Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Teil

Aut bibe, aut abi!

Das Folgende ist eine Erzählung über die Liebe, wenn man nicht vorzieht, zu sagen, es sei eine Erzählung über den Mangel an Liebe.

Dies geschah acht Jahre, nachdem Jon wieder in Rom eingezogen war, im 927. Jahr nach der Gründung der Stadt.

Es war jenes Jahr, da Marc Aurel zum siebentenmal Kaiser wurde und L. Aurelius Gallus und Q. Volusius Flaccus Cornelianus Konsuln waren.

Nach Angaben der Christen bekam Rom in jenem Jahr seinen dreizehnten Papst, der Eleutheros hieß.

Die Pest wütete mit ungeschwächter Kraft weiter, und man behauptet, daß der Oberregistrator im Tempel der Libitina, der Todeskönigin, in jenem Sommer an Übermüdung gestorben sei.

 

Zehntes Kapitel

Turcius Amachius, der Polizeidirektor von Rom, fürchtete sich vor nichts, was er kannte, oder worüber er auf der Welt ringsum hatte reden hören. Er verhöhnte die Götter öffentlich; vor den Bildnissen der Kaiser verneigte er sich genau so viel, daß man seine Verneigung eben noch bemerken konnte. Gab es Schlägereien und Unruhen, so griff er wie ein Unwetter ein und vertilgte das Ungeziefer, ehe es Zeit hatte, groß zu werden. Und dennoch gab es etwas, was ihn dazu bringen konnte, sich nervös durch die steifen Haarstoppeln zu fahren, die seinen Schädel von der Mitte der Stirn an bis ein wenig zu weit in den Nacken hinunter bedeckten.

Das waren die Gassenjungen von Rom.

»Mit Männern ist die Sache sehr einfach«, setzte er Papirius auseinander, der bei ihm in seinem Arbeitszimmer war, um über dienstliche Angelegenheiten zu verhandeln. »Mit Männern kann man immer fertig werden. Sind sie noch nicht so weit mürb, daß man ihnen den Kopf abschneiden oder sie an ein Kreuz nageln kann, so tut es ganz wirksam auch eine dreischwänzige Peitsche, besonders wenn hier und da kleine Knochensplitter hineingeflochten sind.«

Papirius nickte zustimmend. »Das ist ganz richtig«, sagte er. »Bei der Flotte (Papirius war in seinen jüngeren Tagen Proviantmeister gewesen) hatten wir zwei Sorten Peitschen, eine dreischwänzige und eine neunschwänzige. Die haben einen sehr beruhigenden Einfluß auf hitziges Blut – beinah wie ein Aderlaß.«

»Aber der Spektakel mit den Jungen hat acht Leben. Ist man endlich auf praktische Art mit ihrer Widerspenstigkeit fertig geworden, so kann man darauf schwören, daß man früher oder später die Mütter auf den Hals kriegt.«

»Davon blieben wir bei der Flotte glücklicherweise verschont!« gähnte Papirius zufrieden.

»Eben! Denn wenn man ein paar hundert Männern sogar das Hirn aus dem Kopf schlägt, geschieht deshalb noch weiter nichts; handelt es sich aber um Jungen, dann geben die Mütter keine Ruhe, ehe sie einem das Leben so sauer gemacht haben, daß man aus der Haut fahren möchte. Und ich darf wohl sagen, es gibt drei- oder vierhundert Todesarten, von denen mir eine so lieb ist wie die andere, aber zwei gibt es, die ich verabscheue: in den Kloaken zu ertrinken oder von einem Weib erstochen zu werden.«

Papirius nickte verständnisinnig. »Ich würde die Kloaken vorziehen.«

»Das ist klar«, sagte Amachius und musterte schwermütig einen schwarzen Fleck von der Größe eines Quadrans, der an der zinnoberroten Wand zufällig auf dem Schnittpunkt zwischen den nebeneinander angebrachten Bildern des Kaisers und des Prinzen Commodus und den darüber hängenden des hundertäugigen Argus, der der Schutzgott der Polizei ist, und des verruchten Revueverfassers und Schauspielers Marullus entstanden war. Außer diesen Marmorbildnissen hing an der Wand noch ein Gemälde von dem Maler Diognet, auf Holz gemalt. Die Blicke des Amachius spazierten von dem Fleck über dieses Bild herunter, während er das Gespräch wieder aufnahm und sagte:

»Was sollen wir mit ihnen anstellen? Schicken wir eine Patrouille aus, die die schlimmsten verprügeln muß, so zeigen den nächsten Monat hindurch die Dachziegel in der Stadt Lockerungstendenzen, die nicht immer auf Zufall beruhen können. Jedenfalls fallen sie stets meinen Polizisten auf den Kopf – oder so dicht daneben, daß die Abweichung auf Ungeschick zurückgeführt werden kann. Das wird auf die Dauer peinlich.«

»Nimm doch die Schlimmsten davon in den Dienst der Polizei!« sagte Papirius matt.

Der Polizeidirektor sah skeptisch aus, und Papirius überwand sich, mit erwachendem Interesse für die Sache, dazu eine Parallele anzuführen:

»Ich hatte eine Geschichte mit einem Bauernfänger – Egrilius hieß er –, der ungefähr jede dritte oder vierte Woche ein fettes Opfer ausplünderte – selten, daß er es häufiger tat. Ihm zu Leibe zu gehen, war unmöglich. Na, eines Tages denke ich mir: das muß ein Ende haben! Ich suche mir also den Kunden und stelle ihn vor die Wahl, entweder mit seinem Unwesen aufzuhören und in den Dienst der Curiosa zu treten, oder – na ja, es schwimmen ja mancherlei Fische den Tiber hinunter. Er ist heutzutage einer von unseren brauchbarsten Leuten. Zu dem unseligen Gewerbe war er, wenn man so sagen will, auf die unschuldigste Weise gelangt: eines Tages kommt er in die Stadt herein, nachdem er eine kleine Gärtnerei vor den Toren verkauft hätte, und gerät in die Gesellschaft einer gesittet und geistreich aussehenden Person. Sie genießen da und dort in ein paar Wirtschaften einiges miteinander ... Beim Erwachen sieht sich Egrilius allein ... Sein Vermögen zu einem Sesterz zusammengeschwunden ... Was tun? Hier also setzt nun die vielleicht etwas mangelhafte Logik des Mannes ein. Er sagt sich: Ich bin ausgeplündert worden, also bleibt mir nichts anderes übrig, als andere auszuplündern. Und er wurde tüchtig in der Variierung aller seither bekannten Arten des Rupfens.«

Amachius verzog während dieser Auseinandersetzung keine Miene. Wie Irrenärzte ganz folgerichtig mit der Zeit dahin kommen, es als das Normale zu betrachten, daß alle Menschen den einen oder den andern kleinen psychischen Defekt haben, so erwarten die Kriminalisten schließlich, überall einen moralischen zu finden. Amachius sah nicht nur alle Menschen für theoretische Mörder und embryonale Diebe an, sondern er war auch niemals überrascht, wenn er diese bedauerliche angeborene Disposition in vollem Wachstum fand.

»Wozu sollten wir so einen Jungen dann brauchen?« fragte er.

»Ich könnte zwei gebrauchen!« antwortete Papirius zögernd. »Vielleicht drei. Wenn sie nur schnell und verschwiegen sind. Es ist nichts anderes los mit den Rangen, als daß sie etwas Ordentliches zum Spielen haben wollen – wie wir andern auch. Die ungezogenen Jungen sind es, die der Welt ihre Färbung geben.«

»Selbstverständlich – man muß sich an die ungezogenen halten!« gab Amachius nachdenklich zu. Er starrte wieder auf den schwarzen Fleck im Schnittpunkt der vier Marmorbilder.

»Siehst du den schwarzen Fleck dort an der Wand?« fragte er endlich.

»Ich habe nichts anderes angesehen, seit ich hereingekommen bin«, erwiderte Papirius freundlich.

Amachius fuhr fort: »Das ist eine Art Monument für einen artigen Jungen. Er kam gestern herauf und wollte mir einige Anzeigen überreichen – anonyme natürlich – gegen die Galiläer. Ich warf ihm das Tintenfaß an den Kopf. Das Punktum dort an der Wand ist nur ein bescheidener Spritzer. Es war Istacidius.«

Als Papirius diesen Namen hörte, bekam er einen fürchterlichen Lachkrampf. »Der verflixte Einfaltspinsel!« sagte er. »Nun und dann?«

»Dann machte ich ihn mit den neueingeschärften Verordnungen des Philosophen bekannt, die sich auf die Beurteilung anonymer und unbeweisbarer Beschuldigungen beziehen.«

»Worauf er dich mit Küssen auf die Brust und schmeichelhaften Ausdrücken des Bedauerns überschüttete!«

»Er hätte mich überallhin geküßt, wo sich ihm eine Möglichkeit dazu geboten hätte.«

Papirius lachte wieder, faßte sich aber plötzlich und sah verdrießlich aus. »Immer wird auf den Galiläern herumgehackt; aber ich will meine alte Mutter auf den Bettel schicken, wenn die Ägypter nicht zehnmal schlimmer sind. Istacidius hat seine Detektivprofession von den Ägyptern gelernt, und sie haben ihn in der Tasche. Hat er hier ein Tintenfaß an den Kopf bekommen, so darfst du überzeugt sein, daß er aus dem Regen in die Traufe geriet, als er mit seinem Rapport zu dem Oberpriester zurückkam. Nicht, daß der Alte ihm etwas an den Kopf geworfen hätte. O nein – er hat nur den Schlitz in seinem Elfenbeinkopf so weit aufgemacht, daß er sagen konnte:

»Du wirst alt, Istacidius!«

Amachius warf tiefsinnig hin:

»Tja, was wissen wir eigentlich von den Ägyptern?«

»Gerade das ist es ja unter anderem, wozu uns die Jungen verhelfen sollen.«

 

Was wissen wir eigentlich von den Ägyptern? Oder von dem Nachrichtendienst in Rom neunhundertsiebenundzwanzig Jahre nach der Gründung der Stadt?

Wir wissen, daß dieser Nachrichtendienst alles sah und hörte, und daß Papirius ebensoviel wußte. Wie ein hellwaches Riesentier mit tausend Augen und mit wachsamen Ohren, die auf jeden ungewohnten Laut horchten, lebte er sein stilles Leben dahin. Wenn Kaiser starben, Senate aufgelöst wurden und die Farben im Zirkus liquidierten, schaffte diese Presse ohne Papier weiter – horchte, registrierte, kommentierte. Keine Zeitung späterer Tage hat sie, was Genauigkeit, Schnelligkeit und Perfidie angeht, übertroffen. Sie war nicht allein auf dem Platz, wenn Kuriere mit Depeschen an die Regierung aus fernen und barbarischen Landen eintrafen, so daß sie wußte, ob sie mit der lorbeergeschmückten Lanze gekommen waren, die gute Botschaft meldete, oder mit der Feder versehen, die schlimme Nachricht ankündigte. Noch ehe das Moschussiegel erbrochen war, schickte sie einen tadellosen Auszug aus dem Inhalt mit eingeflochtenen erläuternden Bemerkungen in der Stadt herum. Wenn römische Admirale die Riffe von Skagen umschifft und sich in des Kaisers Namen von rauhen Cimbern hatten huldigen lassen, wenn der Nil seine Pflicht versäumt hatte und Mißwachs dort unten erhöhte Brotpreise in Rom vorhersagte, wenn Erdbeben in afrikanischen Häfen das Unterste zu oberst gekehrt hatten, oder berühmte griechische Philosophen ihre weltverachtende Lehre damit krönten, daß sie sich ins Feuer stürzten – all dies wußte die Stadt, dank dem Wunderwerk des Nachrichtendienstes, in verblüffend kurzer Zeit. Aber von der Methode, worauf sich das Ganze gründete, wußte sie kaum mehr, als ein gesundes Tier von seinen Eingeweiden weiß. Nicht einmal die Curiosa wußte Bescheid.

Wenn Papirius angefangen hatte, sich für die Anatomie dieser sonderbaren Sache zu interessieren, geschah es, weil der Nachrichtendienst – um ein deutliches Bild zu gebrauchen – im Begriff war, sich zu einem Blinddarm zu entwickeln, und zwar zu einem entzündeten. Er speicherte in viel zu hohem Grad ein Wissen auf, das er nicht hätte haben dürfen. Als der Kaiser im verflossenen Jahr zu einem kurzen Besuch in Rom gewesen war, nach achtjähriger Abwesenheit auf den Schlachtfeldern von Zentral-Europa, hatte er Papirius rufen lassen und ihm heftige Vorwürfe gemacht, weil der Inhalt streng vertraulicher Dokumente jedermann bekannt war. Der Chef der Curiosa setzte das dem Amachius unaufgefordert auseinander. Allerdings waren ihre beiden Korps insofern unabhängig voneinander, als die Polizeikohorten unter dem Senate standen, während Papirius direkt dem Kanzler unterstand, dem magister officiorum von Rom, dem allmächtigen Manne, der Minister des Inneren und des Äußeren zugleich war. Der Natur der Dinge nach mußten sie aber immer Fühlung miteinander haben; da sie außerdem gut zusammen arbeiteten, ist es sehr begreiflich, daß sie eine so äußerst schwierige und delikate Sache miteinander besprachen.

»Die Kuriere – wie steht es mit denen?« fragte Amachius nachdenklich.

Papirius antwortete: »Gemeinsam mit dem Direktor des Postwesens haben wir sie vier Monate lang überwacht, aber ohne Erfolg. Das ist überhaupt eine raffinierte Einrichtung. Die durchschnittliche Beförderungsgeschwindigkeit für Postsäcke beläuft sich auf hundertsechzig Meilen am Tag – eine bewunderungswürdige Zeit. Aber, merk auf: in einem bestimmten Falle kannte man in Rom den Inhalt einer Depesche schon zwölf Stunden, bevor sie in der Kanzlei abgeliefert wurde. Also noch bevor die Pferde die Nähe der Stadt ahnten. Was sagst du dazu?«

»Das ist eine Schlamperei!«

»Sehr vorsichtig ausgedrückt!«

»Aber die Wirte – sind die zuverlässig?«

»Ei was – ist ein Dieb zuverlässig? Aber sie können doch nicht hexen.«

»Kaum. Jedenfalls müssen wir diese Möglichkeit ausschalten. Aber – äh – apropos!« Amachius bremste seine Stimme so hart, daß ihr Räderwerk schleifte. »Da gibt's noch ganz was anderes, wenn wir schon vom Hexen reden.« Er ging hin, öffnete die Tür und rief eine Nummer in die Wachstube hinaus. Dann setzte er sich wieder und sagte: »Du weißt, daß sich der ›Vogel‹ neulich den Hals gebrochen hat?«

Papirius nickte bestätigend.

»Gut. Weißt du auch, daß er verhext war?«

Papirius lachte gereizt. »Ach, Unsinn! Gibt es schon wieder Spektakel im Zirkus?«

Amachius antwortete ernsthaft: »Und auch weit außerhalb des Zirkus! Die Roten haben, oder, was ja. dasselbe ist, man meint, sie haben eine Bleitafel mit – so sagt man – christlichen Verfluchungen in irgendeinem Grabe untergebracht – oder wo solche Dinge versteckt zu werden pflegen.«

»Man bringt es also nicht fertig, anzunehmen, daß der ›Vogel‹ falsch gelenkt wurde, gestolpert ist und sich den Hals gebrochen hat. Das ist ja Wahnsinn!«

»So sehen unsere lieben Stadtkinder heutzutage die Sache eben nicht an!« erwiderte Amachius, und er fügte die Worte hinzu, die die Einleitung zum vierzigsten Kapitel des siebenten Buches der Naturgeschichte des Plinius bilden: »Das römische Volk ist, was jede Art Tugend betrifft, das vortrefflichste auf der ganzen Welt!«

 

»Hallo, achtundneunzig! Du kommst ja gerade vom Zirkus!« sagte Amachius zu dem Exemplar des vortrefflichsten Volkes, das nun mit viel Geräusch in die Stube polterte und sich in strammer Haltung an der Tür aufpflanzte.

»Jawohl, Herr Direktor!«

»Und alles ruhig, hoffe ich?«

»Nicht so ganz, Herr Direktor. Die dritte Abteilung der zweiten Kohorte patrouilliert um den roten Stall.«

»Noch mehr vorgefallen? Bekannte Leute dort gewesen?«

»Jawohl, Herr Direktor. Geminas und Agaclyphus waren da. Sie haben dem grünen Oberbereiter versprochen, daß die Sache gründlich untersucht würde.«

Die beiden Genannten waren reiche und auch sehr einflußreiche kaiserliche Freigelassene. Als Adliger hatte Amachius nicht viel für sie übrig. Er sagte: »Das wird die Polizei schon besorgen. Wenn die beiden Herren nicht auf eigene Faust Untersuchungen anstellen.«

»Jawohl, Herr Direktor!« sagte Achtundneunzig.

»Waren sonst noch Leute da, guter Freund?«

»Jawohl, Herr Direktor. Ein Detektiv war da.«

»So? Und der sprach, als ob er glühende Kastanien auf der Zunge hätte?«

»Genau so, Herr Direktor.«

»Istacidius – der Erzdummkopf!« stellte Amachius fest.

»Und dann war auch Paetus da.«

Amachius schaute verständnislos den schwarzen Fleck an der Wand an. »Paetus ...?«

»Jawohl, Herr Direktor. Das ist der alte Arzt, der Agent für Alexander von Abonoteichos.«

Die beiden Direktoren erhoben gleichzeitig mit gebogenen Armen die offenen Hände, bis die Handflächen und die gespreizten Finger in Kopfhöhe der Nummer Achtundneunzig zugewendet waren – ein unwillkürlicher Ausdruck für schmerzliches Erstaunen, der von Seiten des Papirius mit einem leisen Jammern verbunden war.

»So erzähl doch im Namen aller Götter! Berichte doch, was du weißt! Und nachher arbeitest du einen schriftlichen Rapport aus – verstanden?«

Amachius war es, der also sprach, und er wurde sofort von Nummer Achtundneunzig abgelöst.

»Die Meergrünen holten Paetus aus dem Isistempel – er sollte ihnen ein Orakel von Alexander verschaffen.«

»Aber das kann er doch nicht bekommen haben!«

»Jawohl, Herr Direktor. Alexander hat sich ihm durch eine Schlange geoffenbart, die Glykon heißt. Er sagte ...«

»Was hat er gesagt, du Untier! Ich glaub' wahrhaftig, er macht eine Kunstpause!«

»Nein, nein, Herr Direktor! Er sagte in Versen ...«

»Selbstverständlich. Was hat er in Versen gesagt?«

»Unter die Galiläer gehört er,
Der mit Mißgunst im Herzen
Machte, daß ›Vogel‹ die Kurve
Der Spina verfehlte und stürzte.

... oder so ungefähr.«

»Was sagst du?« fragte Amachius zu Papirius gewandt.

»Der Vers hinkt!« antwortete Papirius, dessen Sinn für Lyrik ihn für einen Augenblick die Wirklichkeit vergessen ließ. Amachius schlug langsam mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf den Rücken der Linken und sagte:

»Wenn sie nun einen Beweis herschaffen, daß die Christen daran beteiligt sind ...«

»Du brauchst nicht zu sagen: wenn! Denn sobald das saubere Kleeblatt – Istacidius, Isis, Paetus – auf die Jagd geht, kommt es schon nicht mit leerer Tasche heim!« unterbrach ihn Papirius aufmunternd.

»Das glaub' ich auch; also: und wenn es nun geschieht! Na ja – dann können wir beide, du und ich, sie auch nicht vor dem Haß des Volkes schützen.«

»Weiß ich«, sagte der Chef der Curiosa. »Wir Römer können viel ertragen: ertragen, daß die Gottlosen Strafgerichte wie Pest, Erdbeben und ewigen Krieg auf uns herabrufen. Aber wenn sie sich an einem Pferd im Zirkus zu vergreifen wagen, ist es mit unserer Langmut aus.«

Sie wurden dadurch unterbrochen, daß die Frau des Amachius hereinkam. Vibia war eine hübsche Dame in der Mitte der Vierziger. Sie hatte weiße Haare und kluge Augen, deren nervöser Ausdruck durch die tiefen schwarzen Ringe, die sie umgaben, noch hervorgehoben wurde. Bei ihrem Erscheinen sprang Papirius auf. »Domina!« grüßte er ehrerbietig.

»Ach, du bist's Papirius!« sagte sie lächelnd. »Ich dachte, ihr wäret beide im Zirkus. Das ist doch ein Skandal!«

»Was denn? Was ist ein Skandal?« fragte Amachius beruhigend.

»Die Sache mit dem ›Vogel‹! Kein Zweifel, daß da die Christen ihre Hand im Spiele haben. O dieses Pack!« Sie ballte die Hände und schüttelte sie. »Warum zögerst du? Warum zerschmetterst du sie nicht? Alles wartet auf dich! Dieser ... dieser gottlose Janhagel! Ach, wäre ich ein Mann ...!«

»Jupiter schütze uns!« dachte Papirius, aber er sagte: »Zuerst Beweise her, verehrte gnädige Frau! Es gibt zu viel Gottlose, als daß man sich ihnen gegenüber von Stimmungen leiten lassen dürfte.«

Dieses Wort hatte denselben Erfolg wie die meisten allzu durchsichtigen Beruhigungsversuche. Die gnädige Frau stampfte mit dem Fuß. »Und warum gibt es so viel davon, daß sie wie Ungeziefer kribbeln!« rief sie. »Weil niemals radikal gegen sie eingeschritten worden ist. Schon ganz im Anfang hätte man sie alle miteinander in Stücke hauen sollen. Aber keiner, kein einziger von unsern Kaisern, hat begriffen, was dicht vor seiner Nase geschah. Und die drei letzten haben sich da schon ganz unmöglich benommen. Hadrian, Pius, Marcus! Was für ein Klub von Zahnlosen! ... Ach, das gottlose Pack!«

Mit diplomatischem Sinn für Ablenkung wendete sich Amachius jetzt an Papirius und fragte: »Hat man überhaupt Beweise dafür, daß die Christen Verfluchungstafeln hergestellt haben?«

»O ja!« antwortete Papirius und fuhr interessiert auf. »Namentlich im Zirkus wird so Zeug in einem fort gemacht. Sie sind meist aus Blei und werden mit dem Namen dessen beschrieben, der getroffen werden soll, und zuweilen werden auch die näheren Umstände spezifiziert, unter denen es geschehen soll. Die Wirkung wird – so viel ich davon verstehe – dadurch erzeugt, daß sie den Namen ihres hingerichteten Lehrers hinzufügen oder die Tafel mit geweihtem Wasser besprengen. Endlich schlagen sie noch einen eisernen Nagel hindurch, als kleine Vorbeugung gegen eine etwaige Anklage, und verstecken das Ganze dann in einem Grab.«

»Na, siehst du!« rief Vibia triumphierend, und Papirius fügte hinzu:

»Ich kann doch nicht aus rein freundschaftlicher Einstellung eine Brennessel für eine Lilie erklären. Aber es werden ja doch auch von andern Leuten Tafeln angefertigt. Die ägyptischen tragen sicher alle den Typhon-Seth mit dem Eselskopf und dem Symbol des Lebens in der Hand. Er trägt eine Schürze mit Fransen und viereckige Schuhe. Sonst ist die Technik ganz die gleiche: Nägel und geweihtes Wasser. Was soll man da sagen?«

»Man soll nichts sagen, lieber Papirius – man soll handeln!« erklärte Vibia pädagogisch.

»Ausgezeichnet!« gab Papirius mit dem Lächeln zu, das ihm die Herzen aller Damen zu gewinnen pflegte. »Aber wenn wir zuerst die Ägypter und die Galiläer aus dem Wege räumen sollen, wird die Sache schlimmer als die Pest.«

Das Gesicht der schönen Frau verfinsterte sich, als sie an die Pest erinnert wurde. Sie hatte an der wütenden Krankheit zwei Kinder verloren und maß den Gottlosen die Schuld dafür zu. Später hatte sie noch einen Sohn verloren, der als Offizier gegen die Hermunduren und Senonen stand. Aus diesem Grunde haßte sie nicht etwa die Sueven oder die Barbaren überhaupt, sondern sie schrieb auch die Schuld am Kriege den Gottlosen zu. Sie war gläubig ohne Wanken. Für sie war Aufsässigkeit gegen die Götter eine Vermessenheit, für die keine Strafe hart genug war. Sie sagte finster:

»Wenn ich nur die Hälfte von eurer Macht hätte – ich pflanzte fünftausend Kreuze mit Galiläern daran allen Straßen entlang auf, die nach Rom führen.«

»Der Kaiser würde uns keine fünfhundert erlauben!« wendete Amachius ein.

Aber seine Frau lachte und sagte spöttisch: »Ein Philosoph beugt sich in jedem Fall vor starken Männern. Avidius Cassius sollte Polizeidirektor sein – dann könntet ihr die Christen tanzen sehen, wie Aale auf der heißen Pfanne!«

Papirius lächelte, als er sagte: »Er wäre gewiß am liebsten selber Kaiser. Man kann auch zu stark sein, Domina!«

 

Da war nun ein totes Pferd.

Könnte man durch achtzehn Jahrhunderte hindurch in die Vergangenheit zurückrufen, so riefe man wahrscheinlich:

»Dann spannt doch in Gottes Namen ein anderes ein und fahrt weiter!«

Die Römer aber würden dieser Blasphemie ungläubig lauschen und erläuternd antworten:

»Ja aber, es ist der ›Vogel‹, der gefallen ist. Kein Pferd im üblichen Verstand, sondern der ›Vogel‹ – vielleicht das beste Sattelpferd, das es im Zirkus je gegeben hat.«

Vielleicht begreift man dann das Unglück halbwegs. Doch nicht so ganz, daß man nicht erwidern würde: »Wirklich bedauerlich. Aber da es nun einmal tot ist, spannt doch Viol, Pertinax oder Hipponicus ein.«

»Ach, du begreifst nichts!« würden die Römer klagen. »Wir haben noch Sagitta und Viol als Sattelpferde im grünen Stall; aber die Roten haben Füchse wie Aureus, Phoebus und Purpureus. Kein Pferd kam dem ›Vogel‹ gleich, und nun ist er tot – gefallen als Opfer der Zauberkünste der Gottlosen. Mögen die Flüche der Götter die Galiläer treffen!«

»Man kann auch zu stark sein«, hatte Papirius gesagt. Aber gegen den Kummer und die Erregung, die sich Roms bei der Botschaft bemächtigten, der ›Vogel‹ habe sich den Hals gebrochen, als er um die Spina bog, wären ein Starker und ein Schwacher gleich ohnmächtig gewesen.

Selbst der rote Stall freute sich nicht. Gregorius, der der rote Oberbereiter war und den Beinamen Thorax führte – nach dem Lederpanzer, den er immer trug –, erklärte Amachius die Geschichte, als dieser dem Komplex einen Besuch abstattete. »Selbstverständlich benutzen wir gelegentlich auch Tafeln!« sagte er. »Das tun die Grünen, und das tun wir ebenfalls. Auf den Tafeln steht der Wunsch, der startende Wagen möchte den Strich nicht verlassen können, nicht um die Spina herumkommen, oder einen schlechten Start haben. Aber ich habe niemals gehört, daß einer gewünscht hätte, der Gegner möchte sich den Hals brechen.«

»Und in diesem Fall?« fragte der Polizeidirektor kurz.

»Ich weiß nichts davon, was in diesem Fall geschehen ist.«

»Schwöre beim Haupt deiner Kinder, daß du nichts weißt!«

Und Gregorius schwor.

Der nächste Zeuge war der rote Wagenlenker, der den »Vogel« bei der unglücklichen Fahrt gefahren hatte. Er hieß Eustorgius, mit dem Zunamen Strumesus. Die Erklärung, die er gab, war ebenso negativ, aber sie stimmte mit der ersten überein. Er hatte das erste Pferd gekannt, das »Vogel« geheißen hatte, seit der verstorbene Kaiser Lucius Verus es als Einjährigen kaufte. Dieses Pferd lag im Mausoleum des Vatikans begraben. Das jetzt verunglückte Pferd, das von dem ersten gefallen war, hatte er schon als Fohlen gekannt. Oftmals hatte er zugesehen, wie der Kaiser es mit Rosinen und Kuchen fütterte, und obgleich er, wie viele rote Bereiter, bei den Wettfahrten manchen guten Kampf mit dem Kaiser ausgefochten hatte, so hatte er doch niemals – niemals seinen Unwillen an dem Pferd ausgelassen.

Ach, wie lebendig stand dem Amachius das Bild des Kaisers im Wortstreit mit den roten Fahrern vor Augen; aber jetzt handelte es sich nicht um den Kaiser. Er fragte: »Hast du dich mit dem grünen Wagenlenker bei der Kurve gehauen?«

»Wir haben wohl ein bißchen aufeinander losgepeitscht. Ich erinnere mich kaum mehr daran, denn ehe der ›Vogel‹ stürzte, mußte ich scharf nach rechts halten. Dabei fiel ich vom Wagen und mußte die Zügel kappen, um nicht ganz mit herumgeschleift zu werden.« Amachius sprach mit dem Lenker des grünen Wagens. Er hieß Restutus, mit dem Zunamen Gidas. Er befand sich noch in einem solchen Zustand von Wut, daß er bereit war, an jegliche Infamie zu glauben – überhaupt jede Lösung anzunehmen, außer der einzigen, daß er selbst schlecht gefahren wäre. Der Wagenlenker zu sein, der dem »Vogel« den Rest gegeben hatte, war ein so wenig beneidenswertes Los, daß er jede Art von Trost brauchen konnte. Aber so inkonsequent war die öffentliche Meinung, daß sie zu gleicher Zeit den Gottlosen die Verantwortung für das Geschehnis zuschob und den unglücklichen Lenker zu einem toten Mann machte, was das Wagenlenken anbetrifft.

»Es ist die Frage, ob Papirius nicht: recht hat, und ob ein paar kecke Jungen nicht vielleicht den verwirrten Strang rascher abwickeln könnten als wir!« überlegte Amachius. Sein Sekretär, der mit ihm gekommen war, fragte:

»Haben Herr Direktor etwas gesagt?«

»Ich sagte, es wird schon von selbst wieder in Ordnung kommen!« antwortete der Direktor. In Wirklichkeit glaubte er nicht so recht daran.

»Es scheint sich zu einem Geschwür zusammenzuziehen«, sagte der Sekretär.

»Zu hundert Geschwüren!« berichtigte Amachius kriegerisch.

Der Sekretär hatte nichts dagegen, seine Ahnung vergrößert zu sehen, und fuhr fort:

»Ob da nicht ein Galiläerpflaster ...?«

»Unsinn!« unterbrach ihn Amachius. »Galiläer! – Das ist der vollkommen geistesschwache Refrain jeder betrüblichen Weise geworden. Ich will dir sagen, was los ist: die Römer langweilen sich. Der Kaiser hat ihnen beinahe alle Freuden weggenommen: die Gladiatoren sind ins Heer gesteckt; und die übriggeblieben sind, kämpfen mit stumpfen Waffen. Kern Verbrecher wird mehr den Löwen vorgeworfen (es ist mir rätselhaft, wovon die armen Tiere leben), nicht einmal ein Seiltänzer fällt sich mehr zu Tode; denn jetzt legen sie, beim Argus!, Kissen unter dem Seil hin, und wenn es irgendwo gemeinsame Bäder für Männer und Frauen gibt, so sind sie geschlossen. Und was bekommen sie als Ersatz? – Phi-lo-so-phen – Gott steh mir bei!«

»Aber – äh – die Galiläer kann er doch notorisch nicht leiden!« fuhr der Sekretär störrisch fort.

»Und dann?« fragte Amachius scharf.

»Nein – selbstverständlich!« beeilte sich der jüngere zu antworten.

»Was sind das für Zeiten!« damit schloß Amachius die Unterredung.

 

Papirius sagte fast das gleiche, als er im Lauf des Tages mit dem ehemaligen Centurio Sergius Felix sprach. Nachdem dieser aus dem Heeresdienst geschieden war, hatte er sich der Curiosa zur Verfügung gestellt, zu welchem Geschäft er so schlecht wie nur möglich paßte.

»Sind die Zeiten denn jetzt so sehr anders? wendete Felix ein.

Das ärgerte Papirius ein wenig, weil dies eine von seinen eigenen Lieblingsrepliken war. »Ihr Götter, wo willst du hin!« sagte er. »Soweit ich mich zurückerinnern kann, hat es nie soviel Schwierigkeiten und Spektakel gegeben wie während der letzten zehn Jahre. Es liegt gewissermaßen in der Luft. Und die Pest gibt auch nur die halbe Erklärung.«

Felix, der zu den glücklichsten Menschen gehörte, deren persönliche Atmosphäre kräftig genug ist, der Atmosphäre seiner Umgebung halbwegs die Stange zu halten, lächelte entschuldigend, als ob dies ein Fehler wäre, der so rasch wie möglich berichtigt werden müßte. Da so mit ihm nicht weiterzukommen war, erzählte ihm Papirius ohne Übergang von dem Plan, einige Jungen als Hilfe für die Curiosa anzustellen.

»Du kennst ja eine Menge Jungen!« sagte er. »Such dir vorerst einmal zwei davon aus. Die können dann einige Aufgaben für dich persönlich übernehmen. Selbstverständlich dürfen sie von der Organisation nichts erfahren.«

Felix gefiel dieser Plan nicht. Trotzdem schweiften seine Gedanken auf eigene Faust zu ein paar vierzehnjährigen Jungen hin. Den einen hatte er getroffen, als er vor ungefähr acht Jahren mit den Legionen nach dem parthischen Krieg auf dem Wege nach Rom war. Der andere war der Sohn eines Schullehrers, und beide wohnten in der Sandalenmachergasse.

Papirius schnitt seine Betrachtungen mit den Worten ab: »Es ist wichtig, daß das rasch in Ordnung gebracht wird. Wenn es sich tun läßt, so laß sie auf den Isistempel in der dritten Region los. Da können sie sich bis auf weiteres akklimatisieren. Jungen können überall hineinschlüpfen.«

Da er keine rechte Ausrede hatte, versprach Felix, daran zu denken. Und da er immerhin nichts anderes vorhatte, trieb er sich gegen Abend in der Gegend des Stadttempels oder des Tempels der Venus und Roma, wie er auch genannt wurde, herum. Er wußte, daß sich die beiden Jungen oft hier aufhielten, besonders der eine, der Jon hieß. Er war durchaus nicht sicher, daß es das richtige sei, Jungen in solche Sachen hineinzumengen, oder richtiger gesagt, er war sich ziemlich klar darüber, daß es verkehrt sei. Aber er sagte sich selbst, er wolle der Sache einmal nähertreten.

 

Um diese Zeit saßen zwei Jungen und ein Mädchen neben einer der schweren Granitsäulen, die den Tempel umgeben. Der eine der Jungen war Jon; der andere hieß Horus und war der Sohn des Priesters Arnuphis vom Isistempel. Dieser Junge zeichnete sich dadurch aus, daß seine sichtbaren Bestandteile den Eindruck machten, als wären sie nur lose zur Probe zusammengeschraubt. Dank seinem allzu raschen Wachstum war das Verhältnis zwischen seinem Körper und seinen Kleidern eine Art von permanenter bewaffneter Neutralität, die aber jeden Augenblick dadurch gebrochen werden konnte, daß die Schultern aus der Tunika hervorkrochen. Das Merkwürdigste an ihm waren aber doch vielleicht seine Zähne. Die standen zwischen den Lippen hervor, so daß er immerzu zu lächeln schien, welche Verrichtung ihm jedoch nur selten zustieß. Eine Schönheit war er also nicht; aber er wurde für ziemlich stark gehalten und war immer reichlich mit Geld versehen. Das stahl er sich aus dem Weihwasserautomaten seines heimischen Tempels. (Er regulierte das Manko mit gewöhnlichem Leitungswasser.) Außerdem war er sehr beredt. Dies alles verlieh ihm eine gewisse Anziehungskraft. Wenigstens wirkte er auf die Jungen im Argiletum so, wo er sich gelegentlich herumtrieb – obgleich seine Sprache das eigenartige Latein der dritten Region war, dem jede Art von Stoßdämpfer fehlte. Dieser vielversprechende Jüngling war es, der alle denkbaren Wände mit den unausdenkbarsten Kunstwerken verzierte. Gerade an diesem Tag kam er von einem Dekorationsfeldzug her, bei dem es ihm mit wachsender Virtuosität gelungen war, einen Jungen aus der Gemeinde der Ophiten darzustellen, wie er Christus-Seth anbetet – den gekreuzigten Menschen mit dem Eselskopf. Beim Sammelplatz der Jungen angekommen, gab er dadurch eine letzte Probe seines Könnens, daß er das genannte Kultbild in den Stein ritzte. Nachher malte er noch den Oberteufel seiner eigenen Gemeinde, Typhon-Seth, mit weit ausgestreckten Vorderbeinen auf dem Boden sitzend. Beide Kunstwerke ernteten viel Anerkennung. Besonders floß das Mädchen – es hieß Julia und war die Tochter des Kleiderhändlers Nigidius – von Lob über.

Sie saßen da und betrachteten die Tauben vor ihnen. Das Mädchen saß zwischen den beiden Jungen und zeichnete mit der Spitze ihrer Sandale Figuren in den Sand. Jon hatte sich halb niedergelegt und stützte den Kopf in die eine Hand. Er zermarterte sein Gehirn, etwas zu finden, was er sagen könnte – nichts Geistreiches oder Verwickeltes, nur irgend etwas, eines oder das andere, das dem von ihm angenommenen Verdachte des Mädchens ein Ende machen könnte, daß er eine schwere Zunge habe oder sogar stumm sei. Aber je mehr er sich den Kopf zerbrach, desto trockener kam er ihm vor. Und obgleich er Horus haßte, war er ihm doch beinah dankbar, weil er das Schweigen brach, das nachgerade lächerlich wurde. Der Ägypterjunge wendete sich auf eine so vertrauliche und freche Weise an Julia, daß dies den Römer mit aufrichtigem Ekel erfüllte.

»Du kennst natürlich eine Menge junger Männer!« bellte er mit seinem Hundegesicht. Die Absicht, dem Mädchen zu schmeicheln, war deutlich, während er zugleich seine eigene Überlegenheit in Freiheit trabend vorführte, und er erreichte seine Absicht vollständig.

»Ach nein!« sagte sie verschämt, und das entsprach genau der Wahrheit; aber die Betonung, mit der dies vorgebracht wurde, ließ verschiedene aufmunternde Lebenserfahrungen ahnen, und Jon zuckte unter einem nagelneuen und ihm seither unbekannten Gefühl zusammen; Horus hätte ihn aufklären können, daß dies etwas sei, was man Eifersucht nennt. Statt dessen fragte er teilnehmend:

»Ist dir schlecht?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, wendete er sich wieder an Julia – diesmal mit bewunderndem Spott: »Nein, du hast wohl bis jetzt immer nur mit Puppen gespielt!«

Das war es ungefähr, was Julia wirklich getan hatte. Bis vor einem Monat, wo sie zwölf Jahre alt geworden war und damit die Grenze zum heiratsfähigen Alter überschritten hatte, war sie in glücklicher Unwissenheit darüber gewesen, daß Jungen etwas anderes sind als Wesen, von denen ein bedeutender Spektakel ausgeht, Wesen, die, wenn sie erwachsen sind, Soldaten, Polizisten, Gemüsehändler werden oder auch Bronzegießer, wie ihr Onkel in Ostia einer war. Aber sie hatte doch ein Erlebnis gehabt, ein armseliges und verstimmendes Erlebnis allerdings, aber doch etwas auf der richtigen Linie. Sie entschloß sich, es aufzuputzen und es für einen Augenblick aus seinem Dasein als tote Erfahrung hervorzuheben, und so sagte sie zögernd, und das kam wie der Hauch eines fernen Traumes und so täuschend heraus, daß sich selbst der Weltmann Horus narren ließ.

»Ich habe einmal ... einen Mann gekannt (sie legte den Nachdruck auf Mann), der ... der ... er war Hauptmann bei der Prätorianergarde ...«

»Bah, von diesen Wichtigtuern halte ich nicht viel!« warf Horus ein und gab damit die Rolle auf, mit der er so nett angefangen hatte.

Aber Julia sah glückselig vor sich hin, und niemand hätte es ihrem Gesicht angesehen, daß sie in Gedanken die kleine halbvergessene Geschichte noch einmal durchging. Zum erstenmal war sie ihm vor dem Laden des Juwelenhändlers Agathopus in der Neuen Straße begegnet. Er war ein kräftiger Mann in der bekannten Uniform und mit dem Gang der Prätorianer, und er schritt einher, die linke Hand auf dem blinkenden mit Silber beschlagenen Schwertknauf gestützt, und zwang nach Soldatenmanier alle ihm Entgegenkommenden zum Ausweichen. Augenscheinlich sah er nichts – auch sie nicht bis zum letzten Augenblick; aber als sie eben aneinander vorübergehen wollten, blinzelte er – diskret aber deutlich – mit einer taktvollen Vertraulichkeit, die sie über alle Maßen verwirrte. Nachher begegnete sie ihm noch mehrere Male, und immer wiederholte sich das gleiche. Er stapfte daher wie ein verdrießlicher Gott, ohne nach rechts oder links zu blicken, bis er dicht vor ihr war. Dann blinzelte er mit männlichem und vertraulichem Takt. Weiter geschah nichts. Von hinten sah er prachtvoll aus.

Schon allein, daß nichts weiter geschah, obgleich Julia allmählich ein zurückhaltendes Lächeln wagte, mußte selbst eine Unerfahrene zum Nachdenken veranlassen. Aber nun ereignete sich das Ärgerliche, daß er eines Tages an ihr vorüberging, ohne zu blinzeln. Sie verbrachte eine unruhige oder, wie sie meinte, schlaflose Nacht, und am nächsten Tag blinzelte er wieder. Sie fühlte ihr Leben zurückkehren und aß und schlief drei oder vier Tage lang normal. Dann wiederholte sich die Kalamität: er vergaß zu blinzeln. Eines Tages legte sie ihrem Kleinmädchengehirn Zügel an, um es ans Nachdenken zu gewöhnen. Zu Anfang tat es das widerwillig, später ging es besser, und nach einiger Zeit hatte es festgestellt, daß das Blinzeln erschien, wenn sie an seiner rechten Seite vorüberging, und ausblieb, wenn sie links ging. Sie machte eine Woche lang die Probe, und diese Beobachtung bestätigte sich. Er war von nervösen Zuckungen in der einen Gesichtshälfte geplagt. Später ging sie in einem Bogen um die zwölfte Region herum.

Die unmelodische Stimme des Horus griff roh in ihre Betrachtungen hinein. Seine blöden, unzuverlässigen Augen betrachteten sie auf eine Weise, die mehr als anerkennend war. Auf Jon wirkte er wie eine Ratte, die eben ein Ei aussaugen will, als er sagte: »Was hast du denn mit der Offiziersschnute angefangen?«

Eine Pause tropfte dröhnend in die Schale der Zeit, bevor sie antwortete: »Wir paßten nicht füreinander.«

»Nein – das hätte auch gerade noch gefehlt!« sagte der Ägypter drohend und dunkel.

»Was hätte gefehlt?« Julia kam nicht weiter und erfuhr darum nicht, was gefehlt hätte. Mit einem Satz fuhr sie auf und rief: »Marcia – liebe Marcia!«

Und wie eine Feder flog sie einem Mädchen gleichen Alters entgegen, das über den Platz auf sie zukam. Und während die zwei Freundinnen eine Vokalakrobatik entwickelten, die unter den säulengetragenen Wölbungen des Stadttempels widerhallte, ging Horus mit gewohnter Tatkraft zur Vorbereitung eines Planes über, der soeben in seinem unsentimentalen Gehirn aufgetaucht war.

»Du, Jon!« sagte er. »Ich nehme Julia. Du kannst Marcia haben. Sie ist eigentlich schöner; aber Julia ist gut genug für mich.«

Selbstverleugnung ist ohne Zweifel die schönste Frucht eines edeln Charakters; aber zur Steuer der Wahrheit muß gesagt werden, daß Jon nur wenig Sinn für die Territorien hatte, die sich um abnorme Charakterentfaltung gruppieren. Er antwortete kühl: »Aber Julia will mich!«

Der Ägypterjunge wußte, daß dies die Wahrheit war. Jetzt, wo das Mädchen nicht mehr zwischen ihnen saß, war das magnetische Gleichgewicht wieder hergestellt. Aber als der Realpolitiker, der Horus war, griff er die Sache augenblicklich von einer andern Seite an. »Du, Jon, hier sind fünf As. Die bekommst du, wenn du sie heute abend nicht heimbegleitest. Ich muß sowieso ins Argiletum, wenn ich heimgehe.«

Jon gab keine Antwort. Fünf As sind nun einmal fünf As. Sie sind bedeutend weniger leicht zu ergattern als ein Mädchen. Außerdem hatte er ja Marcia in der Hinterhand.

»Aber dann darfst du dich selbstverständlich nicht hinterher an unsere Fersen heften«, erklärte Horus vorsichtig. Dieser Gedankengang enthüllte einen Charakter, niedriger immerhin, als die soeben ausgestellte Selbstverleugnung vermuten ließ, und jedenfalls einen, der Jon fremd war. Wenn er ein Mädchen verkaufte, dann war es verkauft.

»Auch nicht, wenn Marcia mit uns geht«, fuhr das prophylaktische Wunderkind fort, und diese Wendung entschied die Sache.

»Selbstverständlich gehen die Mädchen miteinander!« dachte Jon. »Und wenn sie zu zweit sind, ist es gleich.«

»Nimm sie nur!« sagte er blasiert. »Ich habe heute sowieso keine Zeit.«

Dieses letztere fügte er hinzu, während er die Geldstücke in den Mund steckte, und damit rief er bei Horus das ärgerliche Gefühl hervor, daß er mindestens zwei As hätte sparen können. Aber genau betrachtet konnte man nicht sagen, daß fünf As zuviel wären für Julias Lachgrübchen. Mit diesem Resultat setzte er sich zurecht wie ein Aasgeier zum Verdauen. Der kleine Keim eines Zweifels in Jons Gemüt wurde durch einen eigenen Geruch umgebracht, der von dem jungen Midas neben ihm ausging. Es war der eigentümliche Geruch, der Wasser - und Brot-Gefangenen und nassen Hunden anhängt, und er schrieb sich von einem Kübel Wasser her, der über Horus ausgegossen wurde, als er eben dabei gewesen war, eine Zeichnung an einer Säule des Kapitals zu vollenden. Dieser Geruch, so tröstete sich Jon, würde selbst den Schauspieler Paris, den Abgott der römischen Frauenwelt, unmöglich machen.

 

Als sich der alte Oberstleutnant Sergius Felix dem Tempel der Venus und Roma näherte, hatten sieh da allmählich ein Dutzend Jungen versammelt. Sie kamen da zusammen, wie die Jungen an tausend anderen Plätzen von Rom zusammenkamen, um zu schwatzen, sich zu prügeln, Schelmenstreiche auszusinnen oder sie zur Ausführung zu bringen.

Jon saß da, die Hände um das rechte Knie gefaltet, und wiegte sich hin und her – eine Gewohnheit, für die er von dem Zahnarzt Rufus so lange geprügelt worden war, bis dieser einsah, daß es hoffnungslos sei, sie ihm abzugewöhnen.

»Das macht ganz von selbst so!« sagte der Junge klagend, sooft seine Hände in der unheilverheißenden Stellung ertappt wurden, und in solchen Augenblicken war sein Pflegevater nahe daran, zu glauben, daß wirklich etwas finster Unnatürliches hinter ihm stecke, was der Vogelhändler Verecundus anzudeuten niemals müde wurde.

Jon hatte eine Schramme quer über das eine Kinnpolster, einen ziemlich tiefen Riß, den zu verbergen er sich keine Mühe gab. Die Schramme war bisher nicht besonders sichtbar gewesen, aber jetzt lehnte Jon den Kopf zurück, so daß die Wunde deutlich zu sehen war. Die Absicht dabei war, daß ihn jemand fragen solle, wo er sich diese Wunde zugezogen habe, worauf er – zerstreut und mit müder Überlegenheit, als sei von etwas ganz Alltäglichem die Rede, antworten wollte. Zugleich wollte er Julia ins Auge fassen und die Wirkung auf sie beobachten. Und er erwartete sich von dieser Episode nicht wenig.

Der Sohn des Schullehrers Paulus, der ebenfalls Paul hieß, war es – wie vorauszusehen gewesen war –, dessen affenmäßige Neugier zuerst erweckt wurde. Leider drückte er sich nicht in einer Form aus, die dem heroischen Charakter der Sache angemessen war.

»Was für ein Mädel hat dich denn da gekratzt?« fragte er, worauf die ganze Schar den verwundeten Helden musterte, und Julia kicherte.

»Mädel? Kein Mädel hat mich gekratzt!« sagte Jon verächtlich.

»Woher hast du denn den Ritz?« fuhr der junge Paul fort.

Der Held schloß müd' die Augen. »Ach«, sagte er, »als ich mich heute früh rasierte ...!«

Weiter kam er nicht. Mehr war nicht nötig, ein brüllendes Gelächter zu erregen – ein Gelächter, worin Julias Beitrag wie eine Forelle im Mondschein aufblitzte. Selbst der alte Sergius Felix lachte schwach. Aber er faßte sich rasch, und als er sich seines eigenen ersten Flaumbartes erinnerte, traten ihm beinah die Tränen in die Augen. Jedenfalls war er so nah daran, wie es ein alter Legionär überhaupt sein kann. Aber da er den zornigen Kummer seines Lieblings bemerkte und sah, wie er sich in der Schar verkroch, um seine Niederlage zu verstecken, hob er, Stille gebietend, den Finger mit dem breiten goldenen Ring, und sie gehorchten ihm wie immer.

Sergius Felix war an der Spitze seiner Legionäre alt geworden. Aber noch kein alter Mann hat seinen Kopf so gerade auf den Schultern getragen wie er, wenn er nachmittags durch die Tavernen schlenderte oder abends mit den jungen Männern zusammensaß. Mit seinen ungeschwächten Augen, seinem gefühlvollen Mund und der phantastischen Krümmung seiner Nase ragte sein weißer Adlerkopf über die unruhigen, mit schwarzem, rotem und blondem Haar bewachsenen Klötze hervor. Wenn er die Hand erhob, die Legionäre zu grüßen, grüßten sie auf dieselbe Weise zurück – ehrerbietig und liebevoll. Sie liebten den alten Mann mit der schrankenlosen Hingabe, wie sie heranwachsender Jugend eigen ist. Selbst der junge Paul mit seinen unberechenbaren Einfällen und seiner verblüffenden Nachahmungsgabe, dessen Neugier ihn in Geschichten verwickelte, bei denen man die Beteiligung eines Jungen von guter Erziehung am wenigsten hätte erwarten sollen – selbst Paul betrachtete ihn mit der größten Ehrerbietung.

Die eben erwähnten Eigenschaften waren es, die diesen Jungen zum Wortführer gemacht hatten, wenn die Schar beim Tempel der Venus und Roma zusammenkam, und er war es auch, der an diesem Abend den Versuch machte, Sergius Felix auszuforschen.

»Ist es wahr, Sergius Felix, daß die Frauen von Athen und Antiochia schöner sind als die von Rom?« fragte er vorsichtig.

»Wer behauptet das?« fragte der alte Legionär.

Der Junge zögerte einen Augenblick, bevor er gleichgültig hinwarf: »Ach, das hab' ich einmal gehört!«

»Deine Ohren sind zu lang, mein Junge – sie sind unerlaubt lang. Was hast du noch mehr von den Frauen aller Welt gehört?«

»Irgend jemand hat mir gesagt, die Frauen Roms sind falsch und treulos, und alle Frauen von Athen und Antiochia sind stolz und edel. Er sagte, in Rom hätte keine Frau weniger als vier Liebhaber. Aber im Osten – ich habe den Namen vergessen, aber also irgendwo im Osten – lassen sich die Frauen an die Scheiterhaufen binden, auf denen die Leichname ihrer Männer verbrannt werden. Und zwar, du verstehst, Sergius Felix, werden sie nicht dazu gezwungen, sondern sie tun es, weil sie das Leben nicht mehr aushalten, wenn ihre Männer tot sind. Er sagte auch ...!«

»Es muß ein Sklave gewesen sein, mit dem du da gesprochen hast. War es ein Sklave, Junge?«

Der junge Paul zögerte. Dann gestand er friedfertig zu: »Es war ein Sklave, mit dem ich gesprochen habe.«

»Selbstverständlich! Nur ein Sklave kann Schmutz auf die römischen Frauen werfen ... Und die jungen Papageien, die ihm zuhören!« fügte der Alte liebenswürdig hinzu. »In keiner Hinsicht wird Rom von irgendeiner Stadt auf der Welt übertroffen. Nirgends sind die Häuser höher, die Tempel schöner und die Parke großartiger als in Rom. Kein Fluß ist klarer als der Tiber. Nirgends sind die Frauen blendender als hier in Rom. Wer Rom nicht gesehen hat, hat nichts gesehen und könnte ebensogut blind geboren sein. Rom ist das Herz der Welt, und an dem Tag, wo das Leben nicht mehr durch Roms Tavernen, Roms Straßen und Roms Plätze flutet – an diesem Tag besteht die Welt nicht mehr. Ich habe gesprochen!«

Sergius Felix wußte recht gut, daß er in Wirklichkeit nicht auf das geantwortet hatte, worum es sich eigentlich drehte. Und Paul wußte das ebenfalls. Und jeder von beiden wußte von der Gegenpartei, daß sie es wußte. Es war darum nur gut, daß Julia ihren Kopf mit dem goldroten Haar zwischen den schwarzen Wollköpfen der zwei dicken Brüder Domitian hervorstreckte und den Alten fragte:

»Wer ist die schönste Frau, die du gekannt hast, Sergius Felix?«

Der Legionärführer wendete sich mit einem Ruck der Fragenden zu: »Ach«, sagte er, und es sah wirklich aus, als ob er dabei erröte: »Ja, siehst du, Kleine, ich habe nur eine einzige gekannt.«

Diese Antwort machte Julia ganz unglücklich, denn so war ihre Frage ja nicht gemeint gewesen, und Sergius Felix, der ihre Verlegenheit bemerkte, beeilte sich, ihr zu Hilfe zu kommen.

»Aber sie war sehr schön«, sagte er. »Zu jener Zeit war keine Frau in Rom schöner. Und es kann gut sein, daß es in Athen und Antiochia edle Frauen gibt; aber die edeln und stolzen Frauen Roms sind edler und stolzer als die Frauen sonst irgendwo. Und sie war die edelste von ihnen allen. Sie war nicht wie andere schöne Frauen; – wenn Männer diese auf der Straße sehen, klopfen ihre Pulse schneller, und ihre Augen werden wärmer. Aber wenn sie kam, so war es nicht, als ob ein irdisches Geschöpf über den Platz ginge, und in einem solchen Augenblick wünschten sich die Männer, daß sie ein reineres Leben geführt hätten. Und wenn sie später Frauen begegneten, die ihnen zuvor schön erschienen waren, so meinten sie, die seien in der Zwischenzeit verwelkt.« Er saß einen Augenblick wie in einem glücklichen Traum befangen da und schloß dann: »Sie war so schön, daß die Götter nicht mehr ohne sie leben konnten. Und – als – sie tot war, zog ich mit den Legionen übers Wasser.«

Es war ganz still geworden, und Julias Stimme, die nur ein unterdrücktes Flüstern war, klang hell in der goldenen Frühlingsluft. »Und seitdem ... seitdem hast du keine anderen Frauen mehr gekannt?«

»Seither konnte es ja keine andern mehr geben!« berichtigte Sergius Felix, und der junge Paulus wiederholte es und sagte vor sich hin: »Seither konnte es ja keine anderen mehr geben!«

 

Sergius Felix eignete sich nicht für die Arbeit bei der Polizei. Er erfüllte vollständig die Forderung des Philosophen, daß der Mensch streben solle, dem Purpursaum an dem Rittergewande gleich zu werden. Eine so einfache Sache wie die Aufforderung an einen Jungen, im Isistempel Beobachtungen zu machen, war für ihn ein Problem, das Kopfzerbrechen und Vorbereitungen verlangte. Als er zu Jon ging, geschah es mit dem lebhaften Wunsche, höhere Kräfte möchten ihm den Weg bereiten, damit er Jon auf einer edeln Grundlage gewinnen könne. Er war begleitet von Marcellus, einem großen dunkeln Mann im Anfang der Dreißiger, der Kassierer in einem clearing-house des Flußviertels war. Dieser traf sich bisweilen mit Sergius Felix, und auch Jon kannte ihn vom Hause des Nigidius Vaccula her, wo er ein häufiger Gast war. Jon begrüßte Sergius Felix mit dem sonderbaren Gruß:

»Sie, von der du sprichst, Sergius Felix, ist ja ganz recht; aber ich kenne eine, die ist ... die ist zehnmal so schön. Sie ist schöner als die Sterne!«

»Dann ist sie kein Mensch!« entgegnete Sergius Felix freundlich. »Aber wie heißt deine Schönheit? Ich will sie dir nicht wegnehmen!«

»Das kannst du auch nicht!« antwortete Jon vertrauensvoll. »Es gibt Leute haufenweise – haufenweise! –, die es versucht haben.«

Lächelnd trat Marcellus näher und fragte: »Wie heißt das Wundergeschöpf Ist es Julia? Oder Marcia?«

»Die sind etwas ganz anderes!« erwiderte Jon. »Nein, es ist eine Dame, die ich kenne. Wenn wir allein sind, nenne ich sie Rhodope.«

»Und wenn es formeller zugeht?« fragte Marcellus.

»Eigentlich heißt sie Caecilia. Du kannst gern versuchen, ob du sie triffst. Du mußt nur mit zu den Mysterien in Rab Chaninas Bethaus kommen.«

»Ach so, ist sie eine von den Gottlosen?«

»Ja, aber sie ist eine von den besten. Das ist Rab Chanina auch ... und Vater Hyazinth, Marcias Pflegevater. Er ist Eunuch und ist Rab Chaninas Hilfspriester.«

»Wie alt ungefähr ist diese seltene Dame?« fragte Sergius Felix.

»Genau zwanzig Jahre. Ich bin immer bei ihrer Geburtstagsfeier mit dabei.«

»Ja ja, vergiß nicht, mich abzuholen!« sagte Marcellus, ehe er sich von ihnen trennte, um sich nach der dritten Region zu begeben.

Jon lehnte es ab, mit den Mädchen zu gehen, als sie ihn abholen wollten; aber Horus ging als Ersatz mit ihnen.

Dagegen spazierte Jon mit Sergius Felix am Friedenstempel vorbei hinein in die Stadt. Aber es gelang dem alten Soldaten nicht, seinen Widerwillen zu überwinden und den Jungen zum Dienst am Isistempel aufzufordern. Es sollte noch lange Zeit vergehen, bis er so weit kam. Als sie schon ein gutes Stück über den Nervaplatz gekommen waren, schlug er sich plötzlich vor die Stirn und nahm eiligst Abschied. Mit gellendem Pfeifen verschwand er in der Richtung der Sandalenmachergasse. Er hatte vergessen, den Affen ihr Abendessen zu geben.


 << zurück weiter >>