Edgar Allan Poe
Die denkwürdigen Erlebnisse des Artur Gordon Pym
Edgar Allan Poe

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Zwanzigstes Kapitel

Der Häuptling hielt Wort, und bald waren wir reichlich mit frischen Vorräten versehen. Die Schildkröten waren prachtvoll, und die Enten übertrafen unser bestes Wildgeflügel an Zartheit, Saft und Schmackhaftigkeit. Ferner brachten uns die Wilden auf unsern Wunsch in großer Menge braune Sellerie und Skorbutgras, dazu frische und getrocknete Fische. Die Sellerie war uns ein Hochgenuß, und das Skorbutgras erwies seine heilende Macht an unsern Kranken. Wir erhielten sonst noch allerhand frische Vorräte, unter anderm eine Art Schaltier, das nach Austern schmeckte, Garnelen und Krabben sowie Eier vom Albatros und anderen Vögeln. Die Schale der Eier war schwarz. Auch vom Fleisch der vorhin erwähnten Schweineart nahmen wir einen Vorrat mit an Bord. Den Leuten schien es zu munden, ich fand es tranig und überhaupt widerlich. Im Austausch gegen diese guten Sachen erhielten die Wilden blaue Glasperlen, blechernen Schmuck, Nägel, Messer, endlich Stücke roten Zeugs, und sie schienen mit der Bezahlung sehr zufrieden zu sein. Wir richteten am Strande, unter den Kanonen des Schoners, einen regelrechten Markt ein, und der Handel vollzog sich unter allen Zeichen freundschaftlicher Gesinnung und in einer Ordnung, die wir nach den Erfahrungen in Klock-Klock nicht für möglich gehalten hätten

So freundschaftlich blieben die Beziehungen durch mehrere Tage; Abteilungen Eingeborner kamen an Bord, und unsere Leute besuchten die Insel, auf der sie oft weite Streifzüge unternahmen, ohne irgendwie belästigt zu werden. Die Leichtigkeit des Gewinnes von »biche de mer« und die Gefälligkeit der Einwohner veranlaßten den Kapitän, wegen Errichtung passender Räuchereien mit Tuwit in Verhandlungen zu treten und ihn mit dem weitern Einsammeln des Artikels zu betrauen, während wir das schöne Wetter benutzen wollten, die Reise nach dem Süden fortzusetzen. Der Häuptling schien mit diesem Vorschlag sehr einverstanden. Man einigte sich in für beide Teile völlig befriedigender Weise dahin, daß, nachdem die nötigen Vorarbeiten durch unsre Mannschaft ausgeführt sein würden, der Schoner seine Fahrt fortsetzen sollte, während drei unsrer Leute auf der Insel zurückbleiben würden, um die Wilden im Trocknen der Meertiere zu unterrichten. Der Lohn sollte davon abhängen, wie groß sich die Bemühungen der Eingebornen in unsrer Abwesenheit erwiesen hätten. Sie sollten eine bestimmte Anzahl von blauen Perlen, Messern, rotem Zeug für eine gewisse Menge der zubereiteten Tiere erhalten, sobald wir wiederkehrten.

Über diesen wichtigen Handelsartikel sei hier das Nötigste gesagt. In dem Bericht eines Südseereisenden lesen wir darüber:

»Es ist jene Molluske aus dem Indischen Ozean, die im Handel den französischen Namen ›biche de mer‹ führt, was bedeuten soll: ein guter Bissen aus der See. Wenn ich nicht irre, nennt der berühmte Cuvier das Tier ›Gasteropoda pulmonifera‹. Es wird an den Küsten der Pazifischen Inseln in Menge gesammelt, hauptsächlich für den chinesischen Markt, auf dem es ebenso hoch geschätzt wird wie die oftgenannten Vogelnester, die wahrscheinlich aus einer sulzigen Masse bestehen, die von den Schwalben dem Körper jener Weichtiere entzogen wird. Sie haben weder eine Schale noch Füße, nur Mund und After, kriechen aber mittels ihrer elastischen Ringe wie Regenwürmer oder Raupen im seichten Wasser. Hier werden sie von den Schwalben erblickt, die ihnen mit ihren scharfen Schnäbeln die klebrige, fasrige Substanz entnehmen, die dann in die Wand des Nestes eingewoben wird. Das Weichtier ist von länglicher Form und mißt drei bis achtzehn Zoll; doch sah ich solche, die zwei Fuß lang waren. Sie suchen zum Zweck der Fortpflanzung in einer bestimmten Jahreszeit das seichte Wasser auf und leben von Zoopythen jener Gattung, deren Werk die Korallen sind.

Nachdem man sie gefangen hat, was meist in drei bis vier Fuß Tiefe geschieht, werden sie aufgeschlitzt und die Eingeweide herausgepreßt. Dann werden sie gewaschen und mäßig gekocht. Sodann gräbt man sie in die Erde, läßt sie vier Stunden darin, kocht sie nochmals und trocknet sie dann am Feuer oder an der Sonne. Die an der Sonne getrockneten werden am höchsten geschätzt; doch man braucht dazu die dreifache Zeit. Wenn sie so geräuchert sind, kann man sie ohne Gefahr zwei oder drei Jahre an einem trockenen Ort verwahren, muß aber viermal des Jahres nachsehen, ob sie nicht durch Feuchtigkeit bedroht sind.

Die Chinesen betrachten, wie gesagt, diese Weichtiere als eine große Leckerei, da sie glauben, daß besonders der erschöpfte Organismus der Unmäßigen und Wollüstlinge durch eine dieser Nahrung innewohnende Wunderkraft neu belebt wird.«

Nachdem alles abgemacht war, brachten wir die zum Roden und Bauen nötigen Werkzeuge ans Land. Eine Ebene, nahe der Ostküste unsrer Bucht, an der es viel Wald und Wasser gab und die den Riffen nicht zu fern lag, erwählten wir zu unserm Zweck. Dann machten wir uns eifrig an die Arbeit und hatten bald zum nicht geringen Staunen der Wilden die nötigen Bäume gefällt und für die Rahmen der Häuser zurechtgezimmert, so daß wir binnen zwei, drei Tagen weit genug waren, den Zurückbleibenden den Rest überlassen zu können. Diese waren John Carson, Alfred Harris und Peterson, lauter Londoner, glaub' ich; sie hatten sich freiwillig zu jenem Dienst gemeldet.

Am Schlusse des Monats war alles zur Abfahrt bereit. Doch war ausgemacht worden, daß wir uns im Dorf förmlich verabschieden sollten, und Tuwit bestand mit solcher Hartnäckigkeit auf der Erfüllung unsres Versprechens, daß wir es nicht für richtig hielten, ihn durch eine Absage zu verletzen. Nicht einer von uns mochte damals an der Verläßlichkeit der Wilden zweifeln. Sie hatten sich durchaus anständig benommen, uns eifrig bei der Arbeit geholfen und oft, ohne eine Bezahlung zu fordern, das Gewünschte herangebracht; niemals hatten sie einen einzigen Gegenstand entwendet, obwohl sie durch ihre Freude über die Geschenke bewiesen, wie wertvoll ihnen unsre Waren erschienen. Die Frauen kamen uns in jeder Beziehung entgegen . . . kurzum, wir hätten die mißtrauischsten aller Menschenkinder sein müssen, wenn wir bei einem Volk, das uns so gut behandelte, auch nur den Gedanken des Verrates für möglich gehalten hätten. Binnen kurzem aber sollten wir erkennen, daß dieses scheinbare Wohlwollen nur einem sorgsam ausgeheckten Plane zu unsrer Vernichtung entsprang und daß die Inselleute, die wir in so unverdienter Weise schätzten, in Wahrheit die barbarischsten, tückischsten und blutdürstigsten Halunken waren, die jemals das Angesicht der Erde befleckt haben.

Am 1. Februar gingen wir an Land, um den versprochenen Besuch im Dorf zu erledigen. Obwohl wir, wie gesagt, nicht die Spur eines Verdachtes hegten, unterließen wir doch keine Maßregel nötiger Vorsicht. Sechs Mann blieben an Bord des Schoners, mit der Instruktion, keinen Schwarzen während unserer Abwesenheit an Deck zu lassen, unter welchem Vorwand es auch immer wäre, und ununterbrochen auf dem Verdeck zu bleiben. Die Kanonen waren mit Kartätschen doppelt geladen, das Enternetz war aufgezogen. Das Schiff lag vor senkrechtem Anker eine Meile vom Strand entfernt, und kein Kanu konnte sich ihm nähern, ohne dem Feuer der Drehbasse ausgesetzt zu sein.

Die Expedition bestand aus zweiunddreißig Mitgliedern. Wir waren bis an die Zähne bewaffnet, mit Musketen, Pistolen, Hirschfängern; dann hatte auch jeder sein langes Seemannsmesser, das dem jetzt im Westen und Süden unsres Landes so beliebten Bowiemesser ähnelt, im Gürtel stecken. Hundert schwarzfellgeschmückte Krieger erwarteten uns am Strand, um uns das Geleit zu geben. Sie waren ohne Waffen, was uns sehr überraschte. Auf unsre Fragen erwiderte Tuwit nur: »Matti non vi pa pa si«, was etwa hieß: »Unter Brüdern sind Waffen überflüssig.« Wir freuten uns über solche Gesinnung und zogen arglos weiter.

Wir hatten den neulich erwähnten Bach überschritten und betraten jetzt eine enge Schlucht, die eine Kette von Specksteinbergen in der Richtung des Dorfes durchbrach. Diese Schlucht war sehr felsig und uneben, so daß wir sie bei unserm ersten Besuch Klock-Klocks nicht ohne Mühe durchklettert hatten. Die Länge der Kluft mochte im ganzen anderthalb oder zwei Meilen betragen. Sie zog in allen möglichen Windungen zwischen den Hügeln hin – offenbar hatte sie in längst vergangener Zeit das Bett eines Bergstroms gebildet –, und alle zwanzig Ellen machte sie eine plötzliche, scharfe Wendung. Die Seiten der Schlucht stiegen überall mindestens bis zu siebzig, achtzig Fuß lotrecht empor, und an einigen Stellen erhoben sie sich zu schwindelnder Höhe und überschatteten den Pfad so vollständig, daß vom Licht des Tages nicht viel herabzudringen vermochte. Die Durchschnittsbreite betrug vierzig Fuß; manchmal verengte sich die Kluft so sehr, daß nur fünf oder sechs Mann nebeneinander gehen konnten. Kurz, einen Ort, der sich mehr zu Überfällen eignete, konnte man sich gar nicht denken, und es war nur selbstverständlich, daß wir beim Betreten der Schlucht nach unseren Waffen sahen. Wenn ich jetzt unserer fabelhaften Torheit gedenke, wundre ich mich am meisten darüber, daß wir unter irgendwelchen Umständen uns so vollständig in die Macht unbekannter Wilder begeben konnten, daß wir ihnen sogar gestatteten, während unsres Marsches durch die Schlucht sowohl vor als hinter uns zu gehen. Doch in dieser Ordnung zogen wir Verblendeten dahin, törichterweise auf die Waffenlosigkeit Tuwits und seiner Leute, die Treffsicherheit unsrer Gewehre, deren Wirkung den Schwarzen noch ein Geheimnis war, und hauptsächlich auf die immer wiederholten Freundschaftsbeteuerungen dieser schändlichen Rotte bauend. Fünf oder sechs von ihnen machten sich als Führer mit dem Entfernen großer Steine und dem Glätten des Pfades zu tun. Dann kam unsre Abteilung. Wir marschierten dicht beieinander und waren immer darauf bedacht, daß keiner sich von der Schar loslöse. Den Schluß machte das Hauptkorps der Wilden, die wie gewöhnlich mit allem Anstand dahinschritten.

Dirk Peters, ein gewisser Wilson Allen und ich selbst befanden uns auf der rechten Seite; wir untersuchten gerade die eigentümliche Schichtung der steilen, überhängenden Wand. Eine Klüftung im weichen Gestein lenkte unsere Aufmerksamkeit auf sich. Sie war breit genug, daß ein Mensch bequem hineindringen konnte, und zog sich etwa achtzehn oder zwanzig Schritt geradeaus ins Gefels, um sich dann nach links zu wenden. Die Höhe der Öffnung betrug, soweit wir sie von der Hauptschlucht aus verfolgen konnten, etwa sechzig bis siebzig Fuß. Ein oder zwei verkümmerte Sträucher wuchsen aus den Spalten; an ihnen bemerkte ich eine Art Lambertusnuß, die ich gern näher betrachten wollte; ich machte einen raschen Abstecher dahin, riß fünf oder sechs Nüsse ab und wandte mich rasch zurück. Als ich mich umkehrte, sah ich, daß Peters und Allen mir gefolgt waren. Ich bat sie zurückzugehen, da hier für zwei nicht Platz genug sei; ich würde ihnen schon ein paar Nüsse mitbringen. Sie kehrten denn auch um und kletterten zurück. Allen war gerade am Ausgang der Nebenkluft angelangt . . . da empfand ich plötzlich eine Erschütterung, mit der ich nichts von allem, was ich jemals erlebte, vergleichen könnte, eine Erschütterung, die in mir die Vorstellung erzeugte – falls ich überhaupt einen Gedanken zu fassen imstande war –, daß die Grundfesten des Erdballs auseinanderstürzen wollten und der Tag allgemeiner Auflösung gekommen sei.


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