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b) Zivilrechtliche Beurteilung

Unerquicklich wie die strafrechtliche Beurteilung der Hysterischen ist auch ihre zivilrechtliche Beurteilung, mag sie als Entmündigungs- oder Ehescheidungsabsicht in Frage kommen. Es soll der Richter nach pflichtgemäßer eigener Prüfung zur Überzeugung gebracht werden, daß die Hysterische laut § 6 BGB. infolge Geisteskrankheit oder Geistesschwäche ihre Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag. Wie aber diese Überzeugung dem Juristen beibringen, wenn die psychische Störung so sehr nach Stärke und Umfang wechselt? Wie unter solchen Umständen gar den Nachweis der geistigen Krankheit im Sinne des § 6 erbringen? Deshalb dürfte es immer nur ein Ausnahmefall sein, wenn bei vorliegender Hysterie eine Entmündigung wegen Geisteskrankheit durchgesetzt wird.

Anders ist es mit der Anwendbarkeit des Begriffs der Geistesschwäche. Passen wir unter Angelegenheiten im Sinne des Gesetzes die Gesamtheit aller Beziehungen des einzelnen zu seiner Familie, seinem Vermögen und seiner Umgebung zusammen, erwägen wir weiter, daß gerade die Vermögensverhältnisse unter diesen Angelegenheiten einen Vorrang einnehmen, so wird sich die Handlungsweise Hysterischer mit dem Gesetzesbegriff der Geistesschwäche decken lassen. Die Sinnlosigkeit der Lebensweise, die Schädigungsmöglichkeiten der ganzen Familie, besonders unmündiger Kinder, die tolle Verschwendungssucht, erotische Auffälligkeiten können zu solcher Annahme führen. Die Entmündigung ist um so schneller zu erreichen, wenn eine Entmündigung wegen Verschwendung vorausging und doch die triebartige, zügel- und schrankenlose Verschwendungssucht nicht zu hemmen vermochte. Zwei trübselige Beispiele eigener Erfahrung aus letzter Zeit können unser Handeln zeigen, wobei übrigens nicht außer acht bleiben soll, daß der bestgemeinte ärztliche Rat zur Einleitung der Entmündigung recht, recht lange von den Angehörigen nicht befolgt wird, und wenn es endlich geschieht, meist zu spät kommt. Törichte, überempfindliche Rücksichtnahme läßt den günstigen Zeitpunkt oft genug vorübergehen, und ist der Entschluß endlich abgerungen, pflegt das Vermögen meist schon bedenklich, unersetzbar gefährdet zu sein.

Eine geschiedene Referendarsfrau ist bereits wegen Verschwendung entmündigt. Dadurch, daß sie weit über ihre Mittel lebte, hat sie in wenigen Jahren ein großes Vermögen, 272 000 Mark, vollständig verbraucht. Selbst durch einen schweren Geldverlust von 68 000 Mark läßt sie sich nicht beirren, macht im Gegenteil ihren Bekannten weiter kostbare Geschenke und verschwendet sinnlos fort. Für Wäsche, Kleidungsstücke gibt sie weiter Tausende von Mark in kurzer Zeit aus. So entschied das Amtsgericht X, daß Frau Y alles Geld, das sie in die Hände bekäme, wahllos ausgäbe und sich der Gefahr des Notstandes aussetzte, daher nach § 6 BGB. wegen Verschwendung zu entmündigen wäre. Trotzdem verschwendete sie weiter, kaufte Monat für Monat kostbare Toiletten, verausgabte auch viel Geld für seltsame Dinge. Ihrer Mutter, die ihr immer wieder aus der Klemme hilft, schreibt sie dankerfüllte Briefe, in denen sie auch immer wieder verspricht, endlich vernünftig zu leben. Wie wenig sie aber ihr ganzes Gebaren in der Tragweite erfaßt, bekundet sie durch die Anschauung, daß ihre Geldverhältnisse »wohl etwas unklar« wären. Um Geld zu bitten, findet sie als »das Gräßlichste, was es gibt«. »Es bringt einen auf die Dauer so herunter, und es ist ein himmelweiter Unterschied, wenn ich jemand um Geld bitte für eine hübsche Sache, die ich mir wünsche, als für das nackte Leben. Es ist ein fürchterliches Leben, wenn man nicht mehr das Nötigste hat, weil man dann nur an Geld denken muß. Ebensogut wäre es dann, man wäre tot, denn es ist menschenunwürdig, ewig an das verfluchte Geld denken zu müssen. Es wäre viel bequemer, mich zu erschießen, als immer wieder um Geld zu bitten.«

Und der einzige Endeffekt dieser kindischen Expektoration: Immer neue zwecklose Einkäufe trotz immer wiederholter Versprechen, keine Schulden mehr zu machen. Wie ein Kind beteuert sie nachher, so deprimiert und unglücklich zu sein, wenn sie alles schwarz auf weiß sähe, und trotz dieser Depression kauft sie zu ihren verschiedenen Mänteln und ihren vielen Hüten immer wieder neue. Das Schicksal, eine Pflegschaft haben zu sollen, berührt sie nicht tief, sie findet, daß damit »übrigens doch eine persönliche Beschränkung verbunden ist«, hat jedoch trotzdem nichts dagegen.

Frau Y ist erblich schwer belastet. Der Vater war Trinker, kam in die Irrenanstalt. Auch dessen Mutter trank. Eine Schwester unserer Kranken endete mit ihrem Ehemann durch Selbstmord, hatte ein Doppelleben geführt, am Tage, angesichts der Eltern, bescheiden, einfach, am Abend als Modedame. Patientin selbst kam schon als junges Kind in Bier- und Weinlokale, mußte mittrinken und die Nächte dort sitzen. In der Schule leistete sie trotz großer Begabung nichts. Ihre Ehe wurde bald geschieden, weil sie mit ihrem Manne nicht ehelich leben wollte. Bald zeigten sich auch homosexuelle Neigungen, für die sie große Summen opferte. So reiste sie einer russischen Tänzerin nach Paris nach und ließ eine andere Dame in Marmor aushauen. Sie litt an Telephonierzwang, mußte ihm folgen, wo sie sich auch befand, zeigte sich stark verlogen, hatte nach Angabe der Angehörigen eine Verdrehungsmanie. Plötzlich verliebte sie sich in einen jüngeren Mann, wollte ihn heiraten, von ihm Kinder bekommen, wurde auch unehelich schwanger von ihm.

Auch bei dieser degenerierten Hysterika sehen wir, wie die Eigenart des Geschlechtslebens die Daseinsbedingungen untergräbt, die sozialen Wechselbeziehungen von Mensch zu Mensch lockert und zerreißt und schwer korrumpierend wirkt. Die geistige Schwäche im Sinne des Gesetzes erschien deshalb klar. So konnte das Schlußgutachten lauten:

»Indem das Amtsgericht X am ... Frau M. wegen Verschwendung entmündigte, hat es anerkannt, daß Frau M. alles Geld, das sie in die Hände bekommt, wahllos vergeudet und sich der Gefahr des Notstandes aussetzt. In Wirklichkeit ist jedoch nicht mehr eine Gefahr des Notstandes vorhanden, sondern ein wirklicher Notstand; wenigstens wäre dieser zweifellos gegeben, wenn nicht die Eltern der Frau M. in übergroßem Entgegenkommen immer und immer wieder die Schulden deckten.«

Mit diesem gerichtlichen Schluß ist jedoch nur eine einzelne Handlungsweise der Frau M. gekennzeichnet und dementsprechend bewertet worden. Ganz anders erscheint aber die Sachlage, wenn die Gesamthandlungsweise beurteilt wird, und wenn diese Beurteilung gleichzeitig auch zu einer kritischen Würdigung der handelnden Person selbst führt. Betrachten wir die vorstehende Gesamtschilderung der Frau M., so ergibt sich, daß diese von Vaters Seite schwer erblich belastet ist. Schon die Tatsache, daß die Großmutter väterlicherseits Branntweintrinkerin war, ist nicht gleichgültig. Noch mehr aber die Tatsache, daß der Vater ausgesprochener Trinker war, sogar infolge seiner Trunksucht mehrfach in eine Irrenanstalt gebracht werden mußte. Hiermit ist allein schon das gefahrvollste Moment gegeben, daß schon bei der Zeugung der Anlagekeim krankhaft beschaffen war, eine Entstehungsbedingung, die durch noch so gesunde Beschaffenheit des zweiten Elternteils nicht ausreichend kompensiert wurde. Zu dieser degenerativen Wirkung seitens des väterlichen Zeugers kamen später noch die unheilvollsten Einflüsse durch frühzeitigen Alkoholgenuß und die gefahrvolle Wirkung des Restaurantaufenthaltes für das Kindergemüt. Es ist nicht verwunderlich, wenn bei der erblich degenerativen Anlage der vorzeitige Alkoholgenuß das Kinderhirn noch mehr schädigte, als er an sich schon zu wirken imstande war. Ob nicht auch sonstige äußere Einwirkungen das Kindergemüt schädigend beeinflußten, mag dahingestellt bleiben. Die Möglichkeit ist jedenfalls gegeben, da Trunksucht des Vaters wohl niemals ohne schwere schädliche Einflüsse für das Familienmilieu bleibt.

Wie unheilvoll die Wirkung der väterlichen Trunksucht war, lehrt auch die Tatsache, daß eine Schwester der Frau M. gleichfalls schwere auffällige psychische Erscheinungen bot.

Bei dieser Grundlage ist es nicht verwunderlich, daß Frau M. schon in der Gesamtentwicklung eine Disharmonie der Eigenschaften zeigt. Neben einem überraschenden Gedächtnis und vorzeitiger Intelligenz versagte sie in der Schule, war zerfahren, erfüllte nicht die dort gestellten geringfügigen Anforderungen. Mit der Umwandlung im Organismus, wie sie sich bei jedem weiblichen Wesen vollzieht, begannen auch bei Frau M. Auffälligkeiten der Gemütssphäre, Extravaganzen, eigenartige Neigungen u. a. m. So schwärmte sie für lila Farben, so weit, daß Kleidung und Umgebung nur diese Farbe zeigen durften. So wurde sie unfähig zur Konzentration, unfähig, eine Angelegenheit ruhig zu besprechen, bekam den reinen Telephonierzwang, begann es auch mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen.

Ganz besonders auffallend wurden aber die sexuellen Wandlungen. Während sie in ihrer Ehe jede Schwangerschaft verabscheute, durch diese Abneigung schwere Konflikte heraufbeschwor, zeigte sie Zuneigung zu einer Frau, die gar nicht anders deutbar ist als durch eine homosexuelle Neigung. Dafür spricht die seltsame Anhänglichkeit, die Art des Verkehrs, vor allem aber die eigenartige Form, in der sie die Angebetete modellieren ließ (nur Rückenakt!). Auch die exzentrische Neigung für die russische Tänzerin dürfte ähnlichen sexuellen Empfindungen entspringen. Diese gleichgeschlechtlichen Neigungen sind nun in neuester Zeit wieder von einer andersgeschlechtlichen Neigung abgelöst worden, bei deren Betätigung Frau M. eine geradezu verblüffende sittliche Verkümmerung zeigte. Selbst wenn man zugeben will, daß Frau M., die doch über die Backfischjahre etwas weit hinaus ist, sich sinnlos in einen Xbeliebigen vernarren konnte, so ist es doch mehr als auffällig, daß Frau M. sich rücksichtslos dieser Neigung hingibt, skrupellos intimen Geschlechtsverkehr pflegt, skrupellos mit dem Betreffenden an allen möglichen Orten erscheint, obwohl sie zum mindesten doch die Nachrede fürchten mußte. Daß auch die Rücksicht auf ihre Eltern, speziell auf ihre Mutter, der sie größten Dank schulden müßte, die Rücksicht auf die soziale Stellung in keiner Weise hemmend einwirken, verdient ganz besonders bemerkt zu werden. Auch die Tatsache ist mehr als bemerkenswert, daß die doch in reifen Jahren stehende Frau durch ihre neue Liebe vollständig blind gemacht wird, in dem Erwählten nur noch den hochbegnadeten, noch nicht anerkannten Künstler sieht, dessen sehr deutlich erkennbare pekuniäre Sicherungsbestrebungen nicht durchschaut, ja nicht einmal sich um die Herkunft des Erwählten irgendwie kümmert.

Gleich skrupellos und hemmungslos, wie in dieser neuesten Liebesbetätigung, ist Frau M. auch in der Betätigung ihrer zwangsartigen Kauflust. Trotz aller Versprechungen kauft sie immer und immer wieder in sinnloser Weise teuerste Kleidungsgegenstände, macht sie kostbarste Geschenke, macht sie sinnlose Reisen, so daß es sehr verwunderlich erscheint, daß sie noch nicht wegen Hochstapelei festgenommen wurde. Ruhig wohnt sie in vornehmsten Hotels, ohne sich auch nur darum zu kümmern, wie sie die Schulden decken würde.

Auf den Entmündigungsbeschluß reagierte sie mit neuen maßlosen Ausgaben, ein Zeichen, wie triebartig ihr Handeln ist. Ein Zeichen aber auch, wie wenig Verständnis sie für den Ernst einer derartigen gerichtlichen Maßnahme hat, ist ihre völlige Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit hierbei. In ihren Briefen aus dieser Zeit findet sich keine Spur nachhaltiger Reueempfindung, keine Spur von Verständnis für die Situation, keine Spur von Mitgefühl mit ihren Eltern. Schwatzhaft, abspringend bringen diese Briefe immer nur ein oberflächliches Plappern von Dingen, die sie augenblicklich bewegen, und gleichgültigste Tageserlebnisse. Endlich sei noch die perverse Phantasie erwähnt, die sich nur um sexuelle Dinge dreht.

Das Schlußurteil konnte nur lauten:

»Auf erblich degenerativer Anlage hat sich zunächst eine psychopathische Konstitution entwickelt, die in der Disharmonie der einzelnen Anlagen, in mangelnden Leistungen bei leidlich gutem Verstande, in großer Gefühlserregbarkeit ohne entsprechende Nachhaltigkeit, in schwächlichen Willensantrieben ohne Dauer und Erfolg, in stark ausgeprägter egoistischer Handlungsweise, in Überempfindlichkeit gegen unlustbetonte Eindrücke und Erlebnisse besteht.

Dieser psychopathischen Konstitution oder Entartung haben sich allmählich zahlreiche hysterische Züge hinzugesellt. Patientin wurde launenhaft, reagierte nur ihrem hysterischen Temperament entsprechend, begann alles nur von ihrem Ich-Standpunkt zu betrachten, ohne die Verkehrtheit dieses Standpunktes zu erkennen, wurde allmählich ein explosives Gemisch, wurde ethisch auffallend defekt und schließlich derart asozial, daß es nur ein Zufall genannt werden kann, wenn Frau M. noch nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt kam.

Auf Grund dieses Gesamtbildes erachte ich Frau M. an Hysterie und degenerativer Seelenstörung leidend. Ihre Entmündigung wegen Geistesschwäche im Sinne des § 6 BGB. ist dringend erforderlich.«

Ähnlich erscheint der Fall einer Großkaufmannsfrau, die schon in langjähriger Ehe viel Absonderlichkeiten zeigte, vor allem eine ungewöhnliche Verschwendungssucht bekundete. Sinnlos gab sie pro Tag für Mietsautos 100-150 Mark aus. Für die kleinsten Entfernungen mußte es zur Verfügung sein. Sie ließ es stundenlang zwecklos auch warten. Neben der Verschwendungssucht begann urplötzlich eine Wandlung, die schon ein etwas manisches Gepräge zeigte. Sie entdeckte plötzlich die große Künstlerschaft in sich, ließ sich ihre künstlerischen Qualitäten von allen möglichen Größen bescheinigen, schien geneigt, mit 42 Jahren plötzlich als Sängerin in die Öffentlichkeit zu gehen, begann dann eine sinnlose Lebensweise, in der sie die Nacht zum Tage machte, alle möglichen seltsamen Leute in ihre Wohnung lud und dort mit ihnen bis zum Morgen sich prassend austobte, ohne jede Rücksicht auf den Mann und ohne Verständnis für den Schaden, der der erwachsenen jungen Tochter damit entstand. Jeder Versuch, ein vernünftiges Wirtschaften durchzusetzen, scheiterte, da jede Geldsumme trotz aller Versprechen in Kürze verschwand.

Mit der Entmündigung wird nicht nur der Vermögensbesitz geschützt und der Name der Entmündigten, wie ihrer Familie weitgehend gedeckt, es werden auch Heiratsneigungen, die zumeist höchst absonderlich zu sein pflegen, wirksam gehemmt. Der wegen Geisteskrankheit Entmündigte hat gesetzlich keinerlei Heiratsmöglichkeiten, anders der wegen Geistesschwäche Entmündigte. Er kann eine Ehe schließen, falls der Vormund die Erlaubnis gibt. § 1304 besagt ausdrücklich, daß, wer in seiner Geschäftsfähigkeit beschränkt ist, zur Eingehung einer Ehe der Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters bedarf. Seltsamerweise wird dieses Hemmnis Öfters umgangen. In letzter Zeit erlebte ich es zweimal nacheinander. Das Standesamt vergißt anscheinend, sich zu sichern, und der Entmündigte »vergißt« zuweilen, seine Willensbeschränkung zu erwähnen. Nach § 1325 ist eine Ehe aber nichtig, »wenn einer der Ehegatten zur Zeit der Eheschließung geschäftsunfähig war, oder sich im Zustande der Bewußtlosigkeit oder vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit befand.« Dem wegen Geistesschwäche Entmündigten kann sein Vormund nachträglich noch die Erlaubnis geben.

Heiratsneigungen können aber auch dadurch vereitelt werden, daß ein Verlobter vom Verlöbnis zurücktritt, und zwar kann dieser nicht einmal schadenersatzpflichtig gemacht werden – im Sinne des § 1298, wenn »ein wichtiger Grund für den Rücktritt vorliegt«. Solch wichtiger Grund kann in der Person des Zurücktretenden oder in der Person des anderen Teils liegen, muß zur Zeit der Rücktrittserklärung bereits vorhanden sein RG. 18. 4. 07, IV, 459/06., muß nach dem Verlöbnis entstanden oder z. B. bei Krankheit dem Zurücktretenden in seiner bedrohlichen Form erst später bekannt geworden sein OLG. Braunschweig W. 24. Juni 1910, R. der OLG. Bd. 2.. Hysterie liefert solch wichtigen Grund, wenn seit Jahren Anfälle ständig wiederkehren und namentlich der Charakter krankhaft verändert ist. Reagiert ein Verlobter auf die Entlobung mit hysterischen Symptomen, so können die zur Behebung dieser Reaktion erforderlichen Aufwendungen gemäß § 823 BGB. ausgeklagt werden, wenn die grundlose Entlobung als »Ursache« der hysterischen Reaktion angesehen werden muß. Vorsicht im Urteil ist aber am Platze, weil erfahrungsgemäß selbst gröbste Krankheitserscheinungen gern von dem Verlobten selbst und noch lieber von seinen Angehörigen während der Verlobungszeit verheimlicht werden. Oft genug geschieht das bei Hysterischen in der verkehrten Auffassung, daß die Ehe sich als Heilmittel erweisen würde, – eine zumeist irrige Auffassung A. H. Hübner, »Das Eherecht der Geisteskranken und Nervösen.« Marcus & Webers Verlag. Bonn 1921..

Weit häufiger als die Hinderung von Heiratsabsichten taucht die Notwendigkeit auf, eine geschlossene Ehe zu trennen. Hier erheben sich ganz besondere Schwierigkeiten, wenn Hysterie das Grundleiden ist. In Ehescheidungsverfahren wünschen Anwälte am liebsten das Wort »Hysterie« nicht erwähnt, weil sie bei der offenkundigen Unkenntnis vieler Richter über das Wesen und die tiefgreifende zerrüttende Wirkung der Hysterie befürchten, das Gericht könnte einfach urteilen:

»Hysterie ist eine Krankheit und mit einer kranken Frau muß man sich eben abfinden.«

Das wäre ein durchaus irriger, lebensfremder Standpunkt, wenn es auch richtig ist, daß der Gesetzgeber Eheleute zu gegenseitiger Unterstützung in allen Leibes- und Seelennöten verpflichtet, sofern diese Seelennöte geistige Störungen, wie Trunksucht, schwere Hysterie, Zyklothymie, chronische Paranoia und ähnliches darstellen. Wie verschieden ist aber die Wirkung seelischer und körperlicher Erkrankung eines Ehepartners auf die Ehe selbst! Sogar entstellende und ansteckende Krankheiten führen nicht so leicht eine Entfremdung zwischen den Ehegatten herbei oder machen dem gesunden Gatten das Leben gleich stark zur Qual, wie das Zusammenleben mit einer lügenhaften und intriganten Hysterika oder einem brutalen Trinker.

Da nun einmal die Hysterie noch in ihrer Bedeutung für die Ehe allzu leicht verkannt wird, pflegt man die ehezerrüttende Wirkung der Hysterie dadurch zu kennzeichnen, daß man einfach die hysterischen Charaktereigentümlichkeiten – so ewige Unzufriedenheit, Lügenhaftigkeit, Gefallsucht, Launen Wechsel, Verweigerung des ehelichen Verkehrs, Verzärtelung und Verhätschelung des Kindes, Mißtrauen, täglich wechselnde Krankheitsgefühle, abstoßendes Wesen, Selbstmorddrohung, Intriguieren, Verleumden, Hetzen, Empfindlichkeit, Reizbarkeit, Neigung zu Zornesausbrüchen, Verschwendungssucht, gesteigerte Erotik, Putzsucht – aufzählt, ohne sie als Erscheinungen hysterischer Veranlagung zu kennzeichnen. Ob diese Anwaltstaktik nicht in der Vorsicht zu weit geht, wage ich nicht entscheidend zu beurteilen. Sie mag früher am Platze gewesen sein, doch nicht mehr jetzt, wo eine bedeutungsschwere Entscheidung des Reichsgerichts »Eheanfechtung wegen Irrtums über angeborene Hysterie der Frau« 14. Jan. 1920, V, 349/19. – Leipz. Zeitschr. f. deutsch. Recht. 15. Juli 1920. – Hübner, l. c. S. 12. vorliegt.

§ 1333 BGB. gibt einem Ehegatten eine Möglichkeit zur Anfechtung seiner Ehe, wenn er »sich bei der Eheschließung in der Person des anderen Ehegatten oder über solche persönlichen Eigenschaften des Ehegatten geirrt hat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würden.«

Der benachteiligte Ehepartner, sofern er erst in der Ehe die Hysterie der Auserwählten kennenlernte, wird wohl zumeist diesen Paragraphen heranziehen.

Verständige Würdigung des Wesens der Ehe! Schon damit ist eine vieldeutige Forderung gegeben, wechselnd nach Stand, Bildung, Erziehung, dem Lebensmilieu, dem Berufe, und Ernst Schultze hat durchaus recht, wenn er eine streng individualisierende Behandlung wünscht Hoche, Handb. d. gerichtl. Psychiatrie. S. 342.. Dieser Wunsch ist um so berechtigter, als das Gesetz nicht verlangt, daß der Anfechtende sich habe orientieren müssen. »Es genügt vielmehr schon, wenn die fraglichen Momente bei Erfüllung der anderen Bedingungen geeignet waren, ihn abzuhalten, ihn verständigerweise hindern konnten oder durften.« Demzufolge kann das gleiche Moment in dem einen Falle hinreichen, die Anfechtung der Ehe zu begründen, während es in einem zweiten Falle nicht genügt.

Ernst Schultze meint, daß der Sachverständige sich die Beantwortung der Frage erleichtern kann, indem er sich fragt, ob andere Personen in gleicher Lage bei Kenntnis der Sachlage dennoch geheiratet haben würden oder nicht vielmehr bewußt verzichtet hätten.

Ob der Irrende bei Aufwendung der gewohnten Sorgfalt den Irrtum hätte vermeiden können, oder ob er fahrlässig handelte, ist gleichgültig, da der Gesetzgeber die Entstehung des Irrtums nicht erwähnt.

Bei vorliegender Hysterie werden die »persönlichen Eigenschaften«, die verhängnisvoll wurden, sorgsam geschildert werden müssen. Der Natur der Sache nach müssen sie nicht nur vor und zur Zeit der Eheschließung, sondern auch nachher noch, zum mindesten bis zum etwaigen Abschluß des Anfechtungsprozesses, bestanden haben. Vorübergehende Zustände können naturgemäß nicht in Betracht kommen.

Ernst Schultze formuliert die Fragen, die dem Sachverständigen im Falle des § 1333 vorgelegt werden können, folgendermaßen: 1. Ist das von dem Anfechtenden angegebene Moment als eine persönliche Eigenschaft im Sinne des Gesetzes aufzufassen? 2. Ist die von dem Anfechtenden angegebene persönliche Eigenschaft des Gegners wirklich vorhanden? 3. Kann eine durch die Rücksicht auf diese Eigenschaft begründete Aufhebung des Verlöbnisses als eine verständige Würdigung des Wesens der Ehe aufgefaßt werden? 4. Ist eine gleiche Auffassung von dem Anfechtenden zu erwarten? S. 349.

Jetzt hat das Reichsgericht klar entschieden, daß »nicht die einzelnen Erscheinungen der Krankheit, sondern die Krankheit selbst den Anfechtungsgrund« abgibt 14.I.20, V, 349/19. Leipz. Zeitschr. f. deutsch. Recht, 15. Juli 1920..

Ärztliche Gutachten von autoritativer Seite hatten erwiesen, daß die beklagte Ehefrau von Jugend auf hysterisch veranlagt war und dauernd hysterisch blieb, nur daß die hysterischen Äußerungen nach Art und Schwere wechselten. In der ersten Ehe waren die Erscheinungen nur geringer, weil der Anreiz fehlte. Im Verlauf der zweiten Ehe brachen sie mit voller Stärke los und führten schließlich zu schwerster geistiger Störung. Das OLG. hatte festgestellt, daß die schweren hysterischen Charakterveränderungen auf psychopathischer Grundlage bei der beklagten Ehefrau schon zur Zeit der Eheschließung mit dem Kläger bestanden hatten.

Die Revision hatte eingewandt, daß die späteren Krankheitserscheinungen nicht berücksichtigt werden durften. Es komme nur darauf an, ob die Krankheit in der Art, wie sie sich bis zur zweiten Eheschließung zeigte, so schlimm bewertet werden mußte, daß ein verständiger Mann die Frau nicht geheiratet hätte. Das RG. weist diesen Einwand zurück, denn »nicht die einzelnen Erscheinungen der Krankheit, sondern die Krankheit selbst« bildet den Anfechtungsgrund. Endlich ein lebenswahres, vom common sense getragenes Urteil! Sollte es in Zukunft durchgreifen, so wird es viel Eheleid mildern, das bisher ein dauerndes Martyrium war. Gewiß ist eine wirksame Eheanfechtung für die Frau von weittragender Bedeutung, denn sie darf den Namen des Mannes nicht tragen und ihre Ehe gilt rechtlich als nie vorhanden gewesen. Die Durchführbarkeit einer Ehetrennung von einer schweren Hysterika kann wenigstens einen Ehepartner wieder lebensfroh machen.

Nächst dem § 1333 kommt der § 1569 BGB. in Frage:

Ein Ehegatte kann auf Scheidung klagen, wenn der andere Ehegatte in Geisteskrankheit verfallen ist, die Krankheit während der Ehe mindestens drei Jahre gedauert und einen solchen Grad angenommen hat, daß die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben, auch jede Aussicht auf Wiederherstellung dieser Gemeinschaft ausgeschlossen ist.

Schon die Forderung der Unheilbarkeit macht bei schwerster Hysterie die Anwendung des § 1569 unmöglich, und die weitere Forderung nach Aufhebung der geistigen Gemeinschaft wird im Falle von Hysterie kaum je bestimmt vertreten werden können. Es verlohnt auch kaum, diese Frage aufzuwerfen, da das Gesetz verlangt, daß die geistige Gemeinschaft auch nicht vorübergehend wieder herstellbar sei. Sonach dürfte Hysterie nur recht selten den Grund zu einer Ehescheidung abgeben können, wenngleich eine hysterische Person dem andern Ehepartner »vom ersten Tage ab das Leben zur Hölle machen« kann Cramer, S. 204. Schultze in Hoche, S. 361..

Wenn § 1569 versagt, könnte § 1568 – Zerrüttung der Ehe – in Frage kommen. Wenn jemand trotz einiger hysterischer Züge seinen Haushalt gut führt und in der Besorgung seiner Vermögensverhältnisse geschickt auf seinen Vorteil bedacht ist, so könnte doch wohl § 1568 in Frage kommen. Die Hysterie ist eben die Hauptursache eines die Ehe zerstörenden Verhaltens.

Als vierter Paragraph, der unter Umständen anwendbar ist, kommt § 1334 in Betracht. Hiernach kann eine Ehe von dem Ehegatten angefochten werden, »der zur Eingehung der Ehe durch arglistige Täuschung über solche Umstände bestimmt worden ist, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würden. Ist die Täuschung nicht von dem andern Ehegatten verübt worden, so ist die Ehe nur dann anfechtbar, wenn dieser die Täuschung bei der Eheschließung gekannt hat.« Indem das Gesetz eine arglistige Täuschung fordert, verlangt es, daß der Täuschende bewußt dem andern »mit seiner Täuschung etwas Arges tue, dessen Willen rechtswidrig beeinflusse.«

Einige markante Beispiele mögen die Schwierigkeit einer Ehetrennung bei vorliegender Hysterie zeigen. Selten instruktiv erscheint hier der Geisteszustand einer Majorswitwe, den ich vor kurzem nur auf Grund eines überreichen Aktenmaterials beurteilen mußte. Er erschien bei fachmännischer Würdigung derart zweifelsfrei, anschaulich und überzeugend, daß das Endurteil sogar ohne den Vorbehalt erfolgen konnte, wie ich ihn sonst bei unmöglicher persönlicher Untersuchung einzuflechten pflege. Als prominenteste Erscheinung zeigte sich hier der Untergang der ethischen Vorstellungen. Obwohl Gattin eines aktiven Majors, vernachlässigte Frau X. ihre Gattinnenpflichten gröblichst, drängte trotz der ernst mahnenden und für eine Offiziersfrau besonders drückenden Kriegszeit nur nach Äußerlichkeiten, suchte sich in den Vordergrund zu stellen, verweigerte dem Gatten die einfachste Liebesbetätigung. Als der Gatte starb, zeigte sie nicht einmal Trauer in äußerlicher Gesellschaftsform, nein, sie mißachtete die gesellschaftlichen Normen noch in empörendster Weise. Infolge ihrer »mangelnden Reproduktionstreue« gibt sie allerdings dies Handeln nicht zu, fälscht es sogar direkt, spielt sich in den Briefen als die gewissenhafte, liebevolle Frau auf, zeigt sich unfähig zur Erkennung und selbstkritischen Beurteilung ihres Unrechts. In solchen Briefen, in welchen sie den Zustand ihres Gatten als hoffnungslos bezeichnet, versichert sie gleichzeitig, nie so gesund gewesen zu sein, und rühmt sich, auf ihren abenteuerlichen und abenteuernden Reisen 126 Freundschaften angeknüpft zu haben.

Auch in ihrem Verhalten gegen die Eltern tritt die gleiche Wesensveränderung zutage. Hier lügt sie das Blaue vom Himmel herunter. Sie bezeichnet sich als die edelmütigste, von Eltern und Verwandten verkannte Frau, die als Wild durchs Leben gejagt wird. Für all das Gute, was die Eltern ihr antun, hat sie kein Verständnis, geschweige eine deutliche Erinnerung. Sie verleumdet alle ruhig, was sie aber nicht abhält, mit ungeheuerlichen phantastischen Ansprüchen an die Eltern heranzutreten. Am Tage nach dem Begräbnis des Mannes mutet sie ihrem Vater zu, ihr in feinster Gegend des Westens eine Villa für 400 bis 500 000 Mark zu kaufen. Wie wenig sie mit Geld umzugehen weiß, bekundet sie in folgender Episode. Im Krankenhaus, in dem ihr Mann gestorben war, stand noch eine Restsumme von 60 Mark an. Obwohl sie kurz zuvor von ihrem Vater eine größere Summe empfangen hatte, zahlte sie den kleinen Restbetrag nicht aus, sondern ersuchte den Vater in einem Telegramm von 60 Worten, das Krankenhaus gleich zu bezahlen, da »ihr Ansehen und des Gatten Frieden leide«. Eine andere noch beweiskräftigere Episode: Sie will in einem vornehmen Berliner Juweliergeschäft einen Ring für 12-15 000 Mark erwerben gegen monatliche Abzahlung von 50 Mark. Daß sie damit 20 Jahre abzahlen müßte, wird ihr gar nicht klar.

Sinnlos reizbar, wie sie ist, läßt sie es auch zeitweilig zu explosiven, rücksichtslosesten Auftritten kommen. So beschimpfte sie eines Tages in einem vornehmen Wiener Hotel ihren Bruder, einen Offizier, vor Gästen und Kellnern, setzte die Szene auf dem Korridor fort, machte noch lange vor der Tür Radau, und als sie keinen Einlaß erhielt telephonierte sie den Bruder fortdauernd an.

Bei dieser Wesenswandlung und der mit ihr auftauchenden Hypererosie kann es nicht wundernehmen, daß sie in die Hände von Schwindlern geriet. Trotz trübseligster Erfahrung mit Leuten, über deren erpresserische Verleumdungen sie sich später beklagt, heiratet sie doch einen mit Gefängnis vorbestraften Grafen, läßt sich auch nicht durch die ihr bekannten Vorstrafen abbringen. In ihrer spätfrühlingshaften erotischen Verliebtheit setzt sie sich darüber hinweg und bindet sich noch durch Verträge, die sie weder einlösen, noch in ihrer Tragweite zu beurteilen vermag. Skrupellos erfüllt sie die ihr vor Eingehung der Ehe auferlegten Bedingungen, für die Verbindlichkeiten des Grafen durch ein Darlehen von 500 000 Mark zu sorgen. Der allmähliche Untergang ethischer Vorstellungen, schwere Beeinträchtigungsideen, brutale Verleumdung der eigenen Angehörigen, mangelnde Reproduktionstreue, Unfähigkeit zur Erkennung des eigenen Unrechts, fehlende Selbstkritik, sinnlose Reizbarkeit, alles zusammen zwang zur Annahme einer hysterischen Seelenstörung, welche die Frau wegen Geistesschwäche unfähig macht, ihre Angelegenheiten zu besorgen.

Des weiteren sei noch ein Urteil über den Geisteszustand einer Offiziersfrau mitgeteilt, das die Schwierigkeiten der Wertung hysterischer Eigenart scharf erkennen läßt, doch auch die Bedeutung des Geschlechtslebens Hysterischer in seinen seltsamen Ausstrahlungen zeigt.

Frau v. X., einziges Kind eines hochgestellten Beamten, durchlebt im Elternhaus eine frohe Kindheit und heitere Jugend entwickelt sich zu einem sinnigen, liebenswürdigen Geschöpf. Sie steht in denkbar glücklichsten Beziehungen mit ihren Eltern. Mit ihnen treibt sie jeden Sport gemeinsam, spielt mit ihnen Tennis, läuft mit ihnen Schlittschuh, radelt mit ihnen, reitet mit dem Vater. An den reichen geistigen und künstlerischen Interessen der Eltern nimmt sie immer stärkeren Anteil, gewinnt auf gemeinsamen Reisen mit den Eltern früh ein sicheres und reifes Urteil. Sie heiratet einen hohen Offizier, der nach viermonatiger Ehe ins Ausland kommandiert wird. Während dieser Zeit wird das erste Kind geboren. Nach kaum zweijährigem Zusammenleben wird der Gatte von neuem auf zwei Jahre abkommandiert. Während der Trennungszeit kam das zweite Kind. Die Ehe war ungetrübt glücklich. Frau v. X. war eine liebevolle Gattin und erfüllte ihre Pflichten gegen die Kinder mit heiligem Ernst, vielleicht sogar in übertriebener Aufopferung. Die Schwangerschaften und Entbindungen während der Trennung von ihrem Manne scheinen aber für sie verhängnisvoll geworden zu sein, sie litt schwer unter Angstzuständen. Nach einer Auslandsreise kehrte sie plötzlich zurück, weil sie unter Angstzuständen litt. Nach Ansicht der Eltern soll ein Nervenarzt, den Frau v. X. konsultierte, das unheilvolle Wort gesprochen haben: »In Ihrer Ehe ist etwas nicht in Ordnung.« Dieser Ausspruch soll eine Reihe von Wahnvorstellungen ausgelöst haben. Sie erklärte sofort, in der Ehe krank geworden zu sein und sich scheiden lassen zu müssen. Auf die Frage, wie sie eine Scheidung ihrer doch vollkommen glücklichen Ehe erreichen wollte, lautete die Antwort nur: »Da mein Mann weiß, daß ich schweigen kann, wird er sich scheiden lassen.« Was der Rechtsanwalt der Frau v. X. zur Begründung der Ehescheidungsforderung vorbrachte, wird von den Eltern als widerliche, völlig haltlose Unwahrheit bezeichnet. Da die Eltern der Scheidungsidee widerstrebten, erfaßte Frau v. X. tiefes Mißtrauen, ja Haß gegen die Eltern. Sie erschien krankhaft überreizt. Als sie von dem Hausarzt ihrer Familie untersucht wurde, erklärte sie drei Tage später ihrer Mutter, daß zwischen ihr und Dr. X. etwas vorgegangen wäre. Sobald sie frei wäre, würde sie Dr. X. heiraten. Die Mutter hörte diese neue Idee schweigend mit an, die der Vater schon damals als Unsinn bezeichnete. In der Behandlung eines hervorragenden Psychiaters, bei dem Frau v. X. nun monatelang blieb, wurde keine Änderung erzielt. Frau v. X. blieb von überwertigen Ideen völlig beherrscht, behauptete immer noch dieselben haltlosen Lügen über ihren Mann und verhielt sich mehr als gleichgültig gegen ihre Kinder. Letztere wollte sie gar nicht mehr als ihre Kinder anerkennen, weil sie von einem Manne empfangen wären, den sie seit lange verabscheute. Auch die Idee, daß der Arzt sie heiraten würde, blieb unausrottbar fest, obwohl dieser Arzt, der sich inzwischen verlobt und verheiratet hatte, ihr davon Anzeige machte. Eines Tages entwich sie nach Berlin. Hier hielt sie sich zunächst einige Tage in ihrer Pension auf, ehe sie sich bei den Eltern meldete. Ihre Absicht war, in die Wohnung des Professors X. zu dringen, um festzustellen, ob er wirklich verheiratet wäre. Sie drang wirklich in die Wohnung ein und stellte durch Befragen des Dienstmädchens fest, daß in der Wohnung wirklich eine Frau X. existierte. Nun wurde sie von Tag zu Tag haltloser, erzählte sogar »ihre Geschichte« den Dienstboten der Pension. Die Idee, den Professor X. zu heiraten, wurde alsbald abgelöst von einer gleichartigen Idee, daß Professor H., den sie konsultiert hatte, sie heiraten würde. Als dieser ihr rund heraus erklärte, daß sie sich täuschte, und daß kein vernünftiger Mann eine so kranke Frau wie sie heiraten würde, wandelte sich die bisherige Neigung in Haß und Verachtung, und sie verleumdete den Arzt aufs schwerste. In einem Sanatorium kam sie mit einem schwer psychopathischen Hauptmann in Berührung, unter dessen Einfluß sie hörig geriet. Obwohl sie wußte, daß dieser Mann verheiratet und Vater von zwei Kindern war, obwohl sie weiter wußte, daß er ein Verschwender war und in finanziell sehr bedenklicher Lage, obwohl sie wußte, daß er sich mit Dirnen umhergetrieben, wurden die Beziehungen zu v. B. immer enger und führten bald zu sexuellen Beziehungen. Alle Versuche des Vaters, seine Tochter über die Persönlichkeit des v. B. aufzuklären, blieben fruchtlos. Sie ließ das Material, das ihr die sittliche Verkommenheit des Mannes dartat, unbeachtet, erklärte es für Verleumdung, blieb gegen alles Handeln ihrer Eltern einsichtslos. Sie reichte nunmehr die Scheidungsklage ein, begründete sie aber wieder anders wie die Jahre vorher. Nunmehr versuchte der Gatte, die Prozeßfähigkeit seiner Frau anzuzweifeln. Ein Kreisarzt erklärte sie für prozeßfähig, und nunmehr mußte der Ehescheidungsprozeß seinen Gang gehen. Dem Gatten blieb als Offizier nach diesem ärztlichen Gutachten nur übrig, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Was er der kranken Frau nicht zum Vorwurf machen konnte, mußte er der als gesund anerkannten Frau schwer anrechnen. Er mußte die Gegenklage erheben, und das Resultat war: Ehescheidung mit Erklärung der Frau v. X. als allein schuldig. Fast gleichzeitig wurde die Ehe des psychopathischen Hauptmanns geschieden, der gleichfalls als allein schuldiger Teil erklärt wurde. Nun bekam Frau v. X. von dem Kreisarzt ein Attest, auf Grund dessen sie schon vier Wochen nach der Scheidung Befreiung von der Frist des § 1313 BGB. erreichte. Schon damals mußte der Vater der Frau v. X. erklären, daß er vor seinem Gewissen nicht mehr verantworten könnte, irgend etwas unversucht zu lassen, was sein Kind verhindern könnte, sich dem furchtbaren, ihr drohenden Geschick auszuliefern. Er stellte den Antrag auf Entmündigung, um so eine erhebliche Gefährdung seiner Tochter abzuwenden. Die neue Ehe mit dem Hauptmann gestaltete sich so, wie zu erwarten war. Schon wenige Wochen nach der Heirat suchte sie bei ihren Eltern Schutz, weil der Mann sie hatte erwürgen wollen. Trotzdem folgte sie ihm noch im Krieg überallhin, obwohl er dort sein Leben mit Dirnen wieder anfing und ihr ausdrücklich erklärte, daß sie ihm eine Fessel wäre, die er los sein müßte. Er leitete Scheidung ein. In dieser Zeit starb ihr Vater. Die Mutter nahm die Tochter wieder auf, widmete ihr die zärtlichste Sorge. Und was tat die Tochter? Sie ging mit Zetteln in der Wohnung umher und notierte alles Vorhandene. Plötzlich verschwand sie. Als die Mutter am 40 jährigen Hochzeitstag vom Kirchhof heimkam, war die Tochter fort. Am Nachmittag dieses Tages erhielt die Mutter den ersten feindlichen Brief eines Rechtsanwalts, der über die Vermögenslage und das Testament anfragte.

In der Ehe bekundete Frau v. X. zeitweilig eine Verschwendungssucht, die sie leicht der Gefahr der Verarmung aussetzen konnte. Obwohl sie nicht viel besaß, schaffte sie zwecklos Armbänder und kostbare Pelze an. Ja selbst als sie schon in der Scheidung mit dem Hauptmann stand, ihren Hausstand auflösen und die Möbel einstellen wollte, erwarb sie eine wertvolle Saloneinrichtung. Dabei hatte sie nicht einmal eine eigene Wohnung und konnte kaum das Lagergeld für ihre anderen Sachen aufbringen.

Die Gutachter differierten in der Beurteilung. Während die Jenenser eine geistige Störung mit Wahnbildung annahmen, erklärte ein anderer Gutachter eine von der Norm abweichende Eigenart der psychischen Konstruktion gegeben, die während der Beobachtung sich zur Psychose verdichtete, und erklärte die Frau für geschäftsfähig. Demgegenüber nahm Prof. H. einen tiefgreifenden psychopathischen Zustand an, der sich in neurasthenisch-hysterischen Erscheinungen und in mehr oder weniger flüchtiger Wahnbildung äußere. Die Neigung zu wahnhafter Auffassung trete vorübergehend so stark hervor, daß Patientin als geistig krank angesehen werden müsse. Das kreisärztliche Gutachten zeigt, daß der Herr Gutachter die tief tragische Umwandlung der Persönlichkeit der Frau v. X. mit ihren allmählich ungeheuerlich wirkenden Folgen nicht in ihrer Bedeutung erkannte. Sonst wäre es nicht verständlich, daß der Herr Gutachter auf Grund des überreichen Materials nicht ohne weiteres urteilen zu können glaubte, ob eine geistige Erkrankung bei Frau v. X. vorgelegen hätte, wohl aber nach diesem Material »die Erklärung für das Verhalten der Klägerin keineswegs ausgeschlossen hält, daß sie unter dem Einfluß einer wenig befriedigenden Ehe zu einer Überreizung und Erschöpfung des Nervensystems kam, welche durch das, was ihr Anwalt behaupte, wenn nicht hervorgerufen, so doch in ihrer Entwicklung gefördert wurde.« Der Herr Gutachter zählt die Klägerin zu jenen Frauen, »welche das Gegenteil von den sogenannten sexuell kalten Persönlichkeiten darstellten. Indem sie das nicht fand, was sie infolge ihrer Eigenart erwartete, mußte sie zu einer nervösen und geistigen Erschöpfung gelangen, in welcher sie ihr Urteil zeitweilig, speziell so weit es sich um den gedachten Gegenstand handelt, für längere Zeit täuschte, ohne daß aber deshalb ihr Verhalten hätte für krankhaft angesehen werden müssen. Soweit ihre Auffassung sich aus ihren Briefen und ihren Äußerungen während der letzten Woche beurteilen läßt, konnte sie sehr wohl das Produkt einer geistigen Erschöpfung und einer für sie ungenügenden sexuellen Befriedigung (Coitus interruptus) gewesen sein. Es würde sich alsdann möglicherweise um einen Zustand gehandelt haben, der die physiologische Breite noch nicht überschritten hatte, indes mit einer mangelhaften Leistung auf dem Gebiete des Urteilsvermögens als Folge eines krankhaft bedingten Geisteszustandes in mancher Hinsicht übereinstimme.«

Also die Umwandlung einer geistig hochstehenden, gemütvollen, dem denkbar besten Lebensmilieu entstammenden Persönlichkeit bis zur Abwendung von allen angestammten Lebenswerten sieht der Herr Gutachter nur als ein kaum die Grenzen der Norm übersteigendes Verhalten an, und zwar als alleiniges Produkt sexueller Nichtbefriedigung. Nur aus dieser, jedem psychologischen Erfahrungswissen widerstrebenden Auffassung konnte der Herr Gutachter auch urteilen, daß das Verhalten der Frau v. X. zu dem Hauptmann nur aus Anlehnungsbedürfnis erfolgte, – konnte er auch urteilen, daß er die Krankheitsgeschichten der Frau v. X. aus den Sanatorien für entbehrlich hielte, weil das als belastend für sie angeführte Material zeitlich zu weit zurückläge, – konnte er auch urteilen, daß die sehr wertvollen Niederschriften der Frau v. X. nur im Zustand psychischer Erregung geschehen wären, und daß die gewünschte Ausführlichkeit ihre Unaufrichtigkeiten oder Ungenauigkeiten mit verschuldete. Ganz besonders bedenklich ist es aber, daß der Herr Gutachter meinte, manche Äußerungen und Handlungen wären in ihrer psychopathischen Herleitung weniger pathologisch, als es zunächst den Anschein hätte. So will er es auch für erklärbar ansehen, daß man den Zustand der Frau v. X. für eine fortschreitende und unheilbare Krankheit hielte, »eine Diagnose, die sich durch ihre weitere Entwicklung als irrig erwies.« Und dabei stammte diese Diagnose von einem der ersten deutschen Psychiater, einem Manne von europäischem Ruf als Lehrer und Forscher, der Frau v. X. zehn Monate beobachtet hat.

Dieses unglückselige kreisärztliche Gutachten entschied über das Schicksal der Frau, indem es ihr die Prozeßfähigkeit gab. So blieb es ohne Einfluß, daß die Begründung der Klägerin, ihr Ehemann hätte die eheliche Pflicht verletzt, indem er gegen ihren Willen zur Verhütung weiteren Kindersegens den Coitus interruptus ausübte, als unbegründet erwiesen wurde. Das Gericht nahm sogar an, daß diese Art des geschlechtlichen Verkehrs nicht gegen ihren Willen geschehen wäre. Sie hätte diesen Verkehr, mag sie auch selbst eine volle Befriedigung darin nicht gefunden haben, jahrelang stillschweigend gestattet. Ja, das Gericht stellte es als tatsächlich fest, daß der Ehemann Kinder bekommen wollte und nur auf den Wunsch der Ehefrau in diese Art des Verkehrs willigte.

Es wurde auch der weitere Vorwurf zurückgewiesen, daß der Ehemann ohne tatsächliche Grundlage ihre geistige Erkrankung behauptet hätte. Das Gericht nahm sogar im Gegenteil an, daß der Ehemann auf Grund der Berichte der Ärzte und auf Grund des eigenen Verhaltens der Klägerin der Meinung sein mußte, sie wäre geisteskrank. Endlich aber erachtete das Gericht nach dem Gutachten des Sachverständigen sogar als festgestellt, daß die verschiedenen Liebesleidenschaften in ihrem damaligen krankhaften Zustand ihre Erklärung fänden. Trotzdem wurde Frau v. X. für prozeßfähig erachtet und mußte nunmehr in vollem Umfange die Vorwürfe tragen, die der Ehemann erhoben und beweiskräftig unterstützt hatte. Der Raumersparnis wegen soll die kritische Würdigung der zahlreichen Briefe fortbleiben. Mein Schlußgutachten lautete:

»Wenn ein Gutachten nur auf Grund aktenmäßiger Belege erstattet werden muß, entspricht es meiner Gepflogenheit, das Schlußurteil durch den Vorbehalt einzuschränken, daß das Schlußurteil nur volle Gültigkeit besitzen soll, sofern die das Gutachten stützenden Unterlagen gerichtlicherseits als wahr erwiesen werden. Im vorliegenden Falle kann dieser Vorbehalt fortfallen, da für mich keinerlei Zweifel an der vollen Richtigkeit des Materials bestehen. Anders ist es mit einem Vorbehalt bestellt, der sich aus der Unmöglichkeit ergibt, die Provokatin persönlich untersuchen zu können, da so der gewichtige persönliche Eindruck nicht mit verwertet werden kann. Auch dieser Vorbehalt schrumpft hier zur Bedeutungslosigkeit zusammen, da das vorliegende Tatsachenmaterial dem Gutachter hinreichende Fingerzeige gibt.

Die Beantwortung der Hauptfrage nach der geistigen Verfassung der Frau v. X. gliedert sich in drei Unterfragen:

1. Wie war der Geisteszustand zur Zeit des ersten Versuches, die Ehe von Herrn X. zu trennen, und in den folgenden Monaten des Jenenser Aufenthaltes, also in der Zeit etwa vom Herbst 1909 bis Herbst 1910?

2. Wie war der Geisteszustand zur Zeit des kreisärztlichen Urteils und weiter bis zum Ehescheidungsurteil?

3. Wie ist der Geisteszustand bis zur Gegenwart?

Für die Beantwortung der ersten Unterfrage müßte es genügen darauf hinzuweisen, daß kein geringerer als Geheimrat N., also einer der bedeutendsten Irrenärzte, auf Grund vielmonatlicher Beobachtung das eindeutige Urteil abgab: Geistesstörung mit Wahnbildung, und diese Erkrankung ausdrücklich für den Augenblick des Fortganges der Frau v. X. als ungeheilt bezeichnete. So schwer das N.sche Urteil an sich schon ist, so soll, um jedem Einwand zu begegnen, auch begründet werden, weshalb es dringend gewünscht werden muß, daß das entscheidende Gericht Herrn Geheimrat N. zu einem Gutachten über seine Erfahrungen mit Frau v. X. auffordert.

Aus dem eingehend geschilderten Tatsachenmaterial geht hervor, daß eine kluge, feingebildete, besterzogene Frau, die in l0jähriger ›ungetrübt glücklicher Ehe‹; als sorgsame Gattin und überaus pflichteifrige Mutter sich erwies, urplötzlich sich von allem abwandte, was ihr lieb und teuer war und lieb und teuer sein mußte. Sie wollte plötzlich geschieden sein, und zur Verfolgung dieser Idee brachte sie skrupellos Lügen vor. Sie verleumdete den Ehemann, sie fälschte alle Vorgänge der Vergangenheit, sie wandte sich lieblos von ihren Kindern ab, betrachtete ihre bisherige Ehe als ihrer unwürdig, als unmoralisch. Selbst den Bildern ihrer Kinder schenkte sie keinen Blick mehr, sah das Glück nur darin gewährleistet, wenn sie ihre Mutter verlieren. Ja, sie geht in der Verrückung ihres Urteilens soweit, daß sie ihre Kinder nicht als ihre Kinder betrachtet, weil sie sie von dem verabscheuten Manne empfangen hat. Was jede, selbst in der unglücklichsten Ehe lebende Frau überaus peinlich empfindet, die intimsten sexuellen Beziehungen des Ehelebens vor anderen Menschen zu entschleiern, tut sie skrupellos, unbekümmert um das Urteil anderer, unbekümmert um die Gefahr für die Lebensstellung des Mannes und ihr eigenes Geschick, unbekümmert auch um die Unwahrhaftigkeit ihrer Behauptungen. So handelte eine Frau plötzlich, die noch kurz zuvor an Mann und Eltern glückerfüllte Briefe gesandt hatte.

Gleichzeitig mit dieser Wandlung natürlichster Empfindungen bis ins Gegenteil, gleichzeitig mit der skrupellosen Tendenz, alles Lebensglück von Grund aus zu zerstören, tauchen erotische Anwandlungen auf, plötzlich zu ungewöhnlicher Stärke anwachsend und immer deutlicher wahnhaft begründet und verarbeitet. Während Patientin von der ersten erotischen Anwandlung einer Zuneigung zu einem jungen Engländer noch aus eigener Kraft flieht, verfällt sie einer zweiten Neigung zu ihrem Arzte bis zu ausgesprochen motiviertem Handeln. Aus seinem Blick, aus seinem Handschlag, aus seinen freundschaftlichen Worten liest sie lauter Liebesgeständnisse. Vergeblich versicherte ihr der Arzt, daß sie falsch beobachtet, falsch gedeutet hätte, vergeblich teilt er ihr sogar seine Verlobung und Verheiratung mit. Sie blieb in ihrem Wahn befangen, ließ von dem Wahn allmählich ihr ganzes Denken erfüllen, machte die abenteuerlichsten Zukunftspläne, glaubte sogar die Aufgabe ihrer Kinder von dem Arzt gefordert. In ihren Briefen drückt sich ihr Sehnen nach dem Arzt in seltsamsten Ideengängen und Formen aus, ja, trotz all seiner eindeutigen Ablehnung verharrt sie in ihrer Überzeugung und verschmäht auch nicht lügnerische Angaben, um sich ihm willkommener zu machen. Da sie weiß, daß er überzeugter Jude ist, zögert sie nicht, ihren Familiennamen und ihre Familienvergangenheit zu fälschen und einen jüdischen Ursprung herzuleiten, außerdem ihre stets persönliche Zuneigung zu Juden zu bezeugen. Daß sie hierbei recht geschickt verfuhr, sei ausdrücklich betont. Unbelehrbar für die gänzliche Haltlosigkeit all ihrer Beobachtungen, folgt sie schließlich allein dem inneren Drang, flüchtet nach Berlin, dringt in die Wohnung des Arztes und überzeugt sich hier von der tatsächlichen Existenz einer Ehefrau. Wenn es schon damals nicht zum Skandal kam, dann wohl nur, weil der betreffende Arzt sich zunächst zurückhielt.

Wir haben also eine Umwandlung der ganzen Persönlichkeit, eine Verrückung ihres Ichs zur Außenwelt, eine Umwandlung des ethischen Empfindens, einen Verlust der ursprünglichsten Gattin- und Mutterpflichtgefühle mit wahnhafter Verarbeitung von Eindrücken mannigfachster und wechselnder Art und mit an Stärke schwankenden erotischen Neigungen. Da die Grundfaktoren der Vorstellungs- und Urteilsbildung nicht mitgeschädigt sind, nur infolge der Verrückung des ganzen Ichs falsch aneinandergefügt werden, ist das Resultat nicht verwunderlich, nämlich eine wahnhafte Urteilsbildung mit äußerlich blendendem, scheinlogischem Aufbau. Daß ein so bedeutender Psychiater wie Geheimrat N. diesen Mechanismus klar erkannte, ist nicht verwunderlich und so ist es durchaus begreiflich, daß er eine geistige Störung mit Wahnbildung feststellte. Dabei soll natürlich nicht verkannt werden, daß diese sich erst auf dem Unterbau einer psychopathischen Konstitution entwickelte, und auch hysterische Züge nicht fehlen.

Ehe wir die zweite Unterfrage beantworten, empfiehlt es sich, eine Einzelheit zu würdigen, die auf den Laien verwirrend wirken kann. Es ist das die vielfach nach verschiedenen Schulen wechselnde Bezeichnung ›geistige Erkrankungszustände‹;. Für den Juristen am besten faßbar und brauchbar ist das Jenenser Schlußurteil: Geistige Störung mit Wahnbildung.

Ob und wie diese geistige Störung von den Jüngern der einzelnen Schulen bezeichnet werden müßte, ist für die rechtliche Wertung gleichgültig, wobei noch außerdem in Betracht kommt, daß geistige Erkrankungszustände fließende Übergänge zur Norm haben. Die spezielle Namengebung wirkt aber auch deshalb verwirrend, weil die Begriffe der ganzen Geisteskrankheit und Geistesschwäche nur Gradabstufungen darstellen, während sie für den Psychiater Krankheitszustände bezeichnen.

Frau v. X. hat die Neigung zu ihrem Hausarzt, die nach ihrer Beteuerung unaustilgbar ihr Lebensinhalt sein sollte, recht schnell verschwinden und eine neue Neigung an ihre Stelle treten lassen zu Professor H. Auch hier zeigt sich der gleiche Mechanismus. Wieder wahnhafte Auffassung, die nicht einmal durch irgendein Wort, geschweige denn eine Handlung des Arztes genährt wurde, und für jeden, der Prof. H. kennt, sicherlich ganz besonders verzerrt erscheinen muß. Auch hier wieder die Überzeugung, daß die Leidenschaft unaustilgbar sei, bis Frau v. X. deutlich abgewiesen wird. Nun haßt sie Prof. H. mit gleicher Stärke. Die Tiefe der diesmaligen Leidenschaft hinderte aber wieder nicht, daß eine neue Persönlichkeit sie in gleicher Weise fesselte. Jetzt ist es Hauptmann v. B., und hier zeigt sich die alte Erfahrungstatsache bestätigt, daß kranke Persönlichkeiten sich gegenseitig besonders anziehen. Auch jetzt vergaß Frau v. X. ihr ehemaliges Leben, Mann, Kinder, Stellung, sie vergaß sogar alle Rücksichten auf Welt und Menschen und folgte nur hemmungslos den treibenden Impulsen, die ihr Schicksal besiegeln sollten. Auch allen Einwänden des Vaters gegenüber, allem Tatsachenmaterial gegenüber, das der Vater ihr über Hauptmann v. B. erbrachte, blieb sie einsichtslos. Sie reichte die Scheidungsklage ein. Skrupellos brachte sie hier als Ehescheidungsgrund eine Tatsache vor, die in fast allen Ehen besteht und zu den Ehenotwendigkeiten gerechnet wird – den co. Skrupellos schob sie auch ihrem Gatten die Schuld darin zu und mußte erst vor Gericht die Erkenntnis bekommen, daß sie selbst der ursprünglichste Anlaß zu der von ihr so hart angeschuldigten sexuellen Verkehrsart war. Skrupellos ließ sie sich aber auch schon vor der Scheidung in sexuelle Beziehungen mit v. B. ein und liefert so dem Ehemanne das Material gegen sich.

Und was findet Medizinalrat Y. in diesem unbestreitbaren und nur allzudeutlich verschobenen Denken, Handeln und Fühlen?

Obwohl er ausdrücklich erklärt, auf Grund des ihm überwiesenen Materials ›nicht ohne weiteres urteilen zu können‹;, ob eine geistige Erkrankung bei der Klägerin vorgelegen hat, urteilt er doch, und zwar hält er ›nach diesem Material die Erklärung für das Verhalten der Klägerin keineswegs ausgeschlossen, daß sie unter dem Einfluß einer wenig befriedigenden Ehe zu einer Überreizung und Erschöpfung des Nervensystems kam, welche durch das, was in dem Schreiben ihres Rechtsanwalts erwähnt wird, wenn nicht hervorgerufen, so doch in ihrer Entwicklung gefördert wurde.‹;

Also von der ganzen Verrückung der Persönlichkeit der Frau v. X., von ihren wahnhaften Ideengängen, von ihrer Umdeutung der Eindrücke, der Worte, der Bewegungen, von der Lockerung des Empfindungslebens und der ethischen Hemmungen sieht er nichts und findet nur eine Überreizung und Erschöpfung des Nervensystems unter dem Einfluß einer wenig befriedigenden Ehe. Daß auch die Prämisse einer wenig befriedigenden Ehe falsch ist, sei noch ausdrücklich erwähnt. Medizinalrat Y. unterstellt auch als Tatsache, was ihm die Patientin erzählt, wenn er anführt, die Trennung von ihren Kindern sei ihr schwer gefallen und habe ihr namentlich den Aufenthalt in Jena erschwert. Und was lehrt das Tatsachenmaterial? Daß Frau v. X. in Jena von ihren Kindern nichts wissen wollte, nicht einmal ihre Bilder ansah, ja sie nicht einmal als ihre Kinder betrachtete, weil sie von dem verabscheuten Manne empfangen waren.

Ganz unverständlich ist aber der Y.sche Ideengang, daß Frau v. X. zu einer nervösen und geistigen Erschöpfung gelangen mußte, in welcher sie ihr Urteil zeitweilig, soweit es sich um den gedachten Gegenstand handelt, für längere Zeit täuschte, weil sie in der Ehe das nicht fand, was sie infolge ihrer Eigenart erwartete. Aus dieser Auffassung heraus erachtet der Herr Gutachter das Gesamtverhalten der Frau v. X. ›sehr wohl als Produkt einer geistigen Erschöpfung und einer für sie ungenügenden sexuellen Befriedigung‹;.

An sich erscheint es unnötig, überhaupt noch die Frage zu erörtern, ob die Art des sexuellen Verkehrs, der coitus interruptus, hier mitgesprochen hat, denn, wie ich gezeigt habe, handelt es sich um eine Umwandlung des ganzen Seelenlebens der Persönlichkeit. Wenn ich doch mit einigen Worten darauf eingehe, so geschieht es nur, um nachdrücklichst die Auffassung des Medizinalrats Y. zu bekämpfen, weil sie jedem mit sexualwissenschaftlichen Fragen vertrauten Forscher als haltlos erscheint. Ganz abgesehen von der Tatsache, daß zahllose Frauen ein ganzes Leben hindurch ohne Sexual verkehr auskommen müssen und davon nur kaum nennenswerte Beeinträchtigungen erfahren, kann der coitus interruptus nur vorübergehende, neurasthenische Erscheinungen in Form von Kopfdruck und leichtem Beklemmungsgefühl hervorrufen, niemals aber eine Störung des Geisteslebens bewirken.

Wenn weiter Medizinalrat Y. die Beziehungen zu v. B. nur aus dem Anlehnungsbedürfnis erklärt und die Krankengeschichte aus den Krankenhäusern für entbehrlich erachtet, so braucht diese Auffassung nicht erst kritisch gewürdigt zu werden. Die Einholung des Beobachtungsmaterials aus Jena hätte dem Herrn Gutachter sicherlich bewiesen, wie irrtümlich er die Eigenart der Frau v. X. beurteilt hat.

Was nun die drei Unterfragen anlangt, wie der Geisteszustand der Patientin seit der Trennung der Ehe mit dem ersten Manne gewesen ist, so ist kein Zweifel, daß auch in dieser Zeit krankhaft bedingte Neigungen und Handlungen sich zeigten. Ob die Ehe mit v. B. tatsächlich nur deshalb bald in die Brüche ging, weil v. B. mit der nervösen Frau, wie er sagte, nicht mehr auskommen konnte, oder ob seine eigene Eigenart und seine Lebensweise dabei die Hauptrolle spielten, oder ob beide Faktoren dabei zusammenwirkten, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls muß der entstehende Konflikt schon sehr arg geworden sein, wenn Frau v. X. aus Angst, erwürgt zu werden, von ihrem Manne flüchtete. Trotz jenes Erlebnisses bleibt aber ihre krankhafte Eigenart unverändert. Statt des mehr als gerechtfertigten Dankgefühls, das sie für ihre Eltern haben sollte, weil diese sie trotz allem, was sie ihnen angetan hatte, wieder aufnahmen, statt der Anerkennung all der Liebe, die sie ihr angedeihen ließen, obwohl sie sie wirklich nicht verdient hatte, heuchelte sie nur Dankbarkeit, benutzte aber den Zeitpunkt, um kraß egoistischen Sonderinteressen nachzugehen. Wie sehr ihr der Überblick über ihre Lage, speziell über ihre finanzielle Lage, abhanden gekommen war, lehrt die Tatsache, daß sie trotz notwendiger materieller Einschränkungen Luxusausgaben zweckloser Art sich leistete wie Anschaffungen von Armbändern, Pelzen, ja, daß sie in dem Augenblick, wo sie bei Auflösung ihres Haushalts ihre Möbel unterzubringen gezwungen war, einen kostbaren Salon sinn- und zwecklos erwarb. Endlich aber zeigt sich die immer weitergehende krankhafte Abartung ihres ethischen Empfindens darin, daß sie am 40 jährigen Hochzeitstage ihrer Eltern der Mutter eine Klage übermitteln ließ. Anscheinend sind auch diese Handlungen nur ein Beweis ihrer krankhaften Beeinflußbarkeit. Wie sie inneren Impulsen hemmungslos sich hingibt, so scheint sie auch äußeren Einflüssen in gleicher Weise zu unterliegen. Hiernach kann das Schlußurteil folgendermaßen lauten:

1. Frau v. X. leidet an einer mit Wahnbildung einhergehenden, das gesamte Seelenleben in Mitleidenschaft ziehenden geistigen Störung, die auf dem Boden einer psychopathischen Konstitution erwachsen ist und auch mancherlei hysterische Züge, namentlich in der Wandelbarkeit der Erscheinungen zeigt. Die Krankheit schwankt an Stärke. Es lehrt aber die Fortentwicklung des Leidens, daß sie immer mehr Dauererscheinung wird.

2. Frau v. X. ist im Sinne des § 6 BGB. infolge Geisteskrankheit außerstande, ihre Angelegenheiten zu besorgen.

Eine weitere Beobachtung ist besonders instruktiv, weil hier der Ehemann genaue Notizen gemacht hat. Gräfin X., 20 Jahre alt, einzige Tochter eines hohen Offiziers, war öfters im Sanatorium, hat Mastkuren wegen seelischer Abspannung durchgemacht. Ihr einziger Bruder ist schwachsinnig. Der Ehemann, Graf X., ist 45 Jahre alt. In der Ehe kam es infolge der Auffälligkeiten der Gräfin bald zu schweren Zerwürfnissen. Die Gräfin zeigte sich vollständig, unfähig, den Haushalt zu übersehen und zu leiten. Sie neigte zu sinnloser Verschwendung und zum Luxus, verzankte sich mit ihrem ganzen Dienstpersonal. Selbst das geringfügige wirtschaftliche Rechnen mußte ihr abgenommen werden. Von Geld und Geldeswert hatte sie keine Ahnung. Schon während der Hochzeitsreise wünschte sie, daß der Graf sich ein Mädchen hielte. Später wiederholte sie den Wunsch öfters, empfahl ihm sogar bestimmte Mädchen. Damit der Graf an sie dächte, gab sie ihm Seitenstöße. Arbeitete er in seinem Arbeitszimmer, so klopfte sie an die Tür, trat sogar mit den Füßen dagegen und störte ihn dann andauernd. Mitunter stürzte sie sich ihm plötzlich zu Füßen, wünschte das Fell unter dem Schreibtisch zu sein. Sie stand nicht vor 10, meist nicht vor 12 Uhr auf, nahm ihr Frühstück im Badezimmer, ließ die vor ihrem Aufstehen ausgeführten Reinigungsarbeiten dann zwecklos wiederholen. Im Elternhause war sie anscheinend sehr verzogen. Ihre Person scheint im Vordergrunde gestanden zu haben. So heißt es immer: das kann ich, das weiß ich, das mache ich usw. Sie ist mißtrauisch und eifersüchtig gegen alle Personen, zu denen der Graf freundlich ist.

Eines Tages sprang sie aus dem Bett, kauerte, nur mit dem Hemd bekleidet, in einer Zimmerecke nieder, höchste Angst in den Gesichtszügen, den Mund zum Grinsen verzerrt, schrie: »Rühre mich nicht an, du bist der Tiger, du bist mein Feind, du willst mich im Namen Deiner Mama erschießen«, warf dem Manne Kuchen ins Gesicht, sammelte die Stücke dann vom Erdboden auf, schrie, daß sie krank werden wollte, um zu sterben. Obwohl sie viel Personal hatte, behauptete sie, keinen Menschen zur Bedienung zu haben. Sie bürstete den Teppich eigenhändig mit dem Handfeger. Schrei- und Weinszenen wiederholten sich immer wieder. Sie rennt mit dem Kopf gegen die Tür, tritt ihren Mann mit Füßen, verdächtigt ihn der Liebesbeziehungen zum Personal, sogar zu den Dienern, zerkratzt den Grafen oft, daß er blutet, kratzt dann wild ihre Arme, kneift das Fleisch, daß die Nägelspuren zurückbleiben, ruft: »Ich will mich kratzen, daß es ordentlich blutet, ich will diese Wunden zum Andenken an diesen Tag behalten. Wenn Du doch auch mich kneifen und schlagen wolltest, das wäre wonnig.«

Eines Abends wünschte sie, mit dem Manne allein zu sprechen. Sie schloß die Tür ab, warf sich auf die Erde, umklammerte seine Füße und biß ihn in die Waden. Sie machte dem Manne vor dem Personal aus sinnlosen Gründen Szenen, zweifelte seine Worte an. Von 3600 Mark jährlich für ihren persönlichen Bedarf behauptete sie, sich kein Kleid kaufen zu können. Manchen Tag jammerte sie um jede Kleinigkeit, manchen um gar nichts. Sie lügt, sagt den Leuten Schlechtigkeiten nach, beschuldigt sie des Diebstahls, macht ihnen Vorwürfe wegen Unsauberkeit. Sie läßt sogar Sonntags Fenster putzen. Ihr Tagewerk war höchst eigenartig. Sie las sehr wenig, musizierte nicht, zeichnete nicht, malte nicht, empfing keine Freunde. Wollte sie ausgehen, verbrachte sie den größten Teil ihrer Zeit mit der Toilette und dem Bad. Nachmittags legte sie sich meist lang auf den Teppich. Mein Gutachten lautete:

»Überblicke ich das gesamte mir unterbreitete und hier wiedergegebene Tatsachenmaterial, auf das sich mein Gutachten stützen kann, so muß ich zuvörderst aussprechen, daß mit positiver Bestimmtheit ich nur über das urteile, was mich die eigene Beobachtung gelegentlich der persönlichen Untersuchung der Gräfin X. kennen lehrte, daß ich aber das weitergehende Urteil, welches sich aus dem von dem Grafen X. und seinen Angestellten mitgeteilten Tatsachenmaterial aufbaut, nur unter dem Vorbehalt abgebe, daß dieses Tatsachenmaterial sich vollgültig erweist.

Zuvörderst betone ich, daß die Gräfin X. bei der persönlichen Untersuchung keine auffällige krankhafte Veränderung des Seelenlebens erkennen ließ. Sie gab in fließender Rede inhaltlich bestimmt die Entwicklung ihres Ehelebens wieder und schilderte die angeblichen, das eheliche Zerwürfnis bestimmenden Faktoren so, wie sie ihr von ihrem persönlichen Standpunkte anschuldigungswert erschienen. Ja, die Gräfin zögerte nicht, persönlich ein Ereignis mitzuteilen, das ich zuvor noch gar nicht kannte, nämlich die Tatsache, daß sie den Grafen, als er vor der Abreise nach Breslau ihr angeblich zu kühl Adieu sagte, in ihrer Erregung ins Bein biß. Als ich der Gräfin mein Erstaunen aussprach, wie sie sich soweit hinreißen lassen konnte, um so sinnlos tierisch zu handeln, gab sie lächelnd ihre Schuld zu und erklärte, nicht begreifen zu können, wie es gekommen wäre.

Das zweite gewichtigere Faktum, – nämlich den tatsächlichen Erregungszustand im November 1908 mit vollkommener Verwirrtheit, mit illusionärer Umdeutung der Person des Grafen, – suchte sie als harmlos darzustellen, in seinen Einzelheiten abzuschwächen und vor allem in der Weise zu erklären, daß nur Erinnerungsbilder aus früheren Tagen, speziell der Kosename ›Tiger‹;, mit dem sie den Grafen in der Verlobungszeit bezeichnet hätte, in jener Nacht und unter dem Einfluß starker Erschöpfung ihr eingefallen wäre. Angeblich sei der ganze Vorgang durchaus harmlos gewesen. Vergeblich rekonstruierte ich der Gräfin den Vorgang, wie er sich tatsächlich abspielte, vergeblich suchte ich ihr begreiflich zu machen, daß ich diesen Vorgang als einen hysterischen Dämmerzustand ansehen müßte, – die Gräfin blieb unbelehrbar.

Wenn ich nunmehr auch aussprechen muß, daß die Gräfin zur Zeit meiner Untersuchung keine krankhaften Veränderungen des Seelenlebens bot, auch keine krankhafte Affektlage verriet, so besagt es natürlich nicht, daß die Gräfin zu andern Zeiten nicht anders sein konnte oder anders war. Letzteres muß ich aber als Tatsache annehmen, denn

1. lehrt die Handlung, zu der sich die Gräfin kurz vor der Abreise nach Breslau hinreißen ließ, nämlich den Grafen ins Bein zu beißen, daß sie krankhaften Zornaffekten unterworfen ist, in diesen triebartig zügellos handelt, vielleicht auch sadistischen Regungen folgt;

2. lehrt der Vorgang vom November 1908, daß die Gräfin vorübergehend einen hysterischen Dämmerzustand von stundenlanger Dauer mit vollständiger Verwirrtheit hatte.

Ob dieser Dämmerzustand nur auf dem Boden eines hysterischen Grundnaturells erwuchs oder durch äußere erregende und erschöpfende Momente, wie Erkrankung und Nahrungsenthaltung, mitbeeinflußt wurde, lasse ich dahingestellt; bemerke aber ausdrücklich, daß nach Angabe des Grafen das Fieber an dem Tage gar nicht bestanden haben soll. Wie dem auch sei, jedenfalls spricht der ganze Vorgang dafür, daß eine krankhafte Grundanlage des Nervensystems vorliegt, unter seelischer Ruhe schlummert und durch äußere Anlässe bis zu diesen extremen Verwirrtheitszuständen erwachen kann.

Wenn ich nunmehr von der persönlichen Beobachtung der Gräfin und von der Würdigung der dort besprochenen auffälligen Tatsachen zur Bewertung des anderweiten Tatsachenmaterials übergehe, das Graf v. X. selbst und die oben erwähnten Angestellten schildern, so erscheint nach allem die Gräfin in ähnlichem Licht mit einem übereinstimmend gezeichneten Grundnaturell. Als dessen Hauptzüge treten in Erscheinung: ›Luxuriöse Neigungen, Unfähigkeit zu geordneter Haushaltsführung, Seltsamkeiten der Lebensweise, mangelnde Wahrheitsliebe, mißtrauisches Wesen, Launenhaftigkeit, Egoismus, Selbstüberschätzung, störendes, quälerisches Verhalten gegenüber dem Grafen, mangelnde Rücksicht auf Ort und Umgebung gegenüber dem Grafen, fehlendes Verständnis für eine ernste, angestrengte Konzentration erfordernde Tätigkeit, Auffälligkeiten des ethischen Empfindens, Zornaffekte bis zur Sinnlosigkeit, ausgesprochen hysterische Dämmerzustände‹;.

Wenn ich zunächst die luxuriösen Neigungen der Gräfin und ihre Unfähigkeit zu geordneter Haushaltsführung betrachte, so hegt hierfür die bestimmte Erklärung des Grafen zum Beweise vor, wonach die Gräfin von Geld und Geldeswert keine Ahnung habe, wonach ihr das geringfügige wirtschaftliche Rechnen abgenommen werden mußte, wonach die Gräfin sinnlos mit der ihr zugeteilten Summe umgehe und nicht für die einfachsten Anforderungen des Haushalts zu sorgen wisse. Mit einem Nadelgeld von 3600 Mark jährlich wolle sie sich kein Kleid kaufen können.

Im Einklang mit diesen Angaben steht, was Fräulein P. erwähnt, wenn sie von der Gräfin erzählt, daß diese die hohen Beträge der Wochenrechnung dem Umstände beimaß, daß der Graf täglich ein halbes Pfund Käse äße. Gleichfalls im Einklang steht damit, wenn Fräulein M. angibt, daß die Gräfin fortwährend bei ihren Eltern sei, sich einige Tage um jede Kleinigkeit, andere Tage um nichts kümmere, bis 2 zu Bett liege, im Haushalt alles, was vormittags geschehen sei, nach ihrem Aufstehen wiederholen lasse, sogar Sonntags Fenster putzen lasse, den größten Teil des Tages mit der Toilette und im Bett verbringe oder schlafe und die Teppiche bei verschlossenen Fenstern fegen lasse. Gleichfalls steht damit im Einklang, was der Diener B. erzählt, und was die Aufwartefrau angibt, wonach die Gräfin oft wegen einer Ausgabe von 10 Pfennigen schelte, auf der andern Seite zwecklose Ausgaben mache, sich stundenlang im Badezimmer aufhalte und dort sogar frühstücke.

Es sei ausdrücklich bemerkt, daß alle Zeugen von der – Neigung der Gräfin erzählen, bis gegen Mittag zu schlafen oder im Badezimmer zu bleiben und dort sogar zu frühstücken. Erwähnt wird auch die merkwürdige Art, in der die Gräfin Nachmittagsruhe hält: nämlich auf dem Teppich liegend.

Gleich übereinstimmend lautet das Urteil, wonach die Gräfin egoistisch, launenhaft, mißtrauisch, wenig wahrheitsliebend, störend rücksichtslos gegen den Grafen und ohne Verständnis für dessen Tätigkeit sein soll. Was Graf v. X. selbst von der Unverträglichkeit gegenüber dem Personal, von der rücksichtslosen Behandlung desselben erzählt, wird von dem Personal bestätigt. Es erscheint fast unbegreiflich, wie der Graf unter den geschilderten Verhältnissen ernst arbeiten konnte, wenn die Gräfin unter nichtigen Vorwänden ihn zu stören suchte, ihn in Gegenwart der Umgebung malträtierte oder seine Wahrheitsliebe anzweifelte, ihn ironisierte, Lärmszenen aufführte, Schreikrämpfe bekam, die durch die ganze Wohnung gehört wurden, und sich bis zu sinnlosesten Affekthandlungen hinreißen ließ. Falls die Angaben des Personals zutreffen, – und die Angaben lauten zu bestimmt, um bezweifelt werden zu können, – muß auch die Wahrheitsliebe der Gräfin höchst bedenklich sein. Ganz besonders bedenklich muß ich aber ihr ethisches Empfinden halten, wenn sie schon auf der Hochzeitsreise ihrem Gatten riet, sich ein anderes Mädchen zu nehmen, solches selbst empfahl, auf der anderen Seite aber den Grafen und das Personal geschlechtlicher Verfehlungen selbst sinnloser Art bezichtigte. Endlich bleibt noch der ausgesprochene Verwirrtheitszustand vom November.

Das gesamte Tatsachenmaterial läßt keinen Zweifel darüber, daß die Gräfin einen ausgesprochen hysterischen Charakter besitzt mit allen der Hysterica zukommenden Eigentümlichkeiten. Alle Vorstellungen, die das eigene Ich betreffen, sind von lebhafteren Gefühlstönen begleitet und wirken erregend oder hemmend auf das gesamte Nervensystem, insbesondere die Bewegungsfähigkeit und das Empfindungsleben ein. Im Vordergrunde steht das labile Verhalten aller psychischen Faktoren, die schwankende Gemütslage, die durch jeden Reiz irritiert wird und zur Verstimmung und Exaltation neigt, die Lebhaftigkeit, Übertreibungssucht, phantastische Lüge und Unfähigkeit zur konzentrierten Tätigkeit, Schreiszenen, Verwirrtheit mit ausgesprochenen Illusionen. Durchaus verständlich ist es auch, wenn die Gräfin bei der Untersuchung durch Ärzte sich korrekt verhält, so daß ihr sonstiges Verhalten kaum glaubhaft erscheint.

Wenn es auch nicht meine Aufgabe ist, den Grafen zu beurteilen, so möchte ich es doch ausdrücklich betonen, wie günstig er von den Angestellten beurteilt wird. Ich möchte aber auch nicht verfehlen, selbst auszusprechen, obgleich es sich nur um meinen, subjektiven Täuschungen unterworfenen Eindruck handelt, daß der Graf den denkbar besten Eindruck auf mich machte, daß er in seinem Wesen stets, wie sehr ihn auch die Ereignisse berührten, seelische Ruhe wahrte und in allen Bekundungen gleichmäßig korrekt blieb.

Zum Schluß mochte ich auch noch die Frage beantworten, ob die Krankheit der Gräfin erst in der Ehe entstand. Nach der geltenden wissenschaftlichen Lehre ist solche Krankheit angeboren; es ist aber auch möglich, daß das hysterische Grundnaturell jahrelang latent bleibt. Vielleicht weist die körperliche und seelische Abspannung, an der die Gräfin nach ärztlichem Urteil einmal vor der Ehe gelitten haben soll, und während deren schon abnorme seelische Erscheinungen aufgetreten sein sollen, auf ein Offenbarwerden der Grundhysterie hin. Ein bestimmtes Urteil läßt sich zur Zeit hierüber noch nicht abgeben. Zu ihrer derzeitigen Stärke scheint sich das Leiden erst unter den neuartigen Anforderungen der Ehe entwickelt zu haben.«

Nicht nur in den geschilderten persönlichen Beobachtungen, auch in der allgemeinen nervenärztlichen Erfahrung fällt es mir auf, wie oft die hysterische Frau, die später zum Verhängnis des Ehemannes wird, einziges Kind ist. Die Vermutung liegt nahe, daß hier neben der zufälligen angeborenen Anlage noch unsachgemäße, verzärtelnde, verweichlichende Erziehungsmaximen verhängnisvolle Strebungen züchten, nicht zum mindesten, weil auch die abschleifende Wirkung der Gemeinsamkeitserziehung von Kindern fehlte.

 

Der Begriff der arglistigen Täuschung im Sinne des §1334 könnte Anwendung finden in einem Falle, wo ein verbrecherischer, mit Gefängnis vorbestrafter Mann eine liebessehnsüchtige Witwe aus höheren Gesellschaftskreisen durch raffinierte suggestible Beeinflussung im Wachzustande und hypnotischem Schlafzustande zu so automatischer Hörigkeit brachte, daß sie selbst den posthypnotischen Befehl, ihn zu heiraten, trotz anfänglicher Widerstände ausführte. Wie eigenartig, selbst dem Laien auffällig, der Seelenzustand dieser »Braut« auf dem Standesamt gewesen sein muß, bewies mir die Tatsache, daß der Standesbeamte die Braut in solcher Seelenverfassung nicht trauen wollte, sie fortschickte. Doch der heimtückische Verführer ließ nicht von seinem Opfer, behandelte sie systematisch weiter und brachte sie schließlich in rein mechanischer Dressur zur Eheschließung. Das Erwachen kam schnell und so erschreckend, daß die Anfechtung der Ehe mit allen Mitteln betrieben werden und auch erreicht werden konnte. Auf hypnotischem Wege gelang es mir, den Hörigkeitsbann zu brechen.

Wie verhängnisvoll gerade die hypnotische Beeinflussung werden und geradezu sexuelle Hörigkeit züchten kann, lehrt der zu trauriger Berühmtheit gelangte Prozeß Czynski, und zwar handelt es sich hier nicht um eine krankhaft suggestible, hysterische Frau, sondern um eine Frau, von der Grashey in seinem trefflichen Gutachten sagt: »Ihr Charakter hatte keinen hysterischen Zug« Der Prozeß Czynski. Ferdinand Enke, Stuttgart 1905, S. 50.. Allerdings war sie zur finanziellen Ausbeutung durch einen skrupellosen Abenteurer, dem jedes Mittel recht war, ganz besonders geeignet, denn sie war ganz selbständig, vertrauensselig, für spiritistische Dinge besonders lebhaft interessiert und hochgradig suggestibel.

Der skrupellose Hypnotiseur entpuppte sich während der Beobachtung als ausgesprochener Hysteriker, und dieser Hysteriker verstand es, einer Dame des Adels die Überzeugung beizubringen, daß sie von Gott berufen und bestimmt wäre, seine von Sünden beladene Seele zu retten. Er verstand es, diese Überzeugung so mächtig werden zu lassen, daß sie ihn retten wollte, und wenn sie dabei zugrunde ginge. Zu dem Zweck hypnotisierte er sie durch Auflegen der Hände, Streichungen und Suggestionen, erklärte ihr in solchem Zustande einmal seine Liebe und wiederholte das später mündlich und schriftlich. Diese suggerierte Beeinflussung machte sie zu seinem willenlosen Werkzeug, zu seinem willenlosen Opfer, Sie glaubte noch an seine Ehrenhaftigkeit, als sie einsehen mußte, daß die Trauung eine Komödie gewesen war, die Trauscheine gefälscht waren. Erst lange, nachdem sie dem Einfluß entzogen war, erlosch der Einfluß von Schrenck-Notzing, »Die geschichtl. med. Bedeutung d. Suggestion«. Groß' Archiv. Leipzig. F. C. W. Vogel. 1900. – von Schrenck-Notzing, »Der Fall Mainone«. Groß' Archiv. Bd. VII. – Preyer, »Ein merkwürdiger Fall von Faszination«. Stuttgart. Enke. 95..

Wenn solch ein verhängnisvoller Einfluß auf das Sexualleben einer Frau möglich ist, die keinen hysterischen Zug hat, wieviel leichter ist er möglich bei einer hysterischen Frau, wo Phantasie- und Gefühlsleben das Verstandesmäßige überwiegen, Gefühlsreaktionen besonders leicht auslösbar sind, und die Suggestibilität und Autosuggestibilität lebhaft gesteigert ist. Hemmende Gegenvorstellungen werden dann nur zu leicht ausgeschaltet.

Endlich sei einer Lebensmöglichkeit gedacht, die dem ärztlichen Urteil bei Hysterischen besondere Schwierigkeiten machen kann, nämlich

der Fähigkeit einer Hysterischen zur Wiederaufnahme der zeitweilig unterbrochenen ehelichen Gemeinschaft.

Selten klar tritt das in L. W. Webers Ärztl. Sachverst.-Ztng. 1914. Nr. 24. casuistischer Mitteilung zutage:

»Eine 27jährige, seit zwei Monaten verheiratete Frau hatte die eheliche Wohnung verlassen und weigerte sich, zurückzukehren. Sie behauptete, daß ihre Gesundheit in physischer und psychischer Beziehung ernstlich und erheblich gefährdet sei, wenn sie zu ihrem Manne zurückkehren müßte. Schon der Gedanke an die Rückkehr errege sie schwer.

Das Gericht wollte nun wissen, ob sie wirklich ohne gesundheitlichen Schaden zu ihrem Manne zurückkehren könnte. Weber fand die Intelligenz unter Durchschnitt, nicht so gering, um sie als Schwachsinn zu bezeichnen, doch beschränkt im landläufigen Sinne –, weiter deutlich hysterische Symptome.

Die – berechtigte oder unberechtigte – Abneigung gegen ihren Ehemann, der Abscheu vor seinem Verhalten, vor dem Geschlechtsverkehr mit ihm, vor dem Lärm in der Fabrik, vielleicht auch die Furcht, schwanger zu werden, vielleicht auch die Einrede ihres Stiefvaters sind Momente genug, um bei einer beschränkten, hysterisch veranlagten Person ausgesprochene Krankheitszustande hysterischer Natur hervorzurufen. Schließlich genügt sogar die bloße Vorstellung, sie müsse zu ihrem Manne zurückkehren, um einen solchen krankhaften Zustand auszulösen. Ich verweise hier auf Babinskis feine Beobachtung: »Quand une émotion sincère secoue l'âme humaine, il n'y a plus de la place pour l'hystérie«. In der Tat antworten Hysterische nicht selten auf kleinste Kleinigkeiten mit unbändiger Reaktion und ertragen ganz schwere Ereignisse mit heroischem Mut und staunenswerter Energie. Für den krankhaften Charakter dieser Zustände ist es gleichgültig, ob die Ursache dafür besonders mißbräuchliche Handlungen oder ein tadelnswertes Verhalten des Ehemannes sind. Eine hysterisch veranlagte Person kann bei sonst ganz liebevollem Benehmen des Ehemannes solche Zustände infolge des erzwungenen Zusammenlebens mit ihm bekommen. Alle diese Momente kommen hier noch mehr in Betracht, weil die Frau nicht nur hysterisch veranlagt ist, sondern auch beschränkt ist; es fällt ihr viel schwerer als einem intelligenten Menschen, sich in neuen Verhältnissen zurechtzufinden, sich einzugewöhnen und unangenehme Eindrücke zu überwinden, während intelligente Hysterische oft über solche Schwierigkeiten Herr werden und gerade unter solchen gespannten Verhältnissen sich wohl fühlen. Da also feststeht, daß die Frau eine von Haus beschränkte, hysterisch veranlagte Person ist, ferner daß sie schon einmal unter dem Einfluß des Zusammenlebens mit ihrem Manne und sogar auf den Vorschlag hin, zu ihm zurückzukehren, mit ausgesprochen krankhaften, hysterischen Zuständen reagiert hat, so kann man nicht ausschließen, ja man muß als höchst wahrscheinlich bezeichnen, daß sie wieder in solche krankhafte Zustände verfallen wird, wenn man sie gegen ihren Willen zu ihrem Mann zurückschickt.

Solche Zustände sind aber geeignet, die Gesundheit in physischer und psychischer Beziehung erheblich zu gefährden, in physischer Beziehung, weil die Frau während dieser Zustände zweifellos in ihrer Ernährung herunterkam, ferner weil sie ernstlich Selbstmorddrohungen aussprach, die während eines hysterischen Erregungszustandes einmal wirklich ausgeführt werden können; in psychischer Beziehung deshalb, weil sich aus solchem Zustande, wenn die auslösende Ursache nicht beseitigt wird, auch einmal dauernde geistige Erkrankung entwickeln kann, namentlich, wenn noch andere ungünstige Momente, wie Schwangerschaft und Wochenbett dazu kommen.

Man kann also vom ärztlichen Standpunkte unter Berücksichtigung der abnormen Veranlagung der Klägerin nicht ausschließen, muß es sogar als höchst wahrscheinlich bezeichnen, daß ihre Gesundheit ernstlich und erheblich geschädigt werden kann, wenn sie zu ihrem Manne zurückkehren muß ...«

Webers zwingende Beweisführung, die sich in der geschilderten schwierigen Lebenslage gegen die Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft aussprach, kann für gleichartige oder ähnliche, leicht mögliche Lebensvarianten als Vorbild dienen. Der Arzt kennt die Wandlungsfähigkeit und tatsächliche Wandelbarkeit der Hysterischen unter äußeren Einwirkungen, kennt auch die besondere verhängnisvolle Tragweite der näheren Milieueinwirkung. Bedenkt man die weitgehenden Anforderungen, welche eine eheliche Lebensgemeinschaft nach dem Gesetze stellen darf, so muß der Explosivstoff, den ein hysterischer Ehepartner ständig anhäuft, für beide Ehepartner Gefahr bringen – eine Gesundheitsschädigung in Form einer Verschlimmerung des hysterischen Leidens, eine Nervenüberreizung auch für den gesunden Ehepartner. Wiederaufnahme einer ehelichen Gemeinschaft mit einer Hysterischen ist demnach in jedem Falle bedenklich. Daß ein trotzdem gefordertes Verlangen nach Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft nicht nur fürsorglich widerraten, sondern auch gerichtlich verhindert werden kann, ist besonders erfreulich. Keineswegs gehen aber die Gerichte soweit, bei de facto getrennter Ehe auch dem gesunden Ehepartner die Mitverwaltung und Nutznießung des eingebrachten Vermögens zu nehmen. Das beweist ein Urteil des Reichsgerichts vom 5. Mai 1919:

Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen, das Oberlandesgericht diese Klage begründet erklärt, während das Reichsgericht sich auf den Standpunkt des Landgerichts stellt. Das Oberlandesgericht, welches der Klage der Ehefrau stattgegeben hatte, ging von den Erwägungen aus, die Klägerin sei psychisch erkrankt, leide an Hysterie und ihr Leiden sei derart, daß es durch Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft zweifellos verschlimmert werden würde, da die Hysterische die fixe Idee einer systematisch schädigenden Behandlung durch den Gatten hatte. Deshalb dürfe sie die Herstellung der ehelichen Gemeinschaft gemäß § 1353 Abs. 2 Satz 1 BGB. ablehnen. Sei das aber der Fall, so dürfe sie ihren Aufenthalt nach eigenem Ermessen wählen. Dabei habe sie nur darauf Rücksicht zu nehmen, daß der Aufenthalt ihrer Genesung förderlich sei und den Lebensverhältnissen der Partei entspreche. Daß der Aufenthalt der Klägerin in dem Haushalt ihres Bruders, in dem sie jetzt lebe, diesen Vorbedingungen nicht entspreche, habe der Beklagte nicht dargetan. Sein Anerbieten, die Klägerin in der Heil- und Pflegeanstalt in U. oder in der Anstalt in G. unterzubringen, sei danach unerheblich. Denn da sich die Klägerin von der ehelichen Gemeinschaft fernhalten dürfe, sei die Frage ihres Aufenthaltes keine das gemeinschaftliche Leben betreffende eheliche Angelegenheit, in der dem Beklagten nach § 1354 BGB. die Entscheidung zustehen würde.

Demgegenüber sagte das Reichsgericht:

Festgestellt ist, daß die Klägerin psychisch erkrankt und ihr Leiden derart ist, daß es durch die Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft verschlimmert werde. Aber aus der Erkrankung der Klägerin und aus dem Umstand, daß sich in ihr die Idee einer systematischen schädigenden Behandlung festgesetzt hat, die ihr der Beklagte angedeihen lasse, folge zunächst nur, daß sie nicht verpflichtet sei, die eheliche Lebensgemeinschaft wieder herzustellen, daß sie insbesondere berechtigt sei, diese Wiederherstellung der häuslichen Gemeinschaft abzulehnen, nicht aber ergebe sich daraus, daß die Klägerin in jeder Beziehung von der ehelichen Gemeinschaft befreit, daß sie namentlich in der Wahl ihres Aufenthaltes vom Beklagten völlig unabhängig wäre und nur darauf Rücksicht zu nehmen habe, ob der Aufenthalt ihrer Genesung förderlich sei und den Lebensverhältnissen der Parteien entspreche.

Aus den Gründen ist folgendes hervorzuheben:

»Die Verpflichtung eines kranken Ehegatten, zur Ermöglichung voller Wiedervereinigung unter Umständen eine Heilanstalt aufzusuchen, ergibt sich ohne weiteres aus dem sittlichen Wesen der Ehe, das, wie im Schuldrecht Treu und Glauben, im Eherecht die Grundlage bildet, von welcher bei der Auslegung des Gesetzes und bei der Beurteilung aller Rechtsverhältnisse der Ehegatten untereinander auszugehen ist. Das Oberlandesgericht hätte deshalb prüfen müssen, ob es nach Lage der Sache im Sinne des § 1353 einen Rechtsmißbrauch darstellt, wenn der Beklagte nicht wünscht, daß die kranke Klägerin bei ihren Verwandten bleibt, die nach seiner Behauptung ein Interesse daran haben, sie und ihr Vermögen in den Händen zu behalten, sondern von ihr verlangt, daß sie zum Zwecke der Wiedererlangung ihrer Gesundheit eine Heilanstalt aufsuche. Daß sein Erbieten, die Klägerin auf seine Kosten in einer Heilanstalt unterzubringen, etwa nicht ernst zu nehmen wäre, ist nicht festgestellt, ebensowenig, daß der Aufenthalt in einer Heilanstalt zu einer Genesung der Klägerin und damit zur Ermöglichung einer späteren völligen Wiedervereinigung doch nicht führen würde.«

In einem früheren Urteil hat der Senat ausgesprochen:

»Die Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft im Sinne des § 1353 bleibe auch dann fortbestehen, wenn eine persönliche Begegnung der Ehegatten bis auf weiteres vermieden werden müsse; selbst dann habe der Mann ein Recht darauf, an der Fürsorge für seine Frau, soweit es angeht, unmittelbar teilzunehmen, weil es darauf ankomme, die Hindernisse einer vollen Wiedervereinigung nach Möglichkeit und sobald es sein kann zu beseitigen, dem Manne aber, der die Mittel dafür aufzubringen habe, auch die Gelegenheit geboten sein müsse, soviel wie möglich selbst sich darum zu kümmern und dazu beizutragen ...«

Horch, der diese interessante Entscheidung im Archiv für Frauenkrankheiten 6. Bd., 3.-4. Heft. Leipzig, Curt Kobitzsch, 1920. mitteilt, findet diese Entscheidung »in einem Zeitalter, das der Frau – ob mit Recht oder Unrecht, sei dahingestellt – eine so weitgehende Selbständigkeit gewährt, ihr im Zeitraum weniger Wochen das aktive und passive Wahlrecht gibt«, recht bedenklich. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau müsse weit mehr gewahrt werden, als dieses seitens des Reichsgerichts geschah. Bei einer an Hysterie leidenden Frau erscheint eine Maßregel, die die Frau gewissermaßen in die Hand des Mannes gibt, von höchst bedenklichen gesundheitlichen Folgen, und schon aus diesem Grunde scheint die vorliegende Entscheidung des Reichsgerichts eine zu gunsten des Mannes recht einseitige zu sein.


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