Fluge über Länder und Zeiten in diese Stube und zu diesen jungen Leuten und ihren bangen Herzen zurück, »dann sagt es nur, ihr könnt nach Lausanne zurückkehren oder auch hier bleiben, ich brauche noch ausgesuchte Gehilfen für meine Kanzlei, und ihr wißt schon einiges wie die Schreiber, die jungen Brüder draußen, denn auch diese muß ich ja in einen großen Teil meiner Geheimnisse einweihen. Sprecht, junge Freunde, und seid ganz ohne Sorge, eure Furcht zu bekennen, denn Gott der Herr hat das Menschenherz gemacht, und daß es Furcht empfindet ist nicht schmachvoll und sündhaft. Unser Erlöser 46 selbst hat Blut geschwitzt im Garten. Aber als er den Kelch getrunken hatte – wenn man sich einmal entschlossen hat, bis zum bittern Ende zu gehen und alle Taten, die nötig werden, zu tun, und alles Leiden, das aufgeladen wird, zu tragen und selbst, wenn es sein muß, das Leben hinzugeben: dann, ja dann freilich gibt es kein Zurück mehr, dann wäre ein Verzagen Schmach und Sünde. Überlegt es euch, meine jungen Freunde,« sagte er geschäftsmäßig, als handle es sich darum, für ihn einen kleinen, ein wenig gefährlichen oder nur mühevollen Botengang zu tun oder gar die Stellen in seiner Kanzlei anzunehmen, und er nahm die neuen Reinschriften der Briefe vor, die der älteste Schreiber der Kanzlei, Timotheus, eben hereingebracht hatte. Er überflog die ausgefertigten Briefe mit dem Auge – flüchtig, da er sich auf die Genauigkeit seiner Freunde und Diener verlassen konnte – setzte seinen steilen Namenszug unter das manu propria, streute Sand aus der Büchse über die nasse Schrift und gab die Briefe Beza, damit er sie mit seinem, Calvins, Ringe siegle.

Die Studenten saßen von der Wucht der unerwarteten ungeheuren Eröffnung betäubt und vernichtet da, ihre Augen glühten, ihre Köpfe brannten, sie murmelten halblaut aus innerer Erregung Worte, Erwägungen, Fragen, Befürchtungen, Vermutungen. Sie sahen einander an, und jeder holte sich Mut beim andern, Bernard bei Karl, Karl bei Martial, Peterchen bei Peter, und alle bei Peter. Freilich, mit der Möglichkeit der Gefahr hatten auch sie gerechnet, mit dem Gedanken gleichsam gespielt und das Märtyrertum wohl vor Augen gehabt, als in weiter Ferne liegend vor Augen gehabt. Aber es ist doch etwas anderes, wenn es einem so nahe gerückt 47 wird, wenn das bittere Ende fest in sicherer Zukunft steht, wenn ein außerordentlicher Mann wie dieser, eingeweiht in alle Geheimnisse der westlichen Kabinette und hellseherisch ins Zukünftige schauend, es mit so nackter Deutlichkeit voraussagt. Man ist jung, und das Leben ist noch nicht allzu ergiebig gewesen, die Enttäuschung hat es einem noch nicht verleidet. Es ist gänzlich falsch zu sagen, einem jungen Menschen, der das Leben ja noch nicht kenne, sei es leichter, es aufzugeben als einem älteren, denn der ältere kennt seinen dürftigen Inhalt und setzt ihn entschlossener an eine Aufgabe von Größe und Bedeutung; aber dem jüngeren malt unbestimmte Hoffnung gleißenden Zauber, und wie soll er glauben, daß nicht etwas von all dem blinkenden Schein schöne Wirklichkeit werden könnte? Nein, das Leben gewinnt nicht, sondern verliert auf die Dauer an Wert, und nicht, wer es hat, hängt zähe daran, sondern wer es erwartet.

Calvin war fertig mit Unterschreiben, und als er sein glühendes Auge wieder auf die Studenten wandte, da nickten sie, plötzlich doch heilig entschlossen, gleichzeitig, und sie sprachen einstimmig: »Wir gehen nach Frankreich!«

Aber Calvin schien auf einmal spöttisch zu lächeln, und es war klar, daß er noch Vieles und Wichtiges zu sagen hatte. Er nahm einen bequemeren Sitz in seinem Stuhle ein, – er setzte sich auf dem ledernen Kissen von der einen Seite seines Körpers auf die andere, es war ersichtlich, daß er an Hämorrhoiden litt – sah die jungen Menschen an und öffnete wieder den Mund. Aber Idelette Calvin wollte ihm jetzt das Reden verbieten und sagte: »Genug, Jean, ruhe aus« – doch Calvin, plötzlich voll Zorn im ganzen Gesichte und furchtbare Augen 48 ihr zukehrend, rief: »Schweig, Weib!« Dann mußte er wieder heftig husten, und größere Blutflecken erschienen auf seinem Tuche. Er hustete erbärmlich und lange, und als es vorüber war, wischte er sich große Tränen der Anstrengung aus den Augen, reichte seiner Frau die Hand und sagte: »Verzeih, Idelette, du weißt, ich bin so jähzornig. Ich werde mich bessern. Aber du darfst mich auch nicht unterbrechen« (redete er eigensinnig und wieder fast heftig), »wenn Gott mir zu reden gebietet, und zu diesen jungen Männern zu sprechen befiehlt er mir in diesem Augenblicke. Das mußt du doch selbst einsehen!« Und ohne ein Wort von ihr abzuwarten fuhr er fort: »Ihr seid mutig und entschlossen, meine jungen Freunde, aber ich fürchte, euer Mut ist mehr Unkenntnis eures Herzens und des menschlichen Herzens überhaupt. Wenn ihr jetzt zurücktretet, so ist es kein Versagen, und niemand wird euch darum kränken, ich werde die größte Achtung weiter vor euch haben. In meinen, in unseren Augen verliert ihr nicht, wenn ihr vor uns wenigen Menschen, die wissen, wie schwer der Mut ist, zurücktretet. Aber freilich, wenn ihr später versagen würdet, sobald die Augen der Welt auf euch gerichtet sind, wenn ihr inmitten von Feinden und Gefahren versagen und verzagen würdet und wenn ihr dadurch die heilige Sache vor der Welt schädigtet, den Glauben selbst also zum Gespötte der Ungläubigen und Heiden machen würdet, dann würde ich euch verachten und würde vor Gott kein Wort der Entschuldigung und keine Fürbitte für euch haben, sondern ich würde euch ohne Erbarmen in die Hölle gehen lassen. Seid ihr einmal draußen, so gibt es keine Schwachheit mehr, und der Herr mag euch stärken. Es ist mir ein bretonisches Lied zugekommen, 49 das unsere Brüder in Frankreich singen, von einem Mädchen, das den Meßgang weigerte und von der eigenen Mutter dem Pfarrer angezeigt den Henkerstod starb unter den freudigen Worten: ›Ich sehe Jesum, der mich abholt‹. Das ist das mindeste, was ich von euch erwarte. Aber hört, ich rate euch geradezu: tretet zurück! Tretet zurück, noch ist es Zeit, tretet in meine Kanzlei ein, ich brauche kluge eifrige schweigsame Leute, ihr seht, die Korrespondenz mit Europa häuft sich zu Bergen. Farel, mein Freund, der mich auf einige Tage besucht, muß hier mitarbeiten wie ein Beamter. Tretet zurück, ich rate euch, ja ich bitte euch, sagt, daß ihr nicht den Mut habt, sagt, daß ihr noch nicht den Mut habt, er kann noch kommen, der Herr wird euch weiter befestigen, und nach einigen Monaten meldet ihr euch vielleicht zu einem gefährlichen Gange.« Er wurde hitziger, neigte sich aus seinem Stuhle vor und über den Tisch hin und redete auf sie ein, und seine geisterhaften Hände, lebhaft im Reden bewegt, schienen ein Doppel seines Mundes: »Euer Mut ist ja noch gar kein Mut, euer Mut ist Feigheit, ihr seid einfach feige, ihr zaudert, vor uns Vertrauten euern Mangel an Mut einzuräumen. Ihr zaudert, ihr seid verlegen und benommen vor mir. Aber wenn ihr weggegangen seid, werdet ihr eure Benommenheit bereuen und werdet sagen: Wo haben wir die Vernunft gehabt? Warum haben wir den Mund nicht aufgetan? Und ihr könntet hier den Mund auftun, so weit ihr wollt, und ihr brauchtet gar nicht feige zu sein. Hier wenigstens könntet ihr Mut haben! Hier zeigt ihn, wenn ihr ihn habt! Seht, Mut, es ist so eine Sache mit dem Mute. Die ihn haben, müssen keineswegs immer die besten sein, und die ihn nicht haben, brauchen 50 durchaus nicht immer die minderen zu sein. Das hoffe ich wenigstens für mich selbst. Denn seht, ich bin garnicht mutig. Seht, ich, Calvin, euer Meister, den Gott in diese Stellung wider seinen, Calvins, Willen berufen hat und der sie als ein schlechter Diener ausfüllt, ich bin garnicht mutig. Mut, müßt ihr wissen, ist nämlich auch eine Sache des Blutes, des Berufes und oft, sagen wir es, der Dummheit. Der Jäger hat Mut, der Holzknecht hat Mut, der Tierbändiger, der grobe Landsknecht hat Mut, alle die mit den kleinen Köpfen haben Mut. Alle die, welche die Gefahr nicht erkennen und den Wert des Lebens nicht zu schätzen wissen. Die Bauern haben Mut, wir Städter haben keinen Mut mehr, wir fürchten uns vor den Hunden auf der Straße und vor den Mäusen in den Häusern. Mut ist eine Sache der Veranlagung und des inneren Gefühls, des inneren Sicherheitsgefühls, ja eines Stolzes, den wir in uns haben müssen, und der Verachtung der Welt und des Trotzes gegen sie. Ich habe diesen Trotz nicht, das heißt, ich habe ihn nur, wenn ich hier in diesem Zimmer bin, wenn ich der Welt von ferne trotzen darf, in Gedanken, in Absichten, in Plänen, in meinem ganzen Sein und Wollen. Und wenn es stille um mich ist, denn dann bin ich Ich selbst. Wenn es aber laut um mich ist, wenn die Gasse tobt und die Menschen schreien und brüllen oder mir auch nur in die Augen sehen, dann werde ich mutlos. Ich glaube, ich kann von hier aus die ganze Welt um des Glaubens willen revolutionieren – aber es brauchte nur einer mit einem Stocke vor mich hinzutreten und mir zu drohen, so würde ich alles zurücknehmen. Gegen Wissen und Willen, aber ganz von selbst. Ich bin ohne Talent für die Öffentlichkeit. Ich bin einfach nicht für das Auftreten 51 in der Welt gemacht. Ich bin scheu und furchtsam, ich mißtraue mir vor Menschen selbst, ich liebe es nicht, mich in den Vordergrund zu stellen, eine Rolle zu spielen im Angesichte der Menschen. Ich wäre gemacht für das Kloster, wenn es dafür heute nicht zu spät wäre, ich hätte vielleicht hinter stillen Mauern einen ausgezeichneten, vielleicht gar einen kühnen Denker abgegeben, aber zwischen mir und der Welt müßte eine Mauer sein. Ich bin furchtsam, ich bin empfindsam, ich bin scheu – ich kann es nicht anders sagen. Die Menschen, fremde Menschen, die mich anschauen, verwirren mich, ich predige deshalb nur im kleinen Raume des Auditoriums, in Saint Pierre würde ich mich verlieren, und ich wage nicht aufzusehen, wenn ich predige. Darum bin ich ein schlechter Prediger und Beza ist ein guter. Der beste aber ist Farel. Farel, du weißt doch, wie du mir zugesetzt hast, als ich damals auf meinem Wege von Paris nach Basel über Genf kam, wie du mir zugesetzt hast, in der Herberge zum ›Schwarzen Kopf‹, ich müsse hier bleiben und die Kirche Gottes übernehmen.« (Farel nickte.) »Du bist der Richtige, Farel, habe ich gesagt, du bist ein gewaltiger Prediger, du bist ein Volksmann, bist ein Trotziger, dein Mut wächst, wächst aus Trotz, wenn du gegen dich gereckte Arme siehst, aber in mir duckt sich dann alles nieder. Seht, ja, ich bin mutig, doch, ich bin mutig – wenn ich am Schreibtisch sitze! Ich sage es, weil die Ehre Gottes und das Glück seiner Kirche es will. Hier, hier ist ein Exemplar meines Werkes, durch das ich zuerst die Augen der Welt, namentlich die Farels, auf mich lenkte, die Institutio Christiana, hier ist sie, ihr kennt sie, und ihr kennt auch die Widmung, die ich auf die erste Seite schrieb. Und an wen richtete 52 ich sie? An den König, an meinen König, an den König in Frankreich! Und es bedeutet ein wenig, wenn ich zu schreiben wagte: ein König, der Gott nicht gehorcht und nicht vor allem den Ruhm Gottes sucht, übt keine gesetzliche sondern nur eine angemaßte und geraubte Gewalt aus. Ja, das hab' ich geschrieben – aber in Basel, fern von Frankreich! Mein Vater war Notar des Bischofs von Noyon, er trotzte dem Bischofe und starb als Exkommunizierter. Mein Bruder starb als Exkommunizierter, man hat seine Gebeine noch aus dem Grabe gekratzt und unter dem Galgen verscharrt. Und ich? Hätte ich auch angesichts des wütenden Bischofs und der Herren seines Vikariats trotzen können? Ich floh! Ich floh nach Bourges. Und dort, als ich dem Rektor Cujas, welcher Luther zuneigte, auf seine Bitte die Rektoratsantrittsrede verfaßte und er sie auch hielt und die Universität tobte – was tat da ich? Ich floh! Ich floh aus Frankreich, Gott führte mich hierher, ja, und von hier, aus der Ferne, im sichern Genf, kann ich wohl furchtbar sein. Farel hatte, als ich nach Genf kam, bereits den Papismus aus den Tempeln verjagt, die Mönche verjagt, den Rat gewonnen, und das Regiment Gottes in dieser Stadt aufgerichtet – ich hätte es nie vermocht. Ich bin ein stiller Studierender und Denker und Bücher- und Briefeschreiber in meiner Klause, ich konnte in der Institutio die Welt der Kirche umstoßen. Nun ja, deswegen hielt mich Farel dann fest, er bat, er beschwor mich – umsonst, ich hatte Furcht vor den Tumulten. Und hätte er dann nicht Gott angerufen und geschworen, daß es Gott gefalle, und daß Gott gebiete, daß ich meine Ruhe in Basel aufgäbe und die Stille meiner Stube und Studien und daß 53 ich mich nicht der großen Notwendigkeit versagen dürfe, beim Himmel, er hätte meine Zusage nicht erhalten. Ist es so, Farel?« (Farel nickte.) »Und nun bin ich da und schreibe Briefe an Könige und Kaiser, an Inquisitoren und Bischöfe, an die heimlich und offen Gläubigen, an Gefangene und Märtyrer, an alle Mutigen und namentlich an alle Kleinmütigen – und ich selbst bin solch ein Kleinmütiger. Farel sollte an meiner Stelle sein, der Ältere, der Frohere, der Tüchtigere, statt sich in Ergebenheit für mich zu verbrauchen,« (Farel wehrte mit den Händen ab, und das hieß: Ich wußte, was ich tat) »Farel, der Volksmassen zu leiten und zu entzünden versteht und der sich am Sonntag mit seinen Bauern prügelt, wenn sie nicht in die Predigt gehen wollen, während ich hier an meinem Schreibtisch hocke und aus wunder Lunge huste. Ich bin ein Mann der Feder und bekomme den Mut am Schreibtisch, aber wie ich mich in Leibesgefahr und Lebensnot benehmen würde, weiß ich nicht. Doch, ich glaube, ich weiß es: ich glaube, wenn ich den Scheiterhaufen rauchen sehen würde – ich würde widerrufen! Ich würde widerrufen! Mein Gott, ich könnte wohl nicht anders! Gnade mir Gott, daß ich nicht einmal gezwungen sein werde, wie Luther nach Worms oder wie Zwingli nach Kappel zu gehen. Ich muß mich mit einer freien und festen Stadt panzern wie Genf, die Eidgenossen müssen mir den Rücken decken, und ich darf es mit den Herren in Bern, in Zürich und in Schaffhausen nicht verderben. So, nun wißt ihr's, und nachdem ich euch mein wahres Gesicht und wie ich selbst mich sehe gezeigt habe, nicht so wie die Welt mich sieht, die das Bedürfnis hat, bei ihren Helden alles in melius zu vergrößern, überprüft 54 nochmals euren Entschluß, oder vielmehr – folgt einfach meinem Rate: Tretet zurück!«

Da sprang Peter auf, ließ sich vor Calvin auf ein Knie nieder, ergriff eine seiner Hände, eine seiner beseelten geisterhaften Hände, die ein Leben für sich zu führen schienen, und rief aus: »Wenn wir einmal geschwankt haben – jetzt schwanken wir nicht mehr! Segnet uns, Meister, und laßt uns ziehen.«

Auch die vier anderen beugten ihre Knie.

Da erhob sich Calvin, plötzlich verändert, mit einem Schlage wie verwandelt, mächtig und groß, erhob sich und hob seine Hände auf – gewaltig vergrößert wurde die Segensgebärde durch den wie Flügel von den Armen hangenden schwarzen Mantel – Farel und Beza hoben ihre Hände zum Segen, und Idelette Calvin kreuzte die Arme feierlich über ihrer Brust – so weihte man die Jünglinge zum Tode.

Ein schwarzer Flugblitz zuckte draußen vor dem Fenster einher, und ein Vogelschnabel stieß hart wider das Glas, Idelette Calvin rief: »Die Schwalben sind da! Es ist Frühling!«

 


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