Josef Ponten
Die Studenten von Lyon
Josef Ponten

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»Aber man muß nicht gleich das Schlimmste annehmen,« sagte jetzt Peter sich erhebend, und alle kehrten aus der Feierlichkeit in die Nüchternheit des Lebens zurück. »Wir haben unsere Vorsicht und unsern Witz, wir werden kein Märtyrertum suchen, doch wenn es uns sucht, werden wir uns ihm nicht versagen. Lebt wohl, Meister Calvin, lebt wohl, Meister Farel, lebt wohl, Meister Beza, lebt auch ihr wohl, Frau unseres Meisters.« – »Lebt wohl,« sagten die vier anderen, sich mit verabschiedend. – »Lebt wohl,« sagten die vier Angeredeten. 55 Und nach einer tiefen Verbeugung gingen die Studenten, von Frau Calvin geleitet, hinaus.

Im Vorraum sahen die Schreiber, die vorher etwas von der Zurückhaltung und dem unwillkürlichen Hochmut aller Schreiber, die in Vorzimmern sitzen und wichtige Briefe schreiben, gezeigt hatten, sie mit Achtung und fast Ehrerbietung an, denn so lange pflegte kein Besuch beim Meister zu bleiben, und sie hatten den Meister auch laut und feierlich reden hören – sie erhoben sich, sie verneigten sich leicht vor den Studenten, die Studenten verneigten sich leicht vor ihnen, dann fiel die schwere Tür des Flures hinter den Fortgehenden ins Schloß. Ein wenig wimmerte das vom Türschließen erschütterte Glöckchen.

Es war um die fünfte Nachmittagsstunde, als die Studenten Genf durch die rue du soleil couchant und durch die große Landpforte hin verließen und die Straße nach Lyon einschlugen. Sie gingen als Verwandelte und mächtig Gereifte. Die vor nur zwölf Stunden in spielerischem Mute noch als halbe Knaben und Jünglinge aus Lausanne abmarschiert waren, die gingen aus Genf als Männer. Sie schritten in froher Entschlossenheit aber schweigend durch die Kiesebene Plainpalais, passierten das Dorf Champel und überschritten die schäumende Arve. Sie folgten den beiden Flüssen Arve und Rhone, die im selben Bette, weiß und grün nebeneinander, nach Westen rollten. Da brach Bernard das Schweigen. »So sieht ein großer Mann aus,« sagte er. – »Ja, so sieht, ein großer Mann aus,« wiederholten nachdenklich vor sich hinblickend aber eifrig die anderen. – »Das Bekenntnis einer natürlichen Schüchternheit in Calvins Munde,« sagte Karl, »ist ein Trost für alle, die an die 56 Öffentlichkeit des Lebens gerissen werden und vor großer Verantwortung Furcht haben.« – »Gerade Demosthenes hatte einen Zungenfehler,« sagte Peterchen. – »Es ist ein Trost! Es ist ein Trost!« rief Bernard aus.

Sie gingen gegen die strahlende Abendsonne, die ihnen in die Augen schien und sie blendete. So kam es, daß sie nicht gewahr wurden, daß ihnen eine große Zahl von Menschen entgegenkam, als bis sie fast vor ihnen standen. Die waren guter Dinge und sangen. Sie zeigten das Gebaren von Menschen, die einem Gefängnis entronnen und dem frohen Lichte des Tages wiedergegeben sind. Die Worte »Freiheit« und »Glück« und »Calvin« schallten aus den Reihen. Man hielt sich gegenseitig an und unterhielt sich. Sieh da, es waren französische Auswanderer, Franzosen aus allen Provinzen des Königs, die nach Genf gingen, der Hauptstadt der Freiheit, um sich dort anzusiedeln. Es waren ihrer wohl Tausend, Männer, Frauen und ganze Familien, auf Wagen und zu Fuß, die älteren Leute, Väterchen und Mütterchen wurden von ihren Söhnen Huckepack getragen oder auf Schiebkarren und auch in Kinderkorbwägelchen gefahren, und starke Hunde zogen Kärrchen mit Kranken. Während der Ruhepause atmeten die Hunde heftig, und rote Zungen flatterten aus ihren Mäulern. Ein Mann, der sich etwas abseits hielt, zog seinen Mantel aus, zog die Ärmel durch die Armlöcher hindurch und zog den umgekrempelten Mantel an. Die Flüchtlinge hatten ihren Besitz in Frankreich gelassen – was tat's, sie zogen dem Reichtum in Knechtschaft die Freiheit in Armut vor. Sie erzählten, welche Schwierigkeiten es gemacht hatte, unter allen möglichen Vorwänden Pässe nach Genf von den königlichen Ämtern zu erhalten. Die meisten 57 hatten sich als Kaufleute ausgegeben, die nach Genf gehen müßten, um ihre Ausstellung auf der kleinen Genfer Herbstmesse vorzubereiten. Andere hatten Geldgeschäfte mit den Genfer Bankhäusern in der Grand' rue, mit den deutschen Reichsstädten, mit Nürnberg und Nördlingen vorgeschützt, und das war der erfolgreichste Vorwand gewesen. Denn die Nürnberger Firmen, die Kleeberger voran, aber auch die Welser der Nürnbergischen Linie, die Beheim, Imhof, Tucher, Gundelfinger und die Rehle in Nördlingen stellten aus Haß gegen das katholische Habsburg der französischen Politik ihre Kapitalien zur Verfügung. Der König konnte von einem Verkehr seiner Untertanen mit den Bank- und Kaufhäusern der Reichsstädte nur gewinnen. Darum war er freigebig mit Pässen auf Nürnberg, Nördlingen, Ravensburg. Sie wußten zu erzählen, daß Johann Kleeberger, der als capitaine des lansquenets, Hauptmann der Landsknechte, nach Frankreich gekommen war, seinen Rang aber niedergelegt und sich als Verwandter des großen Nürnberger Hauses der Lyoner Filiale gewidmet hatte, aus dieser Filiale in Lyon bereits nach Paris übergesiedelt sei und daß der König ihn zum argentier du roi gemacht und als Sieur de Chastelard in den Adelsstand erhoben habe. Er selbst aber, der joviale König, nenne ihn nur »le bon Allemand«. Er habe ihn mit der reichen Familie Pelone de Bonsin verheiratet und habe den Lyonern mit sanftem Drucke nahegelegt, dem deutschen Kaufmann ein Denkmal auf der place des Terreaux zu setzen. Ein Denkmal bei Lebzeiten, das der König nicht einmal bekommen habe! So sehr brauchte er den deutschen Bankmann, denn er war in ewiger Klemme, der gute König, der Krieg mit dem Kaiser und mit 58 Spanien kostete zuviel. Das alles strudelte über die Studenten wie ein Wasserfall hin, denn jeder der entlaufenen Franzosen meinte aus seinem Wissen und aus seiner Erfahrung und namentlich von seinem Betruge der Paßbehörden etwas mitteilen zu müssen. Sie sollten sich nur, wenn sie in Frankreich in Schwierigkeiten kämen, auf die Deutschen berufen, denn in Frankreich sei heute »deutsch« Trumpf! Aber warum in aller Welt wollten sie nach Frankreich, in das Haus der Knechtschaft, den Turm des Satans, sie Unglückliche, da sie ja doch schon in der schönen Freiheit seien? – Sie seien Studenten und wollten Prediger werden, antworteten die Freunde, Prediger der reinen Lehre, Pfarrer des neuen Glaubens in Frankreich, und sie machten ihre Ferienreise heim, um zu sehen, wie dort die Dinge stünden und wo man sie einmal am nötigsten brauche. Und sie würden auch schon in den kurzen Ferienwochen Gläubige machen, darauf könne man sich verlassen! Zuerst ihre Brüder und Schwestern bekehren – »und meine Mutter!« rief Peterchen. – »Ja, seine Mutter,« sagte Peter, »die feinste Frau in Frankreich!« – Das sei aber ein höllisches Unterfangen, Gott möge sie segnen. Aber vielleicht könne es auch gut gehen, immer mehr wagten sich die geheimen Gläubigen hervor, man könne sicher sein, daß in jeder Stadt, in jedem Dorfe Neugläubige seien. Alles warte nur auf eine günstige Gelegenheit, sich offen zu bekennen und die Schwankenden mitzureißen. Da sei der Pfarrer von Bayonne. Er durchstreife Hafen und Fluß und fahre mit den Fischern hinaus aufs Biscayische Meer, um ihnen dort wie Jesus auf dem See Genezareth zu predigen. Und der König scheine unschlüssig und schwankend, bald folge er den Guisen, den roten Kardinalswölfen, bald dem 59 Bischofe von Meaux, dem Kardinal Odet, von dem man wisse, daß er nur darauf warte, den Purpur ab- und das schwarze Gewand anzulegen. Augenblicklich sei ein Regiment der Milde in Frankreich. Aber sie trauten dem Frieden nicht. Auf alle Fälle sei es sicherer, fürs erste auszureißen und in Genf den Gang der Dinge abzuwarten. Es seien noch Tausende gleich ihnen auf dem Wege, mit Pässen aus Nürnberg, Nördlingen und Dinkelsbühl (sie lachten sich krank), andere schlichen über die Gebirge, und wieder andere verdängen sich bei den deutschen Messebeschickern in Lyon als Packer und Fuhrleute und bei den deutschen Buchhändlern, um als deren Gehilfen oder Arbeiter über die Grenze zu kommen. Es sei eine Auswanderung nach Genf, der heiligen Stadt, im Gange, von welcher der König sich nichts träumen lasse, Paris werde entvölkert, Paris werde einfach in die Schweiz verlegt, Paris werde künftig Genf heißen. Alles hange vom Gange der Politik ab. Werde der König sich mit Hilfe des oberdeutschen Geldes der habsburgischen Umklammerung in Spanien, in Deutschland, in den Niederlanden erwehren, dann wehe den Reformierten! Nun, sie wünschten gute Reise, gute Reise, aber sie rieten dringend zur Umkehr! So regneten, platzten Unterrichtungen, Weisungen, Verwarnungen, Räte auf die Studenten nieder.

Doch die blieben unerschüttert, und der Siegeszug der der babylonischen Gefangenschaft Entronnenen verrauchte hinter ihnen auf dem staubigen Wege.

Die Studenten überholten die Karren der deutschen Kaufleute. Diese saßen schweigsam auf Bänken, die an Ketten seitlich den hochbepackten Fuhren angehängt waren und im Takte der Fahrt leicht vor- und rückwärts schaukelten. Karl wollte sie mit einem Bibelvers anrufen, um 60 sich ihnen als Bruder zu erkennen zu geben, aber Martial verwarnte ihn leise, denn man könne nicht wissen . . . die Kaufleute würden wissen, warum sie so schweigsam seien, und da sei auch der Schlagbaum.

Wahrhaftig, da war der französische Schlagbaum!

Die Herzbeklemmung, das Erlebnis aller Grenzen, ward auch ihnen zuteil, als sie die angemalte vielbedeutende Stange sahen, und sie zögerten unwillkürlich mit dem Schritte. Das war nun der letzte Augenblick! Wollten sie hinüber? Wollten sie nicht? »Gehen wir hinüber?« frug Martial, frug auch Peter in die Runde. Da sagte der kleine Peter, fest und sogar starr den Schlagbaum ansehend und entschlossen: »Wir gehen hinüber!«

Sie gingen über die Zugbrücke hinüber.

Da waren zwei Schlagbäume, der vordere vor ihnen stand schräg offen, hinten aber, in hundert Ellen Entfernung, war ein anderer quer über die Straße gelegt, und zwischen den Bäumen und etlichen Gebäuden war ein geschlossener Raum, den die französischen Grenzer beherrschten.

Auf dem Zollplatze standen viele Wagen, viele Wagen mit der Deichsel nach Westen, auch einige mit ihr nach Osten gerichtet. Auch ängstliche und von der Bedeutung des Grenzüberganges und der Grobheit der Grenzer verschüchterte Menschen standen da, die meisten mit dem Gesichte nach Osten und nur wenige gleich den Studenten nach Westen schauend. Das aber waren deutsche Kaufleute.

Die Grenzer, Soldaten in geschlitzten bunten Kleidern, kletterten und krabbelten um die Wagen. Die Kaufleute wurden angerufen, die Planen herunter nehmen zu lassen, und manche Kisten und Kasten mußten abgetragen werden. 61 Da kam es heraus, was sie führten, und es zeigte sich, daß Franz Rüdi recht gehabt hatte: Talk und Schwefel, Leder das aus Ungarn und Pelze die aus Rußland kamen und viele Woll und Fertigwaren. Namentlich alle Artikel der Mode, schöne neue Kleider für Frauen und Männer, denn die Augsburger dachten in Lyon die neue Mode für diese und die nächsten Jahre zu kreieren, zu lange schon hatten die Menschen in Europa zum Schaden der Fabrikanten und Schneider in Augsburg dieselben Kleider getragen. Da die Stoffe tüchtig und gediegen wie alles Deutsche waren und wohl noch ein halbes Menschenalter hätten dienen können, so mußten die Fabrikanten ihre eigene Tüchtigkeit dadurch ungefährlich machen, daß sie durch eine neue Mode die alten Kleider in die Kästen fegten. Man kann doch nicht an seiner eigenen Gediegenheit zu Grunde gehen, nicht wahr? Die Grenzsoldaten stocherten mit langen Eisenstangen, mit Haken und auch mit ihren nackten aufgekrempelten Armen, auf denen Hellebarden, Spieße, auch verschiedene Herzliebchens und obszöne Vorgänge blau eingestochen waren, in der Ladung herum, um zu prüfen, ob sie nicht in diesen Tuchen und Fellen auf etwas Hartes stießen, etwas Hartes, nämlich Bücher. Denn auf Bücher ihr Augenmerk zu richten war ihnen befohlen. Bücher aus Nürnberg, Bücher aus Wittenberg und Leipzig – was konnten sie anders sein als die gottverdammten lutherischen Bibeln, die auf deutschen Pressen und gar in undeutschen Sprachen gedruckt wurden, in die Welt gingen und die ketzerische Pest verbreiteten. Mit heißen Augen stand ein Kaplan des Savoyer Bischofs dabei, ermunterte die Soldaten, wenn sie lässig wurden, und schritt langsam zwischen den Wagen auf und ab, sie bis in ihre Tiefen kennerisch musternd. Da 62 standen auch die Wagen, die aus Frankreich kamen und die französische Ausfuhr bargen, Leinwandwebereien aus der Champagne, Weine und Südfrüchte, aber auch Durchfuhrgut aus Spanien: Silber, Gold, Schafwolle, Safran, auf den man besonders in Deutschland scharf war; aus Portugal: indische Kolonialwaren, Gewürze und Drogen, Pfeffer, Ingwer und Farben; aus den Niederlanden: Teppiche, Wollwaren und auch Holländer Käse. Das war ein buntes Gewimmel von Waren und Menschen auf dem Grenzplatze, es roch stark von Düften des heißen übermeerischen Südens und von Fellen des asiatischen Nordens, zwei Welten vermählten sich da in Gerüchen, und es wäre eine frohe Geschäftigkeit, ein munteres Vergleichen vieler Länder der Erde gewesen, wenn nicht der unheimliche Kaplan umhergegangen wäre und nach den ††† Büchern geschnüffelt hätte. Am Wachtturm neben der Zollbrücke standen bewaffnete Soldaten, und andere, die Freiwache hatten, lagen in den Fenstern der Zollkaserne und sahen zu, wie die unbewaffneten Genossen die Wagen durchsuchten. Alle, auf Wache oder Freiwache, hatten den unverschämten Blick aller Grenzbeamten, jenes Auge, das weiß, daß es in jedes Geheimnis, in jeden Kasten und jede Unterhose schauen darf, und zugleich den Überlegenheitsblick. Oh, ein Grenzer ist ein schlauer Kerl und ihn betrügt man nicht! Man kennt die Geschichte von den dicken Frauen, den doppelten Kastenböden und den doppelten Schuhsohlen, man kennt noch viel mehr, viel mehr, aber man wird es nicht sagen, doch gelegentlich sein Wissen anwenden. Man wird auf einen ganz unauffälligen Hut oder auf ein Barett weisen, das aber zwei Barette ineinander sind, und dazwischen sind kostbare Seiden oder auch gewisse Druckpapiere. 63 Man wird einem auffallend und allzu harmlos dastehenden Manne wie aus Versehen auf die Schuhe treten und sagen: »Lieber Freund, zieh' deine Schuhe einmal aus, denn der Ort wo du stehst ist die Zollstation.« Und man wird einer hochanständigen wartenden Frau plötzlich und unversehens von hinten um die Hüfte greifen und fühlen, ob die Taille nicht knistere. Man wird von einem Greise verlangen, seinen Mund zu öffnen (und wenn er zögert, mit einem Faustschlag wider den Kinnbacken nachhelfen) und nachsehen, ob nicht im hohlen Zahn ein amerikanisches Stück Gold oder ein indischer Diamant verborgen ist. Oh, und man weiß noch viel mehr, so zum Beispiel in welchen natürlichen Höhlen Frauen Goldkörner versteckt tragen, und man wird sich, im Dienste unseres allerchristlichsten Königs, nicht scheuen, gelegentlich auch dahinein zu greifen und die Kontrebande hervorholen. Und ein Klistier liegt auch bereit, mit warmem Öl gefüllt, man wird im rechten Falle – man erkennt ihn als alter Praktikus an einem gewissen unruhigen Flimmern der Augen – eine Frau auffordern, mit um die Ecke zu gehen und sie einladen, ein kleines Geschäft zu besorgen, denn die Frauen verschlucken Gold, das ist alte Zollmannsweisheit (der König aber hat, natürlicherweise bei seiner Geldklemme, ein Ausfuhrverbot für Gold erlassen, oder läßt es nur gegen hohe Abgaben passieren). Überhaupt die Frauen! Auf die hat es der Zollmann aus manchen Gründen besonders abgesehen, die Frauen sind Schmuggler aus Leidenschaft und Grundsatz, auch wenn es gar nicht nötig ist oder es sich nicht recht lohnt – eine Frau, die sehr O-beinig war, hatte sogar einmal einen dieser Kanarienvögel in einem kleinen Bauer zwischen ihren Beinen baumeln gehabt, obgleich der König 64 bei der Neumodischkeit des Vogels noch nicht daran gedacht hatte, seine Durchfuhr zu besteuern, und das gelbe Dummköpfchen hatte in dem engen Behältnis und der Finsternis laut zu schmettern begonnen. O die Frauen! Ja man hat auf sie ein besonderes Augenmerk, namentlich natürlich auf die jüngeren, aber der Schmuggelleidenschaft fröhnen leider meist nur die alten. Die Soldaten auf Wache am Turme wetzten von Zeit zu Zeit, wohl um sich Ansehen zu geben oder auch um sich in Erinnerung zu bringen, den blanken Stahl ihrer Hellebarden an den unteren körnigen Sandsteinquadern des Turmes. Da waren, wie an allen Wachttürmen in Europa, viele Rillen, Wetzrillen, in halber Körperhöhe – das Wetzen war sehr einfach, das heißt das nötige Anfeuchten mit Wasser war sehr einfach. Nun aber war es dem Kaufmann Ambrosius Dillherr aus Nürnberg zuviel geworden. Er hatte bereitwillig durch seine vielen Knechte und Fuhrleute Kisten und Kasten, Ballen und Packen abladen lassen, und die Knechte beschäftigten ausgiebig die Zöllner mit zuvorkommenden Fragen, ob sie auch noch diese Kiste und jenen Ballen öffnen sollten. Die Beamten ermüdeten sichtlich. Den kleinen unscheinbaren Wagen aber, der nach der Angabe des Kaufmanns nur die auf der Reise nötigen Lebensmittel enthielt und ihm zudem selbst als Gefährt diente und der ganz zufällig mitten in die etwas regellos aufgefahrene Karawane geschoben worden und ziemlich unzugänglich war, hatte er noch nicht abzuladen brauchen. Er wurde sichtlich unruhig, als der Kaplan, beim Steigen über die Kisten seine schwarze Sutane reffend, unter der rote Strümpfe sichtbar wurden, gerade diesem kleinen Wagen seine peinliche Aufmerksamkeit zu widmen begann – da zog der 65 Kaufherr einen großen Brief heraus, einen Brief des Königs, eine »lettre patente«, in welcher der König verbot, die Nürnberger und namentlich den Kaufherrn Dillherr ungebührlich zu belästigen »in Ansehen, daß die besagte Stadt Nürnberg mit noch anderen deutschen Reichsstädten von jeher cofédérée et alliée aux Rois et Couronne de France« seien. Das wirkte, der Kaplan zog schnaubend ab. Der Kaufherr aber pfiff, ließ sofort aufladen, und der Wagenzug setzte sich in Marsch, Herr Dillherr selbst mit seinem unscheinbaren Wägelchen, das schnell durch gewiegte Fuhrleute aus Wirrnis und Knäuel herausgebracht wurde, an der Spitze!

Jetzt wandte man sich den Studenten zu. Drei Grenzer traten vor sie hin und der Kaplan. Der Ausdruck seines Gesichtes war aus Zynismus und Melancholie gemischt, sein Gesicht schien zu sagen: ich weiß, daß ihr alle Schurken seid, aber ich will so tun, als ob es nicht wahr wäre. Ein Grenzer begann das Verhör.

Frage: Wer seid ihr? – Antwort: Soundso. – Zwischenruf: Einer fein nach dem andern!

Frage: Woher kommt ihr? – der älteste soll zuerst antworten! – Antwort: Aus Lausanne.

Frage: Was seid ihr? – Antwort: Studenten. (Der Kaplan trat näher, doch nicht so nahe, daß es schon sich gleichstellen mit den Nichtstudierten, den Soldaten, bedeutet hätte.)

Frage (eines Weißblonden): Glaubt ihr an Christum?

Peter war verblüfft. Er riß den Mund auf und stand groß verwundert da. Dann sagte er: »Eine solche Frage auf einem Zollamt?«

Neue Frage, sehr scharf: Glaubt ihr an Christum?! – Antwort: Was geht euch das an!

66 Da erhielt Peter einen Stoß in seinen Hintern mit dem hölzernen Ende einer vier Mann langen Lanze, einer der Soldaten hatte ihn gestoßen und gerufen: »Ob du an Christum glaubst, will unser Spieß wissen?«

Peter aber erfaßte blitzschnell das Ende des Lanzenschaftes, riß ihn ein paarmal mit jähem Rhythmus hin und her, daß der Soldat, der die Lanze unter ihrem Halse gefaßt hielt, im gleichen jähen Takte hin und her gerissen wurde (alle Aufmerksamkeit darauf gerichtet, die Lanzenspitze seitlich auszubiegen, damit sie sich ihm nicht in den Bauch bohre) und plötzlich über seine eigenen Füße, die in groben Latschenschuhen staken, stolpernd hintüber den Erdboden maß. Peter warf sich selbst die Lanze zu, sie loslassend und wieder schnappend, und das wiederholt, bis er sie gewichtgerecht gefaßt hatte, und schleuderte sie, weit nach rückwärts ausholend, mit solcher Wucht gegen das Holztor der Kaserne, daß die Spitze tief eindrang und das Tor vor dem verschlossenen hohlen Raum des Torweges unerhört laut donnerte – die Lanze bebte mit ihrem freien Ende, und ganz allmählich erst senkte sie sich mit dem Gewicht ihrer vier Manns Längen zu Boden.

Die Soldaten schauten den weißblonden Vorstand des Zollwesens, einen Soldaten im Feldwebelrange, der einen Spieß hielt, erregt an mit der stummen Frage, ob man den frechen Kerl nicht abführen und in den Turm werfen solle, und dieser war selbstverständlich mächtig verärgert und zeigte deutlich die beleidigte Würde eines Beamten des Königs. Aber schließlich war es so offenkundig, daß eine ungebührliche Herausforderung seitens des Soldaten vorlag (dieser war damit beschäftigt, mit einer Topfscherbe den Unrat von seiner Schlitzhose 67 abzuschaben, denn er war in einen von den wartenden Pferden herrührenden Kotäpfelhaufen gefallen), daß ihm nichts übrig blieb, als über den Zwischenfall der Amtshandlung mit einem Brauenrunzeln hinwegzugehen und die Frage offen zu lassen, ob ein so muskelstarker junger Mann an Christum glaube. Der Paukenschlag auf dem Kalbfell des Tores hatte die gesamte Mannschaft der Kaserne in die Steinkreuze der Fenster gelockt, und es hagelte von oben ermunternde Zurufe auf französisch und deutsch an die Kameraden der Wache, den Schimpf nicht zu dulden. »Spickt ihn mit euren Gewehren, den Eber!« rief ein Deutscher aus Franken. »Chaut ihm its Vüetli, dem Chaib!« gurgelte ein Schweizer . »Morbleu!« fluchte ein Franzose, denn »Mort de Dieu« zu fluchen war im Lande des katholischen Königs verboten. Die Lage war bedrohlich, und der Zoll- und Paßamtsvorsteher sah seine Autorität von zwei Seiten her bedroht.

Die Rettung kam von dem Kaplan. Denn so ist es: die Studenten, die aus Lausanne, der Universität im Gebiete der Bernerischen Herren kamen, waren verdächtig, aber die Gebildeten der Welt formen doch auch eine Klasse und eine Internationalität quer durch die Völker und über die nationalen Grenzen hin, er nahm also das Wort an sich und sprach lateinisch – gut gerechnet, denn nun rissen die Soldaten Maul und Nase auf, und selbst der Spieß, lateinunkundig, trat zurück.

Aber für die Studenten wurde es dadurch nicht viel besser, denn war das Verhör der Form nach auch ziviler, so war es in sachlicher Hinsicht umso strenger.

Frage: Credite in unum Deum? – Antwort: Credimus. 68

Frage: Credite in unum dominum Jesum Christum? – Antwort: Credimus.

Frage: Credite unam sanctam Ecclesiam – und ehe der Pfaffe fortgesetzt hatte: catholicam et apostolicam, hatte Peter schon geantwortet: Credimus. Der hakennasige Pfaffe mit den roten Strümpfen war zufrieden. Er hatte zwar nicht überhört, daß die Antwort vor dem entscheidenden Worte der Frage gefallen war, aber es schien ihm wichtiger, seine Autorität vor den Mitbeamten und den Soldaten als vor den Fremden zu behaupten, und sein Latein mochte auch nicht soweit reichen, daß er sich mit diesen Humanisten in ein in Einzelheiten und gar in Diskussionen möglicherweise sich verlierendes Frage- und Antwortspiel hätte einlassen mögen, wo eine Gelegenheit hätte sein können sich zu blamieren – kurz und gut, mochten die Fremden, die einmal hier passierten, zur Hölle fahren, wenn nur seine Autorität sich erhielt. Er sagte zu dem Feldwebel lässig und mit jener leutseligen Herablassung, die der Walter eines geheimen Wissens gegen Unwissende hat: »Es ist in Ordnung.« Aber die homines litterati frug er weiter, nun auf französisch: »Ihr habt doch keine verbotenen Bücher bei euch?« Das konnte mit gutem Gewissen verneint werden, und der Zollamtsvorsteher, der aus seiner täglich und stündlich erprobten Menschenkenntnis heraus den Gesichtern der Antwortenden sofort ansah, daß sie die Wahrheit redeten, und der nun auch seinerseits das dringliche Bedürfnis verspürte, seine Autorität wiederherzustellen, sagte – jetzt da er sicher war, daß keine neue Peinlichkeit daraus entstehen würde – auf ihre Reiseranzen weisend schlicht. »Öffnen.«

69 Sie gehorchten. Sie hatten nichts Verbotenes im Ranzen. Überhaupt nichts Geschriebenes und Gedrucktes. (Wie sollten sie! Zu Fuß laufen und die Steinlast von Büchern mitschleppen?) »Es ist in Ordnung,« sagte nun auch seinerseits der Vorsteher zu dem Kaplan mit jener aus beamteter Machtverwaltung fließenden Sicherheit und Kürze, die der Ungebildete und nicht dem Stande der litterati Angehörende, aber mit dem Vertrauen eines Amtes Geehrte gegenüber allen Fachmännern und Sachkennern hat. Und dann verließ er, Zeichen der höchsten Würde, sofort den Platz und ging in seine Amtsstube, denn das hieß: ich habe das letzte Wort, und wenn ich etwas Endgültiges gesagt habe, so ist das endgültig! Unwiderruflich! Gefälligst! Punktum! (aber es ist besser, ich gehe fort . . .)

Ach ja, es ist keine Kleinigkeit, Beamter des Königs zu sein und des Königs Würde immer würdig zu vertreten.

Alle atmeten auf, die Studenten, die minderen Beamten, der Kaplan und sogar die Soldaten, denn Verhaftungen – mein Gott, die Leute glauben zwar, es ist uns ein Spaß und wir machen uns ein Vergnügen daraus; aber das ist doch immer peinlich, das gibt Verantwortung für Bewachung, für richtige Behandlung und namentlich Berichte an die Vorgesetzten. Ein Soldat weiß, daß der Vorgesetzte immer etwas auszusetzen hat, mag man es auch noch so richtig angefangen haben. Wie man's macht, so ist's falsch! das ist eine Soldatenerfahrung, die so alt ist wie die Heere, und sie hat schon unter Josua vor den Mauern Jerichos gegolten wie unter Alexander in Indien und in den Heeren der Kreuzfahrer. Prost Mahlzeit, geht zum Teufel, wir haben 70 unsere Pflicht getan, der nächste Posten, der Hauptposten der Hauptgrenzverwaltung im Stadttor von Lyon mag mehr Glück haben (denn es ist auch alte Soldatenweisheit, die Verantwortung dem Nächsten und womöglich Höheren zuzuschieben). Die Wache trat aus dem Gewehre, und die Soldaten der Freiwache verloren sich von den Kasernenfenstern, um sich wieder auf ihre Pritsche zu hauen und zu pennen, den in den Pferdeäpfeln Hinundhergeschlitterten überließen sie sich selbst, und der Schlittenfahrer nahm es ohne weiteres hin, denn in der unteren Menschenklasse verliert man nicht durch die Kleinigkeit seine Ehre, daß man einmal verprügelt worden ist oder sich lächerlich gemacht hat.

Aber der Kaplan gab sich noch nicht zufrieden – oho, das könnte den Grobianen wohl passen! Der Tölpel von Vorsteher freilich war schon in seine Amtshütte gegangen, und die Soldaten schnarchten wieder auf ihren Pritschen im Flohkasten (das war der technische Ausdruck für die Zollkaserne), die Deutschen gröhlten verschlafen ihre kleinen Lieder vom Liebchen und von der Heimat, die Schweizer gurgelten in Unterredungen, die sich immer um Soldzahlung und die Vorzüglichkeit ihrer Stadt Grützlischwyl im Aargau (Haarchau) gegenüber Pfäffikon im Zürichchau drehten – sie mochten wenn sie wollten sehen, wie der Kaplan nun, nachdem die gesetzlichen Zollformalitäten, vor denen alle Menschen naturgemäß Feinde für einander sind, erledigt waren, leutselig und human mit Seinesgleichen vom Stande der homines litterati auf dem Zollplatze einherschlenderte und des Staubes, der Pferdeäpfel und Urinlachen wegen seine Sutane gehoben trug, sodaß man seine Strümpfe aus roter Seide von Lyon sehen konnte. Er wandelte aber 71 mit langsameren Schritten als die Studenten, denn er war hier doch der Schrittakt-Angebende (sozusagen!), sodaß die Studenten alle Augenblicke stehenbleiben mußten und, da die auf den Flügeln schneller gingen, die Gesellschaft in Form eines nach vorn offenen Halbkreises wandelte. Ach ja, das sei ein Kreuz, das sollten die Herren schon glauben, hier in dieser Gesellschaft von rohen Soldaten und einiger homines litterati auszuharren und den Herren Fremden die Taschen, die Wagen und vielleicht sogar die Unterhosen visitieren zu lassen! Wann ihm der Herr Bischof dieses schikanöse Amt wohl wieder abnehme? Das habe ihm seine Mutter an der Wiege nicht gesungen, daß er einmal Zollamtsschnüffler (wenn auch nur auf Schriften und Bücher, versteht sich!) sein müsse. Das sei ein Dienst, unehrenhaft in der Christenheit, gleich hinter dem des Henkers, der das rote Gewand trage und die Scheiterhaufen schüre, man sollte eigentlich nur zu Galeeren Verurteilte dazu verwenden. Aber er erfordere natürlich Vertrauenswürdigkeit, Unbestechlichkeit und Intelligenz, namentlich was die Überwachung der Bücher angehe, die jetzt in diesem lutherischen Deutschland gedruckt und über die Grenze geschmuggelt würden, er habe dieses Amt annehmen müssen, denn er sei – Gott sei es geklagt – arm und es gäbe in Frankreich Scharen beschäftigungsloser Priester. Manche lebten als Ärzte oder auch Kurpfuscher, als Schlamm-, Lehm-, Luft-, Licht-, Wasserdoktoren, denn die Einnahmen und Pfründen beherrschten die Pfarrer und die Kapläne hätten das Nachsehen. Ja wenn man einmal Pfarrer wäre und selbst Einnahmen und Pfründen beherrschte! Aber diese alten Böcke wollten ja nicht abtreten, und sie täten nichts anderes, als die Kapläne, 72 ihre Gehilfen, um die besten Einnahmen betrügen. Ja freilich, die nächtlichen Versehgänge, besonders im Winter, überließen die pastores gern den vicariis et cooperantibus, auch die Heiraten der armen Saisonarbeiter auf den Landgütern; aber wenn Mademoiselle heirate und es nachher eine Einladung gäbe aufs Schloß zu herrlichen Weinen und einem Extrageschenk, in das Fazinettlein, das man bei Tisch über seine Knie lege, verstohlen gewickelt, dann erinnere sich der pastor nicht, daß er einen cooperantem habe.

Sie waren am hinteren Schlagbaum, der jetzt geöffnet stand, angekommen, und die Studenten machten Miene, da die Sonne untergegangen war und überhaupt, weil es ratsam war, von diesem ungemütlichen Platze fortzukommen, unter dem schrägen Balken durchzugehen. Aber der Kaplan drehte einfach um und redete, da die Studenten unwillkürlich stehengeblieben waren, eine Weile nach Osten ins Leere. So blieb nichts übrig, als zu folgen. Und sie waren auch höfliche Leute, wenn sie auch einmal in Notwehr einen Soldaten durch Roßäpfel schlittenfahren ließen.

Er sei nämlich eigentlich Mediziner, aus Arles am Rhodan, müßten sie wissen, erzählte der Kaplan, froh, sich einmal vor gebildeten Menschen in dieser Zollgaleere ausschwatzen zu können, er habe zuerst die Hochschule in Montpellier bezogen, ob sie die kännten? Ja, die kannten die Studenten sehr wohl, denn die medizinische Fakultät von Montpellier genoß europäischen Ruf. Aus der Schweiz und aus Deutschland zogen viele Studenten dahin – sagten sie, die Studenten und der Kaplan, zu gleicher Zeit; und sie blieben stehen und sahen sich eine Weile an, schweigend und lächelnd, wie es so 73 geschieht, wenn gemeinsames Wissen plötzlich in einer Gesellschaft von Gebildeten zutage tritt. Dann aber schritt der Kaplan weiter – er sah auch mit Befriedigung, daß der Vorsteher aus seiner Hütte in die Tür trat und gewiß bemerkte, wie der Kaplan mit Seinesgleichen vom Stande der litterati auf und ab ging und sich gebildet unterhielt. Sie gingen sogar nahe an ihm vorbei, und der Kaplan redete merklich laut, doch ohne einen Blick für den Vorsteher, und Freundlichkeit und lächelnde Höflichkeit den Studenten bezeigend, denn das war, nachdem alle Zollformalitäten richtig erledigt waren, Seine Machtvollkommenheit. Aber der Feldwebel hatte eben auch eine Machtvollkommenheit, und er ordnete an, daß die Soldaten der Freiwache den Platz von den Roßkothaufen und sogar von den kleinen Lachen der Menschenspucke reinigten (die Soldaten taten das, gehorsam wie es sich für Soldaten schickt, aber auch mit jener Lässigkeit, mit der Soldaten, namentlich auf Freiwache, dienstliche Befehle auszuführen pflegen; sie nannten den letzten Dienst unter sich, nicht laut, doch laut genug, daß auch der Spieß es hören konnte: Austern sammeln). Die Roßkothaufen waren auf das Gärtchen neben der Kaserne zu tragen, wo der Herr Spieß, der als Verheirateter hier hauste, seinen Kohl baute. Die Deutschen in der Kaserne aber fangen: O Frankfurt, o Frankfurt, du wunderschöne Stadt . . .

»Ich wollte medicinam studieren, aber mein Vater, ein gymnasiarcha, und dieses Hosenklopferamt bringt nichts von dem ein« (der Kaplan wetzte die Spitze seines Daumens auf der seines Zeigefingers) »sagte, ich solle etwas Einträglicheres und Zeitgemäßeres studieren, denn sein Freund Dominus Joannes Lejeune ist 74 pastor apud Sanctum Dionysium in Arles und mein Vater weiß Bescheid. Und also ging ich wohl oder übel in theologiam über, das heißt: studierte im pädagogio zuerst dialecticam et rhetoricam, aber ich brauchte nicht in pädagogio zu wohnen – heute hat der Bischof reclusionem in pädagogio für die Theologen angeordnet, aber damals war das noch nicht so. Damals wohnte man noch bei Vermietern und Kostgebern in der Stadt, und übrigens viele Schweizer und Deutsche wohnten da in Kost d. h. vielmehr auf Tausch, denn sie wüßten, daß zwischen Deutschland und Frankreich, namentlich zwischen Köln und Straßburg auf der einen und Montpellier und Toulouse auf der andern Seite, die Übung der Tauschquartiere bestünde, die jungen Franzosen studierten in Straßburg Medizin und in Köln Theologie und die Deutschen umgekehrt in Toulouse – oder natürlich auch in Paris an der Sorbonne – Theologie und in Montpellier die medicinam. Das sei nun also so . . das sei nun also so . . was wollte er auch sagen? Was hatte er doch gerade sagen wollen, soeben hatte er den Gedanken auf der Zunge gehabt und nun war er verschwunden! Aha! Aha! Ja das mußte er ihnen doch noch erzählen, Donnerwetter (er verschluckte die letzte Silbe und bekreuzigte sich) – das müßten sie hören, denn das sei lustig. Ja also, er hörte heimlich noch weiter medicinam, er hörte professorem medicum Joannem Hintermeierum, übrigens Augsburgiensem (doch er war aus Augsburg gekommen vor der Zeit, da Augsburg lutherisch geworden, als Student versteht sich, und als Professor in Montpellier geblieben) und Joannes Hintermeierus hatte Mangel an corporibus, um sie zu anatomieren. Da brachen die Studenten heimlich in der 75 Nacht aus der verschlossenen Stadt aus, brachen in die Kirchhöfe der Klostervorstadt ein, schlugen sich mit den Mönchen herum, gruben die am Tage begrabenen corpora aus und brachten sie mit den Fuhren der Bauern, die morgens mit Milch und Gemüse hereinkamen – oh, daher kannte er den Schmuggelbetrieb hier, und ihm machte niemand etwas vor! – in die Stadt und ins theatrum, sie wüßten, den runden Hörsaal, und anatomierten. Außer den Studiosen sahen beim Anatomieren viele andere Herren und Bürger zu, auch viele Mönche, auch Demoisellen, besonders dann, wenn das corpus auf dem Tische ein corpus masculinum war.

Sie waren wieder am hinteren Schlagbaum angelangt, wieder zögerten die Studenten, wieder drehte sich der Kaplan um, wieder folgten ihm die Reisenden. Aber das Schönste sei etwas ganz anderes gewesen. Natürlich hätten sie alle fleißig medicinam, namentlich ex libro Hippocratis de natura humana, studiert. Auch die tabulas des Galeni, aber unter ihnen sei ein Büchlein umgegangen und jeder habe es in der Nacht bei einem Wachslichtlein heimlich für sich abgeschrieben: De componendis medicamentis. Also in dieser Anweisung von der Arzeneien Zusammensetzung des Rondeletius sei auch ein Mittel angegeben gewesen, die Haare zu treiben. Aber nun waren sie doch alle noch bloß ums Maul gewesen und hätten sich gerne mit dem Barte ein gehöriges Ansehen gegeben, namentlich vor den Demoisellen im theatro. Und sie hätten das denn nun aus Zitronensaft, Olivenöl und Hühnerdreck heimlich komponiert und es sich nachts ums Maul gestrichen. Aber sie beschmutzten nur die Kissen damit, und ob sie sich überdies manchmal Lippen 76 und Kinn mit dem Schermesser schaben ließen, so half es doch nichts.

Der Kaplan, schon ein guter Dreißiger und jetzt um die Lippen und das Kinn blau von häufiger Schur, sah stehenbleibend sich im Kreise nach Kinn und Lippen der Reisenden um, und sein Blick blieb mit dem wohlwollenden Lächeln des Ältern und Blaugeschorenen an Lippen und Kinn von Peterchen haften, dem, ob er schon lector designatus für Griechisch in Lausanne war, erst weiche Wolle sproßte. Ja, und so sei das nun . . in Frankreich, in Montpellier nämlich und hier in diesem verdammten (†) Galeerenorte, ja . . . ja . . . ob sie übrigens nicht etwas von einem Arzte Michaelis Viennensis gehört hätten? – Ja, von einem Michaelis Viennensis hatten die Studenten gehört, doch nicht so sehr, daß er ein Arzt, als vielmehr, daß er ein Theologe sei – da machte der Kaplan aber ein sehr ernstes Gesicht und sagte: »Theologe? Ja, das auch, aber darauf kommen wir später zurück.« (Die Studenten blickten nach der Sonne, die hinter den Jurabergen schon untergegangen war, sie drehten sich um und sahen die Spitze des Salève bei Genf noch im letzten roten Scheine wunderbar glühen.) Der Kaplan aber hatte, als er seine Gedanken von der ominösen Theologie wieder auf die Medizin richtete, die geliebte, die ihm besser gelegen hätte, aufs neue sein heiteres Gesicht, wie ein Mensch es immer hat, wenn er von den Dingen, denen sein Herz und Wesen gehört, sprechen, namentlich, wenn er in einem beruflich verpfuschten Leben von seiner eigentlichen Berufsneigung sprechen darf: »Dieser Michael aus Vienne am Rhodanus, übrigens aus Spanien gebürtig und in Vienne zugezogen, er heißt mit seinem Familiennamen 77 Servet, war auch Professor in Montpellier. Und hat eine gewaltige Entdeckung gemacht, nämlich daß das Blut einen Umlauf im Körper mache, vom Herzen zur Lunge und wieder zurück, blau hin, rot zurück, und er hat ein Werk darüber veröffentlicht, sehr bedeutend! Sehr bedeutend!« Der Kaplan machte sehr große Augen und hatte ein von der Sache ernstes und sozusagen heiliges Gesicht: »De circulatione sanguinis sive circulatione pulmonea. Bedeutend! Sehr bedeutend! Ganz außer der Ordnung!« Der Kaplan hob die Augen und spitzte die Lippen. »Ein Werk, das die Wissenschaft von der Medizin umstürzt und sie in ganz neue Bahnen weist, Galenus kann einpacken. Man fühlt es einer Entdeckung sofort an, ob etwas daran ist, etwas Inneres, etwas, wie sollte er sagen: Wahres im Sinne von Zukunftweisendes« (die Studenten fühlten bei diesen neuen und sicherlich wahren Tönen aus dem Herzen des Priesters ihre Ungeduld schwinden, und selbst der scharfe Geruch des Pferde-Urins auf dem Platze, der Bernard leichte Kopfschmerzen verursacht hatte, war nicht mehr lästig).

»Man kann es wohl sagen,« meinte der Kaplan, »das Fruchtbare ist das Wahre!«

»Vorzüglich! Ausgezeichnet!« rief Peterlein, auch Bernard sagte »vorzüglich!« und die übrigen nickten eifrig. Der Kaplan näherte sich geistig ihnen, sie wußten nicht wie, und fast empfanden sie für ihn ein freundschaftliches Fühlen.

»Aber nun hat dieser Unglücks-Servet,« fuhr der Kaplan sehr ernst fort, »den dummen Gedanken gehabt, nicht bei seiner Medizin zu bleiben. Er schätzt offenbar garnicht seine Entdeckung. Es kommt ja vor, daß große 78 Männer, wie sie oft nur zufällig ihre Entdeckung machen – man weiß das ja, es gehört immer ein bißchen mehr Glück als Verstand dazu – die Bedeutung, die Tragweite ihrer Entdeckung, die Größe ihres Gedankens selbst gar nicht begreifen. Sie schätzen sie gering ein und lachen sogar darüber. Es ist, als ob Gott sie nur als Werkzeuge benutze, sozusagen als Gefäße, in denen der göttliche Geist, der schwer faßbar in der Welt ist« – »ja ja,« nickten lebhaft die Studenten – »Wirklichkeit, Form, irgendwie greifbare Gestalt annimmt, und dann die Gefäße wegwerfe. Wißt ihr, meine Freunde, manchmal kommt es mir vor, als ob Gott grausam sei« – er dämpfte seine Stimme, die Studenten rückten sofort näher an ihn heran, der Kaplan sah sich erschrocken nach dem Wachthause um, doch auf dem Platze hörte ihn niemand von den Soldaten, die jetzt alle Freiwache hatten, da kein Grenzübertritt mehr zu erwarten war (der Schlagbaum gegen Genf hin war geschlossen). Ein Deutscher saß auf der Bank vor der Kaserne und spielte die Laute – »L'allemand du Luth heißt der Bursche,« unterbrach sich mit einem fröhlichen Hinweis auf den Musikanten der Kaplan – die Soldaten saßen und standen um den Spielenden herum, und es erklang ein trauriges Soldatenlied, indem der Musikant die ersten Takte präludierte – doch da unterbrach er sich und frug im Kreise herum: »Kennt ihr das?« und sang:

Gute Nacht, du Sündenleben,
Gute Nacht, du falsche Welt . . .

nein, das kannte keiner der Soldaten, darum kam der Musikant auf das erste Lied zurück, und da sangen zu seinem Spiele die Deutschen im Chore: 79

Die Abreis' von Frankfurt, die fällt mir so schwer,
drum adee, schönes Mädchen, wir seh'n uns nimmermehr.
Am sonnigen Morgen kam der Landsknecht vor's Tor.
Frisch auf, ihr jungen Burschen, heut' müssen wir fort.
Da sprachen die Burschen: Warum denn grad' heut'?
Heut' ist der schöne Sonntag für alle jungen Leut'.
Da sprach der Landsknecht: Ich bin's ja nicht schuld,
der König von Frankreich hat keine Geduld.
Und als sie fuhren auf dem Rhein, der Wind sich erhob,
die Wellen die schlugen das Schifflein halb tot.
Da sprach der Kapitäner: Wir fahren davon,
von Deutschland nach Frankreich, von dort nach Lyon.

Und ohne abzusetzen, sozusagen im selben Atem, aus dem letzten Ton in gleicher Höhe:

Wie machen's die Männer? Sie gehen abends zu Jacques
in die Schenke und versaufen das Geld mit dem Sack.
Wie machen's denn die Weiber? Sie gehen aus dem Haus,
sie gehen und klatschen und tratschen sich aus.
Und die Mädchen die lassen uns abends herein
und wollen am Morgen dann Jungfrauen sein,
Falleri fallera, Jungfrauen sein,
nein, Traudchen, das kann nicht sein.

So sangen die Deutschen. Und die Schweizer gurgelten mit.

»Wenn Gott grausam ist, so ist das wohl so zu verstehen,« sagte Peter, »daß er das Böse und das Grausame zuläßt und daß der Mensch das tun muß, was in seiner Sendung liegt. Und daß er in diesem Sinne also 80 keinen freien Willen hat und daß es eine prädestinatio gibt. In diesem Sinne sagt es Calvin.«

Der Geistliche blieb wie niedergekeilt stehen. »Calvin«, sagte er mit todernstem Gesichte – der Name kam kaum über seine Lippen.

Nun, das war eine Dummheit, das war wohl eine Dummheit, hier auf diesem gefährlichen Platze, in diesem Teufelsloche Calvin zu erwähnen. Der Priester aber ging darüber hin und sagte weiterschreitend: »Lassen wir Calvin. Sprechen wir von Servet. Aber was ihr da sagtet, junger Freund,« meinte er, sich schnell aufheiternd, »daß der Mensch tun müsse was in seiner Sendung liegt – aber von Calvins prädestinatio, welche die Kirche als irrig bezeichnet hat, sprechen wir nicht – das trifft eben auf Servet zu. Seht, ich, wenn ich mich neben einem so großen Manne nennen darf, mußte entgegen meiner Sendung – doch das ist ein zu großes Wort, sagen wir Neigung – aus einem Arzte ein Priester werden, aber Servet durfte seiner Neigung folgen, als er aus einem Arzte ein Theologe wurde. Denn das wurde er, und das, fürchte ich, ist sein Verderben.«

Die Soldaten sangen, jetzt mit Feierlichkeit und Inbrunst, es tönte so laut über den kühl werdenden Platz, daß der Kaplan in seiner Rede abbrechen mußte:

Wie schön scheint die Sonn', wie hell leucht' der Mond,
die Schönheit Marias doch herrlicher thront.
Denn nur sie allein war würdig und rein
die Mutter des göttlichen Kindes zu sein.

Schrumm schrumm, machte der Soldat mit ein paar Vollgriffen 81 seiner Hände über die Saiten gehend, als müsse er einen Strich unter das heilige Lied ziehen, denn er fuhr fort:

»Es spielt ein Reiter . . . kennt ihr das?« Sie kannten es alle, und sie sangen alle:

Es spielt ein Reiter mit seiner Madamm
wohl bis zum frühen Morgen.
Da fing sie an zu wei-ei-nen.
Weine nicht, herztausender Schatz, ich will dir geben einen Reitersknecht

(doch einen andern als mich, da kennst du mich schlecht! dichtete frisch ein Sänger dazu).

Den Reitersknecht, den will ich nicht,
ich will zu meiner Mu-u-tter.
Guten Tag, herzliebste Tochter mein,
wie ist es dir ergangen?
Dein Röcklein tut ja hinten wohl,
doch vorn nicht mehr zulangen.

Da gab es plötzlich Streit zwischen den Soldaten um eine Wurst, und der Kaplan, der es für zweckmäßig hielt, die Nähe der Soldaten zu meiden, entfernte sich von ihnen (auch den Studenten war es recht, denn gewisse Lieder . . . nun ja, sie verstanden soviel Deutsch, um zu erkennen, daß sie sich für künftige Prediger und angehende Missionare kaum schicken mochten, Peter sah gewissermaßen väterlich besorgt Pierrette an. Nur Martial lachte unverhohlen und ließ zurückbleibend den Soldaten ein Ohr, denn das Gespräch über die prädestinatio dünkte ihn weniger wichtig).

»Servet hat nämlich«, sagte der Kaplan, indem er sich mit den neuen Freunden der hinteren Stange 82 näherte (Martial war bald im Geschwindschritt gefolgt), »der Teufel hat ihn gestochen, statt eines großen Arztes ein kleiner Theologe sein zu wollen, er hat ein Buch geschrieben: Christianismi restitutio. Und das ist nun ketzerisch, einfach ketzerisch. Er behauptet, die heilige Dreifaltigkeit, das sei nur ein Symbol, nichts Wirkliches. Und er behauptet, die Taufe von kleinen Kindern sei ein Unsinn.«

»Wenn man's recht besieht,« sagte Martial in der Gesellschaft der jungen Männer, die jetzt wie Vögel nebeneinander auf der gesenkten Stange saßen, »wenn man's recht besieht . . .« Karl stieß Martial in die Rippen.

»Was? Wenn man's recht besieht?« frug aufhorchend der Kaplan . . . »dann sind die Soldaten so übel nicht,« vollendete Peter. »Ein bißchen derb, aber sie meinen es nicht schlimm. Des Volkes Sinn ist rauh . . . Schaf,« brummte er Martial ins Ohr.

Der Kaplan war wirklich abgelenkt und wollte sich darüber ergehen, daß es mit dem Glauben an das Volk schon recht sein möge, aber wenn man wie er mit ihm so dicht zusammenleben müsse . . . Doch die Studenten hatten es jetzt gar nicht mehr so eilig, sie lockerten sogar ihre Ranzen, sie ließen sie unter den Galgen des Schlagbaums und auf den Boden nieder sinken. Der kleine Peter frug: »Wie war das weiter mit dem Servet?«

Die Soldaten hatten den Gesang abgebrochen und liefen mit ihren Näpfen in die Kantine, sich ihren »Fraß« zu holen. Einer aus der Bretterhütte zurückkehrend sang:

Bohnensuppe mit Speck wär' gut,
wär' nur auch Speck darin . . .

83 »Servet lebte ruhig in Vienne als Arzt des Erzbischofs Pierre Paulmier und ließ bei den deutschen Buchhändlern in Lyon heimlich die restitutio drucken. Da war nun ein Franzose in Genf, einer von den Emigranten, die hier über die Grenze gehen – man kann ihnen nichts anhaben, den Schurken, ihre Pässe sind in Ordnung. Ein gewisser Guillaume de Trie, ein intimus von Calvin, wenn ich den Namen denn aussprechen soll . . .«

Die Studenten horchten auf und neigten sich dem Sprecher zu, der von der Abendkühle bedrängt von der Stange herabgeglitten war, um sich die Sutane fester um den Leib zu ziehen. ». . . ein intimus amicus von Calvin,« nahm Peter für den Kaplan auf, und dieser, auf die Stange rückwärts sich wieder hinausschiebend, setzte fort: »Guillaume de Trie ist in lebhafter Korrespondenz mit einem seiner Verwandten, einem feurigen Katholiken, in Lyon geblieben. Dieser macht Trie Vorwürfe wegen seiner Flucht nach Genf und des Fraternisierens mit den haereticis. Trie antwortet, frech wie diese Ketzer nun sind, dieser Vorwurf treffe vielmehr die Papisten, die trotz ihrer schönen Hierarchie, die sie unterhielten, einen Servet unter sich duldeten, der Ketzereien drucken lasse, die sie, die Ketzer von Genf, nie dulden würden, nämlich nicht an die Dreieinigkeit zu glauben und die Kindertaufe zu verwerfen. Der Vetter fordert Beweise, und Trie überschickt ihm Druckbogen des Werkes von Servet, die dieser an Calvin gesandt hat«. – »An Calvin?« rufen wie aus einem Munde die Studenten. – »Ja, an Calvin,« sagt der Kaplan, »natürlich, ein Häretiker an den andern. Die Wölfe unter sich sind doch Freunde, nur Feinde der Lämmer.« – »Aber, wie konnte 84 Calvin . . .?« entfährt es Peterchen, und sein Herzschlag stört ihm die Rede.

»Nun ja, er hat sie einem Freunde, eben dem Guillaume gezeigt,« klärte Bernard auf. »Warum auch nicht? Calvin ist . . . Calvin soll gar nicht ängstlich sein und Leuten, auf die er sich verlassen kann, schon einmal aus seinem Wissen mitteilen. Vielleicht ist das gerade die Art großer Diplomaten, die Diplomatie nicht als Geheimgeschäft zu behandeln.«

»Nein, es war eine kleine nette Schurkerei von Calvin,« schmunzelte der Kaplan, »une fourberie pure et nette. Wenn ich nicht Servet als Ketzer hassen müßte, so würde ich ihn als ein Opfer von Schurken bedauern.«

»Vielleicht liegt eine unglückliche Verkettung von Umständen vor,« milderte Peter, »denn Calvin mußte doch nicht wissen, daß Trie es in dieser Weise ausnützen und mit dem Ketzer in Frankreich, ›bei ihrer schönen Hierarchie‹ auftrumpfen würde. Man weiß ja, wie das so kommt, Trie spricht mit Calvin und erzählt ihm von dem Vorwurf seines Vetters, und Calvin sagt leichthin, während er Briefe unterschreibt, welche die jungen Schreiber im Vorzimmer ins Reine gebracht haben: ›Nun, die Lyoner sollten mit dem Vorwurf der Ketzerei nicht so freigebig sein. Sie haben eine schöne Hierarchie da, und doch entgeht ihnen einer, der unter ihnen sitzt.‹ Und unterschreibt und siegelt weiter. Wie das im Leben so geht.«

»Nun, was geht uns Calvin an,« sagte der Kaplan, »und seine Schurkerei oder Unvorsichtigkeit oder sein Dahinreden, wenn er beschäftigt ist und Briefe unterschreibt, denn er soll ja mit der halben Welt 85 korrespondieren, genug, der Lyoner erstattet Anzeige beim heiligen Tribunal, Servet wird vor die Inquisition geladen – sie haben jetzt einen besonders scharfen Herrn sich kommen lassen, Matthieu Ory aus Rom, ordinis sancti Dominici –, Servet wird verhaftet, nach Lyon gebracht, verhört – – er leugnet. Leugnet hartnäckig und standhaft, er sei doch Arzt des Erzbischofs von Vienne, und der gute Tropf von Erzbischof, ehrlich betroffen davon, daß sein Arzt und Freund ein Ketzer sein soll, sagt vor Gericht aus, daß Servet nie bei der Messe gefehlt habe. Da zieht Matthieu Ory die Druckbogen der restitutio aus der Schublade und legt sie Servet vor mit der Frage, ob er das kenne. Auch da leugnet Servet. Erst als ihm der Brief von Trie gezeigt wird, in dem zu lesen steht, daß sich Servet an Calvin gewandt habe mit der Bitte um Rat in diesem und jenem und daß sogar Calvin von den gar zu ketzerischen Ansichten des Arztes abgerückt sei, nun ja, da muß er es zugeben. Er ist gebrochen und wird ins Gefängnis gebracht.«

»So so,« sagten die Studenten, »ins Gefängnis gebracht! Und da sitzt er nun? Wie? Und wartet auf den Scheiterhaufen?«

»Nein, er wartet nicht mehr, denn er ist entwischt« – ein Seufzer der Erleichterung entflieht den Studenten, doch der Kaplan deutet es nur auf die unwillkürliche Anteilnahme, die ein Hörender immer an einem Verhafteten nimmt – »er ist entwischt. Man hat ihm gestattet, im Gefängnisgarten spazieren zu gehen. Er sieht sich zufällig allein, klettert auf einen Baum, wobei ihm sein Samtbarett fällt, läßt sich an einem Aste auf eine Mauer nieder, erreicht auf diesem Wege das Dach eines Hofschuppens des Nachbargebäudes, klettert über dieses 86 hin und gelangt ins Freie. Er ist flüchtig. Das Gericht in Lyon schickt sein Barett hierher, damit wir es, falls es wie gewöhnlich aus dem gleichen Tuche wie der Mantel gemacht ist, mit diesem vergleichen können, wenn Servet, wie anzunehmen stünde, schreibt das Gericht, über unsern Posten nach Genf fliehen wolle. Doch das ist schlechte Menschenkenntnis des Dominikaners,« lacht der Kaplan, »das ist psychologisch ganz unmöglich nach dem Streiche, den Calvin dem Servet gespielt hat.« (Der Kaplan redet jetzt ein ganz normales Französisch, nicht mehr durchsetzt mit lateinischen Wendungen, denn es gilt ja nicht mehr, dem Zollamtsspieß und den Soldaten zu imponieren, hier draußen auf der Stange!) »Das Barett habe ich hier,« sagt der Kaplan, »ich habe es in der Tasche, um es in jedem Augenblicke gebrauchsfertig zücken zu können. Ein bißchen auffällig ist es schon und zieht die Augen auf sich, gute Ware, spanischer Samt, rot und schwarz gesprenkelt wie ihr seht, der Mann versteht sich zu kleiden.«

»In der Schar der Leute, denen wir vor dem Schlagbaum begegnet sind, trug ein Mann einen solchen Samtmantel, rot und schwarz gewürfelt, er hielt sich beiseite, während die Reisenden uns ihre Abenteuer erzählten, aber ich habe ihn genau gesehen.« Der kleine Peter erzählt das mit knabenhafter Leichtfertigkeit und unverhohlener Freude, denn er ist jetzt sicher: das war Servet!

»Wie? Was!« fragt der Kaplan. »Er sollte hier durchgekommen sein? Ich habe doch die Passierenden genau gemustert!«

»Es war eben die Innenseite des Mantels, das rot und schwarz Gewürfelte, und die Innenseite des 87 Baretts, er wird Barett und Mantel einmal haben wenden lassen, draußen war ursprünglich der Mantel und ist das Barett wie ihr seht dunkelblau,« lächelt Peterchen und kann seine Freude kaum unterdrücken. »Also der Mann kam im blauen Mantel an, dann zog er ihn aus, drehte ihn um, zog die Ärmel durch ihre Löcher, legte ihn wieder an und stand nun im schwarz und roten da. Welcher der neuere war.«

»Ja den im blauen Mantel habe ich hier gesehen und genau gemustert,« sagt betroffen und verdonnert der Kaplan, »aber nichts Auffälliges an ihm gefunden. Der Mantel war ziemlich vertragen.«

»Der Mantel war ziemlich vertragen, und die Mütze ist also,« sagt Pierrot, dem Kaplan das Barett aus der Hand nehmend, »wie ihr seht, gewendet. Auch sie ist ziemlich vertragen und verblichen von der Sonne der Provence, und da hat er sich früher einmal Mütze und Mantel wenden lassen – ein geistiger Arbeiter, er wird nicht viel Gehalt bekommen haben bei seinem trefflichen Freunde, dem Erzbischof Paulmier.«

Es ist dunkle Nacht geworden, die Freude der Studenten kann der Kaplan nicht sehen, sie sitzen ja auch nebeneinander, er mit ihnen auf der Stange.

»Dann ist er gerettet!« sagt Martial keck und verwegen. »Servet auf dem Wege nach Genf! Servet bei Calvin! Calvin wird ihn für den ausgestandenen Schreck, an dem er ein wenig schuld ist, schadlos halten.«

Der Kaplan ist so verstört darüber, daß seine und seiner Beamten Wachsamkeit am Grenzposten so unwirksam war, und so geknickt in seinem Selbstgefühle, daß er sogar auf das verräterische »Gerettet« nicht hört, sondern ziemlich betreten Gute Reise wünscht, was die 88 Studenten mit Gute Nacht beantworten. Sie sind alle vom Balken herabgerutscht, und die Reisenden nehmen ihre Ranzen auf. Diesmal lädt sich Bernard den von Pierrot auf. Was Pierrot, der Kleine, Feine – wahrhaftig, er läßt es geschehen.

»Übrigens,« sagt Peterchen, »kenne ich einen Servet, der eine Neuausgabe und Übersetzung des Geographen Ptolomäus mit vielen Noten und Anmerkungen gemacht hat.«

»Derselbe! Derselbe!« murmelt der Kaplan, noch immer nicht recht zu sich gekommen, »das hat er auch getan. Des Geographen Ptolomäus . . .« Aber er empfindet aufrichtiges Bedauern beim Abschiede der Studenten, die eine oder zwei Abendstunden mit ihnen haben dem armen auf eine Zollschranke verwiesenen Priester wohlgetan, und er hat sich mit Gebildeten wieder einmal recht unterhalten können. Das kommt nicht alle Tage vor. »Kleriker des Bischofs von Savoyen sein,« klagt er, »mit einem Gehalt von zehn Pfunden, zwanzig Schillingen, fünfunddreißig Hellern, und diese Verantwortung haben, und dabei gehen einem die Gefährlichsten gerade durch die Lappen. Aber immer noch besser denn Kaplan in einem Dorfe bei einem habsüchtigen Pastor, viele Priester verdingen sich als landwirtschaftliche Hilfsarbeiter während der Erntezeit bei den Großbauern. Ich freue mich, wenn ihr zurückkehrt, meine Freunde, in vier Wochen, sagt ihr? Richtet es dann ja so ein, daß ihr Zeit habt. Kommt schon am Morgen an, und wir haben einen schönen Tag miteinander. Ich heiße Denis Peloquin.« Die Studenten stellten sich auch vor: »Martial Alba, Pierre Escrivain . . .« – »Nun ja, sagt mir nur eure Vornamen, meine Freunde, die 89 Familiennamen behalte ich doch nicht. Und kommt bald und gesund wieder.« Die Studenten sagten ihre Vornamen und verabschiedeten sich: »Vale Dionysie!«

»Valete amici!« . . .

Der Platz war leer, der Zollamtsvorstand war zu seiner Frau gegangen, nur die Nachtwache marschierte mit ihren Hellebarden an beiden Schlagbäumen auf. Die deutschen Soldaten sangen aus der Kaserne:

Nach Frankreich wollen wir reisen,
ri-ra-reisen,
(sehr schnell) der Wein schmeckt besser als das Bier.

Die Schweizer gurgelten mit.

Dann hörte man von drinnen den Kommandoruf des Stubenältesten: »Licht aus!« Er brüllte wieder: »Licht aus!« Darauf erlosch das Licht in der Kaserne, der Schritt des Nachtpostens hallte auf dem Platze, und die Studenten marschierten los, um vor Torschluß den nahen Ort zu erreichen, in dem sie Nachtquartier nehmen wollten.

 


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