Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Entweder man glaubt nicht an Wunder, und dann sieht man auch keine, oder man glaubt an welche, und dann sieht man sie auf Schritt und Tritt. War es ein Wunder oder nicht, daß der Kaperwagen, der auf der Straße nach Rom dahergerumpelt kam, sich von dem Jungen aufhalten ließ, noch ehe der Kutscher aufgewacht war und seinen Mund aufmachte, eine Reihe der sinnreichen Redensarten von den Droschkenhalteplätzen bei den Stadttoren loszulassen? War es ein Wunder, daß der Kutscher sich zuerst weitläufig und gewaltig verschwor, er werde seinen Wagen unter gar keinen Umständen mit der weißen Kuh besudeln, die er einen schmutzigen Kadaver nannte, und dann trotzdem den Jungen und seinen Mann aufnahm, nachdem er allerdings zuerst vorsichtig den Wegmesser am Rad befestigt hatte. Jedenfalls, so meinten die beiden Männer, gäbe das Grund zu allerlei Vermutungen; denn wohl sahen sie Jon gewandt wie ein Eichhörnchen auf das hohe Rad klettern, worauf er sich mit dem Kutscher in einer Sprache zankte, von der die beiden Zuhörer nicht mehr verstanden, als daß sie in ein fernes und barbarisches Land gehören müsse, während es in Wirklichkeit nur der Bauerndialekt war, der die Schritte des Kutschers bis zu dem Tag geleitet hatte, wo er aufbrach, Arbeit bei dem Zunftmeister der römischen Wagenführerzunft zu suchen. Aber sie sahen den Sesterz nicht, der in die Hand des Kutschers glitt. Sie waren vollständig davon hingenommen, auf den Streit zu horchen, von dem selbst Fabius nur das Wort Rom verstand, obgleich er doch mit »Der Grieche in Rom« und »Der Römer in Karthago« und andern Reisehandbüchern handelte. Aber der Erfolg, das Ende war, daß die beiden Männer, als der Wagen auf den Basalt-Polygonen des Straßenpflasters weiterhoppelte, wie eine Katze über ein Stoppelfeld läuft, im wesentlichsten genau ebenso weit waren wie vor dieser Begegnung.

»Es ist ein Glück, daß ich den Kerl veranlaßt habe, in unserer Gasse einzustellen«, bemerkte Verecundus, als sie sich anschickten, nach Rom zurückzukehren.

»Aber die Götter mögen wissen, ob die ›Vier Säfte‹ sie aufnehmen!« setzte Fabius hinzu.

Und damit kehrten sie zu ihren Betrachtungen über den verheißenen Großmeister zurück. Obgleich sie sich eine Zeitlang zu dem Flügel der Ophiten, der den Teufel anbetet, gehalten hatten, so war von ihnen doch nicht vergessen worden, was sie in Rab Chaninas Bethaus gehört hatten. Abwechselnd warfen sie kleine Brocken von Erinnerungen daran hinein. Es waren Erinnerungen an den Traumdeuter, Magier und Propheten Daniel und Namenlose – Vergessene. Und kleine Einzelheiten aus der Offenbarung. Es ging wie ein Karussell, das sich in Gang setzt und mit steigender Geschwindigkeit dreht. »Und es werden Zeichen geschehen an Sonne, Mond und Sternen, und auf Erden wird den Leuten bange sein, und sie werden zagen, und das Meer und die Wasserwogen werden brausen!« Weder Fabius noch Verecundus hatten jemals das Meer gesehen, noch hatten sie eine klare Vorstellung vom Brausen der Wasserwogen; aber es klang sehr gut. »Und das Herz der Helden in Moab wird zu derselbigen Zeit sein wie einer Frauen Herz in Kindesnöten!« Etwas lokal gefärbt und vermutlich sehr zeitbestimmt; aber dennoch war das Bild treffend und aufreizend. »Das Tier ... und es ward ihm gegeben ein Mund zu reden große Dinge und Lästerung ... und ward ihm gegeben zu streiten mit den Heiligen und sie zu überwinden ... und alle, die auf Erden wohnen, beteten es an ... Sein Haupt aber und sein Haar war weiß, wie weiße Wolle, als der Schnee ... und seine Augen wie eine Feuerflamme!« Wie oft hatten sich nicht semitische Stämme an diesen farbenreichen Bildern berauscht, wenn die Füße der Tyrannen am schwersten auf ihrem Nacken ruhten! »Und das vierte Tier ... gräulich und schrecklich und sehr stark und hatte große eiserne Zähne, fraß um sich und zermalmte ... und zwischen diesen brach hervor ein anderes kleines Horn ... das redete große Dinge!«

Die zwei Freunde sahen lange dem Wagen nach, der sich in den Vorstädten der großen Stadt verlor. Das Karussell verlangsamte seine Drehung und blieb dann stehen.

»Wir müssen sie jedenfalls im Auge behalten!« sagte Verecundus.

»Ja, auch den Jungen!« fügte Fabius nachdrücklich hinzu.

Aber auf dem Wagen saß außer den beiden Passagieren der Kutscher und scheuchte die Fliegen mit der Peitsche von den Eselsohren und dem Schwanz des Maultiers und fitzte an die empfindliche Hautstelle oben an den dünnen Beinen, bis die schmalen Hufe den richtigen trommelnden Rhythmus auf dem Straßenpflaster erklingen ließen. Diese Beförderungsweise zeigte nicht viel Rücksicht auf einen Mann in der Verfassung des Pedanius; aber der Überrest des kleinen sauberen Mystikers hatte nur noch drei Gedanken: den Tod – Jon – und das Wiedersehen mit Rom, und vielleicht ist es richtig, daß anhaltende heftige Schmerzen sich selbst dadurch einschläfern, daß sie die Schmerzempfindlichkeit töten.

 

»Laß mich hören, ob du noch weißt, was ich dir vom Tode erzählt habe, du mein Augapfel!« bat Pedanius mit einer Stimme, die hackte wie eine langsam geführte Säge mit wenig Zähnen. Jons Gesicht bekam einen Anstrich von Verdrießlichkeit. Nicht, als ob der Tod vom Erzählerstandpunkt aus ein schlechterer Stoff gewesen wäre als irgendein anderer; allein es ist ein Unterschied, ob man vom Tode mit Menschen redet, für die er eine theoretische Möglichkeit ist, oder mit einem, der ihn schon als halb überstanden ansieht.

»Wenn du mir dadurch doch eine Freude machen kannst!« sagte Pedanius schmeichelnd. Und Jon fügte sich mit einem nachgiebigen Seufzer, wie man kranken und unvernünftigen Kindern nachgibt. Zu Anfang erzählte er nüchtern und schematisch, nachher, als er selbst vom Zauber seiner Erzählung gefangen wurde, mit Verzierungen und Verbesserungen. Vom Hades erzählte er – vom Hades, wo Jupiters Bruder Pluto regiert, er, dem bei der Dreiteilung des Weltalls nach Saturns Abgang das Totenreich zufiel. Von den großen Flüssen, die das Totenreich umströmen, und deren Namen schon schrecklich zu hören sind: Kokytos, Pyriphlegethon usw., und besonders der des äußersten, des Acheron, über den man auf Charons Nachen schifft. Denn dieser Fluß ist so breit, daß auch die toten Vögel nicht die Kraft haben, ihn zu überfliegen. An der stählernen Eingangspforte hält der Neffe des Königs, Aeacus, Wacht, zusammen mit einem Hund, der tausend Köpfe hat.

»Hundert!« berichtigte Pedanius träumerisch und genau bis aufs letzte.

»Na, also hundert!« gab Jon nach und fuhr dann fort: »Ein Schluck Lethe aus der Quelle des Vergessens vernichtet jede Erinnerung an frühere Erlebnisse. Dann wird man vor Pluto und seine Gemahlin Proserpina gestellt, und die Einteilung wird so getroffen, daß die Gerechten in die elysischen Gefilde geschickt werden ...«

»Wo kaum Gedränge herrscht!« warf Pedanius ein mit etwas, was er selbst für ein Lächeln hielt. Er war zu einer Zeit aufgewachsen, wo es noch nicht für ein Zeichen eines schlechten Charakters galt, einen harmlosen Witz zu machen, und er brachte bei dieser Stelle jederzeit diese Bemerkung an.

»Wo kaum Gedränge herrscht!« wiederholte Jon und fuhr dann fort: »Die Schlechten aber werden an die Stätte der Gottlosen geschickt, wo sie mit grauenvollen und ausgesuchten Martern gequält werden. Die weder gut noch böse waren ...«

»Was wohl nicht der kleinste Teil sein wird!« warf Pedanius ein.

»... flattern ohne Körper auf einer großen Wiese herum. Sie sind von einer Beschaffenheit, daß sie einem wie Bauch zwischen den Fingern zergehen, wenn man sie anfassen will. Sie ernähren sich von den Totenopfern, die ihnen ihre Hinterbliebenen am Grabe spenden. Ein Toter, der keine Hinterbliebenen hat, ist darum eine unglückliche Figur ...«

Es herrschte gerade ein ziemlicher Lärm. Der Kutscher war aufgestanden, seine Beine in eine andere Lage zu bringen. Er war ein walzenförmiger junger Mann mit mehreren eisernen Ringen an den Fingern, die er gegeneinander hin und her schob, so daß ein knirschender Laut entstand. Als wäre dies noch nicht genug, knallte er auch mit der Peitsche, während er Pedanius betrachtete und bemerkte: »Das Leben ist manchmal ein leergekaufter Glückshafen.« Aber Pedanius, der ein scharfes Gehör hatte, wie es bei Kranken oft der Fall ist, vernahm durch all dies hindurch einen eigenartigen und ungewohnten Laut, der aus Jons Kehle drang, und zugleich hörte der Junge zu erzählen auf.

»Aber du, du wirst mir von Zeit zu Zeit ein Totenopfer bringen ... und am Allerseelentag an mich denken ... und ... und vielleicht, wenn ich fort bin ... einen Kranz von Rosen an das Bild des Harpokrates in den ›Vier Säften‹ hängen.« – Seine Stimme wurde immer heiserer und klang sonderbar leblos – frei von allen angeklebten Färbungen, wie sie war. Aber Jon nickte nur. Sein Sinn war heute morgen wie ein schlecht gemachtes Bett, worin niemand Ruhe findet. Auf einmal wendete er sich wütend an den nichts ahnenden Kutscher und schrie: »Eil dich!« Und da das keine große Wirkung tat, wiederholte er es in verstärktem Ton, und um keinen Zweifel an seiner Meinung mehr übrigzulassen, fügte er einen Extrakt von ägyptischen Verwünschungen hinzu, wie er sie von den Jungen in den Isis- und Serapistempeln gelernt hatte. Er rief die Dämonen in deren eigener Sprache an als Chnumen und Knat und Sikat und Bin und Ein und Erebin und Ramanor und Reianoor und sprach den Wunsch aus, jeder von diesen möge sich einen Teil des walzenförmigen Mannes holen, und dann warf er sich nieder und legte schluchzend seinen Kopf auf den Leib des Pedanius. Der Kranke berührte genau den Wirbel im Haar des Kleinen, und während sie an Palästen und Villen und Grabstätten vorbeifuhren und auf nur einem Rade um Fahrzeuge mit schwer beschlagenen Ochsen davor herumlenkten, leuchteten seine Augen noch einmal in dem bekümmerten Lächeln auf.

»Langsam, langsam, kleiner Fürst!« flüsterte er. Und als sie in den Droschkenhalteplatz am Appischen Tor einschwenkten, fügte er hinzu: »Der Gesegnete segne dich!«

Man kann Sonnenschein nicht auf Flaschen ziehen. Selbst wenn man sechs Jahre lang Freude eingesammelt hat, kann man doch nicht den kleinsten Teil davon über die Schwelle des Tages mitnehmen, der der Sorge geweiht ist. Für Jon war dieser Tag bitter wie Wermut, trotz des Schauspiels mit den Truppen; und keine Vorfreude, kein noch so rosenrotes Ausmalen dessen, was in der verzauberten Stadt zu finden sein würde, hatte es vermocht, den Schatten hinwegzunehmen, den der Tod über den Sonnenschein in seinem und seines alten Freundes Leben legte. Und da seine Art, die Umgebung anzusehen, wie bei Kindern und primitiven Menschen überhaupt, von Stimmungen und Verstimmungen abhing, kam ihm das, was er nun vor Augen hatte, kalt und verzerrt vor. Als er nach der Straße zurücksah, stieg der Rauch aus den Villen auf, zuunterst beinah senkrecht, dann in einer leichten Biegung nach Osten gedreht – leblos wie erstarrte Spiralen. Und als er das Schild über dem Laden neben dem Droschkenhalteplatz betrachtete, erkannte er, daß dies ein Milchgeschäft sein mußte, denn darauf befand sich das Bild einer Ziege. Und was für einer Ziege!

Und er ließ seinen Blick weiterschweifen, weiter, aber nicht sehr weit. Nur bis zur nächsten Bude, einer billigen Bude mit nur einem einzelnen Fensterladen; und was seine Aufmerksamkeit gefangen nahm, war eine uralte Frau, die mit Porzellan handelte. Sie war im Laufe der Jahre so klein und verhutzelt geworden, daß man fast die Zeit kommen sah, wo sie sich, wie die bekannte Sibylle, in eine Flasche einschließen und an einem Baum aufhängen lassen könnte, von da aus die Wißbegierde der Jugend zu stillen.

»Bist du wirklich nicht größer?« fragte Jon ungläubig. Er war bis dicht vor sie hingetreten, sich zu vergewissern, daß er nicht falsch gesehen hatte. Er schaute von ihr weg zu dem Schild über der Bude hinauf. »Sorgenfrei« stand da, und er schaute wieder die kleine alte Frau an, die aussah, als sei dies ihr eigener Name.

»Nicht größer, kleiner Herr!, nicht größer!« sagte sie, zog eine freundliche Grimasse und ließ dabei zwei hornartige Daumen sehen. »Wo kommst du her, kleines Eichhörnchen? Bist du ein Römer?«

Jon schüttelte den Kopf und erwiderte: »Vom Ende der Welt – überall her. Wir sind gekommen, Rom zu erobern.«

Die alte Dame betrachtete ihn lächelnd, und er betrachtete sie. Das Leben hatte ihn gelehrt, sich alles ohne Zögern anzusehen.

»Zeig mir deine Hand!« sagte die Alte. »Nein, die linke! So, das ist recht. Oh, du Liebling der Götter, du Verderb der Frauen! Womit haben Roms Jungfrauen die Allmächtigen erzürnt, daß sie dir ihre Herzen in Scherben auf den Weg streuen müssen? Ich beschwöre dich bei der Guten Göttin und bei Venus und Isis, der Heiligen Mutter; kehr um! Kehr um, du Wonne der Mädchen, und möge Jupiter die Herzen der Menschen vor Liebe behüten! Aber sag mir ... wen verehrt ihr, du und dein Bedienter – denn es ist wohl dein Bedienter, der dort in dem Topf- und Pfannenladen steht und hustet und spuckt!«

»Die Venus verehren wir!« antwortete Jon aufs Geratewohl.

»Und was weißt du von der Venus?« fragte die Frau munter.

»Ah!« Jon knipste ungeduldig mit den Fingern. »Ein Ei fiel vom Himmel in den Euphrat, und die Fische rollten es ans Ufer. Tauben brüteten es aus, und aus der Schale heraus stieg Venus, die man die Syrische Göttin oder Atargatis nennt. Seitdem sind die Fische und die Tauben heilig, und man darf sie nicht essen.«

Das war eine Lektion, und es klang wie eine aufgesagte Lektion. Die alte Dame nickte und fragte: »Ißt du denn keine Tauben?«

»Doch; aber ich habe auch keine Löcher in den Händen!« antwortete Jon freundlich und drehte sich um, Pedanius zu folgen. Sie schlugen den Weg nach der Stadt ein, zum Zirkus und zum Palatin. Als sie in der Menge verschwunden waren, saß die kleine alte Dame noch immer da und betrachtete ihre Hände. Sie waren klein und eingeschrumpelt, aber die Zeichen der Stigmatisierung waren noch deutlich sichtbar. Wie in Gedanken fuhren ihre beiden Hände an die Ohren und strichen einen Augenblick über die Löcher in den Ohrläppchen.

»Atargatis!« flüsterte sie und schüttelte den Kopf.

»Hast du einen Jungen gesehen, so groß wie ein Stiefel, und einen Mann mit einem wurmzerfressenen Gesicht, beladen mit Pfannen und Kochgeschirr, Mutter Jallia?« fragte Fabius, als er eine Stunde später mit Verecundus vorüberkam. Und Mutter Jallia, die Syrerin, die die Kastagnetten geschlagen und getanzt und der Venus gedient hatte, solange sie etwas gehabt hatte, ihr damit zu dienen, erwiderte warm:

»Ich habe einen Jungen gesehen, so groß wie ein spanisches Schwert und dunkler als reife Oliven; und ich habe gehört, wie die Mütter der Jungfrauen Roms ihre Töchter einschlossen, als das kleine Gotteskind hereinwanderte, sich die Stadt zu unterwerfen!«

Fabius sagte mit gewollt harter Stimme: »Gotteskind? Ein zerlumpter Bettelbub ist er. Aber sag, wohin sind sie gegangen?«

Mutter Jallia nickte weise vor sich hin. »Warum zeigst du denn solchen Eifer, etwas über einen zerlumpten Bettelbuben zu erfahren?« fragte sie. »Übrigens: von hier aus können sie nur einen der zwei Wege gehen – entweder hinein oder heraus. Sie sind hineingegangen, wie du weißt. Aber du bist ein Dummkopf, mein Lieber.«

»Hast du gehört: ›Gotteskind‹ hat sie gesagt!« bemerkte Fabius, als er auf der Straße nach dem Argiletum außer Hörweite war.

»So heißen die Frauen ja jedes vierte Kind!« wendete Verecundus ein.

»Na, aber er ist doch gekommen, sich die Stadt zu unterwerfen. Was sagst du dazu?«

Verecundus überlegte ein wenig.

»Ja und nein«, sagte er dann.

»Selbstverständlich!« gab Fabius zu.

 

Vom Appischen Tor aus wanderten Pedanius und Jon unverzüglich der Sandalenmachergasse zu. Von dem Augenblick an, wo der kranke Mann den ersten Mundvoll römischer Luft geschmeckt hatte, richtete sich seine Gestalt auf; und wenn er ein wenig zitterte, so war mehr die Ergriffenheit ob des Wiedersehens als seine Krankheit daran schuld. Eifrig wie ein Pferd, wenn es zum Stall geht, steuerte er mit dem Jungen durch die Neugasse am großen Zirkus, am Palatin und dem Friedenstempel vorbei nach dem Argiletum.

Und welch ein merkwürdiges Menschengespann war es – selbst mit dem Maß der Stadt Rom gemessen!

Sechs Jahre auf Kreuz- und Querzügen durch Italien – das ist eine lange Zeit, und ein Junge, der, seit er stolpern konnte, über Landstraßen, Waldpfade, Bergkämme und durch Täler gewandert ist, muß eine Muskulatur haben wie ein junger Luchs und einen Kopf wie ein Bilderbuch voll der herrlichsten Panoramen. Solch ein Junge war Jon. Mit zwei Jahren war er ins Wasser geworfen worden, um schwimmen zu lernen; als er drei war, bekam er ein hölzernes Schwert und mußte sich täglich wie die großen Jungen an einem Holzpfahl üben; als er vier war, kaufte er sich einen der großen luftgefüllten Lederbälle, auf die man springen mußte, wobei der Witz von der Sache war, daß man darauf stehen blieb. Im fünften Jahr lernte erlesen, und als er sechs war, hatte ihm Pedanius seinen ganzen Vorrat an römischen Dichtern beigebracht, der zwar weder groß, noch gewählt war, aber nützlich beim Umgang mit Menschen.

Außerdem hatten die langen Wanderungen mit Bettelpriestern, Traumdeutern, Schauspielertruppen, Diogmiten – so wurde die Landstraßenpolizei genannt –, auch Pilgern, die zu den berühmten Isistempeln wallten, und noch vielen anderen Arten von Menschen aus ihm einen Stapelplatz für eine mehr bunte als ausgesuchte Anhäufung von allerhand Wissen gemacht.

Während dieser ganzen Wanderung hatte Pedanius reichlich zu tun gehabt, um seinen Platz als Hofmeister auszufüllen und sein Fürstenkind zu verteidigen. Zu jener Zeit wurde in allem und jedem spekuliert – Totem und Lebendigem; nicht am wenigsten in Kindern –, häßlichen Kindern, die man noch häßlicher zu machen suchte, und schönen Kindern, die man sich anstrengte, noch anziehender zu gestalten. Pedanius hatte es nicht nötig gehabt, sein Mündel gegen Bären zu beschützen; aber wie ein Tigerweibchen hatte er mit Menschen um ihn gekämpft, die ein gutes Geschäft darin sahen, den Kleinen zu. rauben. Der Körper des Pedanius und namentlich sein Gesicht legten Zeugnis davon ab – so fürchterliches Zeugnis, daß er, als das Geld der Leichenträger zu Ende ging und die Not ihn zwang, nach Rom zurückzukehren, dies ohne die Furcht tun durfte, man könnte ihn wiedererkennen. Er kam jetzt als ein Mann zurück, der allerdings seine Befugnisse überschritten, sonst aber nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat. Und so gut hatte er es verstanden, seine Spur zu verwischen, daß selbst der Junge seinen Namen nicht kannte. Als Sieger – ein sterbender Sieger allerdings, aber dennoch vollkommen siegreich, wollte er heimkehren und den Jungen seinem Vater übergeben. Und je mehr er darüber nachdachte, desto mehr hatte er das Gefühl, daß all das Böse, das ihm auf den Wanderfahrten dieser sechs Jahre widerfahren war, in denen er seine Schwester nicht aufgesucht hatte, weil er in die Vorstellung verrannt war, daß mächtige Kräfte hinter Jon her wären – daß all das zu nichts zerrönne gegenüber dem, was ihm jetzt bevorstand: daß er dem Kleinen Lebewohl sagen mußte. Dieser entsetzliche Gedanke lag schwerer auf ihm als die Krankheit und machte, daß er sich, trotz die erhebenden Wiedersehens mit Rom, schwerer auf seinen Stock stützte. Wie ein Mann, der sich durch tiefen Schnee seinen Weg bahnt, so watete der Mystiker Pedanius in die Sandalenmachergasse hinein.

 

An dem einen Ende der Straße wohnte ein Kleiderhändler, mit Namen Nigidius. Zu einem unbestimmbaren Zeitpunkt in der Vergangenheit hatte er sich den Zunamen »Vaccula«, das heißt »Kleine Kuh«, erworben. Sein Nachbar auf der einen Seite hieß Sergius Orata und war Geldwechsler, auf der anderen Seite hatte der Anwalt Caecilius Jucundus sein Kontor (er wurde nie anders als Trochylos genannt), und an diesem Vormittag waren die drei vor dem Laden des Wechslers versammelt. Es befanden sich verhältnismäßig wenig Menschen auf der Gasse, und das Herz des Pedanius schlug, als er die drei gutgekleideten Männer wiedererkannte, die dort standen und gemütlich plauderten, wie wenn die sechs Jahre, seit er sie zuletzt gesehen hatte, in der Nußschale eines Tages unterzubringen wären. Er vergaß völlig, daß er für diese Gasse nicht nur ein Dieb, sondern noch dazu ein toter Dieb war, und hob grüßend die Hand wie in alten Tagen. Allein die drei sahen ihn nur flüchtig an, und Trochylos, der mitten im Erzählen war, wendete ihm den Rücken auf die demonstrative Art, mit der man Bettler zu beehren pflegt. Und ihm entgegengetanzt kam ein Mädchen, das vor sechs Jahren Pomona, Hectica, Eumachia oder irgend so ähnlich geheißen hatte und Mannequin in einem Damenkleidergeschäft gewesen war. Sie hatte immer Hühneraugen am Fußballen unmittelbar unter der mittleren Zehe gehabt (zu schmales Schuhzeug und zu dünne Sohlen), und die hatte sie ohne Zweifel immer noch; aber nichtsdestoweniger schwebte sie vorbei, als bestehe das Pflaster aus Sommerwölkchen, und ihr Lächeln – ein porzellanenes und runzelfreies Lächeln – verriet keinerlei Wiedererkennen.

Noch andere kamen daher: Calvisius, der mit Vieh handelte und weder schwebte, noch lächelte, der Buchhändler Eros, der auch Mezentius genannt wurde wegen seines schreienden Leugnens jeglicher göttlichen Lenkung, Hermias, der Inhaber eines Ehevermittlungsbüros und selbst zum zehnten- oder elftenmal verheiratet, die beiden Hundphilosophen der »Säbel« und Petrus Einschilling und alle Geschäftsleute hinter ihren Tischen und Schränken – lauter wohlbekannte Beine. Aber nicht einer erkannte den freundlichen kleinen Schuhmacher – nicht einmal der Wirt in den ›Vier Säften‹, der herumlief und mit einer rotgestreiften Serviette auf die leeren Steintische schlug. Pedanius war wirklich und wahrhaftig eine wandernde Leiche, diese Tatsache stand fettgedruckt und dick unterstrichen in seinem verwirrten Gehirn. Pedanius ist eine lebendige Leiche ... stand da; aber dieser Satz sollte außerdem noch mit einem Ausrufungszeichen von übernatürlicher Größe versehen werden: er begegnete Sulpicia!

Ja, er begegnete dem Alpdrücken, das einmal seine Frau gewesen war. Sie war begleitet von einem ältlichen Mädchen, das zu der Zeit seiner Inkarnation als Schuhmacher Pedanius zu den feilen Dirnen gehört hatte und unter dem Namen »Kloaken-Venus« bekannt gewesen war. Eine seltsame Gesellschaft für Sulpicia!

Als Pedanius seine Frau erblickte, geschah ihm das Verkehrte, daß seine Füße aus eigenem Antrieb auf sie losstürzten, daß unsichtbare Schnüre an seinen Händen zerrten und diese zwingen wollten, diesem Monument der Treue um den Hals zu fallen, und daß ein mystischer Geist in dem Souffleurkasten seiner Seele auftauchte und ihm gebot, zu sagen: »Sulpicia, meine liebe Frau – kannst du mir vergeben?«

Es kam nicht so weit. Als sie einander gegenüberstanden (es war gerade vor Rab Chaninas Bethaus), richtete Sulpicia einen Augenblick ihre Blicke auf ihn – wie Drillbohrer. Danach raffte sie ihre Kleider sorgfältig um die Beine zusammen und setzte ihre Wanderung an der lebenden Leiche vorüber fort. Die Kloaken-Venus raffte ihr Gewand ebenso sorgsam zusammen und ging auf der andern Seite an ihm vorbei.

Und so fiel die letzte Schaufel Erde auf den lebendig begrabenen Pedanius.

 

Pedanius war an den »Vier Säften« vorübergegangen und ließ auch verschiedene Logierhäuser hinter sich, ohne daß er sich entschließen konnte, irgendwo einzukehren. Er war, wie schon bemerkt, gleich einem Manne, der durch tiefen Schnee watet; aber man kann noch weiter gehen: er glich einem Manne, der durch eine wilde, winterliche Einöde wandert und eines weiß: sobald er sich zum Ausruhen niederläßt, wird er schwerlich imstande sein, wieder aufzustehen. Er wußte, der Tod wartete geduldig mit einem Bleisack, den er ihm in demselben Augenblick auf den Nacken legen wollte, wo er sich setzte. Er war nun als Letztes in dieses Rom hineingesteckt worden wie in einen Apparat für künstliche Atmung, und er konnte keine große Hoffnung hegen, daß die Kraft weit reichen werde, die ihm so noch gegeben war. Aber er entschloß sich, mit seinem Kochgeschirr und allem dem andern einen letzten Besuch im Hofe des Puffbohnenhändlers zu machen. Sich selbst machte Pedanius weis, dies geschehe, um Jon noch eine Freude zu bereiten und ihm die Ratten zu zeigen. Vielleicht geschah es auch, weil er selbst alte liebe Erinnerungen auffrischen wollte. Ein wenig vielleicht auch, um Sulpicia zu trotzen – oder doch in der Erinnerung an sie. Barock und naiv, wie nur ein schamloses Schicksal es wollen kann, wurde also ein Rattenwettlauf die letzte Begebenheit in dem Dasein des Pedanius.

Der Hof des Puffbohnenhändlers hatte seinen Namen nicht etwa von einem Handel mit Bohnen; in der ganzen Gasse gab es deren keine. Es war auch gar nicht eigentlich ein Hof, sondern eher ein Rummelplatz, dessen Eingangstor dem Halteplatz der Isis-Prozessionen gerade gegenüber lag. Drinnen gab es eine Arena für Wachtelkämpfe, eine Bahn für Rattenrennen, ein Bassin mit zwei Kegelrobben, eine Reihe von Kraftmessern und allerhand Gaukler wie Feuerfresser, Taschenspieler, Schlangenmenschen und einen Neger mit rotangemalten Wangen, der mit brennenden Fackeln jonglierte. Endlich stand da auf einem Rost ein Sklave als Hauptgewinn in einer interimistischen Lotterie zugunsten des Fachvereins der Leichenträger und der Witwenhilfe der Begräbniskasse. Als weiteren Gewinn in dieser Lotterie sah man ein Huhn mit zotteligen Beinen, das so wirkte, als ob ein Teil von ihm weggekommen sei, und als ob es beständig in Gefahr wäre, in dem Gedränge zu verunglücken.

»Wohnt hier der Leibarzt des Kaisers?« fragte Jon, als er den Neger mit den brennenden Fackeln wahrnahm. Der kannibalisch aussehende Neger hatte nicht gerade ein sehr ärztliches Gepräge, aber Jon war doch auch das Außerordentliche angekündigt worden.

Pedanius ließ so viel Scham sehen, wie es ihm bei seinen verheerten Gesichtszügen überhaupt möglich war. »Nicht hier, kleiner Fürst!« sagte er. »Wenn wir ins Logis kommen, lassen wir einen Arzt rufen. Erst schenken wir noch den Ratten einen Blick.«

Und sie schenkten ihnen einen Blick. Das Feld bestand aus fünf bis zehn Ratten, und die Ställe schienen eine große und bunte Menge von Tieren jeden Alters zu beherbergen. Unreiner Lauf disqualifizierte nicht; dagegen wurde ein wildes junges Tier herausgenommen, weil es in unverkennbar mörderischer Absicht auf eine alte, an der Trommelsucht erkrankte Ratte losfuhr, die seitlich über die Bahn lief. Es war schon etwas Sport bei der Sache – mehr, als man zum voraus erwartet hätte, aber doch nicht so viel, wie Pedanius hineinzulegen schien. Es muß merkwürdig gewesen sein, diesen Mann zu beobachten, der sich kaum mehr aufrecht halten konnte, das Spiel aber mit einem, man kann am besten sagen, jammervollen Interesse verfolgte. Er benützte seine letzten schwachen Kräfte dazu, sich und Jon in der leidenschaftlich hingenommenen Menge Platz zu verschaffen. Als der große Wettlauf des Tages vor sich ging, hatten sie einen ausgezeichneten Platz und konnten das Feld von Anfang bis zum Ende beobachten.

Der Lauf hieß »Weiße Dame«, weil darin eine schmutzig-gelbe Ratte von unbestimmtem Geschlecht startete. Es war ein Bauernfängerlauf. Die Spekulation baute dabei auf die Tatsache, daß alle Unkundigen auf die gelbe setzen würden, während die Kenner sehr gut wußten, daß die Favoriten zwei schläfrig aussehende Tiere von gewöhnlicher Farbe waren. Die Welt ist nicht anders – man muß sich mit den Verhältnissen abfinden, wie sie sind, und seinen Trost darin suchen, daß Niedertracht zuzeiten doch ihre Strafe findet. So ging es auch hier.

Pedanius suchte Jon sacht davon abzuhalten, daß er seinen Denar auf die Gelbe setze; aber man kann von einem Jungen auch zu viel verlangen. Außerdem war Jon mit ausgeprägter Neigung zur Selbstbehauptung geboren – einer Eigenschaft, die sich inzwischen akzentuiert hatte, wie es in der Diplomatensprache heißt. Darum blieb Jon einer von den wenigen, die auf die Gelbe setzten, und – die Gelbe gewann. Sie tat sogar noch mehr: sie holte die Pace-Wurst ein und biß sich darin so fest, daß die Ratte das letzte Stück der Bahn mitgeschleppt wurde. Das gab einen Gewinn von elfeinhalb Denaren.

Es wäre nicht angebracht, sich bei diesem Bild aus dem Volksleben noch länger aufzuhalten, wenn sich nicht der eine auf die Ratten gesetzte Denar als fortdauernd auf diese glücklichste Weise fruchtbar erwiesen hätte. Für zwei von den gewonnenen Denaren kaufte Jon ein Los in der erwähnten Lotterie, deren Möglichkeiten ein Ausrufer mit farbloser Beredsamkeit herplapperte: von vier Karten für den Barbier dort im Gäßchen an bis zu dem Sklaven, der mit trauriger Miene auf seinem Rost stand. Dieser Hauptgewinn mußte die Arme in die Höhe recken, mit den Beinen in die Luft stoßen und mit dem Kopf schütteln. Nach der Darstellung des Ausrufers war er so gut wie frisch »über See« gekommen, so daß er deshalb gut hätte mit gegipsten Füßen dastehen können. Um den Hals trug er ein Plakat mit den gesetzlich vorgeschriebenen Auskünften über Alter, Fertigkeiten und Fehler. Die letzte Rubrik umfaßte nur das einzige Wort: »Gicht!« Aber er trug auf dem Kopf den Hut, der anzeigte, daß der Verkäufer keinerlei Haftung übernahm. Wäre er eine Kuh gewesen, so hätte man ihn eine Wurstkuh genannt.

Mit Namen hieß der Gewinn Philetus.

Armer alter Philetus, der freilich noch keineswegs alt war, aber doch so aussah. Sein Gesicht hatte sich allmählich zu einem von denen entwickelt, die ihren Träger in Mißkredit bringen – ein hartes, starres Gesicht mit einem mißtrauischen, schielenden Ausdruck, wie man es bei allzusehr an das Zuchthaus gewöhnten Leuten und bei vielen Polizisten findet. Dieser Ausdruck kann von Mißhandlungen, von Verstellung oder von berufsmäßigem Mißtrauen herrühren und zeugt selten von großer Gemütsruhe.

Der zurückgeworfene Kopf des Philetus erinnerte an irgendein Tier aus der Familie der Hirsche. Der Hals war lang und machte den Eindruck, er sei länger, als seine ursprüngliche Anlage es bedingt hätte. Rund um ihn sah man die weißen Spuren von zwei Ringen. Jedes Kind hätte sagen können, daß hier früher einmal zwei ungewöhnlich schwere Metallbänder gesessen hatten. So war der Herzbrecher – Balbillas Auserkorener und Schlafkamerad – durch eine Reihe notgedrungener Metamorphosen als die Vogelscheuche Philetus auferstanden und bildete nun den ersten Gewinn in der Lotterie zugunsten der Witwenkasse der Leichenträger.

Als die Zeit zur Ziehung gekommen war, sah sich der Aufrufer nach einem Kind um, und dabei fielen seine Blicke auf ein Mädchen von vier Jahren. Sie hatte tiefe Lachgrübchen, hieß Julia und war mit ihrer Wärterin da, die ihr zögernd gestattete, die Gewinnnummer zu ziehen. Denn das Kind war die Tochter von Nigidius Vaccula, dem Kleiderhändler am andern Ende der Straße, und der war wohl ein jovialer und vernünftiger Mann, aber er hatte sehr bestimmte Ansichten darüber, was sich für Glieder seiner Familie schickte, und – wie so oft – waren die Ansichten seiner Diener hierin noch viel bestimmter.

Julia stand auf einem ovalen Tisch und zog die Nummern aus einer Trommel, die nach jeder Nummer, die sie zog, geschüttelt wurde. Die Karten für den Barbier, das Huhn mit den zerzausten Beinen, eine Statuette der hundertbrüstigen Isis, ein mit Wachs überzogener Schinken, ein Buch, von dem behauptet wurde (was aber kaum jemand glaubte), es sei von Thukydides eigenhändig geschrieben, und viele andere Wertgegenstände wurden an ebenso viele Hände verteilt. Und sooft das kleine Mädchen einen Zettel aus der Trommel zog, klatschte es in die Hände, hüpfte umher und lachte laut, und die Lachgrübchen bildeten förmlich Wirbel, wie ein Bach da, wo er ein Knie macht.

Ein Sprichwort, das älter ist als Rom, sagt: Wer Glück hat, dem legt auch der Hahn Eier. Jon sah es mit stoischer Ruhe, daß ihm sowohl das Huhn als auch das Manuskript des Thukydides entging. Es rührte ihn auch nicht, als eine Metallbüchse, die angeblich den ersten Bart des Diogenes enthielt (ein ziemlich platter Witz), unter großer Fröhlichkeit einem verhutzelten kleinen alten Mann ausgeliefert wurde, der selbst keinen Bart trug. Erst als der Hauptgewinn gezogen werden sollte, zeigte Jon Zeichen von Unruhe. Aber der Hahn legte sein Ei: der eine in dem Rattenrennen gewagte Denar wurde in weniger als zwei Stunden zu einem Sklaven mit einem Bauch wie ein spanischer Helm, achteinhalb Denaren und einem griechischen Taschen-Gesprächsbuch, das Pedanius eiligst mit dem Hintergedanken erstanden hatte, auf die Art den Jungen elegant unauffällig zu dem Schleifstein wissenschaftlicher Erziehung hinzulocken. Jons erster Eindruck von Rom war keineswegs ungünstig.

Ehe sie gingen, wurde das ganze Gepäck dem Sklaven aufgeladen und wurden dessen Knöchel durch eine dünne Metallkette miteinander verbunden. Pedanius voran, Philetus in der Mitte und Jon mit einem winzigen Dornzweig in der Hand hinten, so machte sich die Prozession auf, Unterkunft in den »Vier Säften« zu suchen.

 

Daß Philetus kein gerade sehr williger Sklave war, zeigte sich bereits auf dem Wege zum Gasthaus. »Ich habe Hunger!« sagte er plötzlich in mürrischem Ton.

»Dann zehre von deinem Bauch!« schnarrte Pedanius müde. Hier am Fallreep seines Lebens sollte er zum erstenmal in seinem Leben die Süßigkeit schmecken, einen Sklaven unter sich zu haben.

»Dann zehre von deinem Bauch!« wiederholte Jon mürrisch, und das sagte nichts Gutes voraus.

»Fressen – das könnt ihr!« fuhr Pedanius fort; denn obgleich ihm das Reden große Beschwerde machte, genoß er doch die seltene Gelegenheit, mit Nachdruck ein paar gewichtige bürgerliche Worte zu sagen. »Fressen und schlafen – ich bin überzeugt, daß ihr auch im Schlafe freßt, wenn ihr es möglich machen könnt.«

Gerade in diesem Stadium der Entwicklung wurde Jon für eine Zeit von seinem Bedienten getrennt. »Fressen und schlafen!« wollte er eben wiederholen, aber seine Aufmerksamkeit wurde in diesem Augenblick durch eine Bude abgelenkt, die er auf dem Herweg nicht beachtet hatte. An der einen Seite der Fensteröffnung hing etwas, das der angemalten Röntgenphotographie eines Neandertalmenschen glich. Das Bild war mit überlegener Kunst ausgeführt, und die Beschauer machten einen ohnmächtigen Versuch, die geschäftsmäßige Erläuterung zu schlucken:

SPEZIALITÄT: STIFTZÄHNE

Ein Denkmal, das die Aufgabe gehabt hätte, in einer Gestalt den ungestillten Hunger aller dahingegangenen Geschlechter und ihr übersättigtes Triebleben zu symbolisieren, hätte so aussehen können. In der Ecke links unten befand sich die Künstlersignatur. »Amandus pinxit« stand da, und (als ob dies den Dingen einen erhöhten Wert gäbe) unter einem roten Strich war hinzugefügt: »Noch dazu bei Mondschein.«

Aber es gab noch mehr Kunstwerke von derselben Hand. Auf der andern Seite des Fensters sah man einen Äskulapstab mit einer züngelnden Schlange – größer und eleganter ausgeführt als die, die an jeder zweiten Tür zu finden waren und vor »Verunreinigung dieses Ortes« warnen sollten. Für die Römer, die häufig größere Übung darin hatten, Bilder zu verstehen als Schrift zu lesen, sagten diese Schilder deutlich genug, daß hier zwei Ärzte wohnten – einer von der Zunft der Zahnärzte und ein praktischer Arzt. Bedeutend übler war man daran, wenn man seine Blicke tiefer in das Lokal hinein wandern ließ. Hier hingen zu beiden Seiten einer Nische mit der Marmorbüste des Kaisers Lucius Veras zwei zusammengehörige Gemälde in Lebensgröße – das eine Bild einer jungen, lächelnden nackten Frau (der Farbengebung nach zu schließen, auch in der Dunkelheit gemalt, ohne daß das hier in einer Inschrift eigens betont wurde), die sich auf die Zehen hob und dem Beschauer die Arme entgegenstreckte; das andere zeigte ein diesem ersten Bilde genau entsprechendes Skelett in genau der gleichen Stellung. In dieser Darstellung lag eine tiefe Symbolik. »Lebenslust« wurde dies Doppelbildnis in diesem Stadtviertel genannt, und man hielt es für den Rahm des Rahmes unter den Werken des Amandus.

In Jon befestigte sich die Überzeugung, daß man gerade in dieser extravaganten Umgebung einen kaiserlichen Leibarzt zu finden hoffen könnte. Die ärztlichen Herren widersprachen dieser Vermutung auch durchaus nicht – auch nicht durch die Art, wie sie sich gaben. Der eine (er erwies sich bald als der Zahnarzt und hieß Rufus) war ruhig damit beschäftigt, vor dem Bildnis des Lucius Veras auf einem Dreifuß ein Opfer darzubringen. Der schöne und leichtsinnige Kaiser sah mit einem leisen Lächeln unter den zusammengewachsenen Brauen zu, während Rufus – sein braver Freund und Zechbruder – die Flammen mit Fleisch und Früchten nährte, bis sie sich drohend erhoben und bald darauf an das Ende ihrer Kraft kamen und mit einem vernehmlichen Laut zusammensanken. Weder von dem Lärm auf der Gasse, noch von dem alten Arzt, mit dem er die Klinik teilte, ließ sich der Zahnarzt im mindesten stören.

Dieser (er hieß Aelianus Maecius) war eben damit beschäftigt, eine Steinoperation an einem Manne von mittlerem Alter auszuführen. Der Patient war vorher (etwas, womit Jon später sehr vertraut werden sollte) mit einem halben Topf Mandragorasaft beruhigt worden. Zur Sicherheit waren aber doch seine Hände und Füße mit Lederriemen an der Pritsche, auf der er lag, festgeschnallt, und außerdem stand ein Sklave bereit, sich über ihn zu werfen. Etwas Derartiges wurde jedoch nicht nötig. Als Jon an den wenigen Zuschauern vorüber war und sich in das Lokal hineindrängen konnte, wurde der Patient nach Vollendung der Operation zwei Freunden ausgeliefert, die ihn nach Hause trugen, und dann wusch Maecius seine Hände und seine Instrumente in einem Becken mit fließendem Wasser. Schließlich spülte er sich den Mund aus über dem winzigen Strahl eines Springbrünnleins, das aus einer Schale aufstieg, die nicht größer war als ein Eierbecher, und als er sich dann abtrocknete, fielen seine Blicke auf Jon.

»Hallo, kleiner Kerl!« sagte er aufmunternd.

»Stein?« fragte der Sklave, der damit beschäftigt war, die Pritsche für den Nächsten bereitzumachen und mit den Augen die Größe der kleinen Gestalt mit der Länge des noch warmen Lagers verglich.

»Würmer in den kleinen Zähnen?« tönte es zugleich aus dem Munde des Zahnarztes herüber, der die ungewöhnliche Gabe besaß, sich für verschiedene Angelegenheiten zugleich interessieren zu können.

Jon verneigte sich tief vor dem Kaiser und immer weniger tief vor Maecius und Rufus. Das Äußere des letzteren forderte nicht gerade zu Verneigungen oder anderen Ehrfurchtsbezeigungen auf. Er war jung und gehörte zu den merkwürdigen Menschen, die sogar von hinten schalkhaft aussehen. Er roch sehr deutlich nach Zimt und Balsam, und das hatte seinen Grund in Maßnahmen seiner Frau, die damit gewisse andere Gerüche verdecken wollte. Um es geradeheraus zu sagen, weil es doch nicht lange verborgen bleiben kann: Rufus schonte seine Zähne dadurch, daß er soweit wie irgend möglich seine Nahrung in flüssiger Form zu sich nahm.

»Stein?« wiederholte der Sklave einladend, während er das Lager mit den Lederriemen abtrocknete. Jon schüttelte den Kopf und lächelte auf eine Art, die jede Hoffnung ausschloß, daß sein Leib oder seine Zähne nicht in Ordnung sein könnten. Das Lächeln richtete sich an Maecius, und er fragte ihn höflich: »Bist du der Leibarzt des Kaisers?«

»Leibarzt des Kaisers, mein lieber Freund? Jupiter segne dich – wie kommst du darauf? Was willst du vom Leibarzt des Kaisers?«

Der Steinoperateur runzelte seine Stirn und sah erheitert aus.

»Mein Bedienter ist krank – wo wohnt der Leibarzt des Kaisers?« erwiderte der Junge und sah nicht mehr vergnügt aus. Seit das Gepäck dem Lotteriesklaven aufgeladen war, hatte Jon erst richtig erkannt, wie elend sein Pflegevater aussah. Er war, sozusagen, von seiner Last auf den Beinen gehalten worden, und wankte, als sie nun einem andern aufgelegt wurde. Jon war dem Weinen nahe und voller Ungeduld, dem Kranken zu helfen.

»Kannst du nicht mich brauchen?« fragte der Steinoperateur freundlich. Er war ein wenig kurzsichtig, und das verlieh seinem Gesicht einen etwas angestrengten Ausdruck, unterstrich aber zugleich seine Freundlichkeit gewissermaßen. Jon schüttelte wieder den Kopf. Das hieß, sein Anerbieten sei anerkennenswert, jedoch unnütz.

»Wo wohnt der Mann?« fragte der Arzt.

»In den ›Vier Säften‹!« antwortete Jon zögernd. Etwas zu spät erinnerte er sich, daß diese Adresse vielleicht noch nicht ganz sicher sei.

»Schick ihn nur zu Galen!« sagte Rufus. »Aber geh zur Sicherheit selbst hin. Ihr habt gewiß nicht die Mittel, ihn zu bezahlen; aber ... Ich habe wenig Zutrauen, daß sich Galen hierher bemühen wird.«

»Ist Galen der Leibarzt des Kaisers?« fragte Jon, und der Sklave, der sich benahm, als ob er der Herr des Geschäftes sei, antwortete: »Jawohl, genau das ist er; aber es kostet bei ihm ...!« Den Rest des Satzes vervollständigte er dadurch, daß er den Daumen der rechten Hand an den beiden ihm zunächst sitzenden Fingern rieb. »Wir haben seine Versuchsaffen hier auf dem Hof untergebracht«, schloß er.

Jon sollte diese Affen später genau kennenlernen.

»Du kannst selbst auch Versuchsaffe werden«, warf Rufus unheimlich hin. Und zu Maecius gewendet, fragte er: »Schickst du ihn hinüber?«

Der Steinoperateur nickte vor sich hin. »Warum nicht? Es tut Galen nur gut, wenn er zuweilen einmal aus seiner Vornehmheit heruntersteigt. Es ist nicht gesund, ausschließlich mit Konsuln und Kaisern und Sergius Paulus und dem alten Endemus zu verkehren. Sieh hier«, er ritzte ein halbes Dutzend Zeilen auf eine Tafel von Lindenholz, »jetzt gehst du die Gasse hinunter bis zum Forum des Nerva. Dort fragst du nach dem Weg zum Friedenstempel. Im Friedenstempel fragst du nach Galen – Doktor Galen! Verstanden? Gut! Dem gibst du diese Tafel von Aelianus Maecius, und das übrige kannst du ihm selbst erklären. Dann kommt Galen mit dir und sieht nach deinem Mann.«

»Wird er dann gesund?«

»Ja, wenn es der Wille der Götter ist. Nichts geschieht ohne den Willen der Götter, und zuweilen ist die Krankheit größer als die Kunst des Arztes. Wenn ihn Galen nicht kurieren kann, ist es gewiß der Wille der Götter, daß er zur Proserpina kommt.«

Jon war schon auf dem Weg zu Galen, als Maecius eine Klaue in ihn schlug und sagte: »Aber höflich, junger Mann, denn gerade wie mein Freund Rufus hier ist Galen ein Mann, der mit Kaisern umgeht und mit den Mächtigen Salz verzehrt.«

Jon warf einen neugierigen Blick auf den Zahnarzt, der damit beschäftigt war, sich mit einem ausgefransten Holzstäbchen über der kleinen Fontäne die Zähne zu bürsten. Wahrhaftig, es lag etwas Vornehmes – etwas leise Rotverbrämtes über ihm. Eine sparsame Glorie umleuchtete ihn allmählich und verlieh dem kleinen Reinigungsprozeß den Charakter einer beinahe kultischen Handlung. Jon verneigte sich tief vor ihm und etwas weniger tief vor Maecius.

»Scher dich!« murmelte der Freund des Kaisers, ohne sein Bürstenstäbchen aus dem Munde zu nehmen.

 

Jon war im Norden und im Süden Raliens durch andere Städte gelaufen, und in vielen davon waren die Straßen dunkle Kanäle mit einem Gewimmel von Menschen auf dem Grunde gewesen; aber keine glich nur von ferne Rom mit seinem schäumend-wirbelnden Leben. Darum machte es ihm einige Schwierigkeiten, seine gewohnte Gangart aufrecht zu erhalten. Wenn der Junge sich irgendeinem bestimmten Ziel entgegenbewegte, verband er den praktischen Zweck mit einem interessanteren, und auf dem Weg zum Friedenstempel spielte er nun eine neuausgedachte Rolle als Legionsplänkler. Mit dem Dornzweig als Wurfpfeil in der Hand, schlängelte er sich bald seitlings, bald geradeaus zwischen den Beinen der Passanten durch. Gelegentlich blieb er stehen und überzeugte sich nach Späherweise von der Beschaffenheit irgendeines verdächtigen Lautes. Wieder beruhigt, setzte er seinen Weg durch den ambulanten Wald von Beinen fort, bis ihm plötzlich (es war in der Nähe des vierköpfigen Janus auf dem Nervaplatz) der Gedanke kam, es wäre wohl zweckmäßiger, weiteren Bescheid über den Weg zu bekommen. Als er aufsah, fielen seine Blicke auf das sonderbarste Wesen, das er in seinem Leben gesehen hatte. Dieses Wesen war Egrilius.

Bei dem Bericht über das Fest der Saturnalien in Alta Semita ist von Egrilius, dem Wurstmann, gesagt worden, daß er nicht wie andere Menschen eine bestimmte Form hätte, sondern nach seinem Behagen verschiedene Gestalten annehmen könnte. An diesem Sommertag hatte er sich – vielleicht unter dem Einfluß der Wärme – zur Spirale gemacht. Er lehnte so an seinem Wurstgestell, daß seine obere Hälfte mit dem Kopf nach hinten schaute, während die untere mit den Füßen in der Bewegungsrichtung des Apparates vorwärts zeigte, was durch einen Sklaven angedeutet war, der sich auf der ersten Tragstange sitzend ausruhte. Egrilius war damit beschäftigt, sich mit einem Nagelreiniger die Zähne zu stochern, mit der linken Hand Geld zu zählen und eine mit einer Kutte bekleidete Person im Auge zu behalten, die sich auf dem Weg zu dem Bankgeschäfte des Vesonius Sorex über den Platz bewegte. Der Sklave schlief halb, oder es sah wenigstens so aus. Jons Gehirn saugte alle diese Einzelheiten in sich herein und telegraphierte dem Magen mit bezahlter Rückantwort. »Leer!« telegraphierte der Magen zurück. »Gut!« antwortete das Gehirn, und damit war die Sache in kürzerer Zeit abgemacht, als eine Taube braucht, ein Korn aufzupicken.

Wenn der Vorstoß mißlang, lag die Schuld dafür an einer einfachen Verkettung von Umständen: die Würste, die zierlich geringelt oben auf dem Kochkessel lagen, waren zu heiß und hingen unter sich zusammen; Jon aber war zu klein; und der Sklave schlief durchaus nicht, sondern war im Gegenteil hellwach. Das, was nun folgte, gehört zu den peinlichsten Episoden im ersten Abschnitt von Jons Leben – ein demütigender und schmerzhafter Akt, der damit anfing, daß der Junge umgeworfen wurde, worauf ihn ein Riemen unter Beistand von mehreren Sandalen bearbeitete. Einen klaren Eindruck darüber, was vorging, bekam er nicht, denn, durch Erfahrung und Instinkt belehrt, lag er zusammengerollt da und verschränkte seine Arme über dem Kopf. Er hörte nur ein Hagelwetter von Flüchen, darunter zwei oder drei, die ihm neu waren, und es fehlte nicht viel daran, daß er zum Schluß gekommen wäre, man wolle ihn in die Wagenspur des Pflasters hineinprügeln, als auf einmal das alles aufhörte.

Es entstand plötzlich ein Wunder von Stille, und durch diese Stille erklang eine Stimme, so hell wie eine Priesterglocke. Sie sagte nur:

»Aber Egrilius!«

»Gnädiges Fräulein!« ertönte eine andere Stimme, die Jon sehr richtig als die des spiralförmigen Mannes deutete.

»Du hast geflucht – du hast fürchterlich geflucht!« fuhr die Glocke fort.

»Gnädiges Fräulein!« erklang es kläglich von der Spirale her.

»Und du hast ein kleinwinziges Kind geschlagen!« Die Glocke klang jetzt zornig und anklagend.

»Er hat mir Würste gestohlen!« verteidigte sich der Angeklagte ohne Beweisführung. Zu diesem Zeitpunkt wagte Jon zum erstenmal aufzusehen, und das erste, was er erblickte, war eine sehr junge Dame von so wunderbarer Schönheit, daß er sich nicht erinnerte, je etwas Ähnliches gesehen zu haben. Ihr Gesicht strahlte in einem merkwürdig klaren Schein, und die Augen blitzten und leuchteten zornig. Als ihre Blicke auf das kleine teerbraune Gesicht mit den lebhaften schwarzen Augen fielen, wich die Traurigkeit einem leisen Lächeln, aber der Zorn blieb zurück.

»Ist es wahr, daß du gestohlen hast?« fragte sie. Jon nickte und stand auf, und die unbeschädigten Würste gaben Zeugnis aus der Brustöffnung seiner Tunika. Ihre Augen wurden wieder traurig, und sie sagte:

»Dann bist du ja ein abscheulicher kleiner Dieb!«

Aber ehe Jon sich verteidigen konnte, wendete sie sich an Egrilius und sagte:

»Aber du, Egrilius – was wird wohl Rab Chanina sagen, wenn er hört, wie du dich hinter seinem Rücken aufführst? Hier, gib Egrilius das Geld für die Würste (das war zu einem jungen Mädchen gesagt, das hinter ihr stand). Und (wieder zu Egrilius) vergiß nicht, dies zu bereuen, ehe es zu spät ist!«

Egrilius ergriff einen Zipfel ihrer Tunika und jammerte: »Ach, sag doch Rab Chanina nichts davon!«

»Als ob deine Sünde kleiner würde, wenn sie verborgen bleibt!« versetzte das junge Mädchen mit bebender Stimme. »Als ob deine doppelte Sünde notwendig zu einer dreifachen gemacht werden müßte!«

Egrilius nahm das Geld unter Protest, und die Dame (sie war kaum mehr als zwölf Jahre alt) faßte Jon bei der Hand, die nicht damit beschäftigt war, die Würste zum Munde zu führen.

»Wo wohnst du?« fragte die Dame, und ihre Stimme klang jetzt weder betrübt, noch zornig.

»In der Sandalenmachergasse«, antwortete Jon, der die Erfahrung gemacht hatte, daß kleine Jungen am besten daran tun, eine Adresse zu haben, und darum gab er jederzeit die letzte an.

»In der Sandalenmachergasse!« wiederholte die Dame vergnügt.

»Ja, dann kennst du vielleicht Rab Chanina?«

Jon schüttelte den Kopf, der vor Würsten unförmlich war.

»Das ist sonderbar!« sagte sie. »Aber dann will ich dir seinen Namen und seine Adresse aufschreiben, obgleich ... Du kannst selbstverständlich nicht lesen!«

Jon schnaubte verächtlich, und die Dame fragte lachend: »Ja, wer hat dich denn das gelehrt?«

»Potiphar!« lautete die Antwort des Jungen. Sie schaute verständnislos drein, dann fiel ihr etwas ein, sie zog ein Buch aus ihrer Tasche, rollte es auf, zeigte es ihm, setzte den Finger unter eine Zeile und fragte: »Was steht da?«

Jon las langsam, aber ohne abzusetzen:

»Venire ad me omnes, qui fatigati estis. Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!«

Sie nickte beifällig. »Weißt du, wer das gesagt hat?«

»Irgendein heiliger Mann«, riet er. Sie nickte wieder und fing an, auf eine kleine Tafel zu schreiben.

»Das ist richtig«, sagte sie. »Ich werde dir gelegentlich etwas davon erzählen. Jetzt schreibe ich dir meine Adresse auf. Kannst du dir denken, wie ich heiße?«

Diese wirklich sehr wenig verständige Frage brachte den Jungen keineswegs in Verlegenheit.

»Rhodope!« schlug er vor.

»Rhodope – was meinst du?« fragte sie erstaunt. »Warum Rhodope?«

»Die mit dem Pantoffel, selbstverständlich!« erwiderte er ungeduldig.

»Ja aber, liebes kleines Menschenkind!« rief sie. »Erzähle mir, wer die Rhodope mit dem Pantoffel war.«

Jon erzählte die Geschichte. Er wußte sie von Pedanius, der alle Erzählungen kannte, die eine, wenn auch nur an den Haaren herbeigezogene Beziehung zu seinem Beruf hatten. Rhodope war, kurz gesagt, eine wunderschöne ägyptische Hetäre, der eines Tages, als sie badete, ein Adler einen ihrer Pantoffel entführte. Der Adler hatte den scherzhaften Einfall, den Pantoffel nach Memphis zu tragen, wo er ihn in den Schoß des Königs Psammetichus fallen ließ. Seine Majestät verliebte sich in den Pantoffel, ließ dessen Eigentümerin durch ganz Ägypten suchen, nahm sie zur Frau und erbaute ihr sogar eine Pyramide. Daher stammte die lächerliche Legende, Rhodope habe ihre Anmut so zu nützen verstanden, daß sie sich für ihre Sparpfennige eine Pyramide bauen konnte.

Diese nette kleine Geschichte erzählte Jon mit etwas mehr und etwas anderen Worten, und das junge Mädchen lauschte mit leisem Lächeln. In abseitigen Winkeln der Literatur kann man gelegentlich Frauen antreffen, die für Schmeicheleien unzugänglich sind. Selbst diese kleine Dame, die stark von immateriellem Stoff erfüllt zu sein schien, war es nicht.

»Du meinst«, sagte sie und schlug ein Kreuz, »ich bin ebenso ... daß ich ... also daß ich auch ... schön bin? Meinst du das?« Jon bestätigte die Richtigkeit dieser scharfsinnigen Hypothese, und sie kauerte sich so weit nieder (sie waren jetzt durch eine korinthische Säule vor dem Gedränge geschützt), daß sie sich in seinen Augen wie in einem Brunnen spiegeln konnte. Dann fuhr sie fort: »Du darfst mich gern Rhodope nennen, wenn du mich besuchst; aber ich heiße Caecilia und wohne in einer Villa an der Appischen Straße. Du wirst mich doch besuchen?«

Jon, der mürb geprügelt war, versprach das ohne viel Begeisterung. Er war die Annäherung von Frauen so gewohnt, und sie erregte ihn so wenig, daß Caecilia zuletzt lächelnd sagte: »Ich habe dich doch davor errettet, totgeschlagen zu werden. Meinst du nun nicht, ich verdiente eine kleine Belohnung?« Sie näherte sich ihm auf eine Weise, die keinen Zweifel daran ließ, worin die Belohnung bestehen sollte. Jons Hirn arbeitete gewaltig, und durch einen glücklichen Zufall erinnerte er sich an das Amulett, das er um den Hals trug. Es war das Amulett, das Turia, die Ärztin und Geburtshelferin, seiner Mutter nach der Geburt von den Lenden genommen und ihm um den Hals gehängt hatte. Beim Nachdenken wählte er aber doch das andere – die kleine goldene Scheibe, die ihm Ruth mitgegeben hatte. Er nahm sie ab und reichte sie seiner Retterin mit einer Miene, als seien sie damit völlig quitt. Als sie las, verschleierten sich ihre Augen.

»Si me amas!« las sie. »Wenn du mich liebst!« Ihre Blicke folgten der kleinen schwarzhaarigen, in Lumpen gehüllten Gestalt, die sich auf eine eigentümliche Art seitlings ins Gewimmel stürzte. Sie hoffte aufrichtig, daß er sein Versprechen halten und kommen würde. Sonst wollte sie die ganze Sandalenmachergasse durchforschen, ihn zu finden. Aber im Argiletum einen schwarzhaarigen Jungen suchen, hieß dasselbe, wie in den Anlagen des Marsfeldes einen bestimmten Sperling entdecken.

»Si me amas!« wiederholte sie. Und ihre Sklavin hinter sich, ging sie in den Juwelierladen, vor dem sie vorhin haltgemacht hatte.

 

Für einen Mann, der gerade Unheil in einem Frauenherzen angestiftet hat, ist es gut, wieder auf die Erde heruntergezogen zu werden. Das geschah Jon im Friedenstempel, wo er bei seiner Suche nach dem großen Arzt wie ein Würfel im Würfelbecher herumgeschüttelt wurde – vom Bad in die heiligen Räume und von da durch die Reihe Lokale von unbestimmtem Zweck, um zuletzt mitten in dem größten der Bibliotheksäle auf den Boden geworfen zu werden. Hier saßen oder lagen in großen Gruppen Männer von mehr oder minder gelehrtem Aussehen, und zum erstenmal in Rom wurde es Jon ein wenig bange. Er versuchte einige von den Männern zu fragen, ob er hier Galen finden könne; drei- oder viermal versuchte er das, aber im Lärm der Diskussionen wurden seine Worte – wie der Dichter sagt – heimatlos gleich dürren Blättern im Herbststurm. Er war wirklich hier hereingeworfen wie ein kleiner unansehnlicher Würfel mit zwei großen schwarzen Augen, die über diese kontinuierlich arbeitenden Fabriken zur Produktion von Weisheit hin und her flatterten.

»Ist Doktor Galen hier?« fragte er einen Mann, dessen spöttische Wortkargheit noch lärmender war als der Spektakel der am lautesten Redenden. Der Mann – er hieß Lukian und war Spezialist in Radikalismus und Beredsamkeit – sah ihn ebenso schweigend und unergründlich an, wie Vergil und Livius von ihren massiven Konsolen an der Wand im Hintergrunde herabschauten.

Er fragte einen andern Mann, der Xenophon hieß und Sekretär des ersten war, und einen dritten mit einem verschossenen Haarbüschel als Bart am Kinn. Das war ein Herr, der sich C. Claudius Severus unterschrieb – ein mächtiger Mann, der zuweilen Konsul war.

Ebensogut hätte er aber die zahlreichen Büsten, Medaillen und Statuetten berühmter Dichter und Schriftsteller fragen können. Nur ein alter Hundsphilosoph (Orbilius nannte man ihn) faßte ihn um die Schultern und drückte ihn kühl an sich, ohne im übrigen seine Aufmerksamkeit von der Diskussion abzuwenden.

Während der Junge so dastand, kochte dieser Teil des Friedenstempels von Zorn, Hohn, Ärger und Mißbilligung, und alle diese Gefühle türmten sich um einen Mann auf, einen aufrechten, schlanken Mann mit einem milden und nachsichtigen Gesichtsausdruck (es war Rab Chanina, hinter dessen halsstarrige Sanftmut man zu kommen versuchte). Namentlich ein Hund mit Namen Crescens, dem man die Schuld an der Hinrichtung Justins beimaß, war auffallend; aber er brachte seine Worte durch ihre allzu große Heftigkeit selber um ihre Wirkung. Der gefährlichste und am meisten gefürchtete war der Oberbibliothekar. Er hatte große, runde, etwas schwache Vogelaugen und spielte fortgesetzt mit einem Papiermesser. Sein Stuhl stand unter einem riesigen Elefantenkopf, dessen Stoßzähne aus zwei unverhältnismäßig großen Phalli bestanden, und jeder von diesen trug eine Laterne. Er saß in überlegener Ruhe da, und seine Worte trugen das Gepräge seiner Überzeugung von der verhältnismäßigen Gleichgültigkeit aller Dinge. Sie sprachen über das Christentum.

»Das Christentum ist eine Mode, oder eher noch eine Reaktion. Etwas, was seine Gelegenheit hat und dann verschwindet«, sagte er mit einer leidenschaftslosen Stimme.

Solange man auf Rab Chanina und seine Mysterien losschlug, war auch er gelassen; aber da er es nicht leiden konnte, nachsichtig auf die Schulter geklopft zu werden, ballte er die Faust, schüttelte sie gegen den Bibliothekar und seinen Elefanten und rief:

»Freut euch nicht zu früh! Selbst wenn es nicht, wie heute, Zehntausende wären – wenn es Tausende wären, ja nur Hunderte, nein, ich sage: wenn es nur zehn Christen gäbe, die wie zehn ewige Lampen auf dem Altar des Gekreuzigten brennten, müßte sich die Welt unvermeidlich zu zwei kämpfenden Heeren erheben. Sie wären wie eine nie gestillte Unruhe, und es geschähe, daß die Unruhe zum Sturm würde und der Sturm zum Orkan – einem gewaltigen Unwetter, worin Gott mit seinen Kindern redete: Worte des Gerichts, Worte des Todes, Worte des Gesetzes; bis die Stille einträte, worin sie geflüstert werden könnten, leise wie ein Sommerwind. So lautet das Gesetz dessen, der niemals schläft: Jede gute Tat findet ihre Belohnung, jede Missetat ihre Strafe. Aber den Armen, den Kranken, den Hilflosen sage ich: Das Wesen des Gesetzes ist Gerechtigkeit, allein ich bin Liebe. Vor mir muß die Gerechtigkeit niederknien. Liebet einander!«

Es erhob sich kein Sturm, kein mächtiges Unwetter nach dieser Zeugnisablegung, aber ein leises Lüftchen von Gelächter ging durch den Raum, angeführt von dem Hunde Crescens und seinem Stallbruder Theagenes, der beständig Lukian, vor dem er sich fürchtete, im Auge behielt. Und in dieses kleine Lüftchen von Heiterkeit herein trat ein Mann, dessen Erscheinen genügte, ein erwartungsvolles Schweigen herzustellen. Das war Galen.

Galenos von Pergamon, ein Mann in der Mitte der Dreißiger, war groß und bartlos und trug eine Reisekapuze; die Nase war ein wenig schärfer gebogen, als es für einen Griechen hergebracht war, und von seiner Stimme sagten seine Freunde, sie klinge wie ein goldener Triangel. Er war einer von den Männern, um deren willen andere Männer mit einem gewissen Verständnis ihre Frauen fallen sehen, wenn sie doch einmal fallen müssen, und mit denen die Frauen in einer Art von Stolz ihre Männer zu Zechgelagen gehen lassen, wenn sie nun doch einmal zechen müssen. Der große Arzt trat lächelnd zu der disputierenden Gruppe und fragte: »Dreht es sich immer noch um die ewigen Mysterien?«

»Um die unsterblichen Mysterien!« lachte der Bibliothekar. »Wir versuchen Rab Chanina zur Vernunft zu bringen. Was denkst du über die Christen, Galen?«

Galen antwortete mit einer höflichen Verneigung vor Rab Chanina: »Mein Standpunkt ruht, wie bekannt, auf wohlabgelagertem schwarzgrünen Konservatismus. Es ist eine Tatsache, daß das Alte niemals so schlecht und das Neue niemals so gut ist, als man vorgibt. Für mich genügt das, mich auf diesem Gebiet der sonst hochgeehrten Gefolgschaft Rab Chaninas zu entziehen.«

Währenddessen hatte sich Jon so still verhalten wie ein Rattenfänger vor dem Loch. Das war ihm nicht leicht geworden; aber er hatte sich's nun einmal vorgenommen, höflich zu sein, und so führte er seinen Entschluß durch. Jetzt stellte er sich vor Galen auf und fragte:

»Bist du der Leibarzt des Kaisers?«

Der Arzt schaute auf den kleinen zerlumpten Knirps hinunter und antwortete: »Das darfst du glauben, mein Kleiner! Aber wer bist denn du?«

»Ich bin Jon!«

»Und deine Familie?«

Jon warf mit einer großen Bewegung die Arme nach rechts und links. »Die ganze Welt!« sagte er. »Niemand. Ich stamme vom König Numa ab.«

»Beim Zeus – ein Prinz!« lachte der Arzt. »Und wer sagt, daß du von König Numa abstammst?«

»Das sagt Potiphar.«

»Potiphar – ist das auch eine königliche Person?«

»Das ist mein Bedienter. Der ist's, den du kurieren sollst.«

»Wo ist dein Bedienter? Hat er gesagt, daß du mich holen sollst?«

Jon schüttelte den Kopf auf die bekannte Weise und die Arme und den größten Teil des Körpers auch. »Nein!« sagte er. »Mein Mann sagt, er will zur Proserpina. Aber ich hab' ihm gesagt, er soll nur warten, bis ich den tüchtigsten Arzt in Rom geholt habe. Also komm!«

Galen strich sich zweifelnd über das Kinn. Es paßte ihm schlecht, mitten während der Badezeit auf Armenpraxis zu gehen. Er fragte:

»Warum gehst du nicht zu eurem Kassenarzt? Oder zum Stadtarzt, wenn ihr nicht in der Krankenkasse seid?«

Schweigend zog der Junge seine Tafel aus dem Gewand und reichte sie dem Arzt. Dieser las, rieb sich das Kinn, las wieder, lächelte und fragte besiegt:

»Hm – wo wohnt ihr?«

»In den ›Vier Säften‹ – Sandalenmachergasse.«

»Wie lange wohnt ihr schon da?«

»Seit heute. Wir sind mit den Legionen hereingekommen, und mein Mann war am Sterben. Dann waren wir beim Ratten-Rennen, und jetzt liegt mein Mann in den ›Vier Säften‹!«

Galen griff sich an die Stirn. »Ein Sterbender und geht zum Rattenrennen!«

»Sie liefen nach kleinen Würsten. Die Gelbe hat gewonnen!« warf Jon ein.

»Und nachher schickt er mir Botschaft durch einen Nachkommen von König Numa. Rom steckt voll von kleinen netten Anekdoten!«

»Gib ihm ein As und laß ihn laufen!« schlug der Bibliothekar vor.

»Bah, ich bin kein Bettler! Ich kann bezahlen!« Jon zog die Geldkatze aus der Brust.

Galen betrachtete ihn interessiert. »Ich geh' mit«, sagte er schließlich, und zu Rab Chanina gewandt, fuhr er fort: »Du begleitest uns wohl, da es in deinem Bezirk ist?«

Der Rabbi nickte, und während der Tragstuhl des Arztes zurechtgemacht wurde, fragte er:

»Wen verehrt ihr, du und dein Mann, kleiner Junge?«

Jon warf einen prüfenden Blick auf Galen, ehe er antwortete:

»Die heilige Mutter Isis!«

Der Arzt lachte aus vollem Hals. »Hört ihn nur an!« rief er. »Erst betrachtet er mich genau, konstatiert, daß ich keinen Bart habe, schließt daraus, daß auch unter der Kapuze keine Haare sein werden, sieht weiter mein leinenes Gewand. Resultat: er ist ein Isisverehrer! Du kannst gut werden, du Nachkomme von Roms berühmtem Herrscher!«

»Ist das wahr?« fragte Rab Chanina betrübt.

Jon nickte gekränkt und sagte: »Er trägt auch die kleine Kuh am Finger!«

Alle Anwesenden schauten nach der rechten Hand des Arztes, wo ein mächtiger Siegelring mit einem Ochsenkopf aus Onyx die Beobachtung des Jungen bestätigte. Galen klopfte ihm auf den Kopf, zog ein großes Äskulap-Amulett aus der Brust und sagte: »Du irrst dich. Ich verehre den barmherzigsten von allen Göttern. Also komm!«

Jon wurde auf dem Heimweg in den Tragsessel zu Rab Chanina mit hineingestopft. Er saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden und betrachtete gedankenvoll die haarigen Knie des Priesters. Dieser entdeckte den Rest eines Merkzeichens aus rotem Ocker auf der Stirn des Jungen und sagte: »Du hast Schmutz auf der Stirne, mein Junge; fürchtest du dich vor dem Wasser?«

Jon schnaubte höhnisch: »Du kannst ja versuchen, mit mir um die Wette zu schwimmen. Ehe ich dem Saturn vorgeführt wurde, hatte ich schon einen viel größeren Jungen vorm Ertrinken in einem Fluß gerettet.«

Der Priester seufzte vernehmlich über das vermeintliche kleine Lügenmaul, gab es indessen auf, Jon zurechtzuweisen, und fragte nur vorwurfsvoll:

»Warum wäschst du dir nicht den Schmutz von der Stirn?«

»Das ist kein Schmutz! Es ist ein heiliges Zeichen gewesen!« erklärte Jon.

»Wer hat dir heilige Zeichen aufgemalt?« fragte der Priester immer betrübter.

Jon antwortete wichtig: »Die Diener der Kybele. Wir verehrten die Kybele, ehe wir uns an die Soldaten anschlossen und dem Mithras opferten. Ich blies die Flöte, und wir rissen uns an den großen Festen die Kleider vom Leibe. Sieh, ich habe auch am Körper Zeichen!« schloß der Junge und wies die Wahrheit seiner Aussage nach. Rab Chaninas Blicke ruhten ernsthaft auf ihm.

»Habt ihr niemals Christus verehrt?« fragte er.

»Die Gottlosen sind nichts für uns!« antwortete der Junge.

Aber während sie durch die Gassen jagten, beschloß Rab Chanina, diesen kleinen Heiden für seinen Gott zu gewinnen und ihn zu einem großen Streiter Christi zu machen.

Der Rest des Weges wurde schweigend zurückgelegt. Zu Jon auf dem Boden des Tragsessels drang der Straßenlärm gedämpft, und beständig mischte sich in ihn der monotone Ruf der Liktoren:

»Platz für den Leibarzt des Kaisers! Platz für den großen Medikus, Doktor Galen! Hier kommt Galenos von Pergamon! Aus dem Weg, ihr wurmzerfressenen Kadaver toter Hunde!«

Auf diese Weise währte es nicht sehr lange, bis man vor den »Vier Säften« hielt.

 

In einer mit Wasser gefüllten gläsernen Vase draußen auf der Straße befanden sich drei Hühnereier, die in dieser Umgebung den Eindruck machten, als hätten sie einmal an dem Eierstock einer großen Gans oder eines kleinen Straußes gesessen. Die Zeiten waren längst vorbei, wo diese Art von Ausstellung einen betrügerischen Zweck gehabt hatte. Eier in einem Glas Wasser waren mit der Zeit das Schild oder das Symbol der Wirtshäuser geworden, wie ein Schinken das Zeichen des Schinkenhändlers und ein Nabel das Zeichen des Vaterlandes ist.

Nichtsdestoweniger pflegte Jon Dinge dieser Art, wo er sie traf, näher zu betrachten, und es beweist seinen Kummer um den kranken Mann, daß er rasch an dem Arzt und an Rab Chanina vorbeischlüpfte, um nach ihm zu sehen.

In den Lokalen befanden sich nur wenige Menschen: einige Geschäftsleute aus dem Stadtviertel, ein paar Steuerbeamte auf einer Razzia, ein Isisdiener und zwei andere heilige Männer, sowie noch einige andere. Es war darum nicht schwierig, den Wirt herauszufinden, der an einem der besten Tische lag und speiste. Wenn er irgend etwas wünschte – Wasser zum Mundausspülen, Brot, Salz, Gemüse – machte er nur eine kurze Handbewegung, worauf ein matter goldener Ring aufblitzte (wie sie Männer seines Standes unter gar keinen Umständen tragen durften). Ein Pikkolo stand auf dem Sprung, jedem dieser Winke zu gehorchen.

Galen steuerte ohne Umschweife auf ihn zu und fragte, wo der kranke Mann untergebracht sei. Der Gastgeber sah sich um, als wolle er die Erklärung von den Wänden ablesen oder Harpokrates veranlassen, sie ihm zuzuflüstern.

»Im Hof!« stieß er endlich hervor. Das klang traurig, und im ganzen genommen sah er ziemlich uninteressiert aus. Etwas zu uninteressiert nach dem Geschmack des Arztes. Dieser, der niemals vergaß, wer er selbst war, noch daß Gastwirte in den Polizeilisten zusammen mit Dieben und Würfelspielern aufgeführt wurden, fegte die Hälfte des Geschirrs auf den Boden hinunter, deutete auf die fette Hand des Daliegenden und sagte kurz: »Nimm den Ring ab und steh auf!«

Dies brachte den Angeredeten wirklich auf die Beine, und es gelang ihm, eine ziemlich zusammenhängende Beschreibung von der Ankunft des Pedanius zu geben.

»Und warum hat er kein ordentliches Zimmer bekommen?« fragte Galen.

»Mögen dich die Götter segnen!« antwortete der Gastwirt. »Wenn du ihn gesehen hast, wirst du das nicht mehr fragen.«

»Geh voran!« befahl der Arzt.

Sie fanden Aelianus Maecius vor der Tür eines Nebengebäudes stehen, und die beiden Ärzte begrüßten einander herzlich. Der alte hatte seinem berühmten jungen Kollegen schon öfters nützliche Anweisungen gegeben, und er selbst hörte in schwierigen Fällen gern auf den Rat des Jüngern.

»Was fehlt ihm?« fragte Galen. Der alte Steinoperateur machte eine Grimasse, sagte in knappem Ton ein griechisches Wort und strich auf charakteristische Weise mit der rechten Hand über die Linke. Galen schaute ihn ungläubig an.

»Pfui, das wär' der Gipfel des Unglücks!« sagte er dann. »Pfui Teufel!« fuhr er fort, wie um nicht mißverstanden zu werden. Und schließlich, während er sich in den Geräteschuppen führen ließ, wo der Kranke lag, fügte er hinzu: »Ich bin überzeugt, es sind die Legionen. Das ist wirklich eine festliche Art, heimzukehren!«

Er jagte Jon vom Lager weg. Der Junge lag neben dem Kranken und flüsterte ihm in die Ohren, während er ihm auf die Brust klopfte und ihn liebevoll überredend an seinem spärlichen Bart zog. Der Arzt fühlte dem Patienten den Puls und runzelte die Stirn.

»Hm!« sagte er zu Maecius. »Wenn du nur etwas weniger recht hättest! ... alles ist da ... die spitze Nase ... die hohlen Augen ... die eingesunkenen Schläfen ... die zusammengezogenen und kalten Ohren ... die abstehenden Ohrläppchen ... die trockene, rauhe und gespannte Stirnhaut ... und die Farbe ...!«

Galen vergaß zuweilen, daß er nicht jederzeit von einem fachlichen Auditorium umgeben war, und Maecius fragte: »Was ist zu tun?«

»Nichts! Gar nichts! Eine Milchkur hätte vielleicht vor ein paar Tagen noch gegen die Beulen im Halse geholfen. Jetzt ist es zu spät. Übrigens existiert da eine gewisse armenische Erdart, die von Wirkung sein soll. Morgen soll eine kaiserliche Expedition nach Armenien abgeschickt werden.«

Der Sterbende röchelte, und die Augen quollen ihm unter einem Erstickungsanfall weit aus den Höhlen.

»Armenien?« flüsterte er.

»Ja, Armenien!« erwiderte Galen mit mitleidigem Lächeln. »Aber dahin ist's verflucht weit.«

»Proserpina?« fragte der Sterbende.

Und der Arzt antwortete mit Betonung jedes einzelnen Buchstabens: »Proserpina. Es wird wohl Proserpina werden!«

Kurze Zeit herrschte Stille. Dann schüttelte es den Sterbenden in einem gewaltigen Krampfanfall; sein Körper spannte sich wie ein Bogen; die Pressung von innen war so stark, daß sie plötzlich im Halse Luft schaffte, und es erklang ein heller, durchdringender Schrei:

»Jon!« rief er, und der Junge antwortete mit einem Schrei, der noch heller und viel schärfer war, und ehe es jemand verhindern konnte, lag der kleine Körper in bebendem Schluchzen über dem Lager. Er wurde mit Gewalt entfernt, und Galen warf einen flüchtigen Blick nach der Gestalt auf dem Lager, die jetzt ruhig dalag. Und zu Maecius gewendet, zitierte er die Einleitung zu dem Vers, womit der Ausrufer ankündigt, daß die öffentlichen Spiele vorbei seien:

»Aus ist der Kampf ...!«

»Womit räuchert man am besten?« fragte Maecius.

»Zypresse, Wacholder, zur Not Kiefer!« antwortete Galen nachdenklich. »Aber in Massen!«

»Und Kyphi?«

»Ja, und Kyphi ... und ... das beste wäre, die ganze Stadt zu verbrennen.»

Wacholder und Kiefernholz wurden verbrannt und mit wohlriechendem Wasser bespritzt. Auf Altären und Dreifüßen stand ein erstickender Rauch von Kyphi, dem Räucherpulver, das aus sechzehn Bestandteilen besteht, darunter Honig, Wein, Rosinen, Harz, Feigenblätter, Kardamomen und Kalmus. Es heißt von ihm, daß es den Schmerz breche, die Luft reinige und den Schlaf verstärke. »Denn«, so schließt es poetisch, »das Harz wird von der Sonne zubereitet; aber Myrrha sind Tränen, die die Pflanzen beim Mondschein vergießen.«

Es kamen Leute, die einen Obolus in den Mund der Leiche legten und den Unterkiefer mit wollenen und Leinenbinden festbanden. Aber niemand rief den Namen des Toten, niemand salbte ihn mit köstlichen Salben, und niemand legte ihm die Toga an. Es kamen keine Weiber, zu klagen und sich die Wangen zu zerkratzen oder sich an die rasierten Köpfe zu schlagen, ebensowenig, wie jemand Zweige in die Hand nahm, um die Fliegen von der Leiche zu verscheuchen. So schmerzlich armselig war sie, daß keine Musik erklang und keine Fackel zur Erde gekehrt wurde, als man sie davontrug.

Erst als die Leiche weggeführt war, entließ man Jon aus der Gefangenschaft, der er sich inzwischen hatte unterwerfen müssen. Es war Abend, und die Luft im Hofe war dick von verbranntem nassen Holz. Wie ein Schlafwandler lief er herum, wie ein Junges, das von seiner Mutter weggerissen ist. Wenn jemand versuchte, ihn aufzuhalten und zu trösten, schüttelte er nur den Kopf und wanderte weiter. Als man ihm Essen brachte, lehnte er es ab. Selbst Philetus fühlte eine Art Mitleid mit ihm und versuchte es auf seine unbeholfene Art, ihn zum Essen zu bewegen. Philetus, der nicht literarisch begabt war, kannte doch das Notdürftigste aus den Klassikern und zitierte:

»Niobe lehnte nicht ab, sich zu nähren von Speise, obschon sie
An einem einzigen Tage beweinte der Kinder ein Dutzend.«

Und als das nichts half, zitierte er weiter:

»Ziemet den Griechen es wohl, mit dem Bauch zu beweinen den Toten?«

Aber Jon schaute ihn nur verächtlich an und setzte seine Wanderung fort; seine Augenbrauen waren abrasiert und die rasierten Stellen mit schwarzer Tinktur gefärbt.

Und es wurde Nacht. Der Mond stand wie ausgeschnitten am Himmel gleich einem Bullauge in der Wand einer Kajüte. Jon saß zusammengekrümmt auf einem Pfosten im Hof und starrte ernsthaft durch dieses Bullauge.

»Sieh, er betrachtet sich Luna!« sagte ein Mädchen zu einem andern, als die beiden mit Eßwaren aus der Speisekammer im Hintergebäude an ihm vorbeikamen. Aber er schaute nicht nach dem Mond. Er starrte durch ihn hindurch in eine strahlende Welt – eine Welt, die er aus den Fabeln des kleinen Schuhmachers kannte.

Und es kam ein anderes Mädchen zu ihm hin und fragte ihn, wo seine Mutter wäre, und als er erzählte, daß sie gestorben sei, als sie ihn gebar, seufzte das Mädchen aufmunternd, und auch sie zitierte – diesmal Plinius:

»Glücklich kommt der in die Welt,
Dessen Mutter bei der Geburt ihm stirbt.«

Das war als Freundlichkeit gemeint.

Aber es war auch als Einleitung zu dem Versuch gemeint, den Jungen zu überreden, mit einem Briefe von großer Wichtigkeit irgendwohin über die Dächer zu irgend jemand zu laufen. Jon schüttelte wie gewöhnlich den Kopf und setzte sich wieder zurecht, weiter durch sein rundes Guckloch zu schauen. Später sollte er Übung darin bekommen, mit duftenden Briefchen, halbverwelkten Blumenkränzen, Äpfeln, die das Merkzeichen der Zähne des oder der Geliebten trugen, über die Dächer siebenstöckiger Häuser zu klettern. Aber das Mädchen ging verärgert seines Weges und verschwendete weiter keine Zitate mehr an ihn.

Und als endlich der Tag kam – gleich einer mächtigen Flut brauste er herein –, fand er eine kleine Gestalt schlafend auf einer Matte, die Tunika von der teerbraunen rechten Hand über den Kopf gezogen, während die linke in der rechten Armhöhle versteckt war. So hatte Pedanius ihn zu schlafen gelehrt. Rundum in den Parken Roms und unter den Gewölben und Bogen schliefen in dieser Nacht viele Jungen auf die gleiche Weise.


 << zurück weiter >>