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Achtundzwanzigstes Kapitel

Nacht hing über dem Hause der Caecilier an der Appischen Straße. Aus einer Porzellanhalbkugel saugte sich das Öl mit einem leise siedenden Ton durch den Docht in die Lampe hinauf, die das Bett beleuchtete, darin das kranke junge Mädchen lag. Noch herrschte tiefe Nacht, aber sie war schon so weit vorgeschritten, daß man das erste schwache Tagesgrauen bald erwarten durfte. Caecilia lag bleich und abgemagert auf ihrem Lager und schaute nach dem von dichten Vorhängen verhüllten Fenster. Ihre Augen glänzten vor Fieber, und ihre Hände umschlossen ein Kreuz, wie es die Diakonissinnen benützen. Sie betete, und als sie damit fertig war, rief sie: »Jon, bist du da?«

Der Junge, der auf einer Matte neben dem Bett gelegen hatte, richtete sich auf, ergriff ihre Hand und fragte: »Was soll ich, Rhod?«

Sie stöhnte: »Jon, sobald ich gesund bin, müssen wir ihn von Sardinien zurückholen und ihn pflegen. Er hätte nie dabei sein dürfen! Ach Jon, er war ja noch gar nicht fertig!«

Jons erster Gedanke war, ihr mit einem Sprichwort zu antworten. Aber er gab ihn wieder auf und begnügte sich damit, ihr die Hand zu drücken.

»Wenn wir nur etwas hätten, was wir ihm als Andenken mitgeben könnten!« sagte sie. »Besinn dich auf etwas, Brüderlein!«

 

Auf dem Tischchen neben dem Bett lag zwischen anderem das kleine Goldplättchen mit der Inschrift: Si me amas! Wenn du mich liebst! Jon ergriff es und sagte: »Das wollen wir ihm geben. Wenn er es hat, wird er jeden Tag an dich denken, und dann wird alles leichter für ihn!«

Sie überlegte lange, ehe sie dem Jungen das Goldplättchen in die Hände legte und sagte: »Gib es ihm, wenn ihm das Durchhalten dadurch leichter wird. Und grüß ihn, Jon! Sag ihm, daß er nicht vergeblich seines Lohnes warten wird! Tu es, Jon, lieber Freund!«

 

Zu der Zeit, wo Jon auf Querstraßen und Villenwegen von der Appischen Straße her eiligst der Straße nach Ostia zustrebte, verließen die Gefangenen das Gefängnis. Sie wanderten am Aventin vorbei auf der Straße dahin, die nach dem Ostia-Tor und auf die Landstraße hinaus führte. In vier Stunden sollten sie den Hafen erreicht haben; in sechs Stunden mußten sie mit dem Beistand Neptuns auf dem Meere sein.

Vor dem Tor – als schon ein Stück der Landstraße passiert war – standen verschiedene Gruppen von Menschen und warteten. Eine solche Gruppe befand sich abseits vom Wege auf der Terrasse, die eine dem Fabrikanten Commodus gehörende Villa umgab. Außer Commodus und seiner Frau waren noch Urban, der Gemüsehändler Nazarius und der Hund Orbilius anwesend. Keiner von ihnen sprach ein Wort, aber alle schauten unausgesetzt erwartungsvoll nach der Stadt.

Als die Sonne aufging, kamen sie daher. Zu beiden Seiten des Wegs ritten in zwei Reihen Polizeisoldaten in flatternden roten Uniformen, den Helm auf dem Kopf und die dreischwänzige Peitsche aus Kalblederriemen am Gürtelknopf. Mitten auf dem Wege wanderten sie selbdritt zusammengefesselt in langer Reihe – voran die Verbrecher, die auf Grund ihrer Körperkraft für die Arbeit in den Gruben verurteilt waren, nach ihnen ein Transport von jungen Frauen, die für die Wachmannschaft der Gruben bestimmt waren, und zuletzt die Christen. Es ging in schnellem Schritt vorwärts; die Kleinsten und Schwächsten mußten beinahe laufen; aber die Stärkeren unterstützten sie. Sie hatten es durchgesetzt, daß die alten Frauen, wie etwa Schwester Petra, beiderseits mit kräftigen Männern zusammengefesselt waren. Ab und zu, wenn die Soldaten einen Blick über die Schar warfen, brachen sie in schallendes Gelächter aus; und auf Männer mit dem Legionärsdrill, die im Eilmarsch am Tag vierzig Kilometer mit achtzig Pfund Gepäck auf dem Rücken zurücklegten, mußte der Anblick ja auch lächerlich wirken.

Nun kamen sie daher: Rab Chanina, Paulus, die Diakone, die Schwestern, die Brüder – alle miteinander. Aus ihren vom Weinen ermatteten Gesichtern strahlte ekstatische Freude, und nachdem sie das Tor hinter sich hatten, stimmten sie ein geistliches Lied an. Die Christen hatten Gesänge, deren Weisen flehend, anklagend, beschwörend oder trauervoll wirkten. Der Gesang, den sie jetzt anstimmten, stieg jubelnd in den kühlen Morgen hinauf, voll Dank gegen den Allerhöchsten, der es auch ihnen vergönnt hatte, etwas von der Last des Martyriums auf sich zu nehmen. Es folgte Lied auf Lied, jedes überströmend von Lob und Dank, und in einer Pause dazwischen wurde Priscilla von der wunderbaren Gnade übermannt, und sie redete mit lauter Stimme von dem Thron und dem goldenen Tor und dem nimmer endenden Lobgesang.

 

Marcellus ging wie ein Schlafwandler dahin, stumpf und mit niedergeschlagenen Augen. Mit furchtbarer Brutalität war alles das über ihn hereingebrochen, was er sich trotz seiner Phantasie nicht hatte vorstellen können.

Sie wanderten durchs Tor hinaus, und er merkte es nicht. Sie kamen an der Gruppe auf der Terrasse vor dem Hause des Commodus vorüber, und er wußte es nicht. Noch ein Stück weiter kamen sie, da fühlte er eine kleine Hand, die etwas in die seine legte, und er hörte die Stimme Jons, die sagte: »Rhod läßt dich grüßen und dir sagen, daß du nicht vergeblich auf deinen Lohn warten wirst.«

Und sofort war der Junge wieder verschwunden. Aber in Marcellus brannte bei dieser Botschaft eine heiße Sehnsucht nach der Geliebten empor und eine verzweifelte plötzliche Zuversicht, daß alles wieder gut würde, wenn er sie nur sehen und sprechen könnte. Lag nicht ein Versprechen in diesem »Si me amas«! Und lagen nicht viele Versprechungen in dieser Verheißung seines Lohnes! Er richtete sich auf, um dem narbigen Polizeisoldaten, der neben ihm ritt, zuzurufen, daß er alles tun, daß er jeden Tag vor dem Bilde des Kaisers opfern wolle, wenn er nur jetzt frei würde und die Geliebte aufsuchen könnte, die Geliebte, die ihn verstehen würde, die ihn verstehen müßte! Er versuchte es auch, zu rufen; aber der Lärm und der Gesang wurden zu einem unverständlichen Brüllen und bewirkten, vereint mit seinen Handbewegungen, daß sich die Pferde zu beiden Seiten aufbäumten. Eine Sekunde dauerte die Verwirrung – dann blitzte ein Säbel auf seinen halbrasierten Kopf herunter, und Marcellus stürzte zu Boden, während der Soldat entschuldigend sagte: »Er hat nach meinem Pferd geschlagen. Er muß verrückt geworden sein!«

 

Da lag nun Marcellus. Der rote Streifen, der sich von der Schläfe neben dem Ohr herunter zum Nacken hinzog, war Blut. Einer kleinen Quelle gleich, die im Gras verschwindet, verlor er sich in eine weiche, glänzende Haarlocke, die er durchfeuchtete und klebrig machte. Viele Frauenfinger hatten mit dieser Locke gespielt und viele Lippen darauf geruht, wenn seine eigenen für einen Augenblick des Küssens müde waren.

Das alles war jetzt vorbei. Die Lippen und die Hände der Frauen würden sich anderen Zielen zuwenden, und ihre Gedanken würden es sich abgewöhnen, ihn zu suchen. Jedes Ding hat seine Zeit. Und seine Zeit war zu Ende. »Dünkt es euch, ich hätte gut gespielt, dann klatscht!« hatte der Alte gelegentlich einmal gesagt. Aber wer sollte einem Menschen Beifall klatschen, der die Seinen verlassen und bei den andern keine Aufnahme gefunden hatte?

Die rechte Hand des Marcellus hatte sich um einen kleinen Gegenstand gepreßt. Der narbenbedeckte Polizeisoldat brach ihm die Hand auf und fand das Liebesamulett. Es war warm und glänzend, und als er die Inschrift gelesen hatte, barg er es auf seiner Brust. »Gerade so etwas hat sich meine Liebste gewünscht«, sagte er. »Si me amas! Das haben die Weiber gern!«

Und da lag nun Marcellus. Ein in dem großen Papierkorb des Schicksals gelandeter Entwurf. Aber den Weg entlang in der Richtung auf Caecilias Landhaus zu hüpfte der Beginn zu einem neuen Entwurf – ein Junge, gelbhäutig wie vollreife Oliven und mit Augen, die vor Befriedigung über eine wohlvollbrachte Tat glänzten.

 

Dies ereignete sich an einem jener Herbstmorgen, wo schon die sanfteste Brise es bewirkt, daß sich die Stiele der Blätter von den Zweigen lösen und in einer Reihe von müden Umdrehungen die Erde suchen. Der Weg war naß vom Nachttau, und kein Staub wirbelte auf, den Zug der Deportierten zu verhüllen. Klar wie ein Fresko auf einer Kalkwand verlor er sich im ruhigen Vorwärtsgleiten, bis nur noch die roten, sonnentrunkenen Gestalten der Diogmiten über die Campagna dahintanzten; immer noch aber ahnte man an der Spitze des Zuges die Lanzenstandarte mit den neun schwarzen und weißen Kugeln, und hinter ihr die Fahne mit der goldenen Waage und dem Schwert, die Zeugnis davon gaben, daß hier der Gerechtigkeit Genüge getan wurde zum Wohle des Staates.

Auf der Terrasse des Commodus verfolgte man die Dahinziehenden, solange es möglich war, mit den Augen. Einen Augenblick schien eine Verwirrung in den Reihen zu entstehen, aber kurz darauf glitt der Zug wieder gleichmäßig weiter. Er war schon zu weit entfernt, als daß man den Marcellus hätte fallen sehen können. Urban, der päpstliche Stellvertreter, hob seine Arme der aufgehenden Sonne entgegen und dankte Gott für »diese reichen Armen, die, fortlebend nach dem Tode, redende Stumme werden würden, diese lebenden Helden, die alle Demütigungen und Niederlagen nur mit unverlierbarem Sieg krönen würden, diese Zehntausende von Sklaven und Freigelassenen, von Zusammengebrochenen und Aufgerichteten, diese Verachteten, die so schlecht zu leben verstünden, aber die Kraft hätten, so königlich zu sterben, diese erschütternde Flut von Tränen, vergossen, das letzte brechende Lächeln zu läutern, diese große weiße Schar«!

Noch ehe Urban mit seiner Lobpreisung zu Ende gekommen war, hatte sich der alte Hund Orbilius unwillig abgewendet, und ein Gefühl, das dem Neid verwandt war, ergriff ihn für einen Augenblick, als er an Rab Chanina dachte – an ihn, dessen Kampf nun zu Ende ging, dem der Tod sicher war, und dessen Siegeskranz inmitten seiner Glaubensgenossen geflochten wurde. Orbilius erwartete nichts von der Art. Sein Sieg war es, den Sieg zu verachten, und sein Lohn für das Heben von Lasten war, daß man neue Lasten auf seinen Rücken legte. Er wendete sich nach der Stadt um, über deren Kuppeln und Zinnen die Morgensonne ihre zehntausend Speere schoß. Schwer auf seinen Stab gestützt und bitterlich müde, schritt der alte Hund in das Pestnest Rom hinein, Sterbende zu trösten, die den Tod fürchteten, und Todmüde, die der Tod floh.

In einem Gehöft auf Alta Semita aber rief es sich die Großmutter Papiria ins Gedächtnis, daß sie nicht vergessen dürfe, Orbilius heute zu seinem achtzigsten Geburtstage zu gratulieren. Sie trippelte durch den Gang, wo die Sklaven schliefen, und ihre Augen waren sehr alt geworden.

HIC FABULA DE
VICO SANDALIARIO
FINITA
EST

 


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