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e) Hysterische als Zeugen

Als unumgänglichen Rechtsfaktor braucht die Justiz den Zeugen, um Recht sprechen zu können. Sie tut es in bedenkenfreiester Form, wenn der vor Gericht erscheinende Zeuge seine Bekundung in dem vollen Umfang und mit der untrüglichen Sicherheit machen konnte, wie es der Jurist von ihm erwartet. In dieser Auffassung von der Verläßlichkeit der Zeugenaussage ist die Juristenwelt in praxi auch nicht wesentlich erschüttert worden, obwohl die »Aussagepsychologie«, jener Sonderzweig der menschlichen Seelenforschung, durch seine Ergebnisse das Vertrauen auf die Beobachtungsfähigkeit und die Wiedergabemöglichkeit von Wahrnehmungen bedenklich erschütterte. Nicht nur der preußische Jurist ist noch nicht wesentlich durch die neuen Forschungsergebnisse berührt worden, auch Mediziner scheinen die Tragweite psychischer Unzulänglichkeit und Beeinflußbarkeit auf ihre Bedeutung für eine sichere Zeugenaussage noch nicht gebührend zu würdigen. Nicht lange ist es her, daß in einem Berliner Sensationsprozeß (Guthmann), der weiten Kreisen des Publikums einen verblüffenden, ja erschreckenden Einblick in kaum geahnte menschliche Gesellschaftsschichten eröffnete, der Vorsitzende den ärztlichen Sachverständigen fragte, ob ihm bekannt wäre, daß Menschen durch andere sich etwas einreden lassen, den suggerierten Ideengang dem eigenen Gedankeninhalt vollständig einverleiben und später als Produkt des eigenen Denkens und der eigenen Erfahrung bekunden können. Auf diese gewichtige Frage antwortete der medizinische Sachverständige mit »nein«.

Als der in München spielende Berchthold-Prozeß die Bevölkerung der bayerischen Hauptstadt in Spannung versetzte, empfing die »Münchener Allgemeine Zeitung« folgende Zuschrift eines Juristen:

»Die neue Bezeichnung mit dem vornehm klingenden Fremdwort Suggestion ist aber gefährlich; sie erweckt die Vorstellung von etwas Pathologischem an der Person, die der Suggestion unterlegen sein soll. Nun mag es ja sein, daß in 50 oder 100 Jahren der Psychiater mit Hilfe der Röntgenstrahlen oder anderer Mittel unserm Auge den Vorgang der Beeinflussung sichtbar macht. Zur Zeit aber ist die Psychiatrie noch nicht so weit ...«

Beide Episoden, – die auffällige einfache Negation eines medizinischen Sachverständigen, sowie die, erstaunliche Unwissenheit bekundende, Ansicht eines Fachjuristen, – wie verschiedenartig sie auch auf den ersten Blick scheinen, bergen als gemeinsamen Kern die bedauerliche Erfahrungstatsache, daß ein Grundfaktor psychologischen Geschehens, ein Grundfaktor, alt wie die Welt, der im Leben des einzelnen wie der Nationen, wo überall Menschen existieren, seine Wirksamkeit entfaltet, die Tatsache der Suggestion, in der Juristen- und Medizinerwelt noch immer nicht die Beachtung gefunden hat, die er weitgehend verdient. Daß gerade die Juristenwelt ihn noch immer nicht genügend würdigt, ist um so beklagenswerter, als die suggestive Beeinflussung von Individuen in jeder Verhandlung in die Erscheinung tritt, und die großen, die öffentliche Meinung beschäftigenden Prozesse in ihrem Zeugenverhör eine wahre Fundgrube von den bedeutungsschweren Machtentfaltung der Suggestion darstellen. Der Czynski-, Berchthold -, Koschemann-, Rosengart-, Guthmann-Prozeß, um nur einige Sensationsprozesse herauszugreifen, sie alle bieten das fast stereotype Beweismaterial für diese Kraft, die nicht immer das Gute will, doch auch nicht immer das Böse schafft Placzek, Suggestion und Erinnerungsfälschung. Groß' Archiv, Bd. 2..

Im Berchthold-Prozeß hatten Grashey und v. Schrenck-Notzing die schwierige Aufgabe, die Fehlerquellen für das Gedächtnis aufzudecken und über den Geisteszustand einer Anzahl von Zeugen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen Gutachten abzugeben, und im Riedel-Prozeß konnte ich den allseitig angezweifelten Merkfähigkeitsgrad einer 15jährigen Zeugin so eindeutig experimentell erweisen, daß das Gerichtsurteil sich auf das Sachverständigenurteil stützen konnte. Im Falle Sauter erfolgte sogar die erste Freisprechung einer Angeklagten, die unter dem suggestiven Einfluß einer anderen Person das Strafgesetz verletzt hat. Noch immer gilt die Umgrenzung Liebéaults für das Gebiet der Suggestion.

»Ohne sich davon Rechenschaft zu geben, eignet man sich moralische und politische Ansichten, Familien- und Rassenvorurteile an, nimmt man die Vorstellungen in sich auf, welche die Atmosphäre, in der man lebt, erfüllen. Es gibt soziale und religiöse Grundsätze, welche vor dem Richterstuhl des gesunden Menschenverstandes, geschweige vor dem der Vernunft, nicht bestehen können, und an die man doch bereitwillig glaubt, die man doch wie sein Eigentum verteidigt. Diese Grundsätze waren die der Ahnen, sie haben sich von den Eltern auf die Kinder übertragen, sie sind sogar Gemeingut einer Nation geworden. Es ist unmöglich, sie durch Vernunftgründe, es ist unmöglich, sie durch Gewalt vernichten zu lassen; es nützt nichts, daß man ihre Falschheit nachweist. Es gibt eben für den menschlichen Geist Ideen, welche durch Nachahmung angenommen werden, mit denen trotz ihrer Sinnlosigkeit die Menschen verwachsen, und die sich wie Instinkte von einer Generation auf die andere vererben.«

Wenn je, ist uns das in diesem Krieg klar geworden, wo die Suggestion der Massen zielbewußt und skrupellos mit dem Aufgebot alles dazu gehörigen technischen Handwerkszeuges der Presse geübt, uns so verhängnisvoll wurde, unser bewundernswürdigstes Handeln diskreditierte, unser bestes Wollen schädigte, uns in den Augen fast der ganzen Welt herabwürdigte Siehe Placzek, »Affektspannung und Krieg.« Festschrift: 100 Jahre Verlag Marcus & Weber. Bonn. 1919..

Die suggestive Beeinflussungsmöglichkeit existiert, ihre anscheinend verblüffende, überwältigende Wirkung erklärt sich aus der der Menschennatur zugehörigen Grundeigenschaft der Gläubigkeit, und sie spielt in den Zeugenaussagen zum Beweise krimineller Straftaten eine große, wohl zu beachtende und abzuwägende Rolle. Da die Zeugen sich aus jeder nur erdenklichen Menschen- und Gesellschaftsklasse zu rekrutieren pflegen, ihre persönliche Suggestibilität, d. h. Beeinflußbarkeit durch Fremdvorstellungen – sie erfolge durch das gesprochene oder gelesene Wort, durch Beispiel, durch Befehl – also in weitesten Grenzen schwanken muß, so muß die vernehmende Instanz mit diesem Faktor mehr als bisher rechnen lernen. Nicht der vorhergehende Eid, nicht der ausdrückliche Hinweis auf seine Bedeutung genügen allein, um eine Aussage einwandsfrei zu machen, nein, vor allem berücksichtigenswert ist der Suggestibilitätsfaktor, um in der optima fide erstatteten Aussage tatsächlich Erlebtes von phantastischer Ausgestaltung, Wahrheit von Dichtung trennen zu können.

Der Mensch erliegt äußerer psychischer Beeinflussung nicht ohne weiteres, sein tatsächliches Wissen wird dadurch nicht ohne weiteres, ihm selbst unbewußt, umgeformt, sondern mannigfach schwankend, individuell verschieden erscheint seine Suggestibilität. Je nach Rasse, Nation, Bildungssphäre, Gesellschaftsklasse, Altersstufe, Temperament, Willensstärke wird die stets vorhandene, hemmend wirkende Gegensuggestion, das persönliche kritische Urteil, eine verschieden große Rolle spielen, und vor seelischer Überrumpelung, evtl. seelischer Vergewaltigung schützen. Doch dieser Schutz ist verhältnismäßig dürftig, er wirkt nur schwach bei dem Kinde, dem Ungebildeten, dem Willensschwachen, der leicht entflammbaren Nation, ja kann vollständig schwinden unter dem Einfluß übermächtiger Ereignisse. Sonst wären alle die geschichtlich feststehenden psychischen Epidemien kaum erklärbar, die ganze Volksmassen in Erregung und Bewegung versetzten. Alle dämonopathischen Massenrevolten des Mittelalters, das grauenvolle Hexenwesen mit seiner Gefolgschaft von Scheiterhaufen und Blutgerüst, die weit verbreiteten Zaubereiepidemien des XVI. Jahrhunderts, die Tanzepidemien usw., sie alle sind das Resultat gegenseitiger und Selbstsuggestion, die in der Übermasse psychopathisch veranlagter Naturen geeigneten Boden fand.

Was in längst vergangenen Zeitepochen geschah, ist auch heute möglich, und wenn vor kurzem in Braunschweig und in einer schwedischen Stadt ganze Schulen geschlossen werden mußten, um eine durch Imitation entstandene Massenerkrankung von Schulkindern an Hysterie zu unterdrücken, so ist es immer und immer wieder derselbe suggestive Faktor, der auf geeignetem Boden seine unheimliche Macht entfaltet. Heutzutage ist es allerdings seltener das zu weitgehender suggestiver Beeinflussung disponierende Moment naiver Gläubigkeit, zumeist ist es zweifellos die Macht der Presse. Wenn auch der gebildete Leser die ihm aufgedrängten Ansichten mit kritischem Urteil und nach dem eigenen Wissen erst zu formen trachtet, ehe er sie als eigene verwertet, so übt doch auch auf ihn die Presse, ihm unbewußt, einen überwältigenden Einfluß aus. Wie anders wäre es sonst erklärbar, daß alle die subjektiv gefärbten Preßmeinungsäußerungen über Theater, Kunst, Musik, Politik derart fast widerspruchslos geteilt werden, daß ein großer Leserkreis ein Bühnen-, ein Kunstwerk nur in dem Lichte sehen, in welchem ein autoritativer Kritiker es zu sehen zwingt? Wie anders wäre es sonst verständlich, daß dem Franzosenvolk anläßlich der Dreyfußaffäre jede Auffassung von Recht und Gerechtigkeit für alle Zeit verloren gehen konnte, wenn nicht der suggerierende Einfluß seiner übermächtigen Presse die Unbefangenheit des Blickes getrübt hätte?

Wenn die Presse eine derart suggestive Gewalt selbst auf die Gebildeten ausübt, um wie viel mächtiger muß sie auf den einfachen Mann wirken, der den größten Teil seines Wissens, seiner geistigen Nahrung aus seinem Blatt schöpft, der seine Anschauungen, seine Denkrichtung ganz nach ihm formt. Nun vergegenwärtige man sich irgendein sensationelles, die Gemüter erschreckendes, verbrecherisches Ereignis, das tagelang, wochenlang den Gesprächsstoff einer Bevölkerung bildet. Gierig wird jede Preßnachricht verschlungen. In wohlberechneter, sensationeller Steigerung verkündet eine gewisse Presse eßlöffelweise die umherschwirrenden Gerüchte, die ausgesetzte Belohnung. Der Tatort, die ermordete Person, die Fundstücke, der vermutliche Mörder werden in Wort und Bild unter möglichst eindrucksvoller Devise geschildert. Der Aufenthaltsort des Täters, seine Fluchtroute werden mit beneidenswertem Unfehlbarkeitsbewußtsein detailliert genannt. Verwunderlich ist es dann nicht, daß die Meinung des Blattes die Meinung seines Leserkreises wird, verwunderlich auch nicht, daß tatsächliche Beobachtungen von Augenzeugen unter dem suggestiven Preßeinfluß allmählich umgeformt, zu einem Phantasiegemisch werden, aus dem der einzelne sich nimmer herauszufinden weiß, und das er schließlich als eigene Erfahrung zeugeneidlich bekundet.

Wie v. Schrenck-Notzing überzeugend schildert, schleichen sich unwillkürlich gelesene Meinungen und Urteile in unser Denken, bestimmen unsere Ideenrichtung und beeinflussen mächtig unsere Erinnerung. Selbst Erlebtes und Gehörtes oder Gelesenes wird um so leichter verwechselt, wenn der Inhalt des Gegenstandes uns schon früher interessierte. Dann leidet die Reproduktionstreue. Wenn das vollgesunde Individuum schon durch die ihm innewohnende Suggestibilität bei Zeugenaussagen in foro kritisch bewertet zu werden verdient, wenn die an sich begreiflichen Sicherungsforderungen des Juristen stets unter dem Gesichtswinkel der nun einmal bestehenden psychischen Mangelhaftigkeit des Menschen erfüllt werden sollten, so verdienen Hysterische bei Zeugenaussagen ganz besonders unter die Lupe genommen zu werden. Die Juristen tun gut, die Vertrauenswürdigkeit jeder ausgesprochenen Hysterie skeptisch zu betrachten, selbst ihre eidlichen Erhärtungen nicht zu vertrauensselig einzuschätzen, da eine Hysterische auch vor dem Meineid nicht zurückschreckt. Auf die Gefahrmöglichkeit durch Zeugenaussagen Hysterischer kann der Arzt gar nicht nachdrücklich genug hinweisen, und es erscheint die Vorsieht Sieberts begründet, der eine als Zeugin geladene hysterische Patientin nicht vor Gericht erscheinen lassen wollte, weil sie schon infolge der Zeugenladung – es handelte sich um eine schwerwiegende Sache – aus dem psychischen Gleichgewicht geraten war. Sie warf laut aufschreiend ihre Sachen durcheinander, verließ ihr Geschäft ohne Hut und Überkleider und rannte auf die Straße. In die Wohnung zurückgebracht, beging sie verkehrte Handlungen, stellte die Stühle auf die Tische, kleidete ihre Kinder grundlos aus, schüttete Wasser ins Feuer, sah Gestalten, hörte Pferdegetrappel, Kanonenschießen. Dieser Dämmerzustand dauerte drei Tage Harald Siebert, Hysterische Dämmerzustände. Archiv f. Psychiatrie. Bd. 60, Heft 1.. Selbstverständlich duldete der Arzt nicht, daß die Patientin während des Erregungszustandes die Reise antrat, »auch wenn, wofür keine Anhaltspunkte bestanden, hier beabsichtigte Täuschung oder Übertreibung vorgelegen hätte«. Auch nachdem der Dämmerzustand abgeklungen war, hielt der Arzt die Patientin nicht für aussagefähig, da sie leicht infolge ihrer aus dem Gleichgewicht geworfenen Konstitution oder auch durch Konfabulation falsche Angaben machen konnte. Damit aber konnte sie leicht in Konflikte mit dem Strafgesetzbuch geraten, denn nach abgeklungenem Dämmerzustand, meint Siebert, konnte von Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung keine Rede sein.

Die letztere Auffassung möchte ich nicht teilen. Es sollte doch auch nach abgeklungenem Dämmerzustand möglich sein, die falsche Aussage als das zu erweisen, was sie sein dürfte, nämlich Folge der Grundhysterie, vielleicht sogar direkte Nachwirkung des Dämmerzustandes. Und beide Möglichkeiten, sobald nur die Hysterie einwandsfrei sich bestätigen läßt, lassen die Prämissen des § 51 als noch anwendbar erscheinen. Zum mindesten wäre der Beweis wohl zu erbringen, daß nun einmal die Hysterikerpsyche Hemmungen auszuschalten pflegt, die beim vollwertigen Menschen dem kriminellen Antrieb sich wirksam entgegenstemmen. Gerade die Zeugenaussage Hysterischer sollte stets mit größter Vorsicht behandelt werden, weil sie »gewöhnlich stark subjektiv färbt, nicht selten direkt falsch, und wenn auch ohne Dolus, manchmal frei erfunden ist«, wie Weygandt sagt l. c. S. 60..

Die vorstechendste Eigenschaft der Hysterischen, die pathologische Suggestibilität, macht sie eben höchst ungeeignet zur Erfüllung der Vorbedingungen eines Zeugeneides; zählen doch Hysterische zumeist zu den Personen, die »nach den Bestimmungen der Strafprozeßordnung unfähig sind, als Zeugen eidlich vernommen zu werden« (StrPrO. §56, Abs. 2). Mögen die Einwirkungen umstimmend oder fälschend von außen stammen oder aus dem Innern der Persönlichkeit erwachsen, sie werden zu leicht zum Bestandteil des eigenen Vorstellungslebens und dann mit scheinbar unerschütterlicher Sicherheit bekundet. Hierbei wird die hysterische Eigenart, sich wirksam in Szene zu setzen und eine Rolle zu spielen, besonders verschärft. Größte Vorsicht erscheint deshalb überall geboten, wo Hysterische als Zeugen auftreten. Sexuelle Anschuldigungen mahnen zu besonderer Skepsis. Bedenkt man, wie eng verknüpft hysterische und degenerative Anlagen sind, wie sie sich mischen und aufeinander pfropfen können, so kann es nicht wundernehmen, wenn alle die juristischen Sicherungsmaßnahmen für die Zuverlässigkeit einer Zeugenaussage hier nicht ausreichend hemmend wirken. Schon das gesunde Mädchen wird mit der Annäherung an die Pubertätszeit in seiner Zuverlässigkeit beeinflußt, wo erwachende Sexualgefühle in ihren mannigfachen Verkleidungen das Interesse an der eigenen Person steigern, eine Sucht, Aufmerksamkeit zu erregen, wecken und Neigung zu phantastisch romantischer Ausschmückung von Erlebnissen aufstacheln. Wie viel mehr muß die pseudologische Neigung der Hysterischen verhängnisvoll werden! Erinnerungstäuschungen sind beim weiblichen Geschlecht schon so leicht möglich, daß Möbius sich zu dem Leitsatz gezwungen sah:

»Wir überschätzen das Weib als Zeugin, behandeln es zu hart als Angeklagte« Physiologischer Schwachsinn des Weibes..

Nun denke man an die Anforderungen, die oft genug Juristen an die Gedächtnistreue stellen. Obwohl oft viele Jahre zwischen Straftat und Verhandlung liegen, soll das Gedächtnis des Zeugen auch dann noch untrüglich arbeiten, jeden Erinnerungsirrtum, jede Erinnerungsfälschung ausschalten, soll selbst die Erinnerung, die vielleicht schon im Entstehen durch die suggestive Macht der Presse gefälscht oder phantastisch ergänzt, entstellt wurde, auch dann noch tadellos zeigen.

Ist nun schon die getreue Reproduktion lang zurückliegender Erlebnisse für ein Durchschnittsgedächtnis keine leichte Sache, so wird sie oft geradezu unerfüllbar, wenn es sich um sorgsame Feststellung der Reihenfolge bestimmter Wahrnehmungen handelt. Wenn im Guthmannprozeß Zeugen Tag und Stunde nennen sollten, an der sie den Angeklagten sahen, wenn im Koschemann-, im Berchtholdprozesse Zeugen die Kleidung, die Körperbeschaffenheit, den Gang eines Menschen schildern sollten, dem sie zufällig begegneten, wenn sie dessen Identität mit einer Photographie erweisen sollten, so sind das Anforderungen, die ein gewöhnliches Gedächtnis nicht zu erfüllen vermag, da bewußte oder unbewußte Ideenverschmelzungen unrichtige Angaben zutage fördern müssen.

Wären die Fehlerquellen des Gedächtnisses den Richtern hinreichend bekannt, so blieben sie vor dem gefährlichen Irrtum bewahrt, Meineid und Erinnerungsfälschung zu verwechseln. Sie würden auch vorsichtiger fragen und besser den Tatsachenkern von dem Produkt der Suggestion unterscheiden. Vermag nun auch eine geschickte Prozeßleitung durch wohlüberlegte Fragestellung, die vor allem sorgsam jedes Hineinexaminieren vermeidet, diese äußerliche Fehlerquelle zu entdecken, so stößt sie auf kaum überwindbare Schwierigkeiten, sobald der Zeuge zur Klasse der pathologischen Naturen der Gewohnheitslügner gehört, denen der Lügentrieb ununterdrückbar anhaftet. Da die Zahl solcher psychopathischer Naturen nicht unbeträchtlich ist, müßte die Psyche der Zeugen auch nach dieser Richtung beobachtet werden.

Man dürfte die Unzuverlässigkeit der Zeugenaussagen Hysterischer leichter verstehen, wenn man der allgemeinen menschlichen Suggestibilität als Masseneigenschaft gedenkt. Bernheim gelang es sogar, retroaktive Suggestionen kollektiv zu geben und so eine Reihe falscher Zeugen zu schaffen, die mit innigster Überzeugung ihr Zeugnis abgaben. Was von den Erwachsenen gilt, gilt in gesteigertem Maße von den Kindern, die instinktiv dazu neigen, alles mehr oder weniger gläubig aufzunehmen, was Erwachsene ihnen in einem nachdrücklichen, jeden Widerspruch ausschließenden Ton sagen. Forel konnte einmal den versammelten Juristen in Zürich einen 8jährigen Knaben vorführen, der auf Forels Suggestion hin vor Gott schwur, daß einer der vor ihm stehenden Advokaten ihm vor acht Tagen das Taschentuch gestohlen hätte. Er fügte sogar, darüber befragt, noch Ort und Stunde dazu. Als Forel fünf Minuten später ihm suggerierte, daß das alles nicht geschehen wäre, und er es nie behauptet hätte, schwor der Knabe mit gleichgroßer Keckheit das kurz vorher abgelegte Zeugnis ab Forel, Hypnotismus. S. 4..

Ich erinnere weiter an Hebbels Bekenntnis in seinem Tagebuch. Er berichtet hier von sich selbst:

»Oft schon erzählte ich Geschichten von Menschen, die nie vorgefallen sind, legte ihnen Redensarten unter, die sie nie gebrauchten usw. Dies geschieht aber nicht aus Bosheit oder schnöder Lust an der Lüge. Es ist vielmehr eine Äußerung meines dichterischen Vermögens; wenn ich von Leuten spreche, die ich kenne, besonders dann, wenn ich sie andern bekannt machen will, geht in mir derselbe Prozeß vor, wie wenn ich auf dem Papiere Charaktere darstelle; es fallen mir Worte ein, die das Innerste solcher Personen bezeichnen, und an diese Worte schließt sich dann auf die natürlichste Weise sogleich eine Geschichte ... Ich will jene Eigenheit übrigens nicht loben« Tagebücher 1885. Bd. 1, S. 120..

Hier stützt sich demnach das besondere Talent auf eine Schwäche, die – wäre ihr nicht das Ventil geöffnet und jede weitere Ausbreitung versagt worden – leicht zu einem intellektuellen und moralischen Mangel hätte ausarten können ... Wenn Hebbel nicht zum Lügner und Betrüger wurde, so verdankt er es einerseits seiner Selbstzucht, andererseits der Verdrängung seiner Phantasietätigkeit zum künstlerischen Schaffen. Für den durchschnittlichen Menschen ruht der Nachdruck auf dem ersten Punkt, ähnlich so in anderen Fällen. Das launische Spiel der Intelligenz muß innerhalb des Gemeinschaftslebens zur strengen Wahrhaftigkeit, die Abenteuerlust der entstehenden Sexualität zur befreienden Gesetzlichkeit übergeleitet werden.

Ich erinnere weiter an Gottfried Kellers Jugenderlebnis, von dem er selbst sagt, daß er es gar nicht begreifen könnte, wenn er nicht des frühzeitigen Hanges gedächte, die Eindrücke der Außenwelt zu großen träumerischen Geweben auszudenken, wozu die erregte Phantasie den Einschlag gäbe ... »sie verflochten sich mir mit dem wirklichen Leben, daß ich sie kaum von demselben unterscheiden konnte« Grüner Heinrich. 1876. S. 107 ff.. Er hatte einst beim Spiel einige unanständige, höchst rohe Worte vor sich hingesprochen: Gefragt, wer ihn das gelehrt hätte, sann er einen Augenblick nach und nannte dann den Namen eines Schulknaben, fügte sogar noch andere hinzu, mit denen er kaum je ein Wort gesprochen hatte. Als diese Knaben später feierlich vernommen wurden, schilderte Keller einen phantastischen Waldspaziergang, bei dem es geschehen sein sollte, und fügte abenteuerlichste Dinge noch hinzu. Er blieb durchaus gleichgültig, als die angeschuldigten Knaben außer sich gerieten und unter Tränen beteuerten, nichts von dem ganzen Vorgang zu wissen. Er fühlte sogar eine Befriedigung in sich, »daß die poetische Gerechtigkeit meine Erfindung so schön und sichtbarlich abrundete, daß etwas Auffallendes geschah, gehandelt und gelitten wurde und das infolge meines schöpferischen Wertes. Ich begriff gar nicht, wie die mißhandelten Jungen so lamentieren und erbost sein konnten gegen mich, da der treffliche Verlauf der Geschichte sich von selbst verstand und ich hieran so wenig etwas ändern konnte, als die alten Götter am Fatum.«

Angesichts der Möglichkeit solcher Vorkommnisse muß auch einer pathologischen Veränderung des Realitätsbewußtseins gedacht werden, die forensisch bedeutungsschwer werden kann, nämlich einer seelischen Wandlung, als ob die Umgebung »nicht der Realität entspräche«, – was sich den Augen darbietet, »in Wirklichkeit gar nicht existierte«, – als ob alle Dinge gar keine wirklichen Dinge wären. »Nicht nur Dinge der Wahrnehmung können so verändert sein, sondern alle Vorstellungen, Erinnerungen, auch das eigene Ich, die Angehörigen. Letztere erscheinen in den Gedanken nur als Bilder,« als existierten sie gar nicht. Dieses Unwirklichkeitsgefühl, von dem Specht ein markantes Beispiel an einem, 17 jährigen Fahnenjunker berichtet, der schon an Wachträumen litt, kann auch leicht zu folgenschweren Handlungen führen Zur Pathologie des Realitätsbewußtseins. Arch. f. Pathopsychologie. Leipzig. 1917. III. Bd. 3. H..

Angesichts solcher Erinnerungsfälschungen, wie sie fremdsuggestive und autosuggestive Beeinflussung in Zeugenaussagen zuwege bringen kann, angesichts der Möglichkeit falscher Geständnisse durch suggestive Fragen müssen Zeugenaussagen Hysterischer ganz besonders kritisch bewertet werden. Solche Hysterischen können die andern und sich selbst beständig anlügen, sie können nicht Erlebtes von Ersonnenem klar unterscheiden, sie schwindeln und erdichten halb oder ganz unbewußt. Forel urteilt durchaus zutreffend, wenn er sagt, daß man sie psychologisch ganz und gar verkenne, wenn man ihren falschen Angaben den Wert bewußter Lüge beimißt. »Es sind Instinktlügner, sie können nicht anders als lügen, auch wenn man sie beschwört, prügelt oder verachtet, alle erdenklichen Mittel der Lüge und Strenge anwendet, um ihnen das Lügen zu verleiden, sie fahren ganz automatisch unbewußt fort, die einfachsten, nutzlosesten Dichtungen ihm vorzuschwindeln.«

Wie aber zwischen bewußter Vortäuschung und Ganserschem Dämmerzustand unterscheiden? In letzterem wird scheinbar lauter Unsinn produziert, eine Geisteskrankheit durch Verkehrtdenken und -handeln markiert, oft zu dem durchsichtigen Zwecke, einer Bestrafung zu entgehen. Die Kranken machen dann systematisch vieles verkehrt. Sie rechnen auffallend vorbei, streichen das Zündholz mit der Holzseite an, lesen die Uhr falsch ab usw. Pilcz hält die Unterscheidung zwischen bewußter Vortäuschung und Ganserschem Symptom für schlechterdings unmöglich. Das Gansersche Symptom in der ausgesprochenen Form des Vorbeiredens hat zweifellos, wenn echt, eine große nosologische und psychologische Bedeutung. Doch eben die Echtheit zweifelsfrei zu erweisen, übersteigt unsere Kraft und muß um so mehr zur Vorsicht mahnen, als sogar das gänzliche Versagen des Ganserschen Symptoms schon betont wird. Siebert nennt es »bereits das Allgemeingut vieler Psychopathen, Minderwertiger, überhaupt unsozialer Persönlichkeiten, ja auch genuiner Hysteriker,« die damit bei passender oder unpassender Gelegenheit geschickt operieren und von ihm gegebenenfalls Gebrauch machen. Raimann erklärt ganz offen, daß eine Differentialdiagnose zwischen Hysterie und Simulation eigentlich nicht existiert.

Das sind so offenherzige Eingeständnisse unserer unzulänglichen Klarstellungsmöglichkeiten, daß dann die Anfechtbarkeit und Strittigkeit des Sachverständigenurteils nicht wundernehmen kann. Mit Raimanns theoretischem Leitsatz: »Der Simulant will krank scheinen, der Hysteriker krank sein,« kommen wir auch nicht weiter. Und so bleibt als Rest, daß wir die forensischen Anforderungen im Ernstfalle nicht mit der Untrüglichkeit erfüllen können, wie sie die Strafprozeßordnung gern erfüllt sähe. Wenn dem so ist, so müssen die Urteilsschwierigkeiten, besonders im Strafvollzug der Hysterischen, bis zur Unüberwindbarkeit anwachsen. Was soll geschehen, wenn Anfälle in der Strafhaft auftauchen und selbst Dämmerzustände erscheinen?

Schon die Unterscheidung zwischen hysterischen und epileptischen Dämmerzuständen gestaltet sich besonders schwierig, denn alle Kennzeichen können täuschen. Am untrüglichsten für die hysterische Störung ist noch die Beeinflußbarkeit durch Suggestion. Des weiteren spricht gegen Epilepsie 1. der remittierende Verlauf, 2. allmähliches Abklingen, 3. theatralische Nuancierung der Affekte, 4. romanhafter Zusammenhang der Sinnestäuschung und Beziehung zu einem dem Dämmerzustand vorausgehenden, gefühlsbetonten Erlebnis, 5. ausgesprochene hysterische Symptome, 6. selbstverständlich interkurrente hysterische Anfälle, 7. suggestible Beeinflußbarkeit.

Bei dem hysterischen Delir ist der Verlauf ausgesprochener remittierend, der Anfang und Schluß nicht scharf abgegrenzt, die assoziativen und Orientierungsstörungen sind viel oberflächlicher, die Amnesie fehlt ( Ziehen).

Der Aufenthaltswechsel läßt sie schwinden, die Rückkehr in die Haft von neuem auflodern. Da fragt es sich, ob nicht die Vorbedingungen für einen Strafaufschub gegeben sind, wie sie die deutsche Strafprozeßordnung in § 487 bei Vollstreckung einer Freiheitsstrafe fordert. Die Strafe muß aufgeschoben werden, »wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt.« Da im allgemeinen nur voraussichtlich unheilbare Geisteskrankheit oder lang dauernde Geistesstörung einen Verurteilten haftunfähig macht, kann der hysterische Anfall und selbst die hysterische Psychose die Haftentlassung nicht ohne weiteres begründen, wohl aber zeitweilig die Verhaftungsfähigkeit ausschließen. Allzu großes Mitempfinden ist jedenfalls nicht am Platze, sieht doch ein so erfahrener Psychiater wie Pilcz in der Verurteilung »ein sehr wirksames, hemmendes Gegenmotiv. Hat sich der Hysteriker erst von der Nutzlosigkeit seiner Krankheitssymptome für den Strafvollzug überzeugt, dann schwinden sie, sei es, daß der Krankheitswille eine mächtige Gegenvorstellung erfährt, sei es, daß ... einfach Simulation vorliegt« l. c. S. 96..

Nicht anders steht es mit der weiteren Hinderungsmöglichkeit der Strafvollstreckung, ob von ihr eine nahe und erhebliche Lebens- und Gesundheitsgefahr zu befürchten ist, oder ob die Einrichtung einer Anstalt mit dem Zustand des Verurteilten unverträglich ist (§ 487 StrPrO. – § 906 CPO.). Für die hysterische Erkrankungsform dürfte die nahe Lebens- und Gesundheitsgefahr ausscheiden, und in vielen größeren Strafanstalten dürften ausreichend geeignete Anstaltseinrichtungen bestehen, um sachgemäße ärztliche und Anstaltspflege bei hysterischen Zwischenfällen gewährleisten zu können.

Leppmann sieht als strafvollzugsunfähig diejenigen an, welche infolge krankhafter Störung der Hirntätigkeit die Ordnung der Strafanstalt dauernd und erheblich stören, und weiter diejenigen, welche infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit kein Verständnis für ihre Strafe und deren Vollstreckung besitzen. Zu letzteren zählt er den Hysteriker sicherlich nicht. Dieser besitzt das Verständnis für die Strafe und deren Vollstreckung, und seine Krankheitssymptome schwinden auch, sobald der Hysteriker sich von ihrer Nutzlosigkeit für den Strafvollzug überzeugt hat.

Was für den Strafvollzug gilt, gilt auch für die Verhandlungsfähigkeit. Der Angeklagte muß die Bedeutung einer gerichtlichen Verhandlung begreifen, die ihm vorgelegten Fragen nach Sinn und Tragweite verstehen und sich vor dem Richter verantworten können ( Steinheil).


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