Josef Ponten
Die Studenten von Lyon
Josef Ponten

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dieser bedeutungsvolle und ereignisreiche Tag begann bei Zeiten in der Morgennacht. Peter schauderte leicht von der frühen Kühle, er klopfte mit dem Stabe in die Gasse, er tutete in die Muschel seiner Hände. Haustüren gingen, frische Schritte flossen die schrägen Gassen herab bei ihm zusammen. Herzhaften Morgengruß rundum in die Hände gegeben an Bernard, an Martial, an Karl – sie lächelten; denn Peterchen, wie sie Peter Navières, den kleinsten, den jüngsten, zum Unterschiede vom großen Peter Escrivain nannten, auch gelegentlich aus gutmütigem Spott oder in Liebkosung Pierrot und gar Pierrette, fehlte noch. Sie traten von einem Bein aufs andere und schlugen sich die Hände wie Lappen um den Leib. Ein die Nacht offenbar ausgeschlossen gewesenes Hündchen bellte todmüde (es konnte kaum auf seinen Beinen stehen) ein dumm-verschlossenes Haustor an – bei jedem Belltone rauchte ein Wölkchen aus des Hündchens Maule. Da kam, lief, stürzte auch Peterlein über die glatten und von der Nacht ein wenig feuchten Katzenköpfe der Pflasterung die gliedergefährlich steile Gasse herab und fiel im Laufen und Schlittern fast über die schlenkernden losen Schuhbändel. Peter fing ihn in seine Arme, fuhr ihm väterlich über die losen, vom Schlafe feuchten Haare und glättete sie, Martial knüpfte 6 ihm, seine Füße auf eine Türstufe hebend, die Schuhriemen, Bernard knöpfte ihm die Joppe zu, Martial entwand ihm den Wanderranzen und lud ihn zu dem seinen. »Peterchens Ranzen geht um,« befahl Peter und nahm ihn kurzerhand Martial ab, »ich zähle für zwei.« – »Ach, ich habe so gut geschlafen,« seufzte Peterchen behaglich, während man ihn marschfertig machte, »ich träumte von der Mutter.« – »Wirst sie, wenn wir gut marschieren, in sechs Tagen sehen,« versicherte Peter, »heute haben wir den strammsten Tag.« So vollendeten sie die Bekleidung Peterchens, der dazu leicht schwatzte und betonte, daß nur die Furcht vor seinen großen Freunden ihn, da er sich nun einmal verschlafen, bestimmt habe, nur halbangezogen zu erscheinen – ließ es aber wie ein Prinz geschehen, daß man ihn instand brachte und ließ sich die kleinen Dienste gefallen. »So, Herr Professor! Fertig!« rief Martial und gab Peterchen einen freundlichen Klaps, sodaß er fast auf die Nase gefallen wäre. Man muß nämlich wissen, daß Pierrot erst fünfzehn Jahre alt war, mit dreizehn Jahren die Universität hatte beziehen dürfen, das Griechische fast ebensogut wie das Französische sprach, mit acht Jahren schon den Kriton des Platon übersetzt hatte, wegen seines ganz außerordentlichen Sprachtalentes und seiner Frühreife ›das Wunderkind‹ genannt wurde und bereits einen Lehrauftrag für Griechisch bekommen hatte, für den er die Probevorlesung soeben am Schlusse des Wintersemesters gehalten hatte.

Über den Berner Alpen, die noch nachtbleich und schneekalt vor den vom Himmel hangenden Fahnen des Dunkels standen, blitzte der große Morgenstern.

Peter kommandierte: »Marsch!«

7 Sie gingen schweigend, mit großen Schritten fürbaß, fröhlich und wehmütig zugleich, denn Abschied bleibt Abschied. Wenn Peter einen Schritt tat, machte Peterchen anderthalben. »Pierrot, das Hündchen!« scherzte Martial. Die Stadthäuser luden mit ihren sehr tiefen Dachgesimsen, mit ihren weitvorkragenden Dächern über die Straße aus, sodaß zwischen den Traufen der gegenüberliegenden nur ein Spalt den Blick auf den sternbesteckten Nachthimmel freigab. Ihre Schritte hallten die abschüssigen Gassen von Lausanne hinab und hinaus.

Über dem See stand ein hoch über die Ufer des Wassers hinausgetretener Kältesee von Nebel. Sie tauchten hinein und verschwanden. Auch ihre Schritte verhallten in der feuchten Unterwelt.

Der Morgenstern verstrahlte heftig und verschwenderisch sein grünes Silber. Zackig stand das blinkgrüne Wunder über dem hohen knochenfahlen dunkeln Erdrande. Ein scharfes und wissendes Auge konnte eine kleine Sichel erkennen. Er stieg, aber begann blasser zu werden, denn die Sonne duldet selbst ihren Herold und Vorläufer nicht neben sich, sondern fordert, wenn sie erscheint, für sich allein das Theater der Welt. Die Nacht fing an, ihre schwarzen Fahnen einzurollen. Noch behauptete sie über der geraden Mauer des Juras den Westen, aber auch da befand sie sich im Rückzuge. Der Himmel zog seine Sterne hinter fahle Schleier zurück.

Da, im Süden und hoch in der Luft schwamm ein rotes Feuerinselchen! Der Gipfel des Montblanc erhielt das erste Tangentenlicht der über Ungarn aufgehenden Sonne. Nun gab es kein Halten mehr, der Tag regnete vom Himmel herab in alle Täler und Gruben, die Nacht floh nach Westen hinunter.

8 Die Sonne war, plötzlich gleichsam, da und trank, als wäre sie durstig von weiter Reise über den glühenden Wüsten Asiens, die Nebelfeuchte der Nacht, die ihr der Westen Europas in Bechern und Schüsseln seiner Flußtäler und Seemulden bot. Zusehends schrumpfte der Nebelsee ein, und da, auf halber Landhöhe marschierend, tauchten, ganz klein schon und in Meilenferne, die fünf weitaus schreitenden Studenten herauf.

Plötzlich hielt der kleine Marschtrupp jäh an, so jäh, daß die gehemmte Bewegung in ihm selbst zurückflutete: die zuletzt Schreitenden stießen, die Hände schnell als Puffer einschiebend, wider die Rücken der vorauf Gehenden, und die Last ihrer Körper fiel dann von Ballen und Zehen auf die sich senkenden Fersen herab. Was war geschehen? Der an der Spitze schreitende Bernard war auf einmal stehengeblieben – er rief pst! und legte sein Ohr fast auf den Nebelsee: ganz leise, ganz fein und sehr sehr ferne erklangen Glocken. »Die Glocken versunkener Kirchen und Städte. Wie in den Sagen,« flüsterte Bernard. – »Das Morgengeläut in den Städtchen unten am See, wie schön!« rief Peter. Ganz nahe krähte ein Hahn, ein Rosenkranz von Hahnenschreien perlte sich fort, obgleich man nicht Haus noch Hof sah. Nur die Kathedrale von Lausanne, hinter welche die Sonne getreten war, stand fabelig wie eine Gralskirche in der menschenleeren Landschaft. Alle dachten sie wohl das Wort Gral, niemand sagte etwas. Die Firne und Gletscher auf den Schweizer Bergen waren wie Felder stark schimmernden bläulichen massiven Quecksilbers, mit nichts zu vergleichen und unbeschreiblich, unbegreiflich schön – »man kann das nicht lange ansehen,« sagte in einem vor Staunen schwachen Atem Bernard, und 9 jedermann begnügte sich damit. – »Ja wir sind erbärmliche Humanisten«, polterte Peter los. »Wie kann man nur wie wir ein neues, ein religiöses Zeitalter zu erleben meinen und von Gottes Wundern in seiner Welt nichts wissen!« – »In Italien und Deutschland,« meinte Bernard, »entdeckt man jetzt auch die Naturkräfte und -kreise.« – »Aber ich bin überzeugt,« rief Peter, »daß selbst Luther ein Büchermensch ist wie wir, von der Welt nichts weiß, die Mitte des natürlichen Tages vom Mittag auf den Abend verschiebt, bis über die Mitternacht bei der Lampe sitzt und alle Sonnenaufgänge verschläft!«

»Laß es gut sein,« sagte Karl. »Daß wir die Bibel im Urtexte lesen dürfen, daß wir Gott, Christus und die Kirche neu erleben, ist etwas so Unerhörtes, daß daneben alles leicht wiegt, was wir an Kenntnis von den Dingen dieser Welt entbehren.« Diese Meinung teilten alle, schließlich auch Peter, ihre Augen leuchteten auf, sie fühlten sich davon befriedigt und dadurch sozusagen gerettet, und sie nahmen den Weg wieder unter eilige Füße.

Die Straße fiel, sie mußten aufs neue in den Dampfsee hinabsteigen. Das rötliche Zentrallicht Sonne zerging in ein allgemeines helles Himmelsgrau, und die Augen schmerzten im zerstreuten Widerlicht unzähliger Nebeltröpfchen. Da stieg in weiter Ferne ein Turm vor ihnen auf – nach zehn Schritten standen sie vor einem Pfahl. Ein Gefährt wie ein Kriegswagen kam entgegen – es war das Kärrchen eines Weinbauern, der Mist in seinen Wingert fuhr. Der jähe Wechsel großartiger Sinnestäuschungen und zugemessener Wirklichkeiten wirkte auf die naturfremden Burschen zuerst erschreckend und dann erheiternd, im Ganzen aber etwas 10 enttäuschend. Die langsam steigende Sonne senkte den Spiegel des Wolkensees tiefer ab, schon waren die Wanderer aufs neue ob dem Rauchsee, obgleich sie bergab gingen. »Wißt,« sagte Peter, »die Unsichtigkeit und Finsternis eines Zeitalters muß vergehen sozusagen auf kosmische Weise. Wir können mit den Händen schlagen und uns toll gebärden, den Nebel vertreiben wir nicht, bis eine himmlische Sonne ihn von den Tälern des Lebens wegschöpft. Kurz und gut: Gott muß helfen, wenn Menschen in ihrer Zeit weit wirken wollen. Man muß im rechten Augenblicke auf die Welt kommen, man muß in sein Zeitalter hineingeboren sein.« – »Mir scheint aber, wir sind im rechten da,« meinte Bernard. »Wenn wir erst mal in Bordeaux, in Avignon, in Cette, in unserm lieben papistischen Vaterlande Pfarrer sind, dann wollen wir bald dasselbe sein – ich meine nicht im Grade, aber doch in der Art – was Zwingli in Zürich, Farel in Neuchatel, Calvin in Genf wurde.« – »Wir werden schon jetzt in den vier Ferienwochen daheim den Samen des freien göttlichen Wortes ausstreuen,« behauptete sehr energisch der kleine Peter – doch blinzelte er, noch immer nicht vom Schlafe befreit (da er doch noch ein Knabe war) mühsam gegen das Licht. »Zuerst werde ich meine Mutter gewinnen« – und der große sah ihn zärtlich an.

»Deckt den Samen nur gut mit Erde zu, sonst picken die Krähen ihn weg, bevor er ausschlägt,« warnte Martial. – »Ach Martial, du machst doch ständig den Advokaten des Teufels,« brummte Karl. – »Wer den Teufel betrügen will, muß seine Falschspielerkünste so gut verstehen wie er, denn er ist schlau,« bemerkte ruhig Martial.– »Martial hat recht,« sprang Peter ein; »aber ich 11 glaube, wir haben das Glück, im rechten Augenblicke gekommen zu sein. Zu früh kommen heißt Märtyrer, zu spät kommen Narr sein. Als Luther sich um hundert Jahre verfrühte, hieß er Huß und wurde in Konstanz verbrannt. Aber noch zweihundert Jahre früher hieß er Kaufmann Waldus aus Albi und wurde mit seiner Schar ein schauervolles Opfer der weißen ›Hunde des Herrn‹, ihr wißt.« – »Wir legen sie an die Kette, Peter, die Dominikanerhunde!« blitzte Martial mit Mund und Auge. – »Wir müßten uns schämen,« sagte Peter, »und würden ein Gelächter der Welt werden, wenn wir glücklich zur rechten Zeit Gekommenen nicht endlich daheim verwirklichen könnten, was jene unglücklich zu früh Erschienenen vergeblich versuchten.« – »Kann man wirklich sagen, sie seien vergeblich gekommen und gestorben,« meinte Peterchen (der nun, etwa um sechs Uhr morgens, auch endlich ganz wach war), »wenn sie uns ein erhabenes Beispiel sind?« – »Pierrot hat recht, es gibt keinen vergeblichen Aufwand Gottes in der Geschichte,« sagte Bernard, »es gibt nur glückliche und unglückliche Ereignisse«. – »Und Menschen!« rief Peter. »Luther ist ein solcher unbegreiflich Glücklicher, womit ich nicht sagen will, daß er in der weniger angenehmen, aber heldenhafteren Rolle des Unglücklichen versagt haben würde. Der nach Worms ging auch wenn darin soviel Teufel wie Ziegel auf den Dächern wären, der hätte auch die Kraft zum Märtyrer gehabt. Ich zweifle nicht daran. Wenn der Alte jetzt der geistige Fürst der Welt ist und Papst und Kaiser vor ihm zittern, er hat es verdient. Aber fast schäme ich mich, daß uns die leichte Aufgabe zufiel, Erfolg zu haben. Wir werden ihn haben und Frankreich zu unserm Teile protestantisch machen, denn 12 die Zeit ist reif und ein Land nach dem andern fällt dem neuen Gedanken zu, aber – unanständig bleibt es doch, Erfolg zu haben. Huß ist, ich kann mir nicht helfen, größer als Luther, und die Böhmen dürfen stolz sein. Aber die Welt ist für das was sie sieht und huldigt den Deutschen. Die Deutschen führen, trotz Franz in Frankreich und Karl in Spanien. Und wir werden es noch bequemer haben als die Wittenberger, darüber ärgere ich mich. Von uns wird man später einmal sagen: sie fanden ein gemachtes Bett und hatten gut schlafen.« – »Nun nun, Peter,« widersprach Martial, »nicht zu voreilig, Freund! Das gemachte Bett könnte auch eine Gefängnispritsche oder ein Laurentiusrost sein, die heilige Inquisition in Frankreich und Spanien hat davon ein wohlbestelltes Möbellager!« – Sie lachten. – »Nun, ich dränge mich nicht zum Märtyrertum,« versicherte der Große, »auch derjenige ist ein Narr, der noch Märtyrer sein will, wenn der Sieg bereits auf der ganzen Strecke erkämpft ist.«

Die Sonne war schon gelb und vollrund, doch konnte ein starkes Auge für kurze Zeit noch in sie blicken. Turmhelme stachen aus dem Nebelschwalch hervor, und Dächer schifften wie Archen darauf. Erster Rauch quirlte mühsam die noch nachtkalten Rauchschächte hinauf und aus den Schornsteinen hinaus. Die Landschaft verlor das Zeitlose und Vorgeschichtliche und wuchs in dieses Jahrhundert herein. Sie wurde freundlicher, wenn das Menschliche freundlich ist, lieblicher und gefälliger, wenn auch alltäglicher. Aus dem schrumpfenden Wollmeer kamen runde und dunkle Vorgebirge und die niederen vorderen Hügel herauf, ein Bauholzschlagwald und ein hochgestiegenes Ackerfeld wurden sichtbar. Der Mythos von Bergwüste 13 und Gralstraum vermilderte und verflachte sich in Weinlandschaft und Nährraum. Von Osten aus dem Loche des Wallis glitt ein Vogel ungeheuren Maßes über den Brodelsee daher, einen turmlangen Schatten über das Wolkengequölle voraufschiebend – »schau, Peterlein, eine ›Möve‹! Das Seeschiff!«

»Wahrhaftig, einen solchen Urvogel hab' ich noch nie gesehen!« – »Ja, wenn man früh aufsteht, Kleiner, kriegt man allerhand in der Welt zu sehen!« – »Wenn das Aufstehen nur nicht so schwer wäre!« seufzte der Langschläfer. – »Fahrt fort, Herr Dozent,« rief Martial, »laßt euch nicht von dem verschlafenen Naseweis unterbrechen und enthaltet unseren gierigen Ohren nicht eure Beobachtungen vor!« Peter lächelte vor sich hin, aber obgleich er Martial liebte mit seinem Gespött, so schwieg er doch.

»Aber im Ernst, rede weiter, Peter,« sagte Martial, »du siehst wirklich für uns Blinde.« – »Nun,« meinte Peter, ohne verstimmt zu sein, »ich wollte sagen, vor sechs Uhr ist die Landschaft ein Erdteil für sich, fremdartig wie das Australland. Wenn wir auf die Schulbänke steigen, ist er schon dahin, aber jeden Morgen kommt er wieder.« – »Ich muß gestehen . . . ich muß gestehen . . .«, meinte Peterlein, sich nach der riesigen grotesken Erscheinung des Schiffvogels im Gehen immer wieder umwendend, »so früh morgens ist es mir in der Welt nicht geheuer. Ich werde nicht frei von einem Druck über der Brust. Der Tag kann soviel Fürchterliches bringen, ich bewundere morgens immer den Mut der Welt, es wieder mit einem so ungewissen Tage zu versuchen. Sozusagen. Ich, für meine Person wenigstens, habe morgens immer etwas Furcht oder doch Angst. Angst hab' ich jeden Morgen, nun mögt ihr lachen.«

14 Karl lachte wirklich laut, Bernard lächelte, und Martial mußte natürlich sagen: »Wie philosophisch, wie kosmisch sozusagen der kleine Schlaukopf seine Faulheit zu erklären versteht! Freilich, mit einer solchen Weltfurcht im Herzen ist ein Langschläfer wohl berechtigt, sich die Decke noch einmal über den Kopf zu ziehen, wenn die Sonne schon hoch am Himmel steht.« Aber der große Peter war sehr ernst, und er sagte, ohne Martials guten Spott zu beachten: »Du bist ein äußerst empfindlicher Mensch, Peterlein, du bist gar nicht so schlicht und grobschlächtig wie deine Dichter, die Hesiod und Horaz. Du bist ein feinnerviger Mensch, das hast du von der Mutter, und man kann dir nur zurufen: Mut! Der Tag ist nicht schreckhaft, er hat was wir ihm abringen, die Orangen brechen wir ihm aus der Hand und die faulen Eier werfen wir ihm an den Kopf. Willst du wieder zuversichtlich sein, mein Kleiner?« – »Ja, ich bin schon wieder mutig, die Angst ist fort, nachdem ich sie ausgesprochen und Karl und Martial mich so kräftig und wohlverdient ausgelacht haben. Aber ich muß sagen, ich habe die ganze Zeit die Tränen zurückdrängen müssen, während ihr so wacker und ordentlich gesprochen habt. Ich hatte Angst vor unserer Reise. Aber nun bin ich ganz fröhlich geworden. Zum Kuckuck, das ist doch ein paradiesischer Tag, und wir wollen schon dafür sorgen, daß er so schön zu Ende geht wie er anfängt. Wohl, allen Schlangen werden wir den Kopf zertreten!« – »Brav so,« rief Peter, »Mut und Freude, Junge! Heute ist nicht nur ein schöner, auch ein großer Tag, denn wenn wir uns sputen, stehen wir noch heute vor Calvin in Genf! Freunde, da kommt mir ein Gedanke: Wacker losgeschritten, dann erreichen wir mit der Möve die Lände 15 von Rolle, sie scheint daraufzu zu halten. Bei den Schwungfedern des Gabriel der Verkündigung! – der Papst soll Lutheraner werden, wenn sie mir nicht aussieht, als ob sie nach Genf weiter flöge. Sie soll uns unter ihre Fittiche nehmen!«

Fröhlich schritten sie davon und gerieten wieder in die Wolkenballen. Oben schnitt der Qualmsee so eben und entschieden ab, daß sie eine Weile bis zum Gürtel eingesenkt darin wateten. Sie glitten wie halbe Modellmänner eines Schneiders über das wollige Gekröse. Nun fiel die Straße ganz jäh zum See ab, und sie tauchten ins Nebelmeer.

Den sie noch nicht sehen konnten, den See, den hörten sie nun: ein leises Mahlen und Knirschen. Unter einer schwachen Auflaufwelle rieben die Kiesel und glasigen Sande aneinander. Da glitt im Nebel ungeheuer und gespenstig wie ein Piratenschiff die Möve heran, der Flügelschatten des Segelwerks, den sie jetzt von unten sahen, strich flach vorauf über ihre Köpfe hin und verdunkelte vor ihren Augen die nur wenige Ellen im Kreise große Landschaft am Ufer. Sie folgten laufend dem im Nebel dahinstreichenden dunklen Ungeheuer – plötzlich, vor einem leichten lauen Winde, schwand der Nebel wie vom See abgelöffelt dahin, die Möve tauchte mit ihrem Hinterteil aus der fliehenden Wand heraus, jetzt in kleinen Maßen, wie man das gemeine Schiff des Lemanischen Sees kannte, die Seefläche stieg an, in der Nähe über dem Ufer schilfgrün, in der Ferne über der Tiefe blau, drüben begrenzt vom lieblichen Ufer Savoyens, die Sonne brach warm in die Seewelt herein, die blinkenden Nebeltröpfchen an den Härchen der Kleiderschur der Wanderer vergingen, jedes ein 16 Quarzstaubkörnchen zurücklassend. In der Ferne, halbwegs Genf, verrauchte der Nebel.

Da war Rolle, auf der Seeau ein gefälliges Dorf, auf der Seeterrasse ein Schloß, ein festes Haus mit einem von halbrunden, hinten offenen Türmchen geschützten Hofe. Sie strebten dem kleinen Hafen zu. Aus einem mit gerefften Segeln und senkrecht an den Mast gestellten und aufgebundenen Rahen an der Lände liegenden Seeschiffe löschte ein altes Weib in Männerhosen allein in der Morgenfrühe eine Ladung Quadersteine, jeden einzelnen stumm und der Burschen nicht achtend über ein schwankendes, beim Beschreiten in der Mitte sich einbiegendes Brett auf einer Rückenkiepe heraustragend. Jetzt näherte sich der nach Teer riechenden und blind endenden Pfahlbrücke der mit Schnitthölzern befrachtete Segler. Er machte aber nicht fest, dem Hafenmeister wurden einige Bündel Gartenstangen zugeworfen, dem Schiffer wurde ein Topf warme Grütze zum Frühstück über Bord zugereicht. Die Studenten riefen den Schiffer an, während dieser mit der Stoßstange das Schiff von der Brücke bereits abstieß, unterstützt vom Hafenmeister, der mit seiner Stange das Schiff vom Lande in den See stieß, und verhandelten laut mit ihm, der wie vermutet nach Genf Kurs hatte. Der Schiffer ließ sich bestimmen, schlug den an der Stoßstange befindlichen eisernen Fanghaken in das Holz der Brücke, der Hafenmeister den seinen in den Schiffsbord – so wurde das Boot durch doppelten Zug wieder der Brücke genähert, und ohne daß festgemacht worden wäre (wie Becherrand und Lippe berührten sich Schiffsbord und Brückenkante), gelangten die Burschen springend ins Fahrzeug. Dann ging der Segler wieder in den See.

17 Die Studenten saßen auf den frisch geschnittenen Fichtenhölzern, welche die alpine Windwelt in die tiefe stille Gartenlandschaft und die warme Riviera des Sees herabbrachten. Sie sahen im runden Querschnitt die Jahresringe – wenige Jahresringe – der früh gefällten Fichten und Kiefern, sie sahen die Markröhre, das rötliche Kernholz und das weiße und weiche Splintholz, die dünnhäutige Bastschicht zwischen Holz und Rinde und die porige Rinde selbst – alles mit Staunen, denn wie hätten sie Büchermenschen vom Leben eines Baumes etwas wissen sollen! Eines Baumes, der im Frühjahr stark, im Sommer und Herbst langsam, im Winter gar nicht wächst, sodaß dieser Takt des Wachstums sich in Ringen ausdrückt und das Alter des Holzes erkennen läßt. Es waren also 15–22jährige Bäume, auf denen sie saßen, genau so alt wie sie selbst – leicht ergreift einen Mitleid mit jungen gefällten Bäumen . . . und auch mit sich selbst, wenn man auf dem Wege zu Gefahren ist. »Frisches Holz braucht man nicht zum Brennen!« rief Martial, und obgleich da sonderbare Gedanken verbunden schienen, so war der Ausruf doch auch ein Trost und die rechte Medizin gegen den plötzlich hereingefallenen Kleinmut. Mit einigem Vergnügen beobachteten sie nun die Holzwürmer, die aus ihren Röhren, und die Borkenkäfer, die unter der Rinde hervorkrochen, gleichsam voll Verwunderung und Unmut darüber, daß in ihrer angestammten Welt, ohne daß sie gefragt worden wären, sich etwas verändert habe, daß sie trocken und unergiebig geworden sei und ihre Säfte unnütz nach außen verlaufen lasse. Bald klebten die Hände der Studenten von duftendem Harze. Peterchen bemerkte in der Schnittfläche jeder Fichte ein FR. Das sei seine mit dem Formeisen 18 eingebrannte Eigentumsmarke, unterrichtete sie der Schiffer und Wäldler, er heiße Franz Rüdi, er stamme aus dem Wallis, setzte er in gurgelnder Schweizersprache fort, von dort hinter den Bergen, die eben am Ostrande verschwänden, aus einem Dorfe, wo das Land so rauh sei, daß man die Hühner wie anderswo die Pferde beschlage. Die Hühner beschlage? Was solle denn das heißen: die Hühner beschlagen? Ja, da sei nämlich ein Eisgletscher, der bis vor die Hütte komme, und man binde den Hühnern ein Schindelchen unter die Füße, damit sie auf dem Eise gehen könnten. Der Wäldler glaubte etwas ganz außerordentlich Heiteres erzählt zu haben, und er fand auch für seine trockene Witzigkeit ein Lächeln. Ja, fügte er mit spitzem und forschendem Blicke hinzu: Und eine Kirche sei da in Albenen bei Leuk, eine Kirche zum heiligen Kreuz, müßten sie wissen, und darin sei, müßten sie wissen, ein altes graues Brett und eine Marke darin, welche die Körpergröße Christi, nach der Natur abgenommen, anzeige.

»Schwindel!« rief Karl. – »Schwindel?« frug der Schiffer. »Ja wenn aber . . .« Und er ließ ahnen, daß er wohl mehr hören und auch wohl gern etwas über die Scholaren erfahren möchte, wenn sie etwas zu sagen für gut fänden. Sie sagten schlichtweg, sie seien Studenten der Theologie, auch der Rechtswissenschaft, die in Lausanne zum neuen Glauben übergetreten seien und in ihre französische Heimat wollten. Nun hätte sich der Genfer See bis nach Cadiz oder den Gewürzinseln erstrecken dürfen, der Schiffer würde sie bis dahin gebracht haben, denn er selbst war, wie er flüsternd bekannte, ein Zwinglianer, »im katholischen Wallis kein Unterfangen mehr«, erklärte er. Da war laute Freude 19 unter den jungen Reisenden. Aber der Wäldler blickte ängstlich mit seinen vom Köhlerrauche rot geränderten Augen über den See. »Pst! Um Gotteswillen! Sprecht nicht so laut! Auf dem See hört man weit. Wenn eine Wand am Lande winkelrecht steht, hört man in den Häusern eure Worte. Hier ist zwar noch Berner Land und die Herren von Bern sind neugläubig, aber jeder Baum ist vom Savoyer Bischof gekauft und hat Ohren, glaubt es mir.«

Solcher Schrecken der Zeit und Landschaft bedrückte nun wieder die fröhlichen Burschen, und ängstlich betrachteten sie das Land. Man sah die Wege rauchen von Karren. In langem Zuge fuhren sie hintereinander. »Fuhrwerke deutscher Kaufleute, die nach Lyon zur Maimesse fahren«, sagte der Schiffer. »Sie haben Metalle und Fertigwaren geladen, auch Schwefel, Leder und Pelze. Das Koppel Pferde, das hinterher getrieben wird, bringen sie sicher aus Dänemark. Aber in den Ballen« – der Schiffer senkte seinen Ton zum Flüstern – »zwischen den Woll- und Barchentstoffen sind ganz gewiß deutsche evangelische Bücher verborgen für die Buchhändler in Lyon. Hoffentlich bringen sie die vor den Schnüfflern des Königs von Frankreich über den Zoll bei Collonches hinüber, denn werden sie gefunden – wehe den Kaufleuten! In Lyon hat sich ein Inquisitor aus Rom niedergelassen, mit Vollmachten wie ein Statthalter. Seht ihr die vielen Fuhrleute – viel zu viele für die Gefährte? Das sind junge Buchhändler, ich wette – junge Helden, die ihr Leben an den Kampf für die Sache setzen. Solchen Heldenmut bringt man nur in der Jugend auf,« meinte Franz Rüdi mehr zu sich als zu den Reisenden und gleichsam zu seiner eigenen 20 Entschuldigung, »wo Heldenmut noch Wagemut und fast ein Sport ist. Wenn ihr wüßtet, junge Burschen, was die heilige Sache diesen Buchhändlern verdankt!«

Sie fuhren nun, mit geballten windvollen Segeln, in deren Schatten sie sich vor der steigenden Sonne allmählich verzogen, in den engerwerdenden Schlauch des Genfer Sees ein und nach Süden. Rechterhand blieb die holde Landschaft, im Schutz und Regenschatten des Juras liegend und von der Sonne geliebt, voller Weingärten, Bauminseln, friedlicher Dörfer und kleiner wehrhafter Städte, die mit ihren festen grauen Mauerringen, Zinnenkränzen und Turmkrönungen sich deutlich gegen das Land ausschlossen und, gleich kleinen Zierstädten der Silberschmiede auf dem festlichen Tische, auf der Tafel des Landes standen. Die sonnige Gotteslandschaft erhob sich gegen die grünen Wiesen und die dunkleren Wälder, welche die Mauer des Juras hinanstiegen und sich in Wolken verloren. Ein Kranz von balligen Wolken, ein rundes Gebirge von Wolken stand in einiger Entfernung vom See über dem Lande in der Luft, über Norden nach Osten herumbiegend stand dieses wolkige Randgebirge, am Himmel sozusagen die Geographie des Sees wiederholend und einen Sonnensee zwischen seinen weißen Ufern freigebend. Vor Coppet lagen breite Kähne und Prahme, Fuhrwerke anderer Deutschen karrten herab auf die Fahrzeuge, um den See und günstigen Wind zu benutzen und die Zugpferde zu schonen, denn es galt, sie möglichst frisch auf den Lyoner Markt zu bringen, wo auch die Zugpferde zu Kaufe stehen sollten. Die Geschäftigkeit auf diesem großen internationalen Völkerwege gab der Landschaft etwas Großes, dessen Zauber die Reisenden sich hingaben. Aber das Wissen, daß 21 die Berge rundum, der Jura auf der Rechten, die Savoyer Berge auf der Linken, Land des tückischen Königs von Frankreich waren, bedrückte im gleichen Maße, und es war ihnen, als führen sie in eine Falle hinein. Wie in den langen sich verengenden Kanal einer Reuse, an deren Ende die furchtbare Fischkammer hängt. Sie kämpften mutig gegen Herzbeklemmung und Mißbehagen, sie gingen in Freiheit diesen Weg und wußten was sie wollten und würden selbst einem dunklen Geschicke nicht ausweichen, wenn sie es auch keineswegs herbeiwünschten, nicht wahr? Doch saßen sie schweigend auf den Hölzern, auch der Schiffer war in völliges Schweigen zurückgefallen, sie sahen vor sich nieder und den Borkenkäfern zu, welche verstört die unverständlich gewordene Welt ihrer Hölzer umkrabbelten. Angst – es war nicht anders zu nennen – nagte an eines jeden Herzen – – da rauschte es über ihnen in der Luft, Schwäne wie geflügelte Pfeile schossen durchs Blau nach Süden. »Genf!« rief jetzt Karl, dessen Auge dem Pfeilschuß der weißen Vögel am schnellsten gefolgt war. »Genf!« riefen sie alle und richteten sich auf, richteten ihre Körper und auch ihre Herzen auf, und die Angst ließ von ihnen ab.

 


 << zurück weiter >>