Edgar Allan Poe
Die denkwürdigen Erlebnisse des Artur Gordon Pym
Edgar Allan Poe

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Sechstes Kapitel

Jetzt berichtete mir Augustus nur die wichtigsten seiner Erlebnisse. Erst später füllte er die Erzählung mit Einzelheiten aus. Er fürchtete, vermißt zu werden, und ich war in wilder Ungeduld, endlich mein schreckliches Gefängnis verlassen zu dürfen. Wir entschlossen uns, sofort nach dem Loch in der Scheidewand unsern Weg zu nehmen; dort sollte ich vorläufig bleiben, während er erkunden ging. Tiger im Koffer zu lassen, war uns ein unerträglicher Gedanke; doch was sollten wir sonst mit ihm beginnen? Er schien jetzt ganz ruhig, und selbst wenn wir das Ohr an die Kofferwand legten, konnten wir nicht seinen Atem hören; ich war daher überzeugt, daß er tot sei, und entschloß mich, die Tür zu öffnen. Er lag lang ausgestreckt, in tiefer Betäubung; doch lebte er noch. Es war keine Zeit zu verlieren, und doch konnte ich mich nicht dazu bewegen, das Tier im Stich zu lassen, das mir zweimal das Leben gerettet hatte. Ein Versuch zu seiner Erhaltung mußte gemacht werden; wir schleppten es daher mit, so gut wir konnten, freilich unter unsagbaren Schwierigkeiten und todmüde. Augustus mußte wiederholt mit dem schweren Hund im Arm über Hindernisse hinwegklettern, was ich in meiner Schwäche niemals fertiggebracht hätte. Doch endlich kamen wir beim Loch an; Augustus kroch hindurch, Tiger wurde nachgeschoben. Alles war in Ordnung, und wir dankten Gott für unsere Errettung aus der unmittelbarsten Gefahr. Vorläufig sollte ich nahe der Öffnung bleiben, durch die mein Freund mir Lebensmittel zustecken sollte und an der ich in der Lage war, eine verhältnismäßig reine Luft zu atmen.

Um einige Stellen meines Berichtes, an denen ich von der Verstauung sprach, näher zu erklären, muß ich hervorheben, daß diese so wichtige Pflicht von Kapitän Barnard in einer Weise geübt worden war, die geradezu fahrlässig genannt werden mußte; er war keineswegs der vorsichtige und erfahrene Seemann, den sein Dienst gebieterisch zu erfordern schien. Eine richtige Verstauung kann nicht fürsorglich genug betrieben werden; viele der schlimmsten Unfälle sind die Folge von Unaufmerksamkeit oder Unwissenheit in dieser Beziehung. Küstenfahrer, die oft und in großer Eile ihre Ladung einnehmen, fallen am häufigsten einem Mangel an Aufmerksamkeit bei der Verstauung zum Opfer. Die Hauptsache ist, daß selbst beim ärgsten Schlingern oder Stampfen des Schiffes die Ladung und der Ballast ihre Lage nicht verändern dürfen. Auf den meisten Schiffen verstaut man die Ladung mit Hilfe einer Schraube. Der Zweck dieser Methode ist, mehr Platz im Kielraum zu gewinnen.

Die Verstauung an Bord des »Grampus« war eine gar elende Leistung, wenn man es überhaupt Verstauung nennen konnte, Tranfässer und Schiffsgerät achtlos durcheinander zu mengen. (Die meisten Walfänger sind mit eisernen Tranbehältern versehen; warum sie dem »Grampus« fehlten, habe ich nie ermitteln können.) Den Zustand im Kielraum habe ich schon beschrieben; im Zwischendeck blieb gerade Raum für meinen Körper, wie ich schon gesagt habe, wenn ich mich zwischen die Tranfässer und das Oberdeck zwängte; um die Hauptluke herum war Platz gelassen, und in der Verstauung gab es sonst noch etliche Lücken. Bei dem Loch, das Augustus herausgesägt hatte, war Raum für ein ganzes Faß; hier nahm ich vorläufig eine ziemlich bequeme Stellung ein.

Als mein Freund glücklich in seiner Koje lag und seine Fesseln wieder an Händen und Füßen hatte, war es heller Tag geworden. Wir waren mit genauer Not davongekommen; denn kaum hatte er alles in Ordnung gebracht, als der Maat, Dirk Peters und der Koch herabkamen. Sie sprachen eine Zeitlang über das Schiff von den Kapverden, nach dessen Erscheinen sie ein lebhaftes Verlangen trugen. Endlich kam der Koch zu Augustus' Koje und setzte sich an den Kopf des Bettes. Ich konnte jedes Wort aus meinem Versteck hören und erwartete jeden Augenblick, daß der Neger sich an die über der Öffnung hängende Matrosenjacke lehnen würde; dann wäre alles entdeckt worden, und wahrscheinlich hätte man uns umgebracht. Doch blieb uns das Glück treu; denn sooft er auch, wenn das Schiff sich stark bewegte, an die Jacke rührte, so war sein Druck niemals stark genug, um eine Entdeckung herbeizuführen. Die Jacke war unten an der Schott befestigt, so daß sie das Loch nicht durch Hin- und Herschlenkern offenbaren konnte. Die ganze Zeit über lag Tiger am Fußende der Koje, und er schien einen Teil seiner Vernunft wiedergewonnen zu haben, denn ich sah ihn zuweilen die Augen öffnen und einen langen Zug tun.

Nach einigen Minuten ging der Maat mit dem Koch hinauf, und sobald sie fort waren, nahm Dirk Peters den Platz ein, auf dem jener gesessen hatte. Er ließ sich mit Augustus in eine gemütliche Unterhaltung ein, und wir erkannten jetzt, daß seine Trunkenheit erheuchelt war. Er antwortete offenherzig auf alle Fragen meines Freundes, sagte ihm, er zweifle nicht daran, daß man seinen Vater aufgefunden habe, da an jenem Tag nicht weniger als sechs Segel kurz vor Sonnenuntergang gesichtet worden seien, und sprach ihm auch sonst tröstlich zu, was mir ebenso überraschend als erfreulich war. In der Tat fing ich an, zu hoffen, daß wir mit Peters' Hilfe uns der Brigg wieder bemächtigen könnten, und teilte diesen Gedanken meinem Freund so bald wie möglich mit. Er hielt die Sache nicht für unmöglich, betonte aber, daß man sehr behutsam vorgehen müsse, da das Benehmen des Halbbluts möglicherweise nur einer Laune entsprungen sei; man konnte auch wirklich schwer sagen, ob er überhaupt bei Verstande war. Peters ging bald an Deck und kehrte erst gegen Mittag zurück; er brachte Augustus einen reichlichen Vorrat von gesalzenem Rindfleisch und Pudding, an denen ich mir später ebenfalls gütlich tat. Niemand anders kam während des Tages ins Vorderkastell; abends kroch ich in Augustus' Koje und schlief dort süß und tief bis Tagesanbruch; da hörte er ein Geräusch auf dem Verdeck, er weckte mich, und ich eilte in mein Versteck zurück. Als es völlig Tag war, fanden wir, daß Tiger sich fast gänzlich erholt hatte; er gab kein Zeichen von Wasserscheu, trank vielmehr, was wir ihm boten, mit sichtlichem Behagen. Während des Tages gewann er alle seine Kräfte und seinen guten Appetit zurück. Ohne Zweifel stand sein wunderliches Benehmen in keiner Beziehung zur Hundswut, es war vielmehr eine Folge der schädlichen Luft des Kielraums. Ich freute mich herzlich, daß ich darauf bestanden hatte, ihn mitzunehmen. Dieser Tag war der dreißigste Juni, der dreizehnte Tag nach der Abfahrt des »Grampus« von Nantucket.

Am zweiten Juli kam der Maat herunter, besoffen wie gewöhnlich und in ausgezeichneter Laune. Er trat in die Koje meines Freundes, gab ihm einen Klaps auf den Rücken und fragte ihn, ob er sich würde zu benehmen wissen, falls er freigegeben werde, und ob er verspräche, die Kajüte nicht mehr zu betreten. Natürlich antwortete Augustus mit Ja, worauf der Halunke ihn losband, nachdem er ihn genötigt hatte, Rum aus einer Flasche zu trinken, die er aus seiner Rocktasche zog. Nun stiegen beide hinauf, und während dreier Stunden bekam ich Augustus nicht zu Gesicht. Dann kam er mit der guten Nachricht, daß er auf der Brigg frei umhergehen dürfe, nur achter dürfe er sich nicht blicken lassen, und daß er wie bisher im Vorderkastell schlafen müsse. Er brachte mir auch ein gutes Essen und einen reichlichen Vorrat an Wasser. Die Brigg kreuzte noch in Erwartung des Schiffes von den Kapverden, und ein Segel war in Sicht, das für jenes gehalten wurde. Da sich in den folgenden Tagen nichts von Bedeutung ereignete, will ich hier in Tagebuchform so kurz wie möglich darüber berichten.

3. Juli. Augustus besorgte mir drei wollene Decken, so daß ich mir in meinem Versteck ein bequemes Lager einrichten konnte. Niemand außer ihm besuchte das Vorderkastell. Tiger machte sich's in der Koje dicht bei der Öffnung bequem und schlief sich gründlich aus, als ob er sich noch nicht ganz von seinem Unwohlsein erholt hätte. Gegen Abend warf sich eine Bö auf das Schiff, bevor man die Leinwand verringern konnte, so daß es beinahe gekentert wäre. Der Anprall hörte sofort wieder auf, und abgesehen von einem Riß im Fockmarssegel erlitt die Brigg keinen Schaden. Peters behandelte Augustus mit steter Freundlichkeit und unterhielt sich lange Zeit mit ihm über den Stillen Ozean und die Inseln, die er in dieser Gegend besucht hatte. Er fragte ihn, ob er nicht mit den Meuterern eine Art Entdeckungs- und Vergnügungsreise in jene Gegenden machen wolle, und fügte hinzu, die Leute gingen allmählich auf die Absichten des Unterschiffers ein. Augustus hielt es für angezeigt, darauf zu erwidern, daß er gern solche abenteuerliche Fahrt unternehmen würde, da sich nichts Besseres tun lasse, und daß alles und jedes einem Seeräuberleben vorzuziehen sei.

4. Juli. Das in Sicht gelangte Schiff erwies sich als eine kleine Brigg, die von Liverpool kam; man ließ sie unbelästigt ihres Weges ziehen. Augustus hielt sich tagsüber an Deck auf, um möglichst viel über die Absichten der Meuterer zu erfahren. Sie stritten oft und heftig miteinander; einmal wurde ein Harpunier, Jim Bonner, über Bord geworfen. Die Partei des Maats fing an, die Oberhand zu gewinnen. Jim Bonner gehörte zur Partei des Kochs, zu der auch Peters zählte.

5. Juli. Gegen Tagesanbruch kam eine steife Brise von Westen, die mittags zu einem Sturm anschwoll, so daß die Brigg unter Schnau- und Focksegel laufen konnte. Beim Reffen des Focksegels stürzte Simms, ein gewöhnlicher Matrose und ebenfalls von der Partei des Schiffskochs, über Bord; er war stark bezecht und ertrank, ohne daß irgend jemand einen Versuch zu seiner Rettung gemacht hätte. Jetzt zählte die Bemannung des Schiffes dreizehn Personen, nämlich Dirk Peters, Symour, den schwarzen Koch, Jones, Greely, Hartman Rogers und William Allen von der Partei des Kochs; der Maat, dessen Namen ich nie gehört habe, Absalom Hicks, Wilson, John Hunt und Richard Parker von der Partei des Maats; dazu Augustus und mich selbst.

6. Juli. Der Sturm dauerte den ganzen Tag, er blies in schweren Böen; dazu regnete es, durch die Fugen der Brigg drang eine Menge Wasser ein, und die Pumpen waren in ununterbrochener Tätigkeit; auch Augustus mußte mithelfen. In der Dämmerung kam ein stattliches Schiff nahe an uns vorüber; man bemerkte es erst, als es in Rufweite war. Wahrscheinlich war es jenes, dem die Meuterer auflauerten. Der Maat rief es an, aber das Heulen des Sturmes verschlang die Antwort. Um elf brach sich eine See mittschiffs über dem Verdeck, riß einen großen Teil der Backbordreling weg und tat noch weiteren Schaden. Gegen Morgen ließ das Unwetter nach, und bei Sonnenaufgang wehte nur noch ein schwacher Wind.

7. Juli. Eine starke Dünung herrschte den ganzen Tag hindurch, die Brigg schlingerte entsetzlich, und im Kielraum rollten, wie ich wohl vernehmen konnte, viele Gegenstände von ihren Plätzen. Ich litt furchtbar unter der Seekrankheit. Peters hatte eine lange Unterredung mit Augustus und erzählte ihm, daß zwei von den Leuten, Greely und Allen, zum Maat übergegangen seien und sich bereit erklärt hätten, Seeräuber zu werden. Er richtete verschiedene Fragen an Augustus, die letzterem damals unverständlich waren. Während der Abendzeit machte sich ein Leck im Schiff mehr und mehr bemerkbar; man konnte nicht viel dagegen unternehmen, da es durch die schlechte Kalfaterung der Brigg verursacht wurde. Wir stopften die Öffnungen am Bug mit Segelgarn; das half ein wenig, und das Leck war für den Augenblick unschädlich gemacht.

8. Juli. Eine leichte Brise wehte um Sonnenaufgang aus dem Osten; der Schiffer ließ unsere Brigg einen südwestlichen Kurs nehmen, da er in Verfolgung seiner Seeräuberpläne eine Insel Westindiens anlaufen wollte. Peters und der Koch erhoben – wenigstens in Gegenwart meines Freundes – keinerlei Einspruch. Der Angriff auf jenes kapverdische Schiff war aufgegeben worden; das Leck wurde dadurch unschädlich gemacht, daß man alle dreiviertel Stunden an die Pumpen ging. Während des Tages wurden zwei kleine Schuner angesprochen.

9. Juli. Herrliches Wetter. Alle waren mit Ausbesserung der Schäden beschäftigt, die jene Sturzsee erzeugte, und Peters hatte abermals eine lange Besprechung mit Augustus; er sprach sich deutlicher aus, als er es bisher tat. Er äußerte, nichts könne ihn zu den Ansichten des Maats bekehren, und deutete sogar die Absicht an, jenem die Brigg wegzunehmen. Auch fragte er meinen Freund, ob er in diesem Falle auf seine Hilfe rechnen könne. Ohne Zögern antwortete Augustus mit Ja. Darauf bemerkte Peters, er werde die andern Leute von seiner Partei ausholen, und ging seiner Wege. Während dieses Tages hatte Augustus weiter keine Gelegenheit, mit ihm zu reden.


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