Edgar Allan Poe
Die denkwürdigen Erlebnisse des Artur Gordon Pym
Edgar Allan Poe

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Fünftes Kapitel

Einige Minuten gab sich Augustus der Verzweiflung hin; er hatte keine Hoffnung mehr, die Koje lebendig verlassen zu dürfen. Er kam jetzt zu dem Entschluß, dem ersten, der hinunterkäme, von meiner Lage Mitteilung zu machen, da er es für besser hielt, daß ich mein Glück bei den Meuterern versuchte, als daß ich im Kielraum vor Durst zugrunde ging; zehn Tage war ich nun schon dort gefangen, und mein Krug Wasser hatte kaum für vier gereicht. Als er so überlegte, kam ihm plötzlich die Idee, daß es nicht unmöglich sein würde, mit mir durch den Hauptkielraum in Verkehr zu treten. Unter anderen Umständen hätten ihn die Schwierigkeiten, die Gefahren des Unternehmens von solchem Wagnis abgehalten; aber jetzt schien ihm sein Leben kaum einen Schuß Pulver wert, und somit wendete er sich mit allen Kräften seines Geistes der großen Aufgabe zu.

Die Handschellen boten das erste Hindernis. Wie sich ihrer entledigen? Erst hielt er es für undurchführbar; aber bei näherem Zusehen erkannte er, daß man die Eisen mit geringer Anstrengung abstreifen konnte, indem man die Hände durchdrückte; diese Art von Fessel erfüllt bei jungen Leuten, deren Knochen leicht nachgeben, ganz und gar nicht ihren Zweck. Nun löste er die Bande an seinen Füßen, ließ aber den Strick hängen, so daß er zur Not wieder befestigt werden konnte, falls jemand herunterkam; und dann untersuchte er die Scheidewand. Sie bestand aus zolldickem, weichem Fichtenholz, durch das er sich ohne viel Mühe einen Weg würde bahnen können. Da hörte er eine Stimme am Eingang des Vorderkastells und hatte gerade Zeit, seine Rechte in die Handschelle zu zwängen (die Linke war noch nicht frei) und den Strick oberflächlich um seine Knöchel zu winden, da kam Dirk Peters herab, begleitet von »Tiger«, der sofort in die Koje sprang und sich niederlegte. Den Hund hatte Augustus an Bord gebracht, weil er meine Zuneigung für das Tier kannte und mir damit eine große Freude zu machen gedachte. Er holte ihn von unserem Hause weg, gleich nachdem er mich im Kielraum versteckt hatte, vergaß aber, als er mir die Uhr mitbrachte, etwas davon zu erwähnen. Seit der Meuterei konnte er ihn nirgends erblicken und war daher überzeugt, daß die Schurken ihn über Bord geworfen hätten. Der Hund war aber in ein Loch unterm Fangboot gekrochen, aus dem er später nicht herauskonnte, denn er vermochte sich nicht darin umzudrehen. Peters ließ ihn schließlich heraus, und mit einer Gutmütigkeit, die mein Freund wohl zu schätzen wußte, hatte er ihm das Tier jetzt als Gefährten ins Vorderkastell gebracht, zugleich mit etwas Salzfleisch, Kartoffeln und einer Kanne Wasser; dann ging er an Deck, mit dem Versprechen, am nächsten Tag wieder etwas Eßbares mitzubringen.

Sobald er fort war, befreite Augustus Hände und Füße von ihren Fesseln. Dann kehrte er die Matratze um, nahm sein Taschenmesser (die Halunken hatten es nicht der Mühe wert gefunden, ihn zu untersuchen) und begann eine Planke der Scheidewand in möglichster Nähe der Koje anzuschneiden. Er wählte diese Stelle, damit er im Falle plötzlicher Unterbrechung seine Arbeit mit der Matratze verdecken konnte. An diesem Tag erfolgte jedoch keine weitere Störung, und als der Abend kam, war die Planke völlig entzwei. Es muß hier erwähnt werden, daß keiner von der Mannschaft im Vorderkastell schlief, da jene seit der Meuterei ausschließlich in der Kajüte hausten, wo man sich an den Weinen und Vorräten des Kapitäns gütlich tat; um die Führung des Schiffes kümmerte man sich so wenig als möglich. Diese Umstände waren unser Glück; anders hätte mich Augustus nie erreichen können. Gegen Tagesanbruch beendete er die zweite Durchschneidung des Brettes, die sich ungefähr einen Fuß über dem ersten Einschnitt befand, und machte so die Öffnung groß genug, um nach der Kuhbrücke vordringen zu können. Von dort aus begab er sich ohne viele Schwierigkeiten nach der unteren Hauptluke, obwohl er, um dorthin zu gelangen, Berge von Tranfässern, die sich fast bis ans Oberdeck hinauftürmten, überklettern mußte; kaum war zwischen beiden Platz für seinen Körper vorhanden. Als er die Luke erreicht hatte, entdeckte er, daß Tiger ihm gefolgt war. Es schien jetzt zu spät, um vor Tag zu mir zu gelangen, da die größten Hindernisse in dem unteren Kielraum zu suchen waren. Er beschloß somit, umzukehren und bis zum nächsten Abend zu warten. In diesem Gedanken öffnete er ein wenig die untere Luke, um bei seiner Rückkehr nicht mehr Aufenthalt als nötig zu haben. Kaum hatte er das getan, als Tiger an die schmale Öffnung sprang, eifrig schnüffelte, dann ein langgedehntes Winseln hören ließ und aufgeregt mit seinen Pfoten daran kratzte. Offenbar ahnte, wußte er, daß ich mich im Kielraum befand, und Augustus hielt es für möglich, daß er sich bis zu mir durchdrängen würde. Jetzt kam er auf den Einfall, den Brief zu schreiben, ich sollte ja um keinen Preis selbständig einen Versuch zu meiner Befreiung unternehmen; und wer weiß, ob er am nächsten Tag schon seine Absicht ausführen konnte? Die Folge zeigte, wie glücklich dieser Einfall war; denn ohne den Brief wäre ich gewiß auf irgendeinen verzweifelten Ausweg verfallen, die Mannschaft zu alarmieren, und unser beider Leben wäre wahrscheinlich verloren gewesen.

Wie sollte er sich das zum Schreiben Nötige verschaffen? Aus einem alten Zahnstocher wurde bald eine Feder; er schrieb nur nach Gefühl, denn im Zwischendeck war's pechfinster. Papier bot das rückwärtige Blatt eines Briefes, eines Duplikats jener gefälschten Einladung des Herrn Roß. Er schnitt sich dann in den Finger, gerade überm Nagel, wo das Blut reichlich hervorzuquellen pflegt. Das war seine Tinte, und jetzt schrieb er im Dunkeln, so gut es ging, jene Mitteilung an mich. Es war darin gesagt, daß eine Meuterei stattgefunden habe, daß der Kapitän ausgesetzt worden sei, daß ich bald Hilfe erwarten könne, was Lebensmittel anbetreffe; aber keinerlei Störung hervorbringen möge. Die Schlußworte lauteten: »Ich schrieb dies mit meinem Blut – wenn Dir Dein Leben lieb ist, bleib still liegen.«

Dieser Papierstreifen wurde am Hund befestigt; der sprang durch die Luke. Augustus gelangte, so gut es ging, nach dem Vorderkastell, und er hatte keinen Grund, anzunehmen, daß einer von den Leuten inzwischen unten gewesen war. Um das Loch in der Wand zu verbergen, steckte er sein Messer ins Holz und hing seine Jacke daran auf. Dann legte er sich selbst wieder in Fesseln.

Alles das war kaum getan, als Dirk Peters herunterkam, stark bezecht, jedoch in bester Laune und mit Vorräten für meines Freundes leibliches Wohl. Jene bestanden in einem Dutzend gerösteter, großer, irischer Kartoffeln und einem Eimer Wasser. Er saß eine Weile auf einer Kiste nächst der Koje und sprach offenherzig über den Maat und die Zustände an Bord des Schiffes. Sein Benehmen war launisch, um nicht zu sagen grotesk. Einmal war Augustus durch sein Verhalten sehr beunruhigt. Endlich begab er sich wieder aufs Verdeck, indem er murmelte, er werde dem Gefangenen morgen ein gutes Essen bringen. Während des Tages kamen zwei Harpuniere, begleitet vom Koch; alle drei waren nahezu im letzten Stadium der Trunkenheit. Gleich Peters sprachen sie ohne Rücksicht über ihre Pläne. Sie schienen untereinander uneins in bezug auf den Kurs, der eingehalten werden sollte; einig waren sie nur in einem Punkt, nämlich bezüglich des Angriffes auf das Schiff von den Kapverdi-Inseln, das stündlich erwartet wurde. Die Meuterei schien nicht allein der Beute wegen in Szene gesetzt worden zu sein; ein persönlicher Groll des Unterschiffers gegen Kapitän Barnard schien den hauptsächlichen Anstoß gegeben zu haben. Jetzt gab es offenbar zwei Parteien, die des Unterschiffers und die des Kochs. Jener wollte das erste geeignete Schiff besetzen und es an irgendwelchem westindischen Eiland auf Seeräuberei einrichten. Doch die Gegenpartei, der auch Dirk angehörte, war stärker; sie wollten den ursprünglichen Kurs nach dem südlichen Teil des Stillen Ozeans beibehalten, dort entweder Walfische fangen oder etwas anderes beginnen, je nach den Umständen. Peters hatte oftmals diese Gegend besucht, und seine Vorstellungen waren von großem Gewicht bei den Meuterern, die zwischen Gewinn und Vergnügen unklar hin und her schwankten. Er betonte, welch eine neue, abwechslungsreiche Welt sich auf den zahllosen Inseln der Südsee finde, welch vollkommene Sicherheit, welche ungezügelte Freiheit man dort genießen könne, wie üppig das Leben, wie angenehm das Klima, wie wollüstig schön die Frauen seien. Noch war nichts Bestimmtes abgemacht; aber die Schilderungen des Halbblutes hatten sich der glühenden Einbildungskraft der Seeleute bemächtigt, und es war mehr als wahrscheinlich, daß sein Vorschlag durchgehen würde.

Nach einer Stunde entfernten sich die drei Männer, und während dieses Tages betrat niemand weiter das Vorderkastell. Augustus lag bis zum Abend still. Dann streifte er Strick und Handschellen ab und machte sich an sein Vorhaben. In einer der Kojen fand er eine Flasche, füllte sie mit Wasser und seine Tasche mit kalten Kartoffeln. Zu seiner Freude entdeckte er auch eine Laterne mit einem Stückchen Talgkerze darin. Als es ganz dunkel war, kroch er durch das Loch in der Scheidewand, nachdem er die Vorsicht gehabt hatte, der Koje das Ansehen zu geben, als schliefe hier einer. Als er hindurch war, hing er seine Jacke wie vorhin an seinem Messer auf; das fehlende Stückchen Planke fügte er vorläufig nicht wieder ein. Er war jetzt im Zwischendeck und arbeitete sich wie gestern zwischen den Tranfässern und dem oberen Verdeck nach der Hauptluke hin. Hier zündete er ein Licht an und stieg hinunter, indem er nur mit der größten Mühe zwischen den festen Verstauungen des Kielraums vorwärts drang. Bald beunruhigten ihn der unerträgliche Geruch und die Stickigkeit der Luft. Er konnte es kaum für möglich halten, daß ich meine Einsperrung so lange hatte überleben können. Er rief mich wiederholt beim Namen, aber ich antwortete nicht, und seine Befürchtungen schienen zur Wahrheit zu werden. Die Brigg stampfte heftig, und der Lärm war so groß, daß ein leiser Ton, wie mein Atem oder Schnarchen, nicht vernehmbar gewesen wäre. Er öffnete die Blendlaterne und hielt sie, so oft sich Gelegenheit ergab, so hoch als möglich, damit ich, falls ich lebte, das Herannahen der Hilfe zu erkennen vermöchte. Noch immer war von mir nichts zu vernehmen, und die Vermutung, ich sei tot, gestaltete sich ihm allmählich zur Gewißheit. Trotzdem beschloß er, einen Weg zu meinem Koffer zu erzwingen. Eine Zeitlang kam er im jämmerlichsten Zustand der Besorgnis weiter, bis er endlich den Durchgang vollkommen verstopft fand und einsah, daß er auf diesem Weg sein Ziel nicht erreichen werde. Seine Gefühle überwältigten ihn, er warf sich verzweifelnd unter das Gerümpel und weinte wie ein Kind. In diesem Moment hörte er den Krach, den ich durch das Wegwerfen meiner Flasche hervorrief. Auf diesem so geringfügigen Vorkommnis beruhte, wie es scheint, mein Schicksal. Das aber habe ich erst nach vielen Jahren erkannt. Natürliche Scham und ein Bedauern seiner Schwäche verhinderten Augustus, mir sofort zu beichten, was er mir später in schrankenlosem Vertrauen enthüllte. Er hatte angesichts unüberwindlicher Hindernisse seinen Versuch, zu mir durchzudringen, bereits aufgegeben und beschlossen, ins Vorderkastell zurückzukehren. Man sollte ihn nicht gänzlich verdammen, ohne die quälenden Umstände, die ihn hemmten, in Betracht zu ziehen. Die Nacht war am Schwinden; seine Abwesenheit konnte entdeckt werden; ja, das mußte der Fall sein, wenn er nicht bei Tagesanbruch in der Koje war. Die Kerze verflackerte bereits; es würde daher sehr schwer sein, im Dunkeln den Weg zur Luke wiederzufinden. Dann hatte er auch alle Ursache, mich für tot zu halten; was aber hätte es mir genützt, wenn er ohne Zweck einer Welt von Mühen begegnet wäre? Ich war jetzt elf Tage und Nächte unten; ich besaß kein Wasser außer dem in jenem Krug enthaltenen und würde schwerlich damit gespart haben, da ich Grund hatte, auf baldige Erlösung zu hoffen. Auch mußte ihm, der aus der verhältnismäßig freien Luft des Matrosenlogis kam, die Atmosphäre im Kielraum geradezu giftig und viel unerträglicher erscheinen, als ich sie beim Beziehen des Raumes empfunden hatte; waren doch die Luken vorher monatelang offen gewesen. Rechnet man noch hinzu die eben erlebten Szenen voll Blutvergießens und Schreckens, seine Einschließung und seine schlechte Ernährung, sein knappes Entrinnen aus Lebensgefahr und die fragliche Sicherheit, in der er sich noch befand – lauter Umstände, die wohl geeignet sind, jede Willenskraft zu brechen –, so wird es dem Leser leichtfallen, sein scheinbares Versagen eher mit Betrübnis als mit Entrüstung zu betrachten.

Deutlich hörte er den Krach der Flasche, aber er war nicht sicher, ob der Laut aus dem Kielraum gekommen war. Der Zweifel genügte ihm jedoch, um ihn zur Fortsetzung seiner Bemühungen anzuspornen. Er kletterte fast bis zum Zwischendeck empor und rief dann so kräftig als möglich meinen Namen, indem er ein Nachlassen im Gestampfe des Schiffes sich zunutze machte, ohne für den Augenblick daran zu denken, daß man ihn oben hören könne. Der Ruf erreichte mich, wie man weiß; aber die entsetzliche Aufregung nahm mir jede Fähigkeit, zu antworten. Nun hielt er seine schlimmsten Besorgnisse für begründet und machte sich, ohne Zeit zu verlieren, auf den Rückweg. In der Eile warf er ein paar Kisten um, das war der Lärm, den ich hörte. Dann fiel mein Messer zu Boden, und das machte ihn stutzig. Sogleich kehrte er um, erklomm abermals die verstauten Kisten und rief in einer Pause des Sturmes laut meinen Namen. Diesmal wurde es mir möglich, ihm Antwort zu geben. Hocherfreut über die Entdeckung, daß ich noch am Leben war, entschloß er sich jetzt, jeder Schwierigkeit Trotz zu bieten. Er entwand sich dem Gerümpel, das ihn gehemmt hatte, fand endlich einen besseren Durchgang und erreichte in einem Zustand völliger Erschöpfung mein Versteck.


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