Josef Ponten
Die Studenten von Lyon
Josef Ponten

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Mittlerweile hatte die französische Regierungskammer ganz formell und in einem juristischen Spruch die Berufung der Studenten als zu Unrecht von einem französischen Gerichte abgeurteilter Schweizer akademischer Bürger abgelehnt, und ein langer Schriftsatz darüber wurde ihnen zugestellt. Nun aber hatte der treue Hans Leyner, der Kaufmann, zu einem letzten und fast verzweifelten Mittel gegriffen: die Reichsstädte, namentlich Augsburg, gegen den König aufzubringen und sie zu bereden, mit dem Mittel der Geldverweigerung auf ihn zu drücken. In Lyon konnte er für die Gefangenen nichts mehr tun, denn der Inquisitor hatte, nach der Wirkung jenes Briefes von Calvin, den Gefangenen den Briefverkehr, auch den Briefempfang unterbunden. Und überhaupt hielt er es für psychologisch gegeben, zu einem strengeren Regiment zurückzukehren, ohne nun freilich den Gefangenen jeden Verkehr untereinander zu untersagen. Aber sie konnten sich nicht mehr alle Tage sehen. Als Hans Leyner dergestalt in Lyon entbehrlich war, reiste er über Genf, wo er in der Eile Calvins Rat einholte, nach Augsburg und fand dort auch nicht unwillige Aufnahme. Zwar mochten sich die Augsburger das 271 Geschäft mit dem Könige nicht ganz um fünf unbedachter junger Männer willen verderben, sie lehnten es also ab, dem Könige das Geld zu verweigern, und die aufgelegte französische Anleihe wurde auch gezeichnet. Aber der Augsburger Rat fühlte sich doch so sehr als Hort einer neuen Konfession, die eben nach seiner Stadt benannt wurde, daß er in einem Schreiben an den König erwähnte: Schwierigkeiten könnten bei der Einzahlung der Anleihe, die zwar gezeichnet sei, aber doch erst Mitte März in bar vorliege, seitens der deutschen Zeichner gemacht werden. Und ließ durchblicken, daß Hemmungen in der Einzahlung verursacht werden könnten durch die Nachricht von einer etwaigen Exekution an den fünf jungen Studenten in Lyon. Deren Prozeß sei in der ganzen Stadt bekannt, und die Kunde davon begönne die Christenheit zu erfüllen, Kunde von einer Sache, die zu einer internationalen sich auszuweiten im Begriffe stehe. Aber so war nun Franz: Der Teufel soll die Reichsstädte holen! Jetzt erst recht nicht! So hatte dieser wohlgemeinte Schritt der deutschen Städte (denn die Reichsstädte des neuen Glaubens in Deutschland schlossen sich Augsburgs Vorgehen an) genau die der gewollten entgegengesetzte Wirkung. Freilich packte der König es diplomatischer an als damals mit seiner Antwort an die Schweizer, denn die deutschen Städte, seine Geldgeber, fürchtete er mehr als die Schweizer Länder, aus denen ihm nur Soldaten zukamen. Auch waren Beleihungen des Staates ein ganz neues Großgeschäft, er war auf diesen genialen Gedanken gekommen, die Welt war noch nicht daran gewöhnt, und man konnte nicht wissen, ob der Gedanke sich bewähren und Zukunft haben werde. Darum keine Störungen in den Anfängen! Es galt, 272 über jenen Einzahlungstermin ungefährdet hinwegzugleiten! Er ließ, in Saint Germain weilend, den Boten in Paris unter Vorwänden hinhalten und ließ ihn im Glauben, der Brief der Städte lagere bei den Ministern in Paris. Zwei oder drei Wochen mußte der Bote warten, es wurde ihm bedeutet, der König sei gerade zum Frühlingsaufenthalt nach Saint Germain gegangen, dort mit Jagd und ländlichen Vergnügungen beschäftigt, und es sei sein strenger Befehl, daß seine Erholungszeit durch nichts, durch garnichts gestört werden dürfe. In Wirklichkeit aber gingen Befehle des Königs nach Lyon, die Sache sowohl zu verzögern – bis zum 15. März! – wie auch zu beschleunigen – nach dem 15. März! und nach diesem Datum endlich mit der verfluchten Angelegenheit aufzuräumen.

 

Eines Tages trat Matthieu Ory wieder zu den Studenten, die er hatte sich versammeln lassen, ein. Er war ein anderer als der, den sie kannten. Noch gemessener als früher war er, kalt war er jetzt wie ein Eiszapfen. Er sagte, er habe ihnen eine Kunde zu bringen, die sie nicht ohne Aufmerksamkeit anhören würden – von Calvin.

»Von Calvin?« staunten mißtrauisch die Studenten. Der Mönch brachte eine Nachricht von Calvin?

Nun, über Calvin, die Nachricht von einem gewissen Ereignis, in dem Calvin seine Rolle gespielt habe.

»Also, was denn?«

»Kennt ihr einen gewissen Michael Servet?«

Hm, ja, den kannten sie, man hatte von ihm gehört . . . gaben sie vorsichtig, mißtrauisch und einsilbig zur Antwort.

Er sei in Genf.

273 Ja, man habe das gehört, vergangenes Jahr, auf der Reise hierher.

»Was soll mit ihm?« frug Peter. Aber der Inquisitor wich aus. »Ich habe euch gesagt,« sagte er zu Peter gewandt, »daß auch die Neuen, die Revolutionäre manchmal reaktionär werden, wenn die von ihnen entfesselte Bewegung zu weit, weiter als ihre Wünsche es zulassen, geht.« – Ja, das habe er gesagt, sagte Peter, um etwas zu sagen. – »Nun, Servet . . .,« der Mönch hielt ein, grausame Schadenfreude in seinem Gesichte, die er um keinen Preis unterdrücken konnte, und weidete sein Herz eine Weile an den, Ungewißheit und doch ahnungsweise (denn was konnte der Mönch gute Kunde bringen!) Schrecken bekundenden Gesichtern der Studenten.

»Calvin hat ihn als Ketzer verbrennen lassen!« rief er laut aus, brüllte er fast, so hatte ihm die Schadenfreude das Stimmaß verdorben. Er schlug sich aufs Knie, es hieß: Trumpf! Er mußte, er konnte nicht anders.

Die Freunde saßen verdonnert.

Da sagte Peterlein einfach: »Das ist nicht wahr.« Martial und Peter sagten: »Das glauben wir nicht.«

»Ist nicht wahr, junger Herr?« rief Ory lachend. Und zu Peter und Martial: »Ihr werdet mir glauben.« Er zog ein fliegendes Blatt hervor, und darin stand es denn: Calvin hat Servet verbrennen lassen.

Aber als sie sich alle auf das Blatt stürzten und danach griffen, entzog Ory es ihnen schnell. Halloh, nicht so stürmisch! Man wird sich doch wohl gedulden können! Er zog sich mit seiner Zeitung zwei Schritte zurück, sodaß man ihm das Papier weder nehmen noch in es schauen konnte (vielleicht war das eine oder andere den Burschen vorzuenthalten) und trug aus dem Blatte vor:

274 Also da war Servet, von der Lyoner Inquisition verfolgt (»auf Denunziation von Genf hin!« erläuterte mit lächelndem Nachdruck Ory, »bisheran hatte ihn die unduldsame Kirche in Frankreich in schöner Ruhe gelassen, ja er hatte die Freundschaft eines Erzbischofs genossen«), aus der Gefangenschaft im bischöflichen Gefängnis entwischt und heimlich über die Grenze nach Genf gelangt, wo er Schutz suchte bei Calvin. »Aber als ob ein guter Geist ihn zuerst geführt hätte,« warf der Dominikaner ein, »suchte er nicht sogleich Calvin auf, sondern hielt sich eine ganze Weile bei einem Franzosen in der Herberge zur goldenen Rose verborgen. Eines Tages aber, nach einem halben Jahre, der Heimlichkeit müde oder aus Leichtsinn oder auch in gewisser Hoffnung, was weiß ich« (jetzt las der Mönch wieder): »begibt er sich in das Auditorium, wo Calvin predigt, Calvin erkennt ihn und läßt ihn, als er nach Beendigung der Predigt Kanzel und Saal verläßt, verhaften. Er läßt ihn vor Gericht stellen und erhebt selbst die Anklage wider ihn: Er habe in seiner restitutio Christianismi die Berechtigung der Kindertaufe geleugnet und die heilige Dreifaltigkeit einen Zerberus mit drei Köpfen genannt. (Der Unverschämte!« warf unwillkürlich der Mönch ein – sieh da, er und Calvin waren Bundesgenossen!)

»Man kennt diese Behauptungen Servets,« sagte Martial einfach, »das ist schon alt.«

Gut, das ist alt.

Er habe auch Moses widersprochen und die Fruchtbarkeit Palästinas geleugnet . . .

»Ja, er hat die Geographie des Ptolemäus neu herausgegeben und kommentiert,« wußte Peterlein. »Es ist 275 auch wahr, das weiß jedermann: Palästina ist unfruchtbar. Und das ist auch unwesentlich.«

»Aber in Genf weiß man es nicht, und in Genf ist es nicht unwesentlich,« bockte Ory auf, »denn man klagt ihn an.«

»Was geschah weiter?« frug ungeduldig Martial, müde dieser Ausfälle auf Genf.

»Man klagt ihn an. Man stellt ihn vor den Rat. Der Rat legt sich die Befugnis eines geistlichen Gerichtes zu, weil der Angeklagte wegen der Verwerfung der Kindertaufe ein Wiedertäufer sei und der Rat die Schrecken von Münster dem behaglichen Genf drohen sieht« – lachte Ory schadenfroh. Denn warum hatte Genf sich auf diese ganze Sektiererei eingelassen?

»Und was tut Servet?« frug Bernard.

»Er leugnet,« sagte (kleinlaut) der Inquisitor.

»Hört, er leugnet!« rief Martial.

»Der Rat der Dreißig kommt zum Beschluß, das Gutachten der Kirchen von Zürich und Basel einzuholen, und das Gutachten der Kirchen von Zürich und Basel . . . nun . . .?« frug hämisch der Inquisitor, »wie lautet es? wie wird es wohl lauten? Auch die neuen Kirchen von Zürich und Basel« (mit einem durchdringenden Blicke auf Peter) »drehen zurück, rufen zurück, pfeifen zurück, blasen ab – habe ich es nicht gesagt? Sie bekennen, daß wer die Dreifaltigkeit leugnet, von allem andern zu schweigen, ein Ketzer und mit ihm zu verfahren sei wie Rechtens. Die Sache kommt wieder an den Genfer Rat, und – er verurteilt Servet zum Tode durch Feuer.«

»Zum Tode durch Feuer,« wiederholte der Inquisitor, als die Studenten nun keinen Ton des Widerspruches mehr von sich gaben, »zum Tode durch Feuer. Aber 276 Calvin, der edle Calvin« (er konnte den Hohn nicht unterdrücken) »beantragt ›Tod durch das Schwert‹, das sei weniger schmerzlich und diffamierend.«

»Wie ging die Sache weiter?« drängte Martial.

»Servet sitzt im Gefängnis des Rates. Er leidet an Angstzuständen, er leidet von der Kälte und Läusen, er leidet auch an Koliken, und es quält ihn ein Leistenbruch.«

»Er leidet an Angstzuständen?« frug Martial. »Und was tut er in diesen Angstzuständen?«

»Als ihm das Urteil, zu dem nun das eingegangene Gutachten der Züricher und Konsorten das Recht gibt, verkündet wird: Tod durch das Feuer, denn der Rat fühlt das Bedürfnis, sich calvinischer als Calvin aufzuspielen, schreit er: Misericordia! Misericordia! . . .^

»Hört, er schreit misericordia!« stellte Martial fest. »Aber was tut er dann? Inbezug auf die Behauptungen, was tut er? Nimmt er sie zurück?«

»Er nimmt sie nicht zurück,« sagte leise der Inquisitor.

»Hört, er nimmt sie nicht zurück!« stellte Martial fest.

»Und dann? Und dann?« drängte Karl. – »Was tut Calvin?« frug Peter.

»Calvin läßt ihm den Farel kommen, der ihn zum Widerruf bewegen soll« (»denn er selbst getraut sich nicht vor seine Augen,« glaubte der Inquisitor hämisch hinzufügen zu dürfen), »oder auch als letzten Beistand.«

»Ganz wie bei uns!« stellte Martial fest. »Nur heißt Farel bei uns Ory und, wir können es nicht leugnen, Farel wäre uns lieber. Aber was tut Servet? Kann der Meister Farel ihn zum Widerruf bewegen? Nimmt er zurück?«

»Farel hat keinen Erfolg,« räumte fast gegen seinen Willen der Mönch ein.

277 »Hört, auch Meister Farel hat keinen Erfolg!« stellte Martial fest. »Ganz wie bei uns, wo Herr Ory keinen Erfolg hat! Und da will Herr Ory Erfolg haben, wenn ein Kerl wie Farel keinen hat! Servet nimmt nicht zurück.«

Jetzt hätte der Inquisitor am liebsten geschwiegen. Er verwünschte sein Blatt. Aber er saß nun einmal im Gefährt seiner Neuigkeit, das Gefährt lief, geschoben, gestoßen von diesen Neugierigen. Er mußte weiter berichten. »Servet gibt sich der Verzweiflung im Gefängnis hin, er jammert, er betet, er schreibt Bittschriften, er rast, er tobt . . .«

»Nimmt er zurück?« frug Martial.

Aber der Dominikaner ging über diese Frage hinweg und berichtete weiter: »Servet tobt auch wider Calvin, er sucht die Partei der Libertinisten, der Ami Perrin und Genossen, die sich von Calvin bedrängt fühlen, wider Calvin aufzubringen, es gelingt ihm durch einen Protest wegen eines Formfehlers, die Sache zur neuen Verhandlung zu bringen, die Libertinisten Genfs, Calvins Feinde, unterstützen ihn schwach, der Rat bietet ihm einen neuen Prozeß an, der wahrscheinlich mit Freispruch, auch von der Staatsanklage wegen der Wiedertäufersache, enden werde, wenn er nur seine falschen Behauptungen zurücknähme . . .«

»Und was tut Servet? Nimmt er zurück?« frug Martial.

»Er nimmt nicht zurück,« berichtete der Mönch sachlich aus seinem Dokumente (froh, daß er sich in etwas Sachliches retten konnte).

»Er nimmt nicht zurück! Servet nimmt wieder nicht zurück! Man kann das Pferd ins Wasser zwingen, aber 278 nicht, daß es säuft!« rief Martial mit plötzlichem Lachen. Es knallte.

»Und das Urteil wird vollstreckt.«

»Und Servet nimmt bis zum letzten Augenblicke nicht zurück!!« stellte Martial mit hocherhobener Stimme fest.

»Und wie geschieht es?« frug Bernard mit geschwollener Kehle.

Aber Bernard braucht nicht zu fragen, wie es geschieht, nicht um den Bericht zu bitten, wie man Servet verbrennt, jetzt ist der Mönch wieder obenauf, er wird sich die Wirkung dieses Berichtes auf die Fünf, namentlich auf ihn, Bernard, nicht entgehen lassen. Und während er bisher über das Dokument mit dem Auge hingesprungen ist und offenbar das eine oder andere ihm nicht günstig Scheinende ausgelassen hat, jetzt liest er ausführlich, nachdrücklich und fast feierlich den genauen Bericht von dem schauerlichen Geschehnis vor:

»Am Montag der letzten Woche also, gegen 11 Uhr vormittags führt man Servet vor das Rathaus, wo ihm die Sentenz noch einmal verlesen wird. Beim Hören des Todesurteils hat er einen neuen Anfall von Verzweiflung, er wird wieder gefragt, ob er zurücknehmen wolle . . .«

»Nimmt er zurück??« Martial kann es gar nicht abwarten, er springt mit der Frage hinein: »Nimmt – er–zurück –??«

»Als er aber auch diesmal hartnäckig bleibt, so bildet sich der Zug. Am Kopfe der Seigneur Lieutenant und der Henker, darauf die Soldaten und der Gefangene, begleitet von Farel, und eine Volksmenge, die weniger zahlreich ist, als man sie gewöhnlich bei peinlichen 279 Exekutionen sieht – berichtet das Blatt!« wirft der Inquisitor ein, »denn auch die Genfer,« sagt er, »haben etwas gegen die Genossentreue ihres Meisters Calvin einzuwenden und protestieren durch Abwesenheit. Man geht durch die Straße der untergehenden Sonne« –Bernard nickt bei dem Namen – »hinaus und über die Ebene von Plainpalais nach dem Dörfchen Champel, der Zug kommt an, der Scheiterhaufen ist fertig. Ihn sehen und ein furchtbares Geheul ausstoßen ist für Servet eins. Er stürzt zu Boden. Er wälzt sich im Staube, er umschlingt die Beine des Henkers, er schreit misericordia und leckt dem Henker den Wegestaub von den Schuhen . . .«

Stille. Der Inquisitor hat, selbst gepackt vom menschlich Ergreifenden des berichteten Vorgangs, einen Augenblick innegehalten. Und in die Pause fallen die aus verzerrtem Munde kommenden Worte Karls: »Jetzt muß er wohl zurückgenommen haben . . .« Aber der Mönch – sieh da, der Erzähler nimmt, hingerissen, die Partei des Helden seiner Erzählung, er ruft, für und mit seinem epischen Helden gleichsam triumphierend, Karl zu: »Fällt ihm nicht ein! Nein, er tut es nicht!« Und dann doch beschämt, sich so haben verführen zu lassen, flüchtet er wieder ins Sachliche und berichtet aus dem Blatte weiter: »Servet wird mit dem Rücken gegen den Scheiterhaufen gestellt, und Farel fragt ihn zum letzten Male leise, ob er bereue und zurücknehme . . .«

»Jetzt nimmt er zurück,« glaubt Bernard vorwegnehmend sagen zu können, sagt er in einer Art von Vision, obgleich es, nach dem ihm ja bekannten Ende, doch ein Unsinn ist, aber er, Bernard, würde wohl angesichts gewisser Hölzer zurückgenommen haben . . .

280 »Nimmt er zurück –???« Martial ist aufgestanden, sein Ohr ist nur eine Handbreit entfernt vom Munde des Inquisitors.

»Da auch hier Servet verneinend das Haupt schüttelt . . .«

»Er verneint! Er widerruft nicht! Er stirbt! Er hat sich gegeben und sich nicht zurückgenommen!« sagt Martial mit Feierlichkeit und läßt sich schwer auf seinen Sitz nieder.

»Da auch hier Servet wieder verneinend das Haupt schüttelt,« liest der Mönch – nein, er kann doch nicht anders – fast begeistert, ehrlich begeistert und entzündet von soviel bewiesener Menschengröße, aus seinem Texte weiter, »wird er vom Henker auf den Scheiterhaufen gestellt, der Scherge setzt ihm eine Papierkrone auf, die mit Schwefel getränkt ist, damit die Besinnungslosigkeit beschleunigt wird, dann bindet er ihn an den Pfahl und legt um Pfahl und Leib des Delinquenten eine Kette, und in die Kette hängt er, in der Mitte aufgerissen, seine Bücher. Dann leuchtet die Fackel vor den Augen des Unglücklichen auf, der Anblick des Feuers entreißt ihm einen Schrei des Schreckens . . .«

»Widerruft er nicht noch in diesem Augenblick?« ruft, schreit schnell in rasendem Zungenschlag, den auf den Tisch niedergelegten Kopf jäh aufrichtend, Martial.

». . . und bald ist von Servet auf der Erde nichts übrig als ein Häufchen Asche.«

Da also saßen die Studenten. Saßen still und stumm da. Niemand sah auf von dem Brette des Tisches, auf den sie niederblickten oder sich niedergeworfen hatten. Man hörte weinen. Der Inquisitor faltete das Flugblatt 281 zusammen und steckte es in die innere Tasche seines schwarzen Überwurfs.

»Ihr seht also, meine Freunde,« sagte er ernst und selbst erschüttert, »wozu auch die Kirche der neuen angeblichen Freiheit greift, wenn es ihr zu weit getrieben wird, und ihr seht, daß auch sie Freiheit als Entsagung, Freiheit als Unterwerfung im gewissen Augenblicke versteht. Nichts anderes fordern wir. Vielleicht gibt das euch zu denken. Vielleicht kommen wir nun zum guten Ende. Ich überlasse euch euch selbst. Bleibt hier beisammen. Morgen früh werdet ihr einen andern Entschluß für mich haben.«

Er ging leise hinaus, anders – stiller, würdiger – als er gekommen war.

Die Freunde saßen, lagen gebrochen da. Niemand sprach.

Plötzlich, nach langer Weile plötzlich, sagte Peterlein hell: »Servet ist für uns gestorben. Er hat sich gegen die Genfer Staatsgesetze vergangen, ja. Aber sein Vergehen kam Calvin gerade recht, er hat durch das harte Urteil dem Könige, der Welt, unserm Gerichte zeigen wollen, daß auch die Genfer Kirche keine Befürworterin des Schrankenlosen und daß von ihrer Freiheit keine Gefahr für die öffentliche Ordnung zu befürchten ist. Daß auch sie auf Ordnung hält. Der Meister hat uns retten wollen . . .«

Das war furchtbar! Das war entsetzlich! Servet für sie gestorben! Durch Calvin gestorben! Schwer zu glauben, aber sie fühlten es, es war so. Daß Servet gestorben war, und daß Calvin ihn getötet hatte, und daß Servet ihretwegen gestorben war . . .

282 Es war den Studenten nicht möglich, über das Schicksal Denis Peloquins, des Priesters, etwas zu erfahren. Der Inquisitor, der auch »morgen früh« die Studenten nicht gefügiger sondern unzugänglich, einfach »verstockt« (hatte er gesagt) vorgefunden hatte, schwieg sich auf alle Fragen nach Peloquin hartnäckig aus. Er konnte ebenso »verstockt« sein wie die Herren. Vielleicht gehörte es auch zu seiner psychologischen humanistischen Methode, durch genaue Schilderung des einen Geschehnisses die Freunde zu schrecken und gleichzeitig, sie über andere im Ungewissen lassend, durch das Geheimnis zu wirken. Sie wußten, Peloquin war damals aus dem Gerichtssaale abgeführt und als Priester ins bischöfliche Gefängnis eingeschlossen worden, wo er wie in einem Grabe versunken schien. Was mochte mit ihm geschehen sein? War er bereits hingerichtet worden? Aber das sie wissen zu lassen würde sich der Inquisitor kaum haben entgehen lassen. Hatte er widerrufen? Aber das würde der Inquisitor am allerwenigsten verschwiegen haben! Oder wurde er dort besonderen geistlichen Exercitien und Seelenmartern unterworfen oder einfach als Geisteskranker behandelt? Oder hatte man ihn – das wäre ein besonders feines Stück gewesen – als einen krank, also unverantwortlich Gewesenen, jetzt aber wieder Genesenen wider seinen Willen in seine priesterliche Würde und in seine Stellung an der Grenze als Seelenfänger zurückversetzt (»ach was, du warst, bist vielleicht noch krank, wirst schon wieder vernünftig werden!«)? Es war nicht herauszubringen.

Doch unterrichtete der Dominikaner sie von des Königs (der nach gewissen politischen Erfolgen, namentlich dem einer großen Auslandsanleihe, fröhlich und tätig sei) 283 »großem Reinemachen«, wie Ory es in einem Augenblicke scheinbaren (nur scheinbaren!) Sichselbstvergessens zynisch nannte. Der Pastetenbäcker Pierre Bergier wurde ganz plötzlich eines Tages verbrannt, Ory erwähnte es nur in einem Nebensatze – der Nebensatz (als Nebensatz!) tat die erwartete Wirkung besondern Schreckens. Ausführlich aber berichtete er von der Verhaftung eines französischen Edelmannes Louis de Marsac, der, in Genf wohnend, von Genf aus versucht hatte, einen Vetter Michel Girard aus Dijon in das sichere Asyl – »haha! was sagt Servet dazu?« – zu bringen –– er fiel mitsamt seinem saubern Vetter am Grenzzoll in die Hände des Königs. Es wurde auch ein Schreiner Etienne Gravot verhaftet; er hatte sich geweigert, einen an der Landstraße nach Mâcon stehenden riesigen Feldkruzifixus aus Holz, der vom Wetter schadhaft geworden war, auszubessern, weil das Götzendienst sei, da man »Bilder nicht anbeten dürfe« – der beschränkte Kopf, der den schönen Kult der Bilder wörtlich nahm und nicht wußte, daß auch die Kirche die Bilder nicht »anbetet« sondern sie nur »verehrt«, in ihnen als Symbolen Gedanken verehrt! Die Prozesse gegen die Drei verliefen schnell und ohne Schwierigkeit, weil sie als französische Bürger keine wirklichen und keine Scheingründe hatten, an die Pariser Kammer zu appellieren und weil auswärtige Einmischung für sie nicht zu erwarten war. Sie wurden kurzerhand verurteilt und warteten darauf, »in einem großen Aufräumen« (damit spielte der Inquisitor auf ein gewisses bevorstehendes Ereignis auf der place des Terreaux an) »erledigt« zu werden. Auch ein Etienne Peloquin, ein Verwandter des Priesters, ein Fuhrmann, der eine Truppe flüchtiger Hugenotten hatte nach Genf 284 bringen wollen, war gefaßt worden und wartete gleichfalls auf seine »Abfertigung«. Ferner saßen im königlichen Gefängnis zwei Leute namens Pierre Chambon und Matthieu Dymonet – was es mit diesen auf sich hatte, darüber schwieg Ory sich wieder aus. Aber nach einiger Zeit erfuhren es die Gefangenen, ihr Schließer flüsterte es ihnen zu. Pierre Chambon war ein Kollege von ihm gewesen, der Schließer im andern Flügel, wo der Bäcker gesessen hatte, und der Bäcker hatte durch seine schlichte unbelehrte Weise und ohne es besonders zu wollen bewirkt, was vielleicht einem Gelehrten, selbst Calvin nicht gelungen wäre (denn Volk hält zum Volke): er hatte ihn bekehrt. Und der Schließer ließ durchblicken . . . Nein, es war wohl noch zu früh, ihn näher zu befragen, das mußte langsam reifen wie die Wintersaat im Rhonetale . . . Matthieu Dymonet aber war ein junger Lyoneser Seidenkaufmann, er hatte sich mitten in einem wilden Genußleben nach dem schrecklichen Tode eines jungen Mädchens dem Ernst der neuen Lehre zugewandt und glaubte durch lautes Bekenntnis sein Verbrechen zu sühnen: er hatte das Mädchen betrunken gemacht, um es leichter zu verführen, das Mädchen aber war im Zustande der Trunkenheit in eine mit schadhaften Brettern gedeckte Fäkaliengrube gefallen und darin erstickt. Nun verstanden plötzlich die Studenten eine Stelle in einem ihnen auf Schleichwegen zugegangenen Briefe Zollikofers, wo dieser den jubelnden Ausruf Bezas in einem an ihn, Zollikofer, gelangten Briefe zitierte: »Durch Gottes Gnade wandelt sich das Gefängnis, in dem unsere fünf Freunde liegen, in eine fünffache Kanzel, von der aus das reine Wort durch die ganze Stadt Lyon und noch weiter dringt.« Das 285 war für sie eine große Erhebung, das wirkte namentlich auf diejenigen der Freunde, die mit einer gewissen Schwäche zu kämpfen hatten.

Und dann ist folgendes Ungeschick zu verzeichnen. Die Berner Herren hatten, vielleicht nur, um wenigstens ihre Würde als Landesherren und Patrone der Lausanner Universität zu wahren, auf Betreiben des aus Bern stammenden Thomas Zollikofer einen neuen dritten Brief an den König gerichtet, in dem sie ihren Protest gegen die Verletzung der Freiheit ihrer akademischen Bürger erneuerten, aber auch eine letzte Bitte um Gnade aussprachen. Calvin jedoch, der in Weltgeschichte dachte, hatte, erschüttert auch und grausam aufgeklärt durch die völlige Wirkungslosigkeit seiner Unerbittlichkeit gegen Servet, diesen Schritt in einem Briefe an Viret in Lausanne als ganz aussichtslos bezeichnet (»die guten Kaufleute in Lyon meinen, man müsse doch noch etwas versuchen. Mir scheint die Bemühung nicht nur unnütz sondern geradezu widersinnig. Denn es ist gar keine Hoffnung, daß der König sich dazu bringen läßt, seine wiederholte deutliche Erklärung zu widerrufen. Das Schicksal unserer Brüder ist besiegelt. Gott bedarf offenbar ihrer.«). Viret übersandte eine Abschrift dieses Briefes Calvins an Thomas Zollikofer, weil der in einem Briefe an ihn sich allzuviel von seinem Schritte in seiner Vaterstadt und von dem Schritte seiner Vaterstadt zu versprechen schien und die Gefangenen daher die Lage als nicht ernst genug ansehen möchten. Im Schreiben Virets an Zollikofer war gesagt, dieser möchte die Gefangenen entsprechend unterrichten. Der Brief kam in Zollikofers Agenturbüro für Seiden an, als Zollikofer gerade im Begriffe stand, mit Lyoner Fabrikanten einen vorteilhaften 286 Lieferungsabschluß zu machen, und der Kaufmann, vom Geschäft und der Notwendigkeit, die Brüder eiligst zu unterrichten, verwirrt, steckte versehentlich die Abschrift des Briefes in den Umschlag zu seinem eigenen Schreiben an die Studenten, das er im Sinne Virets schnell aufgesetzt hatte, und ließ den Brief den gewohnten Weg gehen.

Der Brief geriet aber in die Hände Orys. Dieser war natürlich grausam und diplomatisch genug, ihn sofort an die Gefangenen weitergehen zu lassen, und so kamen Calvins harte Worte ungemildert an die Freunde.

Und wie wirkten sie da? Ach nein, Ory war doch kein Menschenkenner! Sie wirkten mehr, als ein Aufmunterungsbrief Calvins hätte wirken können. Die Studenten lasen die Worte, als wären sie nach ihrem Tode geschrieben. Als hätten sie die Unwidersprechlichkeit vollendeter Tatsachen der Geschichte. Sie sahen sich selbst in einen Weltzusammenhang gestellt. Sie fühlten sich als Figuren auf dem Brette der Welt, mit denen der Allmächtige sein großes Schachspiel spielt. Martial sagte: »Dann will ich mich noch einmal ordentlich frisieren lassen, versengte Haare kann ich nicht riechen.« Peterlein weinte, aber nur, weil er so jung war, und mit hellen Augen, und weil er kein anderes Ausdrucksmittel für das, was in ihm vorging, hatte. Und Bernard und Karl? Auf sie wirkte das Beispiel der anderen, wirkten die Worte des Briefes (»Das Schicksal unserer Brüder ist besiegelt. Gott bedarf offenbar ihrer«), und eigene beste Entschließung gewann langsam die Überhand über Furcht und Ängste. Und wirkte auch, es muß gesagt werden, die Aussicht auf einen Platz im Märtyrerbuche. Denn alle Hilfen sind dienlich, und auch das Meer besteht nur aus Tropfen.

287 Da – eines Morgens trat Denis Peloquin, der Priester, zu ihnen herein, lächelnd, friedlich, gütig, milde. Er ließ sich sofort auf einen Sitz nieder und lehnte sich wider die Wand. Er trug ein weißes Gewand.

Welches Erstaunen! »Denis Peloquin, ihr seid es wirklich? Wir glaubten euch tot oder glaubten euch in Freiheit, erzählt, erzählt! Wie ist es euch ergangen?« Und Denis mit der Hakennase, den roten Strümpfen und der Tonsur (sie war etwas verwildert, die Tonsur, und zugewachsen) erzählte. Es war ihm wohl nicht ganz gut ergangen. Es war ihm vielleicht ein bißchen schlecht ergangen. Man hatte wohl das Recht gehabt, ihn als abtrünnigen Priester ein wenig schärfer anzufassen. Man hatte ihn zuerst in ein finsteres Loch geworfen, ein unbedingt finsteres Loch, er wurde von oben durch eine Öffnung in der Decke hinabgelassen, er hatte sich auf ein Querholz setzen müssen, das an einem über eine Winde laufenden Seile hing, und wurde in das Loch hinabgelassen. Er langte unten in völliger Finsternis auf einem ein wenig feuchten Steinboden an, das Seil ging zurück, dann hörte er, wie oben die Einfahrt mit einem Holzdeckel geschlossen wurde. Nun, da war es nicht kurzweilig, zu sehen war wie gesagt unbedingt nichts, und man kannte bald die Örtlichkeit. Man tastete den Boden ab, man erreichte eine Mauer, sie war rund, man war im Kellerraum eines Turmes. Nur die ersten drei Minuten boten Unterhaltung, man kann es verstehen, die der Erkundung, und dann war es aus. Für lange. Anscheinend für sehr lange. Wie lange, das konnte er nicht sagen, denn es gab nicht Tag und Nacht zu zählen. Was von oben herunterkam, ein bißchen Speise und Trank, kam auch sehr 288 unregelmäßig, wahrscheinlich nicht alle Tage, denn er litt oft Hunger, und so erwies sich auch dieses Maß, die Tage zu zählen, als unsicher. Zuerst hatte er nach den Perioden gezählt, in denen er wachte und schlief, er war bis dreiundzwanzig gekommen und hatte wohl angenommen, er sei jetzt dreiundzwanzig Tage im Loche. Aber dann war er doch ganz unsicher, ob nun wirklich draußen Tag sei, wenn er drinnen wachte, und ob draußen die Sterne am Himmel gingen, wenn er schlief. Und das war sehr quälend gewesen. Aber allmählich hatte sich sein Geist ein wenig getrübt und verwirrt . . . und das war vielleicht eine Wohltat gewesen. Darüber waren wohl noch einmal dreiundzwanzig Tage, vielleicht und wahrscheinlich ein paarmal dreiundzwanzig Tage, hingegangen, man konnte das alles nicht sagen. Schlangen? Nein, Schlangen hatte es da unten keine gegeben, es ist eine unwissende Mär, daß es in tiefen Gemäuern Schlangen gebe, Schlangen lieben doch die Sonne, nicht wahr, sie liegen draußen auf den warmen Steinen, auf den Waldblößen u. s. f., nicht wahr? Überhaupt kein lebendes Wesen hatte es da gegeben außer ihm, außer vielleicht auch einmal einer Assel, blind wie er selber, die er wohl mal mit den Händen ergriff. Aber sie war ihm sogleich wieder entwischt. Er liebte diese Assel und behandelte sie zärtlich, aber wie gesagt, sie entwischte eiligst, sie hatte keinen Sinn für seine wiederholten Zärtlichkeiten. Und wie sollte man auch Zärtlichkeit einer Assel bezeigen? Ein Mensch mit seinen großen groben Fingern? Und es war ja auch nicht ausgemacht, daß es die drei Mal, da er die Assel ergriff, dieselbe Assel gewesen war.

289 Schrecklich war der Geruch gewesen, sie könnten es sich denken . . . Wenn oben der Deckel geöffnet wurde, dann habe er manchmal Widerschein eines Lichtes, einer Kerze oder einer Laterne im Gewölbe über dem Loche, an dem die Winde hing, gesehen, denn auch der Raum über seiner »Kammer« (lächelte er) war fensterlos gewesen, und manchmal den gewaltig vergrößerten, wider das Gewölbe der oberen Kammer geworfenen Schatten eines Menschen, eben des, der ihm den Kessel heruntersandte. Er habe den Menschen auch angerufen, aber nie eine Antwort bekommen, es war dem Manne gewiß verboten, mit ihm zu sprechen. Einmal aber habe der Mann sich geräuspert, unmittelbar nach seinem Anruf und ein wenig auffällig – das war offenbar die Antwort des Mannes auf seinen Anruf gewesen, eines furchtsamen Mannes gewiß (aber was sollte er tun?). Und dieses Räuspern – ach Gott, wie wohltuend kann ein Räuspern sein! Es war ein Liebeswort gewesen, dieses Räuspern! Aber wie gesagt nur einmal.

Da habe er natürlich viel Zeit gehabt nachzudenken, über sie, die Studenten, seine Freunde, und was jetzt wohl mit ihnen geschehen sei. Ob sie lebten? Oder ob sie schon gestorben seien? Oder ob sie in Freiheit lebten im schönen Frankreich, nachdem sie widerrufen hätten– sie möchten nicht böse sein, er habe es in seiner Geistesverwirrung für nicht unmöglich gehalten, daß sie widerrufen hätten. Ob er selbst an Widerruf gedacht habe –? Nein, nein, ganz und gar nicht, der Gedanke sei ihm nicht gekommen. Vielleicht sei er auch zu schwach gewesen ihn zu denken, er wisse es nicht. Es sei wohl so gewesen, daß Widerrufen sich zu einer gewissen 290 Lebenslage nicht mehr schicke und infolgedessen einem einfach nicht der Gedanke komme. Aber nun sehe er, sie hätten nicht widerrufen. Natürlich hätten sie nicht widerrufen, das gebe es nicht! Er habe dann selbstverständlich viel nachgedacht über sie, ihre Worte, Martials und Peters Rede vor Gericht und über das, was sie miteinander im Zollhofe gesprochen hätten und was dort jeder einzelne ihm, auch Bernard und Karl und der kleine Peter – ach, dem gehe es ja wohl! er freue sich! – gesagt hätten. Nun, das sei seine Unterhaltung in der Leere gewesen, eine andere habe er natürlich nicht gehabt, und es habe auch gar keiner andern bedurft; denn, nicht wahr, wir hören viel und mancherlei und verstehen es nicht, wir lernen es sogar und verstehen es nicht – und plötzlich verstehen wir es! Ganz plötzlich, es kommt von selbst! Es ist wohl das, was die Kirche und die Schrift Gnade nennen, nicht wahr, und diese Gnade, die gibt es überall, nicht nur in der Schrift und in der Religion. Alles ist eben Gnade, was uns einfällt und was wir erkennen, ganz tief und wahrhaftig, sodaß wir nie daran denken es aufzugeben, sondern wissen, daß es zutiefst und zuletzt mit uns verwachsen ist, und für das wir dann leben und sterben. Nicht wahr, darüber hat man dann viel nachzudenken und hat Unterhaltung genug damit. Man sollte nicht soviel Aufsehens von der Gnade machen, das habe er erkannt, man mache doch auch kein Aufsehen davon, wenn im Frühjahr die Bäume ausschlagen und blühen. Man freut sich, das ist alles. Die Gnade ist aber wohl nichts anderes, als wie wenn der Mensch, der bisher ein verdorrter oder auch ein winterlich schlafender Baum war, plötzlich ausschlägt und blüht! Und man freut sich . . .

291 Das alles sagte Denis Peloquin mit einer außerordentlich milden und sanften Stimme und aus ganz rachelosem Herzen, sodaß die Studenten sich tief und ehrfürchtig verwunderten. Besonders auf Karl und Bernard machte diese Erzählung, in der nicht ein Wort von Haß und Zorn wider die Feinde war, ja in der die Feinde überhaupt nicht erwähnt wurden, so als ob sie gar nicht da wären, den allertiefsten Eindruck.

Er habe dann zuletzt auch viel gesungen, erzählte der Priester weiter, »Nach Frankreich wollen wir reisen, ri-ra-reisen« und »Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn«, eben die Lieder, welche die deutschen Soldaten in Collonches in der Kaserne allabendlich sangen, sie erinnerten sich. »Es wohnt ein Bauer im Schwabenland, der hat ein schönes Weib, schi-scha-schönes Weib und die hat einen schönen Leib. Ja, so sangen die Soldaten,« lächelte er milde und ganz friedlich. Er habe früher nicht viel auf die Soldaten gehört (überhaupt, was sei er früher für ein Mensch gewesen! nicht zu glauben!) aber er habe es in seiner Kammer bedauert. Er habe bedauert, es nicht getan zu haben – ja, wenn der Mensch sein Leben zurückleben könnte! Und dann, sie möchten es glauben, habe er selbst Lieder gemacht. Sie möchten nicht böse sein, weltliche Lieder, sehr, sehr weltliche Lieder. In der Art der Soldaten. Vom Liebchen des Reitersknechtes und ähnliches, ob sie ein Liedchen hören wollten? Auch Marienlieder von der Art wie: »Maria zu lieben« und »Wie schön scheint die Sonn'«, denn das sangen die Soldaten immer, Marienlieder und Lieder vom Feinsliebchen, bei dem sie schliefen, alles durcheinander. Und er begann zu singen: 292

»Maria, Himmelskönigin,
dich will der Mai begrüßen.
Sieh meinen reinen frommen Sinn
und mich zu deinen Füßen,
zu dei-ei-nen Fü-üßen.

Und dann, wie machte der Soldat dann, L'Allemand du Luth:

Schrumm, schrumm, und im selben Atem weiter:

Es schlief ein Bauer bei seiner Magd,
Si-Sa-Mi-Ma-seiner Magd,
bis an den kühlen Morgen . . .«

Ach, er sei nicht sehr geschickt und erfinderisch, die Soldaten könnten es besser. Sie möchten aber sein Gerede geduldig anhören, sie möchten ihm das Schwatzen freundlich nachsehen, wie sie es ihm im Zollhofe nachgesehen hätten. Er habe ja so lange schweigen müssen, und da sei es denn verständlich, daß es Lust mache, sich wieder einmal vor Ohren, die hören könnten, der schönen französischen Sprache zu bedienen, und es werde auch nicht für lange sein. Auch im Grenzhofe sei es ihm ein Bedürfnis gewesen, denn obschon er da reden konnte, mit dem guten Vorsteher und mit den braven Soldaten, die soviel Heimweh nach Köln und Schwabenland hatten, es sei doch nicht dasselbe, wie wenn man mit einem Menschen von seiner eigenen Art reden könne. Und reden müssen habe er auch oft mit den Reisenden, denen er die Koffer und Taschen untersuchen mußte, nach Büchern, nicht wahr, aber das war ein böses Reden, und es sei doch sonderbar, wie lange oft Gott einen in der Finsternis des hellen Tages wandeln lasse und einem dann plötzlich in der Finsternis einer Gefängniskammer das Licht leuchtet! 293 Er sei überhaupt immer ein bißchen schwatzhaft gewesen, schon in seiner Jugend, schon zuhause und in der Schule und in Montpellier, er habe auch in den Vorlesungen der Professoren immer einmal ein bißchen mit dem Nachbar schwatzen müssen, es sei ohne das nicht abgegangen, er habe einfach nicht den Mund halten können. Nun, dann, da unten habe er sehr lange den Mund halten müssen, aber da habe er mit sich selbst geredet und geplappert, wie es die kleinen Kinder tun, wenn sie im Bettchen liegen und noch nicht schlafen. Aber ja, mit sich selbst reden, das ist doch das Beste! Man hat da allerhand zu reden und zu fragen, und man braucht sich auch nicht zu schämen und kann ganz offen reden, so offen wie sonst niemals im Leben. Denn sonst lügt man ja immer einmal, wenn man von sich mit einem andern redet, denn in den tiefsten Grund seines Herzens läßt doch niemand einen andern schauen, es ist allerhand darin in der dunklen Tiefe, mehr als in einem Turmloche, wahrscheinlich auch Schlangen. Ach bitte, sie möchten ihn nicht fragen, sondern ihn reden lassen, reden lassen, die Zeit dränge ein wenig. Er möchte ihnen noch gerne von seiner Mutter erzählen, die ihn mit Bitten und Tränen bestürmt habe, Priester zu werden. Und von seinem Vater, der ein kreuzbraver Mann gewesen sei und das Drängen der Mutter nicht gern gesehen habe. Aber die Mutter sei energisch gewesen, und der Vater habe wenig zu benedeien gehabt – benedeien, sagte er, benedicere, sie verständen als Lateiner, aber es heiße nichts anderes als: zu sagen, zu wünschen, zu kommandieren; denn das Volk ist höflich und ironisch und sagt dafür benedicere, es hört es ja oft in der Messe. Ach, da draußen kämen ja wohl Leute . . . Nein, sie gingen vorbei, schön! Er sei dann eines Tages ganz 294 plötzlich aus dem Keller geholt worden, es sei ein Mann mit einer Fackel oben über dem Loche erschienen und habe das Seil mit dem Querholze daran hinabgeschickt und gerufen, er solle sich darauf hocken. Er habe es getan, aber er sei wohl zu schwach gewesen, auf einem dünnen Holze zu reiten und mit den Händen sich am Seile festzuhalten, und sei sofort heruntergefallen, sodaß der Mann, von einem Andern geschickt, sich am Seile herabhangelnd heruntergekommen sei und ihn auf das Querholz setzen und mit einem Riemen um den Leib an das Seil habe binden müssen. Und dann habe man ihn hinaufgewunden. Nun, das war nicht sehr schön, und auch da oben war es nicht schön, das Licht, das Licht habe ihm furchtbar weh an den Augen getan. Und als sie ihn in einen Nebenraum geführt hatten, der Fenster hatte, durch die der weiße Tag hereinbrach (er hatte geglaubt, es sei gerade Mitternacht gewesen), da habe er etwas wie einen Schlag auf die Augen gefühlt und gerufen: Misericordia. Die guten Menschen haben ihn eine Weile in Ruhe gelassen und ihn dann durch das Fenster ins Freie schauen lassen – aber da sei die Welt sehr häßlich gewesen! Sehr, sehr häßlich gewesen. Er habe sie sich in der langen Finsternis so schön, so schön geträumt gehabt, aber wie er sie plötzlich wiedergesehen habe, sei sie sehr, sehr häßlich gewesen, er sei furchtbar enttäuscht gewesen. Vielleicht sei es da unten doch besser gewesen. Nur die Luft war oben köstlich, ganz köstlich! Oh, er habe sie tief geatmet. Aber die Menschen haben gewollt, daß er nicht länger da unten sei, und haben ihn in einen Saal geführt, wo der Inquisitor war und viele viele Menschen. Die haben ihn ausgefragt, ihn viel, sehr viel gefragt aus den Vätern und der Schrift und alles, was man 295 im theologischen Seminar gelernt hat. Aber er habe das alles vergessen, und das Wenige, das er wußte, einige Sätze von der Art, wie sie sie im Zollhofe gesprochen hätten, haben sie nicht hören wollen. Sie haben ihn dann gefragt, ob er widerrufen wolle, und sie haben sich mit seinem bloßen Kopfschütteln zufrieden gegeben, denn sie waren doch gut, die Mönche, und wollten ihn nicht länger quälen. Sie haben ihn sogleich unter einen Schragen gelegt, Seile an die Hände und Füße getan und ihn ein bißchen ausgespannt. Es habe wohl etwas wehgetan, namentlich in den Schultergelenken, aber nachdem sie das eine Stunde getan und ihn auch an der Seite gebrannt hatten, denn er sei nackt gewesen, haben sie abgestanden und ihn wieder in Ruhe gelassen. »Sie haben das aber viele Male wiederholt und sind natürlich des langweiligen Spieles müde geworden und haben gesagt: ›Schluß. Es ist nichts mit dem zu machen.‹ Nun ja, das hätte ich ihnen ja gleich sagen können. Und habe es auch getan, aber sie wollten nicht hören. Nun haben sie sich soviel unnütze Arbeit gemacht. Ob sie das schon sind?« (Er horchte gegen die Tür.) »Kommen da Leute? Verzeiht, daß ich immer unterbreche, aber ich bin wohl ein bißchen hellhörig in der stummen Nacht geworden.« Sie haben ihn dann ins Krankenhaus gelegt, in das Krankenhaus des Gefängnisses, wo ein Wächter vor der Tür steht, und Nonnen haben ihn gepflegt, sehr, sehr gut gepflegt, aber der Schmerz sei nicht aus seinen Gelenken fortgegangen, und er habe nimmer sitzen können. Er habe immer liegen müssen, und es habe lange, sehr lange gedauert, bis er so weit gewesen sei, daß er wieder ein bißchen gehen konnte. Doch beim Sitzen müsse er sich immer anlehnen, an die Mauer lehnen, wie jetzt, sie 296 müßten entschuldigen. Aber man habe ihm befohlen, gesund und wieder stark zu werden, denn man habe unbedingt gewollt, daß er wieder gehen könne, er habe noch einen Gang zu machen, habe man ihm gesagt. Namentlich der Inquisitor habe das gesagt und ihm gedroht, denn er sei immer wieder gekommen und habe immer wieder jenes Eine gefragt, bis er ihm antwortete: »Aber, lieber Bruder, warum bemühst du dich so und machst dir soviel Arbeit, wo ich doch das nicht sagen kann, was du wünschest?« Da ist er schließlich zornig fortgegangen, der Inquisitor, und hat sogar geflucht – nun ja, ich habe auch früher geflucht, Gott verzeihe es uns beiden. Jetzt kommen sie aber wirklich . . .,« rief er aufspringend und mit Anstrengung sich geradehaltend. Und wirklich, er hatte richtig gehört, die Tür ging auf, der Inquisitor trat mit zwei roten Männern herein und fünf Soldaten mit ihnen.

»Nun, unwürdiger Priester,« sagte er, »Denis Peloquin, das Urteil über euch ist rechtskräftig geworden, der König hat es bestätigt. Folgt uns, der Scheiterhaufen ist gerüstet.«

»Sogleich, Bruder,« sagte Denis Peloquin, strahlend und gütig, »sogleich, ich werde dich nicht warten lassen, laß mich nur meine Brüder hier umarmen, die soviel Nachsicht mit mir hatten und es eine halbe Stunde lang geduldig anhörten, wie ich noch einmal meine liebe französische Sprache sprach. Sie haben mich nicht unterbrochen. Lebt wohl, Brüder, ich umarme euch. Lebt wohl. Ich danke euch. Und denkt nicht an den bösen Priester in Collonches, wenn ihr an mich denkt, den Schwätzer, sondern denkt ein wenig an den, der euch seine Erleuchtung verdankt, und denkt, wenn ihr an mich denken 297 wollt, an den, der in der schönen Finsternis saß und Lieder sang . . .«

Der Inquisitor, die Brauen finster, war ungeduldig geworden, er ließ sich von seiner Ungeduld so weit hinreißen, selbst die Hand an den Verurteilten zu legen, er faßte ihn so derb am Arme an, daß Peloquin über seine schwachen ausgerenkten Beine stürzte und von den Soldaten aufgehoben und wieder auf die Füße gestellt werden mußte. Dann führten sie ihn hinaus, er drehte sich in der Tür um und warf einen Blick den Freunden zurück, strahlend, doch schon fast jenseitig, seraphisch. Und ging.

Tief bewegt, tief bewegt und feierlich schweigend saßen die Freunde. Lange sagte keiner etwas. Plötzlich meinte Karl: »Ich glaube, jetzt kann ich es auch. Wie ist es mit dir, Bernard?« Bernard sah starr vor sich hin . . . dann nickte er.

 

Matthieu Ory ließ nicht ab. Zwar hatte auch die Schreckung mit dem Tode des Priesters nichts geholfen, aber was nicht ist, kann werden. Man hatte ja noch mehr Gottesbraten am Spieße. Der Brandgeruch des vielen Menschenfleisches mochte ihnen doch einmal die Nase verstimmen. Es war nun einmal so gekommen, daß die Fünf die Hauptpersonen in diesem weit ausholenden Spiele waren. Obgleich ihnen zuerst aufgetischt worden war, fügte es sich, daß sie zuletzt an die Reihe kamen, die heiße Suppe zu löffeln. Mein Gott, es waren ja nur Burschen, noch nicht alle ganz reif und vielleicht nicht alle ganz verantwortungsfähig, aber ihre Sache war eine internationale Angelegenheit geworden, und ihr Prozeß hatte sich zu einem europäischen Skandal 298 ausgewachsen. Außerdem würde es ein Hauptspaß und ein dickes Vergnügen für die Christenheit sein, wenn es gelingen würde, diese jungen Burschen, die in den vielleicht unverdienten Leumund gekommen waren, persönliche Freunde Calvins zu sein, der Sache Calvins abspenstig zu machen. Der Inquisitor mochte auch zuviel über die Prozeßführung des Generalvikars Buatier gespottet und die allgemeine Erwartung auf seine eigene Geschicklichkeit und auf seine neuen Methoden zu hoch gespannt, er mochte sich ferner gar zu sehr dem Kardinal gegenüber festgelegt haben, genug, sie, gerade sie durften nicht auf den Scheiterhaufen kommen, gerade sie mußten sich die Freiheit erkaufen! Erkaufen durch das bißchen Widerruf – der Preis wurde immer niedriger, je länger das Angebot dauerte. Aber freilich die eine, die kleine, die letzte Summe mußten sie zahlen. So wurde dem Dominikaner jedes Mittel recht, so wandte er schließlich dasselbe Mittel an, das Calvin vergeblich angewandt hatte: andere für sie sterben zu lassen. Wenn auch der Priester, der Abtrünnige, der Gefährliche, der geistliche Verbrecher gerechtermaßen sterben mußte, so hätte man doch, mein Gott, den armen Fuhrmann, der dem Tode fast mit Stolz auf die ihm zufallende Rolle und zuteil gewordene Ehre entgegensah, und gar den simplen Schreiner, der sich weigerte, einen schadhaften Kruzifixus auszubessern, unter anderen Umständen auf eine schickliche Weise laufen lassen. Nun aber hatten sie als Schreckvögel für die Fünf zu dienen – mochten sie also braten! Und da war noch dieser Kaufmann Dymonet, da war auch dieser Edelmann de Marsac und sein Vetter. Dymonet war ein Lyoner, und es war peinlich, daß gerade in dieser Stadt ein Mann aus dieser Stadt braten sollte. Ein Mann 299 aus einer angesehenen Familie! Und der Kardinal gar mit ihr verwandt! Satan, aber was tun? (Der Kardinal bat den Inquisitor schüchtern um das Leben seines Großneffen, aber der Inquisitor blieb unerbittlich, und der Kardinal bewunderte traurig und grimmig des Mönches Gerechtigkeit.) Leichter war es mit dem Edelmann Marsac, er war königlicher Offizier gewesen, und es war dem Inquisitor ganz recht, daß sich der königliche Statthalter um diesen Mann besonders bekümmerte (denn er mußte, als Empfänger eines hohen Gehaltes, doch auch eine Rolle spielen) und sich bemühte, das religiöse Vergehen dieses Mannes zu einem Standes- oder Staatsvergehen umzudeuten. Mochte Tignac die Verantwortung tragen!

Am Abend des auf die Urteilsvollstreckung an dem Priester Peloquin folgenden Tages (leider hatte man den Priester öffentlich auf der place des Terreaux hinrichten lassen, wo die frohe Art des Mannes, der singend den Tod erlitt, auf das Volk einen tiefen Eindruck gemacht hatte) wurden den Fünf die weißen Hemden hereingebracht mit der Bemerkung, sie kämen vom Blutrichter. Also wußten sie, was sie für morgen zu erwarten hatten. Aber der Blutrichter hatte, bevor er die Hemden schickte, den Befehl erhalten, sich zu irren, und er ließ demgemäß die Hemden nach einer Viertelstunde abholen und sagen, sie möchten entschuldigen, die Hemden seien »für die anderen Fünf« bestimmt. Sie könnten sich »das Schauspiel« morgen früh ansehen, wenn sie Lust hätten, kam der Inquisitor selbst höhnisch zu sagen – und dabei ruhte sein Blick auf Bernard und Karl, denn er hatte seine Hoffnungen schon zurückgesteckt und hätte sich nun mit dem bisher verschmähten Erfolg bei diesen beiden 300 niedrig Eingeschätzten zufrieden gegeben. Aber wenn er damit gerechnet hatte, daß der Schrecken auf diese wirken werde, so hatte er vergessen, daß auch das Beispiel auf sie wirken mußte. Und gerade das eines Schreiners und eines Fuhrmanns. Müßten sie, die künftigen Missionare, sich nicht schämen, und würden sie nicht eine elende Erwähnung im Märtyrerbuche finden, wenn sie sich weniger standhaft und mutig erwiesen als diese ungelehrten Männer? Also wandten sich Bernard und Karl in stummem Trotz von ihm ab (es war ja auch noch etwas Zeit, sie selbst waren ja noch nicht unwiderruflich an der Reihe . . .). Und was das Zusehen beim Schauspiel angehe, so sagte Martial, sie fühlten sich als so sichere Komödianten, daß sie ihre demnächstige Heldenrolle völlig original, ohne Vorbild und Muster anderer zu spielen sich getrauten!

Nach diesem neuen Fehlschlag beschloß der Inquisitor, mit dem Auftischen seiner Braten etwas zu sparen, und ließ sang- und klanglos und ohne, daß die Stadt davon benachrichtigt war, den Fuhrmann und den Schreiner in der Morgenfrühe des andern Tages hinrichten. Das auf den Markt kommende Volk sah nur noch herabgebrannte Reste, mit deren Zusammenkehren und Wegschaffen die Handlanger des Blutrichters beschäftigt waren. Er legte eine wochenlange Pause ein, während der eine außerordentlich streng durchgeführte Zensur nicht die geringste Kunde von der Außenwelt zu den Fünf dringen ließ und sie an Langeweile und Schicksalsungewißheit vergehen mochten. Er beauftragte nur ihren Schließer, sie wissen zu lassen, daß er nach Mâcon verreist sei, wo ein anderes Verfahren zu erledigen sei. Aber er hatte nicht damit gerechnet, daß der Schließer durch das 301 vielfältige Beispiel von Todesmut, das er sah, und durch die rachelose Menschenfreundlichkeit der Gefangenen verführt, diesen und ihren Meinungen im Herzen zugekehrt war und daß nur die Sorge des kleinen Mannes um seine Familie und vielleicht allgemeine Furcht und ängstliches Verzagen eines immer abhängig Gewesenen ihn von öffentlicher Betätigung des neuen Glaubens abhielten. Peter bestärkte den Mann in seiner Vorsicht, denn ein Opfer (und unter Umständen welches Opfer!) zu bringen, wenn es nicht gefordert wurde, das war unvernünftig und nicht einmal zu wünschen. Die neue Lehre und der geistige Fortschritt brauchten lebende, nicht tote Anhänger, lieber »Nikodemi« als Märtyrer. Freilich, wenn das Schicksal es nun einmal so gefügt hat, daß durch deinen Tod die geistige Freiheit leben wird, dann, ja dann wie Gott will! Aber sonst mochte man dem lieben Leben und einem Leben in neuer Freiheit der Seele anhangen. Der Schließer unterrichtete sie also, daß der Inquisitor garnicht verreist und daß von einem Verfahren in Mâcon nichts bekannt sei. Karl und Bernard lachten auf – wahrhaftig, der Inquisitor mußte ihnen viel Wert beilegen, weil er zu Lügen flüchtete, und die Sorge, die sie ihm bereiteten, und seine von ihnen wohl durchschauten Künste schmeichelten ihnen. Oh, sie waren garnicht so dumm, wie der Inquisitor denken mochte! Und dieser Hund des Herrn möchte sich ja nicht einbilden, sie durch sein Bellen in Schrecken zu jagen. O nein!

Nach ein paar Wochen war der Inquisitor »zurückgekehrt« und zeigte sich sehr geschäftig. Der Edelmann Marsac und sein Vetter wurden dem Statthalter ausgeliefert, und dieser ließ den Spruch des Gerichtes an ihnen vollziehen, allerdings in der Heimlichkeit und 302 Abgeschlossenheit eines Kasernenhofes, denn der eine der Delinquenten war ja Offizier gewesen, und es galt die Autorität des Offiziersstandes vor dem Volke hochzuhalten. Nun war von den »anderen Fünf« nur noch der Kaufmann Dymonet übrig, und es war keine Möglichkeit mehr, mit seiner Hinrichtung zuzuwarten. Mit den »anderen Fünf« hatten die fünf Gefangenen keine Beziehung aufnehmen können. Aber es gelang dem mittlerweile sehr betrübt von Augsburg zurückgekommenen Hans Leyner – die Zollikofer, während seiner Abwesenheit mit der Sorge um die Gefangenen betraut, hatten sich wegen ihrer Geschäfte in Seide und überhaupt aus ängstlicher Gemütsart weniger eifrig erwiesen – wieder mit den Gefangenen durch eben ihren Schließer »Nikodemus« in schriftlichen Verkehr zu treten, und so erhielten sie denn eines Tages die Abschrift eines Briefes von Calvin, den dieser an Farel in Neuchatel geschickt und die Farel an Leyner hatte kommen lassen, denn Farel sagte sich, daß auch ein mittelbares Wort des Meisters die Schüler stärke. Der Brief berichtete den Märtyrertod Dymonets in folgenden schönen starken Sätzen eines geschichtlichen Stiles: »Letzten Samstag, am 1. Mai ist zu Lyon ein Kaufmann verbrannt worden, der in wunderbarer Standhaftigkeit und Selbstüberwindung zur Hinrichtung schritt, denn seine reichen und vornehmen Verwandten, unter denen der Kardinal selbst war, und das Volk der Stadt, das ihn persönlich und wegen seiner bewiesenen Freigebigkeit schätzte, suchten ihn mit allen Mitteln zum Abfall zu bringen. Auch seine Mutter nahte sich ihm dreimal, zuletzt noch auf der place des Terreaux, warf sich auf die Knie und bat ihn weinend, er möge sein Leben schonen. Sie erreichte nichts.«

303 Sie erreichte nichts. Niemand hatte etwas bei einem der Verurteilten erreicht. Man erreichte nichts. Das war nun schon eine stehende Berichtsformel geworden, und man würde sehen, ob sie im Falle der Studenten etwas von ihrer heiligen Kürze und geschichtlichen Bestimmtheit ablassen müßte . . .

 


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