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E. Das Geschlechtsleben der Hysterischen in soziologischer Beziehung

Es kann nicht wundernehmen, daß die Erziehungsmöglichkeiten hysterischer Mädchen besonders deshalb erschwert und eingeschränkt sind, weil der geschlechtliche Betätigungsdrang übermächtig anwächst und nur zu leicht die gegebenen erzieherischen Schranken durchbricht. Schon das gesunde Weib ist einmal von Natur einen großen Teil seines Lebens Geschlechtswesen. Das bedingen die rein physiologischen, nur mehrtägigen regelmäßigen Eruptionen seiner Geschlechtsfunktionen. Das bedingen die monatelangen geschlechtlichen Umwandlungen des Gesamtorganismus bei jeder Schwangerschaft. Das bewirken die mehr oder weniger stürmischen Umwälzungen der Wechseljahre.

Was für das gesunde Weib schon so eingreifend, oft verhängnisvoll wird, muß für das hysterische Weib vielfach bedeutungsschwer sich gestalten, und ein Wunder ist es wahrlich nicht, wenn bei der Hemmungslosigkeit des hysterischen Charakters, der kraß egoistischen Einstellung der Persönlichkeit, den pseudologischen Neigungen mit Träumereien und Verwirklichungsstreben einer Phantasie weit, auch die Geschlechtsempfindungen alle Dämme durchbrechen, und die Hysterische leicht zur vagierenden Dirne sich entwickelt. In der Kleinstadt, wo das Familienleben den Kindern einen festeren sittlichen Halt gibt, und das Gefühl der Zusammengehörigkeit schwer überwindliche Schranken schafft, wird das hysterische Weib nicht so leicht scheitern wie in der Großstadt, wo Lockungen für Sinne und Geist täglich und stündlich auf sie einstürmen, die Erziehungs- und Überwachungsmöglichkeiten sehr schwierig sind.

Bei den Erziehungsmöglichkeiten des Kindes, des vollwertigen und entsprechend mehr des unheilvoll durch Erblichkeitseinflüsse disponierten, muß zunächst ein Grundirrtum geltender Anschauungen über Erziehungsfragen erwähnt und ohne Scheu aufgedeckt werden; daß nämlich eine Erziehung schöpferisch formen und wesentlich umstellen kann. Das kann sie nun und nimmermehr, wie klar und unvoreingenommen sie auch die Eigenschaften des Kindes kennen, und wie zielbewußt sie die Erziehungsmaßnahmen wählen mag. Der Mensch ist, was er ist, das Produkt jener Erblichkeitsmasse, die sein Werden bestimmte und sein Wesen formte. Kein Erzieher, und wäre er der beste, vermag aber mehr als nach Art des schaffenden Bildhauers zu arbeiten, der an dem Tonmodell hier etwas fortnimmt, dort etwas zufügt. Niemals aber kann die Erziehung Erbqualitäten austilgen. Sie muß froh sein, wenn sie diese, sofern sie verhängnisvoll zu werden drohen, an Stärke mildern und ihre Ausbreitungsbestrebungen einengen kann.

Angesichts dieser von der Erfahrung diktierten Auffassung bestgemeinter Erziehungsbestrebungen müssen die soziologisch besonders wichtigen Umformungsbestrebungen an hysterisch disponierten und erblich belasteten Kindern besonders wichtig erscheinen. Die Erziehungsbestrebungen können nicht ausmerzen, können nur abschwächen. Sie können aber – und das ist für unsere Hauptfrage das wichtigste – Schädigungsmöglichkeiten der Erziehung verhüten, die bei dem disponierten Kinde mehr als bei dem vollwertigen verhängnisvoll werden müssen. Hier kann und muß die Freudsche Lehre von der Verdrängung leiten. Da wir wissen, daß affektbetonte Erlebnisse, die nicht abreagiert werden können, ins Unterbewußtsein verdrängt werden, dort schlummern und gleich einem schwelenden Feuer unter der Asche dauernd schädigend wirken können, da wir weiter annehmen, daß der begleitende Affekt eines Vorganges sich loslösen, frei flottieren und sich mit anderen Verdrängungserscheinungen neu verketten kann, muß die Erziehungsweise scharf darauf Bedacht nehmen, sowenig als möglich Anlaß zu Verdrängung zu geben. Vertrauen gegen Vertrauen wird bei dem reifenden Kinde schon manche Schädigung verhüten, und sie wird das besonders in der Zeit erreichen, wo das Geschlechtsleben erwacht, unverstanden, quälend ist und durch das natürliche Keuschheitsempfinden, wie die gesellschaftlichen Schranken eingedämmt, ja unterdrückt werden muß. »Es ist die Erziehung, die Verdrängungen züchtet, – diese mehr oder minder gewaltsame Bildung der jugendlichen Seele, die seit Rousseaus Tagen von ihrer Zeit vorauseilenden Köpfen als etwas Veraltetes und Ungesundes verurteilt ward, und deren früher so solide Fundamente von Jahrzehnt zu Jahrzehnt bedenklicher zu bröckeln und zu wanken scheinen, ... als kräftig genug nun freilich wiederum, um in diesem Kampfe die Verdrängung durchzusetzen und damit Hysterie zu entwickeln. Und das räume ich bei aller Ablehnung des Momentes der Erotogenesis ein, daß diese Erziehung am unduldsamsten und am stärksten diktatorisch in den Fragen der weiblichen Geschlechtsmoral sich zeigt, was es verständlich macht, daß ein so riesiger Prozentsatz von Frauen der bürgerlichen Welt unter den Hysterischen ins Auge springt« Hellpach, S. 473.. So spricht Hellpach, und so spreche auch ich, der ich gleichfalls das Monopol der sexuellen Bedingtheit der Hysterie nachdrücklichst ablehne Selbst ein Freud-Anhänger, wie L. Frank, hält die Animosität gegen die Freudschen Auffassungen für sehr begreiflich, da Freud »überall nur das Sexuelle sieht und geradezu jede bewußte Äußerung psychischen Lebens auf eine sexuelle Ursache zurückzuführen sucht«.
Die Psychoanalyse. München. Verl. E. Reinhardt.
. In der kritischen Zeit des erwachenden Geschlechtslebens ganz besonders müssen die Erzieher, müssen in erster Linie die Eltern die Gefühlsregungen des Kindes wachsam prüfen und offenes Vertrauen heischen. Von ihrer Art, wie sie diese erziehlichen Grundforderungen zu verwirklichen wissen, wird allein es abhängen, ob und wie weit jene gefahrvollsten Empfindungskomplexe frei abströmen, gesänftigt, geklärt werden, und ob und wie weit eine jede Möglichkeit der Verdrängung genommen wird. Die wissende Keuschheit wird ein mächtigerer Hüter des reifenden Individuums sein als jene von Natur gegebene scheue Keuschheit, die in unaufhörlichem Kampf mit verdrängten Vorstellungen und Empfindungen ringt.

Doch nicht nur Verdrängungsmöglichkeiten sexueller Regungen und Empfindungen muß die Erziehung zu verhüten trachten, sie muß nicht nur sexuelle Verheimlichungen unmöglich machen, sie muß auch jedwede andere Verdrängungsmöglichkeit fernzuhalten wissen. Affektverdrängungen jedweder Art sollten aufhören, jedes gewaltsam erzwungene Bekenntnis in seiner möglichen Tragweite richtig eingeschätzt werden. Damit würden sicherlich viele hysterogene Bedingungen unwirksam werden.

Kommen dann noch Gegensätze zwischen Mutter und Tochter, fehlendes gegenseitiges Verständnis hinzu, so wächst die Gefahr sittlichen Untergangs bedenklich. »Man bedenke immer, daß schon vor der Menakme – der Zeit der geschlechtlichen Reife – schon in der Zeit der Reifung (der Menarche), lange vor der ersten Menstruation, Veränderungen geistiger und seelischer Art sich abspielen, die sich in Störungen des Gefühls und Charakters, des Gedächtnisses und der Intelligenz äußern« Tschudi, Zeitschr. f. Kinderforschung. VIII. Jahrgang, Heft 8/9.. Schon im siebenten Schuljahre von Volksschülerinnen konnte Tschudi 5 Typen unterscheiden: 1. den apathischen, 2. den ängstlichen, 3. den träumerischen, 4. den gereizten, zornigen und 5. den moralisch defekten. Zu den moralischen Defekten »im kindlichen und jugendlichen Lebensalter besteht eine erotisch hysteroide Disposition, so daß es leichter zu hysteroiden und echt hysterischen Reaktionen kommen kann«, sagt Gruhle. Nur eine Frage des Zufalls ist es dann, wohin bei den hysterischen Mädchen der jeweilig gewählte Beruf sie führt. Wird bei den Mädchen der unteren Stände die Fabrikarbeit mit ihrem verhängnisvollen Zusammenleben der Geschlechter zur Gefahr, so wird es bei den hysterischen Mädchen der oberen Stände die ungesunde Atmosphäre des großstädtischen Gesellschaftslebens und nicht zuletzt der Drang zur Verwirklichung tatsächlicher oder vermeintlicher Befähigung. Da fühlt sich die eine zur Bühne geschaffen, da erhofft eine zweite musikalische Wunderleistungen, da glaubt eine dritte, das künstlerisch Bedeutungsvollste leisten zu können, und sie alle suchen in jahrelangem Mühen den erstrebten, fern winkenden, höchsten Gipfel des Könnens erklimmen zu können, einsichtslos für die ihrer Begabung gesetzten tatsächlichen Schranken, und zu viele bleiben gebrochen am Wege liegen, gebrochen an Leib und Seele, gescheitert in der dem Weibe gefahrvollsten Luft der Bühne, der Konservatorien, der Akademien und ähnlicher Institute Preyers Fall von Faszination. Ferdinand Enke, Stuttgart.. Nur zu oft trägt die Hauptschuld die für die Qualitäten der Tochter blinde Mutter, blind für die wirkliche Eigenart und Befähigung der Tochter, blind auch für das Streben und Gebaren.

Und was geschieht, wenn die Hysterische in den Hafen der Ehe einläuft, wenn ein zweites Menschenschicksal fest an das ihrige gekettet ist? Was dann? Weber (Chemnitz) nennt die Hysterie die häufigste Ursache eines die Ehe störenden Verhaltens. Unberechenbar die Folgen, selbst wenn das meist unbändige, schwer zu befriedigende Geschlechtsleben nicht verhängnisvoll wird. Selbst wenn der Ehepartner in seiner Sexualität alle Erwartungen der Hysterischen erfüllt, was vorher doch kaum zu berechnen, geschweige denn reiflich abzuwägen ist, ist Zündstoff zu ständigen Explosionen mehr als ausreichend gegeben, und wenn gar noch ein Kind Erfüllung von Mutterpflichten fordert, kann die hysterische Eigenart zur Gefahr für Kind, Mann, Ehe, kann sie zur Marter, zum Martyrium werden. Nicht mit Unrecht sagt Frau Dr. Kossak von Frau v. Elbe, daß dieser Hysterischen jedes Erziehungstalent mangelte, wenn sie ihren Sohn veranlaßte, dem Stiefvater nachzuäffen. Wie anders noch, wenn der wirkliche Vater gegenübersteht und das Beste für sein Kind erstrebt und in ständigem Kampfe gegen die Unvernunft der hysterischen Mutter sich aufreibt, sich zermürben muß? Kann wohl der Charakter eines Kindes unberührt bleiben, wenn es Szenen rücksichtslosester, schrankenlosester Wildheit beiwohnen muß, wenn es von der lamentierenden, unberechenbaren, hysterischen Mutter selbst hin und her gezerrt und in seinem angeborenen Empfinden ständig tief verletzt wird? Muß es nicht dauernd Schaden für alle Lebenszeit davontragen? Müssen nicht die tief erschütternden, das Kindergemüt bis ins Innerste aufwühlenden Eindrücke Erinnerungsspuren hinterlassen und schon durch die Kontrastwirkung zwischen Abneigung gegen die eigene Mutter und natürlichem Liebesempfinden zu ihr ungeheuerliche Affektschwankungen, ja Affektspaltungen bewirken, die, ins Innere verdrängt, unheilvoll nachwirken müssen? Die Disharmonie des Elternpaares, eine zwietrachterfüllte Erziehung schafft unnennbare Qualen im Jugendgemüt, Qualen, die seelisch und körperlich fernwirken können. Nimmermehr kann das kindliche Wollen wohltätig, sachgemäß beeinflußt, ausdauernd vorbildlich gewöhnt werden, wenn die von Natur zur Haupterziehung bestimmte Mutter die erste Grundforderung der Erziehung, das zur Nachahmung anregende und zwingende Vorbild so verzerrt zeigt. »Vorbild sein, ist schwer«, sagt Granzow. »Vom Erzieher wird dafür völlig beherrschte Haltung verlangt. Er darf sich keine Blöße geben und keine Schwäche zeigen, sondern muß stets ein sich gleichbleibendes Tun und Wesen zur Schau tragen. Kinder sind sehr scharfsichtige Kritiker. Ihre Abhängigkeit und Hilflosigkeit läßt sie sich jede Schwäche des Erziehers zunutze machen. Ohne starken und beharrlichen Willen wird der Erzieher nicht jene Selbstzucht zu üben imstande sein, durch die allein er zum rechten Vorbild für seinen Zögling werden kann« Vossische Zeitung, Sonntagsbeilage vom 9. Januar 1916..

Von diesen schon von dem vollwertigen Erzieher schwer erfüllbaren Vorbedingungen zu erfolgreichem Erziehungswerk, wie wenig hat davon die hysterische Mutter infolge ihrer hysterischen Eigenart! Selbst haltlos, hemmungslos, schwankend in ihrem Wollen, äußerst labil in ihren Gemütsäußerungen und Affekten, zumeist noch ethisch abwegig, fehlt ihr die Vorbedingung durchaus, um Kindeswollen zu bilden und andauernd zu festigen. Schon durch ihre Hemmungslosigkeit im Affekt, durch die in weiten Grenzen schwankenden Erziehungsmaximen, durch Schwanken zwischen extremer Affenliebe und Herrschsucht kann sie nur ein unheilvolles Vorbild sein, das auf das impressionable Kindergemüt schädigend einwirkt, kann sie nur den Eigensinn, die entartende Form des Eigenwillens, züchten. Wie nun aber erst, wenn die verkehrten, schädlich wirkenden Erziehungsmaximen der Hysterischen sich zum Haß, zu sinnlosem, brutalem Haß gegen das Kind wandeln? Eine seelische Artung, die v. Krafft-Ebing als Misopädie bezeichnet, und die Oppenheim letzthin wieder belebte Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 14. Oktober 1918. Berliner klin. Wochenschr. 1918, Nr. 47. auf Grund von fünf eigenen Beobachtungen, in denen allen die Störungen auf dem Krankheitsboden der psychopathischen Konstitution, meist mit dem Vorwalten hysterischer Züge, entstanden waren. »Es gibt nur eine meist unbeständige hysterische Form der Misopädie, die hinüberleitet zu den Unstimmigkeiten zwischen Eltern und Kindern, die man noch in der Breite der Gesundheit beobachtet«. Bei dieser spielt oft auch die Eifersucht auf die jüngere, reizvollere Tochter eine Rolle. Weit ausgesprochener ist der krankhafte Charakter bei der anderen Form, bei der der Haß sich schon gegen das neugeborene Kind, ja gegen die Frucht im Mutterleibe richtet. Oppenheim verfügt nur über zwei Beobachtungen dieser Art, in denen die Misopädie zu den ausgeprägtesten und dauerhaftesten Erscheinungen der psychopathischen Konstitution gehörte, und zwar bei Frauen, die keineswegs ethisch minderwertig und auch durchaus nicht gefühlsstumpf im allgemeinen waren.

Nach den Oppenheimschen Ausführungen könnte es so scheinen, als ob bei Hysterischen immer der in unglücklicher Ehe angesammelte Haß sich nun auch gegen das ungeborene Kind entlädt. Eine eigene Beobachtung einer Hysterischen lehrte mich aber, daß auch das Streben allein, kein Kind von dem ungeliebten Mann zu haben, die Schwangerschaft peinlich empfinden läßt, die Schwangerschaft von einem anderen Manne aber sogar ersehnt wurde. Schon der Gedanke, ein Kind des Mannes in die Welt zu setzen, der sie durch Jahre unsagbar gemartert hatte, war dieser Frau so quälend, daß sie kein Mittel zur Unterbrechung der Schwangerschaft unversucht ließ und die Unterbrechung auch schließlich erreichte. Indem sie einem bekannten Frauenarzt schwere Blutungen vorgab, bewirkte sie den ersehnten Eingriff. Nur brachte die mikroskopische Untersuchung, die der naiv vertrauende Frauenarzt zur Sicherung seiner Diagnose ausführen ließ, das für ihn höchst überraschende Ergebnis einer Decidua. Hier war von keinem Haß gegen das Kind die Rede. Diese Hysterische schrie, wenn man diesen modernen Ausdruck anwenden darf, sogar nach einem Kinde, und so leicht man geneigt sein könnte, das doch unbedingt skrupellose, lügnerische Vorgehen, um eine Schwangerschaftsunterbrechung zu erzielen, als schweren ethischen Defekt zu stempeln, es wäre durchaus falsch. Denn als Mensch war und ist diese seit vielen Jahren bekannte Frau eines der prächtigsten, gemütstiefsten, opferwilligsten Geschöpfe. Nur eine durch Schuld des Gatten tief zerrüttete Ehe konnte sie im geschilderten Falle zu solchem, von der Öffentlichkeit als Verbrechen bewerteten Vorgehen bewegen.

Höchst beachtenswert und vielleicht den psychischen Entstehungsmechanismus des Seelenvorgangs aufhellend, kann die Tatsache sein, daß auch in glücklichster Ehe gleichartige Misopädie vorkommen kann. Wenigstens berichtet im Anschluß an den Oppenheimschen Vortrag Schuster von einer Erfahrung, wo eine junge Frau von ihrem Gatten, mit dem sie sehr glücklich lebte, wegen Einleitung eines künstlichen Abortes zum Nervenarzt gebracht wurde. Sie hatte von Beginn der Schwangerschaft an – es war die erste Schwangerschaft – einen unbändigen Haß gegen das keimende Leben in ihrem Leibe. Sie versuchte, sich selbst zu verletzen, stieß sich gegen den Leib usw., nur um die Frucht zu schädigen. Sie erklärte ohne Unterlaß, daß sie das Kind, falls es zur Welt komme, umbringen würde. Dabei konnte sie ihren Haß in keiner Weise begründen. Sie scheute auch keineswegs die Mühen der Schwangerschaft und die Schmerzen der Entbindung, fürchtete auch keineswegs eine Verminderung der Liebe ihres Mannes durch das Kind. Schuster fand eine Psychopathie und Hysterie und verweigerte natürlich die Einwilligung zur Einleitung des Abortes.

In der Diskussion zeigte es sich, daß der eine das Fehlen des natürlichen Triebes der Mutterliebe oder seine Umkehr ins Gegenteil als Teilsymptom der auch sonst bei Psychopathie nachweisbaren Störungen des Gefühls- und Willenlebens ansah ( Stier), der andere annimmt, daß der Boden der psychopathischen Konstitution, der manisch depressiven Anlage, der Schizophrenie, jedes in seiner Art zur Erscheinung des Kinderhasses führen könne. ( Bonhoeffer.) »Daß sich die hysterische Antipathie gegen den Erzeuger oder gegen die Konzeption auf das Kind überträgt, dürfte wohl die häufigste Form sein«. Gelegentlich sah Bonhoeffer, daß die Konzeption während einer periodischen Depression als Steigerung des Gefühls der Interessenabstumpfung zu einer ausgesprochenen Abneigung gegen das Kind führte.

Umgekehrt soll eine Melancholie als Schutz gegen die Heirat einer heißgeliebten Tochter dienen können, wie Stekel behauptet. (Flucht in die Krankheit) S. 363.. Eine hohe Sechzigerin war mitten in den Vorbereitungen zur Hochzeit ihrer auffallend schönen Tochter an Melancholie erkrankt. Die Vorbereitungen wurden unterbrochen. Man durfte zu der alten Frau überhaupt nicht von der Hochzeit reden. Immer erwiderte sie: »Solange ich so schwer krank bin, habe ich keinen Kopf für die Hochzeit und kann mich um die Vorbereitungen nicht kümmern. Die Hochzeit muß aufgeschoben werden, bis ich vollkommen gesund bin«. Des Nachts konnte sie nur ruhig liegen, wenn das geliebte Kind bei ihr war, sie hielt sich krampfhaft an und ließ sie nicht eine Sekunde los. Bei der Schilderung der Nacht sagte die intelligente Dame: »Ich erzähle es Ihnen ohne Beschönigung, ich greife sie an, wo ich sie gerade erwischen kann, hinten oder vorn, am liebsten möchte ich in sie ganz hineinkriechen.« Hier wird die unbewußte starke sexuelle Liebe als schwere Schuld empfunden. Sie weiß es, daß sie egoistischerweise das Lebensglück ihres Kindes vernichtet. Die Verlobung löste sich auf, da der ungeduldige Bräutigam nicht so lange warten wollte. Natürlich machte sich die Dame Vorwürfe, sie hätte das Glück ihrer Tochter zerstört. Der Selbstmord des Exbräutigams steigerte die Krankheit derart, daß Suizidversuch auf Suizidversuch folgte und das liebe alte Mütterchen interniert werden mußte.

Henneberg betonte, daß Abneigung und Haß gegen das Kind unter sehr verschiedenen, keineswegs immer krankhaften Bedingungen vorkommen. Häufig ist die Abneigung gegen das voreheliche Kind, wenn es nicht vom Ehemann stammt. Die Fälle sind von forensischer Bedeutung, da die Abneigung zu dauernder Mißhandlung, selbst zur Tötung führen kann.

Es besteht also die Tatsache, daß Haß gegen das eigene Kind – außer in Fällen ausgesprochener Geisteskrankheit – unter sehr verschiedenen Bedingungen vorkommt. Wenn dieser Haß als krankhaft bezeichnet wird, so trifft das keineswegs in jedem Falle zu. Wir müssen um so vorsichtiger über derartige auffällige Empfindungen Schwangerer gegenüber dem ungeborenen Kinde urteilen, als wir über die tatsächlichen Empfindungen Schwangerer nichts wissen. Mit dem Wort »natürliches Muttergefühl« ist eine Naturnotwendigkeit ausgesprochen, die noch bewiesen werden muß, zum mindesten in beweiskräftiger Allgemeingültigkeit, und auch die angeblich häufig beobachtete Abneigung der unehelich Schwangeren gegen das Ungeborene bedarf noch des Beweises. Man tut deshalb gut, die Grenzen der Empfindungsskalen Schwangerer vorläufig weitherzig zu ziehen, zum mindesten bis ausreichende, vollgültige Untersuchungen über das Muttergefühl Schwangerer vorliegen. Diese durchaus nötige Untersuchung hat Siegel in seiner Arbeit »Die Freude am zu erwartenden Kinde« in dankenswertester Weise vollführt und damit einen wertvollen Beitrag zur Psychologie der Schwangeren geliefert Archiv f. Frauenkunde und Eugenetik. Bd. 4, Schlußheft.. An tausend schwangeren Frauen aus dem Stande II-VI der Bevölkerungsschichten Badens hat Siegel entsprechende Fragen gerichtet, und das Ergebnis?:

Selbst bei den verheirateten Schwangeren zeigen noch 24 Prozent Gleichgültigkeit oder gar Abneigung gegen das lebende Wesen in ihrem Innern. Darunter figurieren 5,3 Prozent mit Gleichgültigkeit, 18,7 Prozent mit Abneigung.

Das ist eine ungemein überraschende, soziologisch bedeutungsschwere Tatsache, und sie fällt noch schwerer ins Gewicht, wenn man Siegels Abstufungen nach Schwangerschaftszeiten betrachtet. Danach zeigten 8,8 Prozent der Verheirateten im ersten bis vierten Schwangerschaftsmonat Gleichgültigkeit, 33,6 Prozent Abneigung. Diese erschreckende Tatsache mildert sich dann mit vorschreitender Schwangerschaft. Immerhin bleiben noch im Endstadium 1,9 Prozent gleichgültig, 5,9 Prozent gegen das Kind feindlich. Diese erschreckende Tatsache, erschreckend besonders, weil es sich um Eheliche handelt, wird durch die Schlußfolgerung Siegels keineswegs gemildert, daß doch »in der Mehrzahl der Fälle die Freude auf das zu erwartende Kind größer sei als die Nichtfreude, ebensowenig durch die Feststellung gemildert, daß die Freude der Ehelichen mit vorschreitender Schwangerschaft steigt. Das Untersuchungsergebnis ist unerwartet und bleibt äußerst betrübend. Es hätte nicht überrascht bei den unehelich Geschwängerten, doch seltsamerweise zeigt von diesen noch mehr als die Hälfte Freude am kommenden Kinde – 52,4 Prozent. Immerhin verhielten sich von ihnen 12,7 Prozent gleichgültig, 34,9 Prozent abgeneigt. Dieses Ergebnis wider Erwarten erscheint nur in etwas anderer Beleuchtung bei einer Aufstellung nach Schwangerschaftszeiten. Hierbei zeigten sich 69,5 Prozent im ersten Drittel der Schwangerschaft dem Kinde feindlich, noch 45,7 Prozent im zweiten Drittel der Schwangerschaft feindlich, und erst in den letzten Schwangerschaftsmonaten sind es nur 15,6 Prozent der unehelich Geschwängerten, die dem Kinde abgeneigt sich zeigten.

Welche Gründe immer für die ausbleibende Freude am Kinde bestehen, – und Siegel nennt deren eine größere Anzahl, – es bleibt als erschreckendes Ergebnis, daß das als selbstverständlich angenommene naturgegebene Muttergefühl oft, viel zu oft ausbleibt, zum mindesten sich mit Schwangerschaftsbeginn nicht naturgegeben regt, und dieses Ergebnis wird auch nicht durch Siegels Feststellung gemildert, daß Gleichgültigkeit und Widerwillen gegen das Kind aus der ersten Zeit der Schwangerschaft sich bei manchen Frauen gegen Ende der Schwangerschaft in Freude wandelt, bei Verheirateten wie Unverheirateten. Das erschreckende Ergebnis wird auch durch die seltsame Erfahrung Siegels nicht in ihrer Gültigkeit abgeschwächt, daß von acht Ledigen, die von Kriegsgefangenen geschwängert worden waren, sechs sich am Ende der Schwangerschaft doch auf das Kind freuten, »obwohl für sie die Verhältnisse sehr viel schwieriger lagen, obwohl sie dem Prozeß mit ihrer Verurteilung zu mehreren Wochen Gefängnis noch entgegensahen oder schon verurteilt waren. Hier war tatsächlich das Muttergefühl siegreich zum Durchbruch gekommen«.

Siegels höchst beachtenswerte Feststellungen würden noch an Wert gewonnen haben, wenn ein Nervenarzt die Schwangeren mit untersucht hätte. Dann hätte die interessante Feststellung, daß in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft die erwachenden Gefühle und Instinkte mächtig alle Rücksichten auf die Außenwelt beiseitezuschieben vermögen, erst die wünschenswerte psychische Reflexspiegelung erfahren. Für unsere Betrachtung lehrt die Untersuchung warnend, nicht alsbald bei jeder Abneigung einer Schwangeren gegen das Kind krankhafte Bedingungen zu wittern. Immerhin wird man ausgesprochenen Haß bei vorhandener psychopathisch-hysterischer Konstitution als krankhaft bezeichnen müssen, und sicherlich dann, wenn er bei glücklicher Ehe unverständlich, motivlos erwächst. Mit der Feststellung der Tatsache, daß eine Misopädie existiert, selbst außerhalb ausgesprochener Geistesstörung, ist aber über den psychischen Mechanismus ihrer Entstehung nichts gesagt, und die Erklärung, daß das Gefühl der Interessenabstumpfung während einer periodischen Depression, wenn innerhalb dieser eine Schwangerschaft einsetzt, sich bis zur ausgesprochenen Abneigung gegen das Kind steigern kann, bringt uns nicht weiter. Wenn aber Oppenheim meint, daß Freudsche Mechanismen bei der Entstehung eine Rolle zu spielen scheinen, Bonhoeffer bestimmter kompliziertere psychologische Verhältnisse im Sinne Freuds als vorliegend annimmt, so erscheinen mir diese Vermutungen sicher. Doch welche Mechanismen liegen hier vor?

Es scheint mir, daß die Freudsche Lehre immer noch zu wenig beachtet wird, und das geschieht sicher zum Schaden der Aufhellung dunkler Seelenphänomene. Die Lehre existiert und wird durch Nichtbeachtung sicherlich nicht aus der Welt geschafft. Es sollten aber ihre fanatischen Vertreter nicht bitter über Nichtbeachtung oder auch über »Wegeskamotierung ihrer Gedankenvorgänge ohne Quellenangabe« klagen können. So ist es sicherlich nicht ersprießlich, wenn Stekel den Vorwurf erheben kann, daß Hoche »sich offenbar nicht die Mühe genommen, die erste Auflage dieses Buches zu lesen, er hätte doch manchen Gedanken gefunden, der sich dann auf sonderbaren Umwegen Eingang in die offiziell anerkannte Literatur verschafft hat«. Es ist auch sicherlich nicht ersprießlich, wenn derselbe Autor einem Manne wie Oppenheim, der wenigstens zugibt, daß er »die Stekelsche Broschüre einer sorgfältigen Durchsicht gewürdigt habe«, zuruft: »Warum keine Nachprüfung?« Nicht unangebracht ist es auch, wenn Stekel zu dem Wort »Broschüre« sic! in Klammern hinzufügt, wohl um das wenig geeignete Wort »Broschüre« für sein voluminöses Werk zu kennzeichnen Stekel, S. 3, Anmerkung.. Es ist dieses Verhalten nicht ersprießlich, weil gerade Stekel in geistvollster Weise die psychischen Mechanismen von hysterischen Symptombildern zu enträtseln sucht und, mag man seine Deutungsversuche anerkennen oder nicht, unsere Erkenntnis wesentlich bereichert hat. So unterscheidet er die Konversionshysterie, d. h. die Umsetzung eines psychischen Elementes in ein körperliches Symptom, und die Angsthysterie, bei welcher die psychische Erregung in die Angst als einziges Symptom konvertiert wird. In der Psychogenese findet er immer die Verdrängung. »Unsere Wünsche sind wie revenants, die Hoffnungen werden begraben, und mit ihnen die unausgesprochenen Wünsche unter die Decke des Bewußtseins verdrängt. Aber sie pochen immer wieder an die Wände ihres Gefängnisses und verlangen hinaus. Wenn wir dieses Pochen der unterirdischen Wünsche hören, erfaßt uns die dumpfe Angst« Stekel, S. 188..

Jedenfalls haben wir nach den mitgeteilten Ergebnissen der Psycho-Analyse keinen Zweifel, daß hinter solchen Phobieen mächtige Verdrängungen lagern, deren Auffindung vielleicht sogar die Heilung bringen kann. Am nächstliegenden scheint mir für die geschilderten Fälle, daß der andauernd bestehende und ständig weiter genährte Haß gegen den Gatten wohl sich entladen, doch – vielleicht – nicht in affektbetonten Handlungen, wie sie glühender Haß aussinnt, und diese verdrängte Affektkomponente konvertiert sich in den Haß gegen das Kind. Wo der Haß gegen das Kind in glücklicher Ehe und bei bestehender Sehnsucht nach einem Kinde zwangsartig auftaucht, würde vielleicht die Analyse andersartig verdrängte Wünsche aufdecken, die eben in diese groteske Form konvertiert wurden, durch die bestehende Schwangerschaft mit ihrer den Gesamtorganismus beeinflussenden Ausstrahlung gerade auf den graviden Uterus und seinen Inhalt gelenkt wird und so zu einer scheinbaren Umkehr der natürlichen Muttergefühle führt.

Besonders verhängnisvoll als Mutter wird der »Noratyp«, die nie verstandene Frau, die Gruhle als zweite Spielart des hysterischen Charakters nennt.

»Sie hat eigentlich alles, was nach allgemeinem Urteil ihr Herz fröhlich machen könnte, hat äußeren Wohlstand, einen liebenswürdigen, tüchtigen Mann, gesunde, nette Kinder, aber sie zeigt es allen deutlich, daß das noch nicht für sie das Rechte ist. Der Mann ist ihr zu unkompliziert, zu bieder, er weiß nicht, was er an ihr hat. Die Kinder mögen ja ganz lieb sein, aber einmal kann sie doch nicht in der Tätigkeit eines Kinderfräuleins ihre Lebensaufgabe sehen, und sodann sind sie doch wiederum nur zu bedauern, daß sie eine so leidende Mutter haben. Zudem ist sie verurteilt, in der kleinen Stadt zu leben, wo sie keinen Kreis findet, der ihren Interessen, Gaben und Ansprüchen entspricht. Sie hegt den größten Teil des Tages wegen quälender Kopfschmerzen auf dem Ruhesofa ... Sexuell ist sie meist frigid. Sie hat einen Hausfreund, der auf ihrem kulturellen Niveau steht, mit dem sie subtile Gedanken und künstlerische oder weltanschauungsmäßige Probleme austauscht. Sie schreibt ihm die reizendsten Briefe, voll amüsanter Einfälle und geistvoller Bemerkungen. Gelegentlich einmal besucht sie »ihrem Mann zuliebe« Bälle und Feste, ist dann schön, strahlend heiter, voll Leben und Gesundheit. Alle Fernstehenden sind von ihr bezaubert. Das Dienstpersonal haßt sie. Der Mann geht an ihr schier zugrunde, wenn es ihm nicht rechtzeitig gelang, sich innerlich ganz von ihr zu lösen.«

Nicht ein Wort, nicht eine Linie möchte ich dem Gruhleschen Bild der hysterischen Spielart hinzufügen. Dieser Noratyp existiert, kommt häufiger vor, als man erwarten sollte, und muß sozial verhängnisvoll werden, ein Unglück für Mann, Kinder und weitere Umgebung. Und ob die sexuelle Frigidität, wenn sie wirklich bei diesem Typ besteht, dauernd wirksam vor Abirrungen abenteuerlichster Art schützt, möchte ich gelinde bezweifeln. Der Seelenfreund als Anfangserscheinung ward leicht zum wirklichen Verführer, um so leichter, je degenerierter der Grundcharakter solcher Hysterika ist. Das vermeintlich entbehrte, scheinbar grausam vorenthaltene Anrecht auf Lebensglück erscheint ihr immer zwingender, die hemmenden Gegengründe werden immer schwächer und schweigen bald ganz.

Soziologisch besonders verhängnisvoll wird das Geschlechtsleben Hysterischer, sobald es infolge Lockerung oder gar Wegfalls der ethischen Hemmungen mit der ungestümen Wucht des ungezügelten Zwangstriebes sich entlädt. So muß die Ehe in Trümmer gehen, wenn auch oft erst nach verschieden lang währender Scheinexistenz. Die Ehe wird zu einem Martyrium. Je nach seiner persönlichen Eigenart wird der Ehemann zum stillen, stummen Dulder, er sucht in der Arbeit Vergessenheit und Betäubung, spielt der Außenwelt ein Scheindasein vor, wenn möglich fraglosen Glückes, nur um niemanden die ganze Furchtbarkeit seines Lebens schauen zu lassen. Alle Liebe sucht er, wenn Kinder vorhanden sind, an ihnen zu betätigen. Sie sucht er zu schützen, in ihrem Werdegange vor tiefgreifenden, folgenschweren Erschütterungen zu bewahren. Ihnen weiht er jede freie Minute, solange es geht. Oft genug leistet er eine kaum faßbare Arbeit in der Doppelrolle, Pflichterfüllung im Beruf und Pflichterfüllung im eigenen Hause. Er leistet sie oft erstaunlich lange, bis die Kraft doch versagt, und die ständig qualvoller werdende Hölle die letzten trübseligsten Entschließungen fordert. Und wenn er endlich den entscheidenden Entschluß gefaßt hat, wenn er endlich die Kette zu zerreißen strebt, die er allzu lange trug, dann ... erst beginnt der Höhepunkt des Leidens, die Marter im Kleinkrieg, der durch Monate und Jahre geführt wird und mit intensivster geistiger Anspannung geführt werden muß, der Kampf gegen schablonisierende Gesetze, der Kampf mit dem nur zu oft erkennbaren Mangel an Lebenskenntnis bei dem Richter, der von der hysterischen Eigenart und ihrer verhängnisvollen Wirkung auf die Umwelt nichts weiß. So versagt auch oft genug der Befreiungskampf. Die impulsiven Handlungen bringen immer mehr Personen ins Wanken, lockern immer weitere soziale Bande, bis der Eklat mit endgültigem Untergange abschließt.

Soziologisch unheilvoll, wie das Geschlechtsleben selbst, müssen aber alle die Ersatzhandlungen werden, mögen sie nun pseudologischen Phantasien, impulsiven Trieben oder Dämmerzuständen entspringen. Nur eine Frage des Zufalls ist es ja, wenn ein Phantasielügner entlarvt, ein Diebstahl, eine Brandstiftung entdeckt wird, eine Handlung im Dämmerzustand fremde Interessen berührt, oder den Täter selbst schädigt.

Birnbaum spricht direkt von einer Stufenleiter wachsender Gemeingefährlichkeit, beginnend mit der hysterischen schlaffen Natur, die sich traumverloren mit dem Spiel ihrer Phantasie begnügt, und schließend mit jenen exquisit unsozialen und antisozialen Neigungen, wie man sie unter den aggressiven Liebesverfolgerinnen findet. Lehrreicher kann die Gefährdung fremder Ehre und fremder Rechtsgüter kaum illustriert werden als durch den Fall »Schwester H. v. Ronbys« Arch. d'anthr. crim. Zitiert nach Raimann. Hysterische Geistesstörungen. Wien 1904..

Eine schwere Hysterika knüpfte ein Liebesverhältnis an, verführte ihren Liebhaber und verfiel beim Geschlechtsverkehr in einen Schlafzustand, so daß der Mann sich zurückzog und eine andere heiratete. Wütend darüber, denunzierte sie den Mann und seinen Bruder, Weinreben abgeschnitten zu haben, und setzte seine Verurteilung durch, da sie sich als Augenzeugin anbot. Nachher verleumdete sie die ganze Familie. Ein Jahr später kommt sie verwundet und denunziert den Onkel ihres Geliebten des Mordversuches, setzt auch dessen Verurteilung durch. Danach versucht sie dasselbe gegen einen anderen Onkel, der sein Alibi beweisen konnte. Dann spielt sie einige Zeit die Rolle einer Heiligen. Dann wieder legt sie Feuer an ihr Haus, schneidet einer Kuh die Euter ab und denunziert wieder ihren Liebhaber. Diesmal ging es ihr schlecht, und sie muß flüchten. Sie wird später wegen Diebstahls verurteilt und schließlich wegen Giftmordes lebenslänglich eingekerkert.

Immer und immer wieder sind es die sexuellen Begierden und ihre Störungen, die sexuell besonders bedenklich werden ...

Vergegenwärtigt man sich angesichts dieses Einzelvorkommnisses von allerdings ausnahmsweise Ungeheuerlichkeit die kaum übersehbaren Schädigungs- und Gefährdungsmöglichkeiten Unbeteiligter, und berücksichtigt man weiter die Angaben eines Mannes von der ungewöhnlich reichen Erfahrung Brouardels, wonach 60 bis 80 Prozent aller Anzeigen wegen Sittlichkeitsverbrechen unbegründet sind, so kann das Geschlechtsleben Hysterischer vom sozialen Gesichtspunkt aus gar nicht ernst genug bewertet und eingeschätzt werden.

Die soziologische Forderung aus der verhängnisvollen Tragweite all der vielgestaltigen Beziehungen, die das Geschlechtsleben Hysterischer und seiner Ersatzhandlungen mit sich bringen kann, ist:

Verhinderung oder Ausmerzung dieser der menschlichen Gesellschaft drohenden Schädigungsmöglichkeiten.

Die Forderung wird erfüllt durch rechtzeitige, sachgemäße, kritische Würdigung der Persönlichkeit, durch rechtzeitige Hinderung ihrer etwaigen Heirat und, wenn die Heirat nicht zu hindern ist, durch Ausschaltung jeder Fortpflanzung, die bei der bekannten Vererbungstendenz hysterischer Anlage besonders zu beachten ist. Die zwei erstgenannten Einwirkungsmöglichkeiten gestatten dem ärztlichen Berater nur freimütige Äußerungen soziologisch beachtenswerter Wünsche. In einem anderen Werke sagte ich unumwunden Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit. Thieme, Leipzig 1918, S. 249.:

»Die Gefahr der Übertragung besteht und läßt es dringend wünschenswert erscheinen, daß schwer Hysterische und auch Individuen mit ausgesprochen hysterischem Temperament nicht heiraten. Wenn auch der ehemalig unerschütterliche Fundamentalsatz von der »Hysteria mendax« nicht mehr vollgültig ist, wenn auch die ehedem berüchtigten Charakterqualitäten: Verlogenheit, Verleumdungssucht, Intrigieren, Egoismus, nicht vereint erscheinen müssen, so bleiben doch hinreichend viel Charaktereigentümlichkeiten bestehen, die in der Ehe unheilvoll wirken können. Es handelt sich eben um schwere krankhafte Veränderungen oder Entartungen des seelischen Lebens mit Erkrankung des Gefühls- und Vorstellungslebens, von denen die zahlreichen körperlich-nervösen Störungsfolgen nur Teilerscheinungen, Ausschnittsbilder in der bekannten kaleidoskopisch wechselnden Form vorführen. Gerade weil Eltern oft genug das Leiden der Tochter zu verbergen suchen, sollte der Arzt als Berater warnen, soviel und so nachdrücklich als es ihm möglich ist. Wenn v. Hößlin der Einfluß der Schwangerschaft auf Hysterie gering, erscheint, und er die Seltenheit der hysterischen Lähmung betont, so mag das wohl zutreffen, es bleibt aber immer zu bedenken, daß die neuartigen Erlebnisse der Ehe unberechenbar sind und bleiben. Daher kann die Eignung einer Hysterischen zur Ehe nur nach den allgemeinen Erfahrungen beurteilt werden, und diese lauten nicht befriedigend.«

Sie lauten auch nicht befriedigend nach der Rolle, die das Geschlechtsleben der Hysterischen in der Ehe spielt. Gewiß fehlen uns noch alle verläßlichen Grundlagen zu sicherem Urteil, ob und namentlich wie weit die Hysterie ehezerstörend wirkt. Selbst die häufigste, jedem Arzt entgegentretende Frage, ob die Ehe das Leiden bessern könne, – erklärte ich an der erwähnten Stelle – -, läßt sich nicht so geringschätzig und verneinend ablehnen, wie wir es früher tun zu müssen glaubten. Eigene Erfahrung lehrte mich, daß Mädchen mit hysterischen Anfällen und Absenzen gute und pflichttreue Mütter werden können und ihre hysterischen Erscheinungen los wurden. Ob dauernd, muß allerdings dahingestellt bleiben. Es ist auch immer zu bedenken, – Strohmayer betont es mit Recht –, daß es zahlreiche Hysterische gibt mit einem Charakter ohne Fehl und Tadel, ohne jeden moralischen Defekt, bei denen trotz jahrelangen Bestehens hysterischer Anfälle und schwerster interparoxystischer Symptome eine psychische Degeneration ausbleibt l. c. S. 840.. Immerhin bleiben wohl die Erklärungen bestehen, daß schwer Hysterische nicht heiraten sollen, da der Sexualverkehr keineswegs bessernd zu wirken braucht, ja sogar unberechenbare, vorher nicht zu beurteilende Schädigungen verursachen kann, Schädigungen, die um so weniger prophetisch abschätzbar sind, weil unter Hysterischen Personen jeder Eigenart sich finden.

Nach dem Volksglauben muß allerdings ein hysterisches junges Mädchen heiraten, wenn die Beschwerden aufhören sollen. Zweifellos ist diese Annahme häufig zutreffend. Die neue Umgebung, der neue Arbeitsbereich, die neuen Interessen können segensreich wirken. Gruhle wünschte aber das Handeln des Arztes danach bestimmt, ob die hysterischen Störungen erst in der Brautzeit auftraten, oder schon seit vielen Jahren bestanden, als Offenbarungen einer erheblichen hysterischen Anlage. Im ersteren Falle, wo bei dem Warten auf die noch unbekannten und phantastisch ausgemalten und ersehnten Erlebnisse die immer gereizte und noch nicht befriedigte sexuelle Spannung oft geradezu hysterisierend wirkt, kann die baldige Heirat alle Erscheinungen zum Verschwinden bringen. In diesen Fällen soll der Arzt »kein Bedenken tragen, zu baldiger Heirat zuzureden«, meint Gruhle l. c. S. 98.. Ich möchte mich vorsichtiger verhalten und von jedem Zureden, auch in diesen Fällen, abraten. Welcher Arzt kann prophetisch voraussagen, ob nicht schon die Hochzeitsnacht mit ihren, selbst bei sachgemäßer Belehrung des Ehegatten, oft unberechenbaren Zufällen neue reizverstärkende Wirkungen auf das hysterische Nervensystem ausübt. Wer will die unübersehbare Wirkung des fortgesetzten, oft möglichst unzweckmäßig betriebenen Sexualverkehrs einschätzen? Oder gar die Wirkung einer bald beginnenden Schwangerschaft? Darum Vorsicht in der ärztlichen Beratung auch bei diesen, prognostisch günstig zu beurteilenden Fällen, damit nicht der Arzt schließlich die Schuld trage!

Klarer, wenn auch durchaus nicht zweifelsfreier, ist die Stellung des Arztes bei der zweiten Möglichkeit, wo die hysterischen Symptome seit vielen Jahren als Offenbarung einer erheblichen hysterischen Anlage bestehen. »Selbst wenn diese Störungen«, sagt Gruhle, »nach der Hochzeit einige Zeit verschwinden sollten, so kommen sie meist später wieder hervor und zerstören nun nicht nur das Wohlbefinden der Erkrankten selbst, sondern auch das des Mannes und der Kinder. Eine unglückliche Ehe, ein zerrüttetes Familienleben ist dann schließlich die Folge des ärztlichen Rates zur Heirat.«

Gewiß entspricht dieses Urteil im großen und ganzen der ärztlichen Erfahrung, doch Ausnahmen sind auch hier möglich, sind besonders fatal, wenn der Arzt sich zu apodiktisch geäußert hat, und nur zu leicht muß dann der Arzt seinen Irrtum schwer büßen. Deshalb, so wünschenswert es auch ist, wenn ärztliche Ratschläge bestimmt lauten, ist die Mahnung zur Vorsicht auch in diesen Fällen am Platze, um unberechenbaren Wechselfällen der hysterischen Grundnatur Rechnung tragen zu können.

Ob bei solcher Sachlage das Heiratszeugnis Das ärztliche Heiratszeugnis, seine wissenschaftlichen und praktischen Grundlagen. Monographien zur Frauenkunde. 1921 Leipzig, Kabitzsch., das neuerdings ernstlich angestrebt wird, Segen stiften wird, läßt sich nicht bestimmt voraussagen. Solch Zeugnis soll nicht Erlaubnis oder Verbot einer Ehe bringen, nur die Kenntnis der eigenen gesundheitlichen Eigenart und deren Bedeutung für eine Ehe, und überläßt es, aus dem vorliegenden Material die persönliche Nutzanwendung zu ziehen, – und zwar zunächst nur jeder für sich selbst. Nur mit Einverständnis des Partners auch über dessen gesundheitliche Eignung. Welche Hoffnungen solch Vorgehen erweckt, hat Max Hirsch, der energische Vorkämpfer zur Verwirklichung des eugenetischen Entwicklungsgedankens, letzthin klar und überzeugend geschildert.

War die Heirat nicht zu verhindern, so sollte die Frage der künstlichen Unfruchtbarkeit wohl ventiliert werden. Ob und wie weit sie ausführbar ist, kann der Arzt allerdings nicht voraussagen. Zumeist wird er sich an seiner Beraterpflicht genügen lassen müssen und es den Beteiligten anheimgeben, wie weit sie den ernstgemeinten, im Interesse der Allgemeinheit wünschenswerten Rat befolgen wollen, und vor allem, mit welchen Mitteln sie es wollen. Nachdrücklichst betont Max Hirsch in seinem grundlegenden Werke »Fruchtabtreibung und Präventivverkehr im Zusammenhang mit dem Geburtenrückgang« Kabitzsch, Würzburg 1914., daß Arzt und Hygieniker in theoretischer und praktischer Arbeit dem großen Ziel zustreben, »den Menschen vor den seiner Gesundheit drohenden Gefahren zu schützen, sein Leben zu verlängern. Dies und nicht mehr wird auch der Volkshygieniker und der Sozialpolitiker anstreben dürfen: Schutz der Volksgesundheit, Erhöhung seiner Lebenskraft, Verlängerung seiner Existenz! Damit ist schon angedeutet, wie falsch es ist, die Frage der Volksvermehrung rein quantitativ zu fassen. Wenn es sich auch zahlenmäßig nicht nachweisen läßt, so möchte ich doch behaupten, daß die Existenz eines Volkes viel mehr durch gute Eigenschaften als durch die Größe der Zahl seiner Glieder gewährleistet wird. Die Geschichte untergegangener Völker läßt die körperliche, sittliche und geistige Entartung als eine zum mindesten ebenso bedeutungsvolle Ursache ihres Todes erkennen, wie die Abnahme ihrer Zahl. Und wenn auch beide Momente, Abnahme von Zahl und Lebenskraft, im kausalen Abhängigkeitsverhältnis voneinander stehen und sicher standen, so haben sie doch auch ihre eigenen, voneinander unabhängigen Beziehungen.« Hirsch bekennt sich hiermit klar, freimütig zu gleicher Ansicht, wie ich sie im Vorwort meines Buches »Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit« Sammelwerk. Georg Thieme. Leipzig. 1919. aussprach.

»Wenn in diesem bedeutungsvollen Augenblick des Wiederaufbaues unseres Volkes auch die Frage sich aufdrängt, ob wohl mit dem alleinigen Alarmruf nach quantitativer Volksmehrung und mit den vielfältigen verdienstvollen Bestrebungen nach ihrer Verwirklichung das Hauptziel voll erreicht wird, wenn in solchem Augenblick auch die Nebenfrage schüchtern und doch zwingend auftaucht, daß neben der quantitativen Mehrung die qualitative Weiterentwicklung und Höherzüchtung berücksichtigt werden und mit ihr Hand in Hand gehen müsse, so ist das nicht verwunderlich. Sogar der rebellische Gedanke erscheint in solchem Augenblick berechtigt, daß eine einschränkungslose, allein quantitative Mehrung keineswegs erwünscht sein kann, sobald Geschöpfe ohne Wahl auch als wertloser Menschenballast entstehen und ungeheure, für das Volksganze wieder verwendbare Werte entziehen dürfen« Max Hirsch gebührt das unbestreitbare Verdienst, die Frauenärzte zu bevölkerungspolitischer Arbeit ermahnt zu haben. Fand auch sein erster Weckruf 1911 noch nicht die verdiente Resonanz ( Hirsch, der Geburtenrückgang. Archiv f. Rassen- u. Gesellsch.-Biol. 1911, Heft 5), seine Monographie hat sie gefunden, und das von ihm herausgegebene Archiv f. Frauenkunde u. Eugenetik verwirklicht seine Bestrebungen in wirkungsvollster Weise..

Soll aber die qualitative Weiterentwicklung und vielleicht auch Höherzüchtung gewährleistet, zum mindesten eine qualitative Verschlechterung verhütet werden, so muß die Fortpflanzung degenerativ Hysterischer wegen der in ihnen schlummernden verhängnisvollen Vererbungstendenz unmöglich gemacht werden. Leider hilft zur Erfüllung des Zieles keine gesetzliche Handhabe. Nur tiefernste Ratschläge und Wünsche stehen dem Arzte im Interesse des Gemeinwohls zu Gebote. Das Endziel wäre schon erreicht, wenn der Präventivverkehr geübt würde. Er bleibt aber eine in der Wirkung recht zweifelhafte, von Zufallsmöglichkeiten abhängige Maßnahme. Weit sicherer wäre die Sterilisierung, doch ist sie nur mit Einverständnis beider beteiligten Parteien ausführbar. Die Einwilligung des Behandelten ist dann allerdings

»die einzige Rechtfertigung für den Arzt«,

wie v. Lilienthal Placzek, Sammelwerk. S. 493. in meinem Buche sagt.

»Ob sie dazu geeignet ist, hängt davon ab, ob der Staat die Berechtigung des Zweckes anerkennt. Einen Beweis dafür müßte man natürlich darin finden, daß der Staat solche Maßnahmen selbst anordnet. Dann wird er aber auch den Kreis der Zulässigkeit bestimmt haben, und darüber hinauszugehen, kaum gestatten. Fehlt es an solchen Vorschriften, so darf man eine Anerkennung der Berechtigung des Zweckes nicht darin finden, daß die Selbstverstümmelung straflos ist ... Der Zweck der Unfruchtbarmachung: die Vermehrung des Volkswertes, wenn auch auf Kosten der Volkszahl, ist jedenfalls in Deutschland vom Staate nirgends ausdrücklich anerkannt worden. Ob es stillschweigend geschehen, ist sehr fraglich. Der namentlich in jüngster Zeit lebhaft einsetzende Kampf gegen den Gebrauch von Empfängnis verhindernden Mitteln spricht recht stark dagegen. Aber so allgemein darf im Grunde die Frage gar nicht gestellt werden. Es kommt ausschließlich darauf an, ob im einzelnen Falle die Handlung rechtswidrig ist oder nicht, und das kann nur entschieden werden, je nachdem im einzelnen Falle die Voraussage der Schädlichkeit der Nachkommenschaft mit Sicherheit zu machen ist. Daß die zu behandelnde Person einer Gruppe angehört, aus deren Verein schädliche Fortpflanzungen möglich sind, genügt dazu natürlich noch nicht, denn zu der einen oder anderen dieser Gruppen gehören fast alle Minderwertigen im weitesten Sinne des Wortes ...«

v. Lilienthal rät in der Vererbungsvoraussage vom rechtlichen Standpunkt aus zu größter Vorsicht, weil erworbene Eigenschaften nach der herrschenden Meinung überhaupt nicht vererblich sind, nur Zustände und Krankheiten, die das Keimplasma verändert haben, aber auch bei solchen Plasmaschädigungen das Schicksal der Nachkommenschaft nicht von dem einen Erzeuger allein abhängig ist. Ob die von verhältnismäßig einfachen Verhältnissen ausgehenden Beobachtungen, die zu den Mendelschen Gesetzen führten, für den Menschen zutreffen, sei fraglich. Und wenn selbst der Beweis erbracht wäre, daß auch die menschlichen Eigenschaften mendeln, so wäre damit für die Voraussage im Einzelfall wenig gewonnen, da die Mendelschen Gesetze nicht Regeln ohne Ausnahme sind. Aus diesen und anderen Gründen glaubt v. Lilienthal annehmen zu dürfen, daß der Staat einstweilig die künstliche Unfruchtbarmachung des Einwilligenden nicht als berechtigte Handlung anzusehen in der Lage ist, und hält das auch für die Ansicht der meisten Juristen, die diese Frage behandelt haben. Selbst eine Änderung in einem zukünftigen Recht hält v. Lilienthal für keineswegs fraglos.

Sehen wir also unsere Bestrebungen zur Verwirklichung der negativen Auslese im Einzelfalle, sehen wir die Gangbarkeit der Wege zur Verhütung fortwirkender Degeneration, im gewissen Sinne also die Möglichkeit zu qualitativer Höherzüchtung, zur Zeit noch durch gesetzliche Fußangeln recht bedenklich gehemmt, müssen wir auch hieraus nüchtern wägend erkennen, daß unser bestgemeintes, von unanzweifelbarer ethischer Gesinnung im Interesse des einzelnen wie der Gesamtheit geleitetes Handeln uns strafbar machen kann, so sehen wir auf der anderen Seite die Tendenz unseres Handelns durch Einwände ins Wanken gebracht, welche die Übertragbarkeit der Darwinschen Grundlehren auf menschliche Lebensgebiete mit folgender Begründung erschüttern wollen:

»Die Auslegung der Lehre Darwins, die mit ihren Unbestimmtheiten so vieldeutig ist, gestattet auch eine sehr vielseitige Verwendung auf andere Gebiete des wirtschaftlichen, des sozialen und politischen Lebens. Aus ihr könnte jeder, wie aus einem delphischen Orakelspruch, je nachdem es ihm erwünscht ist, seine Nutzanwendung auf soziale, politische, hygienische, medizinische und andere Fragen ziehen und sich zur Kräftigung seiner Behauptungen auf die Wissenschaft der darwinistisch umgeprägten Biologie mit ihren unabänderlichen Naturgesetzen berufen. Wenn nun aber diese vermeintlichen Gesetze keine solchen sind, sollte da bei ihrer vielseitigen Nutzanwendung auf andere Gebiete nicht auch soziale Gefahr entstehen können?« So sagt Hertwig Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus. Gustav Fischer, Jena 1918..

Das ist ein bedenklicher Angriff gegen die Darwinsche Lehre und von einem sehr hervorragenden Forscher, der auch den blendenden Siegeslauf und die beherrschende Stellung der Darwinschen Lehre nicht abstreiten mag. Es ist ein Angriff gegen die Übertragung der Darwinschen Lehre auf den Menschen, und gerade die Auslese bezeichnet Schallmayer als »die vorwärtstreibende Kraft nicht nur bei der Entwicklung des Organismenreiches, sondern auch bei der kulturellen Entwicklung«.

Es kann und soll an dieser Stelle nicht kritisch gewertet werden, ob und wie weit die Darwinsche Lehre durch diesen Angriff, der in ungemein scharfsinniger und mit seltener Beherrschung des Materials verbundener Weise geführt wird, in ihren Grundlagen erschüttert ist oder zu erschüttern ist. Sache der Rassehygieniker wird es sein, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Richtig ist es, daß die Darwinianer strengster Observanz die modernen Einrichtungen der menschlichen Kultur als kontraselektorisch ansehen, d. h. als Hemmnis für Erfüllung der Forderung der auf dem unerbittlichen Kampf ums Dasein basierten Selektionstheorie, wenn diese rasseverbessernd werden soll. »Wie verträgt sich«, fragen sie, »mit Darwins Lehre die christliche Moral, ihr Mitleid mit den Schwachen und Elenden, ihre Barmherzigkeit für die Verbrecher, wie die immer zahlreicher werdenden Wohlfahrtseinrichtungen, welche das Leben von Kranken und dauernd Siechen erhalten und verlängern, so daß sie noch mehr Schwächlinge erzeugen und eine Quelle von neuem Elend und von weiterer Verschlechterung der Rasse werden können?« Von solchen Gesichtspunkten aus erblicken sie in den Fortschritten der ärztlichen Wissenschaft und der Hygiene, insofern sie die Ausscheidung aller Minderwertigen, das Gesamtwohl herabdrückenden Elemente verhindert, in den humanen Bestrebungen einer sozialen Gesetzgebung, in der Kranken-, Invaliden- und Altersversorgung eine Gefahr für die fortschreitende Entwicklung, der Menschheit, für die Steigerung der Tüchtigkeit unserer Rasse. Denn sie halten eine solche nur unter der Herrschaft des unerbittlichen Kampfes ums Dasein für möglich, wie es das Darwinsche Naturgesetz gebietet l. c. S. 26..

Schon infolge der übermäßigen Vermehrung der Lebewesen und des dadurch notwendig gewordenen Kampfes ums Dasein gehen die meisten zugrunde, und nur die am besten Abgeänderten, die Tüchtigsten bleiben zur Fortzucht der Art erhalten. Im Darwinschen Sinne ist ja die natürliche Auslese gleichbedeutend mit Zuchtwahl, führt zur Erhaltung und Ausbreitung der Tüchtigen durch vermehrte Nachkommenschaft im Verlauf der Generationen und erscheint als ein Mittel, durch akkumulatorische Wirkung ihre Vorzüge allmählich bis zur Bildung einer neuen Art zu steigern. Ob zur Erreichung dieses Zieles »eine geradezu übermenschliche Voraussicht« nötig ist, wie Hertwig meint, erscheint mir fraglich. Hertwig sieht in der »Auslese der Tüchtigen, der Zucht der Übermenschen, der Errettung des Menschengeschlechts von unheilbarer Degeneration, der Veredelung desselben durch eine Fortschrittsentwicklung zu schwindliger Höhe« nur Phrasen, sieht in ihnen nur »Unmöglichkeiten der Utopien eines Züchtungsstaates« Die Utopie will Wirklichkeit werden, wenigstens will die Menschenzuchtanstalt Mittgart bei Jena einen Menschengarten gründen, dessen Zweck sie in ihrem Programm folgendermaßen schildert:
»In dem Gehege des Menschengartens haben 1000 Frauen und 100 Männer Unterkunft gefunden, die durch Sachverständige unter Berücksichtigung des gesundheitlichen und gutgewachsenen Körpers ausgelesen worden sind. Diese elfhundert Menschenleiber sollen die ersehnten Edelmenschen züchten.«
Ein seltsames Bild, diese 100 Männer und 1000 Frauen, die in den Boxen der »Mittgart« lediglich der Kreuzungspflicht obliegen, um ein hervorragend kultiviertes Edelgeschlecht zu züchten!
. Müller-Lyer sieht in einer derartigen streng durchgeführten Eugenik die Möglichkeit, nach und nach ein Geschlecht heranwachsen zu lassen, »das sich zu der heutigen Gesellschaft, in der sich einfach jeder und jede fortpflanzt, verhielte wie die olympischen Götter zu den Insassen eines Siechenhauses« l. c. S. 176.. Allerdings glaubt auch er, daß »wir für eine absehbare Zeit an eine positive, aufbauende Zuchtwahl gar nicht denken« können, und wir uns glücklich schätzen müssen, wenn auch nur eine prophylaktische Auslese in die Wege geleitet werden kann, d. h. diejenige Form der künstlichen Zuchtwahl, durch die wenigstens die Männer und Frauen, die mit erheblichen vererbbaren Krankheiten und krankhaften Dispositionen behaftet sind, veranlaßt würden, sich der Fortpflanzung zu enthalten. »Schon dadurch würde eine Unsumme menschlichen Elends und Leidens aus der Welt geschafft werden. Drei Viertel aller Krankheiten, und gerade der furchtbarsten, würde durch diese wirksamste aller prophylaktischen Maßregeln der Boden entzogen, und das Menschenmaterial könnte aus dem tiefsten Grunde aufgebessert werden« l. c. S. 177.. Auch ich halte es zurzeit für vollkommen ausreichend, durch negative Auslese, und zwar eine denkbar gewissenhaft betriebene, prophylaktisch zu wirken. Das ist möglich und muß wohltätig werden, denn schon die Ausmerzung eines einzelnen Falles, dessen Nachkommenschaft ein unwillkommener, asozialer Ballast – asozial im weitesten Sinne genommen – werden muß, ist ein nicht hoch genug einschätzbarer Gewinn, und als solchen Gewinn rechne ich auch die Verhinderung der Fortpflanzung jeder degenerativen Hysterie, der zumeist schon die unumgänglichen Qualitäten jeder Elternschaft fehlen für die Erziehung des voll gesunden Kindes, geschweige denn für erblich schwer entartete Sprößlinge.

Gewiß läßt unsere Kenntnis der Vererbungsgesetze noch viel zu wünschen. Gewiß wird sie auch niemals die apodiktische Untrüglichkeit in der Voraussage ermöglichen, doch sie hat einen Stand erreicht, der mit Strohmayer aussprechen läßt:

»Wozu der ganze Aufwand an Mühe, Arbeit und Scharfsinn in der Erblichkeitsforschung, wenn wir bis ans Ende der Tage niemals den Mut haben sollen, ihre einfachsten Erkenntnisse zum Segen der Allgemeinheit nutzbar zu machen?« Placzek, Künstliche Fehlgeburten und künstliche Unfruchtbarkeit. Darin Strohmayer, Psychiatrie, S. 170. Thieme, Leipzig 1918..

Wenn wirkliche Belehrung über die Fortzüchtung vererbbarer Krankheiten stattfände, könnte auch die Einsicht wachsen und das Verantwortlichkeitsgefühl des einzelnen sich so weit verstärken, daß die Nichtfortpflanzung unter so verhängnisvollen Zukunftsbedingungen selbstverständliche Pflicht würde. Damit soll den so der Fortzeugung Beraubten nicht das Liebes- oder Lebensglück entzogen werden. Mögen sie sich in prophylaktisch wirksamer Weise sich betätigen, wenn nur die Grundforderung der Eugenik erfüllt wird. Ich kann die Teilerscheinung der negativen Auslese, welche die menschliche Gesellschaft vor sicher oder höchst wahrscheinlich vererbbarer Krankheit schützen soll und so den Keim zu Generationen trübseligster, asozialer Elemente erstickt, nur für wohl ausführbar und erfüllbar halten. Genügte »der grausame und schonungslose Kampf ums Dasein«, wie ihn Haeckel predigt Freie Wissenschaft und freie Lehre., »der Überfall, der in der lebendigen Natur wütet und wüten muß«, genügte »diese unaufhörliche und unerbittliche Konkurrenz alles Lebendigen«, welche eine Minderzahl bevorzugter Tüchtiger ausliest und die große Minderzahl der Konkurrenten elend verderben läßt, um die Fortpflanzung Untüchtiger zu verhüten, so brauchte es keiner künstlichen Eingriffe zur Erreichung des gleichen Zieles. Im menschlichen Auslesekampf wirkt wohl Mutter Natur schon allein selektorisch, indem die Untauglichen vorzeitig unterliegen oder an ihrer Fortpflanzungsfähigkeit so geschädigt sind, daß mit ihrer Existenz auch ihr Erdendasein schließt. »Das ist negative Selektion, das ist die große Ausjätemaschine, welche durch Vernichtung dem Fortschritt und der Vervollkommnung der Lebewesen angeblich dient«. Zumeist ist aber noch wirksame Kunsthilfe vonnöten und kann nur wirksam sein, wenn sie die Fortzüchtung verhindert. Gewiß sind zur Durchführung Zwangsgesetze erforderlich, Eingriffe in die persönliche Freiheit, doch es sind zwingende Notwendigkeiten im Interesse der Gesamtheit. Daß Irrtümer möglich sind und Unheil anrichten können, ist zuzugeben, doch hiergegen können Sicherungsmaßnahmen schützen, Sicherungsmaßnahmen im weitesten Sinne und verschärft durch das lebendige Pflichtgefühl, daß es sich eben um bedeutungsschwere Eingriffe in die persönliche Freiheit handelt. Die Träger dieser Maßnahmen werden sich aber keineswegs einreden, mit übermenschlicher Weisheit und Voraussicht in die Zukunft ausgestattet zu sein, sie werden sich der Unsicherheit ihrer Lage bewußt bleiben und dementsprechend vorsichtig sein und handeln, bei Durchführung auch der negativen Auslese, die Hertwig zu den trügerischen, als Naturgesetz ausgegebenen Phantomen zählt. Gewiß sind Hertwigs Forderungen, »Stärkung des Familiensinnes, der Liebe zu den näheren und weiteren Volksgemeinschaften, die Liebe zum Vaterland und eine sie ergänzende allgemeine humane Gesinnung«, Fortschrittshebel, doch auch die negative Auslese in dem Sinne, daß Fortpflanzungsuntaugliche an der Fortzüchtung gehindert werden, ist ein Fortschrittshebel und beruht nicht »auf eingebildeter Naturwissenschaft«, sondern auf der Nutzanwendung offenbarer Lehren aus der Erblichkeitsforschung.

Die Fortzeugung bei degenerativer Hysterie zu verhindern, ist dringend wünschenswert. Auch die Erwägung spricht nicht dagegen, daß eine Kopulation eines degenerativ Hysterischen mit einem gesunden Ehepartner die selbst verderblichste Vererbungstendenz mildern kann. Einerseits wird die eugenisch sicher wünschenswerte Forderung nach einem voll gesunden Ehepartner nur selten erfüllt werden, andererseits lehrt die Erfahrung, daß gerade die labilen Naturen sich besonders stark anziehen und so Schädlichkeitskomponenten summieren, die für das Zeugungsprodukt alles andere denn glückverheißende Zukunftschancen liefern. Deshalb erscheint der Wunsch nach einem Ehe- und Fortpflanzungsverbot gerechtfertigt, und die Erkenntnis dieser Berechtigung würde gefördert, wenn »die Idee der Eugenik das Alpha und Omega der Geneonomie Hierunter versteht Müller-Lyer die Summe aller derjenigen Lebensäußerungen der Gesellschaft, die sich auf die Erhaltung der Art beziehen. und das wichtigste Stück aller Geschlechtsmoral würde«.

Ganz besonders mutig und unerschrocken hat Max Hirsch in allen seinen Schriften, besonders in seinem grundlegenden Werke »Fruchtabtreibung und Präventivverkehr« sich geäußert. Freimütig bekennt er angesichts der sicheren Vererbbarkeit gewisser Krankheitszustände – zu ihnen zählt er auch die schwersten Formen von Hysterie und Neurasthenie l. c. S. 177. –, daß die von solchen Aszendenten abstammende Nachkommenschaft nicht den Wert für Familie, Staat und Gesellschaft hat, um ihre Menschwerdung mit der Strenge des Gesetzes durchgesetzt zu sehen. Also weit über die Verhütung der Fortpflanzung hinausgehend, fordert dieser mutige Bekenner sogar die rassenhygienische Indikation zum künstlichen Abort als »die einzige vernunftgemäße Therapie, nachdem die Prophylaxe versäumt worden ist«.

»Sie dient sowohl dem Interesse des Staates, welchem die Nachkommenschaft dieser Individuen ideellen Schaden bringt und materiellen auferlegt, da er sie in Gefängnissen und Irrenhäusern verpflegen muß, als auch dem Schutz der Gesellschaft, welcher Gefahr für Gut, Leib und Leben seitens dieses Nachwuchses droht. Nicht zuletzt aber ist es sittliche Pflicht des Staates und der menschlichen Gesellschaft, gegenüber diesem noch ungeborenen Nachwuchse selbst, seine Menschwerdung zu verhüten. Ist es nicht ein grobes Unrecht und ein schreiender Widerspruch, daß der Staat das Heranreifen dieser Elemente im Mutterleibe, ihre Geburt nicht nur duldet, sondern sogar mit dem Schutz des Gesetzes umgibt, um nun bewußt den verbrecherischen Taten entgegenzusehen, auf die derselbe Staat die Todes- oder schwere Freiheitsstrafe setzt?«

Mitbestimmend zu dieser Anschauung ist für Hirsch die Rolle, welche die Furcht vor kranker Nachkommenschaft unter den Motiven für die Fruchtabtreibung spielt, und diese Quelle hält er nur für verstopfbar, wenn »die rassenhygienische Indikation zur Einleitung des künstlichen Abortes anerkannt, ausgebildet und angewendet wird« l. c. S. 176.. In der Gefahr des Mißbrauchs sieht er kein Gegenmotiv. Sie darf nicht »vor einem als recht anerkannten Verfahren zurückschrecken« lassen, sie macht es nur nötig, die Indikationsstellung scharf zu präzisieren und, wie ich hinzufügen möchte, mit Sicherungsmaßnahmen zu umgeben. Gewiß besteht die Gefahr des Mißbrauchs, doch dürfte diese mit Freigabe der rassenhygienischen Indikation unter geeigneten Sicherungskautelen kaum größer werden, als sie zurzeit ist. Die Abtreibung in jeder Form mit ärztlich begreiflichem Zweck und aus unlauteren Motiven besteht und wird durch selbst strengste Gesetze nicht unterdrückt werden. Die deutsche Ärzteschaft, die bisher allenthalben opferwillig ihre Pflicht tat, wird von einem starren Pflichtgefühl im Handeln geleitet, das Vertrauen verdient. Daran rüttelt nicht das abwegige Verhalten einzelner. Nicht neue und verstärkte Gesetzesschranken, sondern weitherziges Vertrauen auf das Pflichtbewußtsein des Arztes ist am Platze und kann nur wohltätig wirken und ein ärztliches Handeln ermöglichen, das stets das Gesamtwohl berücksichtigt, und sich von leichtfertiger Umsetzung nicht geklärter, unausgereifter wissenschaftlicher Erfahrungen in die Tat denkbar fernhält. Zu den sozial wichtigsten, bedenkenschwersten, wissenschaftlich gesichertsten Erfahrungen zählt unsere Kenntnis vom Geschlechtsleben der Hysterischen. Diese Kenntnis läßt uns verstärkt die Forderung nach körperlich und seelisch gesunden Müttern erheben, die mit liebeglühender Vollkraft die Erziehung des Kindes erfüllen und vor dem Düster schmerzerfüllter Jugendjahre bewahren.


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