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Zwanzigstes Kapitel

»Du findest mich langsam etwas beschwerlich, nicht?« sagte Marcellus eines Tages zu Caecilia. Man war schon tief in den Sommer gekommen, ohne daß sich in der großen Sache irgend etwas weiterentwickelt hätte. Sie saßen, wie schon so oft, auf der grüngeäderten Gartenbank, die so blank war wie ein Lackledergürtel, weil die Caecilier mit ihren Freunden und Bekannten und Plagegeistern mehrere Jahrhunderte lang darauf gesessen hatten.

»Beschwerlich, das will ich nicht sagen«, antwortete das junge Mädchen. »Du bist nicht beschwerlich; aber du hältst dich zuviel bei Dingen auf, die unwesentlich sind. Du vergißt, wie das Sprichwort sagt, das Reiseziel über dem Komfort der Herbergen. Das ist ein bißchen ...«

»Töricht«, schlug Marcellus vor.

»Ein bißchen kindisch – wollte ich sagen. Es ist wohl nicht sehr männlich – nicht wahr? Natürlich – wenn du überhaupt von keinem Ziel wüßtest, dann wäre es in Ordnung. Aber du hast die Erkenntnis ... du hast eine große Gabe für die richtige Erkenntnis. Und doch ...«

»Du meinst, es fehlte mir an Mut und Ernst?«

»Ich meine: dein Mund widerspricht deinem Herzen. Wir haben darüber ja schon früher gesprochen. Du hast zu viel Selbstironie, und Selbstironie ist eine Folge von Feigheit. Jedenfalls gehört kein Mut dazu, sich in übertriebener und flotter Weise Fehler nachzusagen. Aber es gehört Mut dazu, sich mit seiner ganzen Persönlichkeit hinter das zu stellen, was man als richtig erkannt hat.« Marcellus befand sich in einer Zeit schwerer Widersprüche, und Caecilias Forderung, daß er sich einen Standpunkt wählen müsse, wurde deutlicher ausgesprochen als früher. »Wähle!« sagte sie. Das wiederholte sie immer und immer; und Marcellus glich einem Manne, der ins Wasser springen soll, aber keine Lust dazu hat.

»Ja, dann muß ich schließlich einmal meine Wahl treffen!« sagte er zu sich selbst. »Einmal muß es ja doch sein ... Wenn man überhaupt wählen kann ... Wenn nicht es für einen wählt ... Wenn es nicht so ist, daß gleichsam zwei Hunde, zwei wilde Hunde, in einem miteinander kämpfen und den Streit entscheiden ...«

»Gib mir Bedenkzeit!« sagte er laut. »Es ist soviel da, was mich verwirrt ... in all das, was ich erkenne, mischen sich Widersprüche ... und praktische Dinge, die mich in Anspruch nehmen.« Er hatte große Lust, hinzuzufügen: »Die einzige Erkenntnis, die jetzt einen Wert für mich hat, ist die, daß du reizend bist – nur zu reizend und anbetungswürdig.« Aber das hatte er schon einen Augenblick vorher gesagt, und sie hatte die Erklärung mit einem Schweigen beantwortet. Gerade dadurch war ja die Vermutung in ihm aufgestiegen, daß sie ihn beschwerlich finden könnte.

Sie versuchte es an diesem Tag sehr eifrig, ihm das klarzumachen, was man den ewigen Kampf der Menschheit um das »Öl« nennen könnte – oder besser gesagt: den ewigen Kampf darum, sich ohne das »Öl« zu behelfen. Sie las ihm das kristallklare Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen vor. Unter sich pflegten sie die Gleichnisse in zwei Arten einzuteilen: solche, die einfach plauderten, und solche, die lebendiger waren als das, was man das Leben nennt, weil sie gehaltvoller waren. So betrachtet ist das Menschenschicksal eigentlich nur die Verdünnung solch eines Gleichnisses. Oder man kann die Formel von hinten nach vorn lesen und sagen: das Gleichnis ist der menschliche Konflikt, dem man alles genommen hat, was unwesentlich ist.

Als Marcellus am Abend die Ausbeute dieses Tages berechnete, stand eines unwiderleglich klar vor ihm – jeder Mensch muß sich entscheiden, wohin er gehört: zu denen, die Öl in ihrer Lampe haben, oder zu denen, die kein Öl in ihrer Lampe haben. Die einen bringen Licht mit, wohin sie auch gehen, die anderen nicht. Und wenn er überlegte, wer das Licht hatte, waren es wieder Sokrates und Jesus und die Hunde und die Auserwählten der Christen. Dazu gehörten Epiktet und Orbilius und Caecilia und Rab Chanina. Öl und Glaube – das war dasselbe. Und obgleich seine Lampe leer war wie je, hatte er doch das Gefühl, als sei er dem Himmel um die Breite eines Taubenfußes näher gekommen. Aber im nüchternen Licht des Mittags schien es ihm, daß seine Gedanken nicht mehr Spur hinterließen, als Entenfüße, die über einen Rasenplatz gewatschelt sind.

 

Es war keine Übertreibung, wenn Amachius einmal zu Papirius gesagt hatte, er pfeife auf die Erwachsenen. Es war von einer Übertreibung so weit entfernt, daß Amachius im Gegenteil mit dem Genuß des Kenners die erste Ahnung von Unruhe, wirklicher Unruhe, schmeckte. Die Bestätigung kam in Form von Rapporten, schriftlichen und mündlichen, zu ihm, und was zuerst nur eine Ahnung war, wuchs sich rasch zur Gewißheit aus. Gar viele von den Elementen, die die öffentlichen Belustigungen vermißten, die Gratisverteilungen zu selten und zu sparsam fanden, im übrigen aber den ganzen Tag zu ihrer Verfügung hatten, fingen sich zu rühren an. Amachius ließ sie gewähren, bis es eines Tages in der Nähe des Vaticanus zu bösartigen Tumulten kam – den ersten in einer langen Reihe, die sich durch den ganzen Spätsommer zogen. Nun trieb er drei bis vier Aufläufe auseinander, schlug einige hundert Schädel mit Keulen ein und peitschte ein paar hundert Rücken in Fetzen. Das bedeutete fünf- bis sechshundert Strolche und Unruhestifter, die wenigstens bis auf weiteres außer Tätigkeit gesetzt wurden. Das war es, was Amachius unter einem Aderlaß nach guter alter Art verstand.

Es gab einen Typus, für den er eine besonders sinnreiche Kur erfand. Das waren die Aufwiegler, die sich vorgenommen hatten, Haß gegen die Wohlhabenden zu säen. Meistens waren es Leute mit abnorm beweglichen Zungen. Besonders zeichnete sich da ein Mann aus, der unter dem Namen »Stricknadel-Petrus« bekannt war. Sein Rezept war gewöhnlich: »Seht euch eure Frauen und eure Kinder an – bleich und ausgehungert aus Mangel an beinahe allem Notwendigen! Und betrachtet euch die Weichlinge aus der Oberklasse! Die sind nicht grau und hohlwangig vor Kälte und Hunger! Die laufen nicht mit den letzten verfaulten Resten einer kranken Lunge herum! Ach, woher! Im Frühjahr reisen sie in die Sabiner- oder Albanerberge, und im Spätherbst bummeln sie unter den Platanen an der Küste von Neapel. Darf ich fragen, ob ihre eure kranken Kinder in die Kühle hinaufschicken könnt?«

Das konnten sie nicht; aber sie konnten knurren.

»Ausgezeichnet!« sagte Amachius. »Verschafft mir eine Liste der neunundzwanzig, die gleich nach meinem Freund Petrus die Schlimmsten sind! Dann will ich sehen, was ich jetzt bei der Hitze für sie tun kann.« Er sagte das, wie ein Gutsbesitzer seine Jäger beauftragt: »Ach du! Geh mal schnell hinaus und hol mir fünf Fasanen!«

»Die Stadt schätzt euer Interesse für das allgemeine Wohl«, erklärte er den Leuten, als sie zur Musterung vor ihm aufgestellt waren, »und für die Gesundheit. Männer von eurer Art sind es, die das Gesundheitsamt dringend nötig hat. Jetzt sollt ihr einmal feste Arbeit bekommen!«

Das war keine Strafe. Sie wurden nicht ausgepeitscht. Sie wurden nicht unterdrückt. Man steckte sie einfach in ein Pestkorps – zu den Nachtpatrouillen. Natürlich glaubte er nicht, daß diese Art der Behandlung es der Armut abgewöhnen könnte, den Neid an ihre kalte Brust zu drücken; aber es würde andere redselige Männer zum Nachdenken bringen. Und fragt man nun, ob das gesetzmäßig war, so kann die Antwort nur lauten: Nein, das war es durchaus nicht. Aber die Lage stand im Begriff, sich zum Kriegszustand zu entwickeln. Und die Gesetze waren bei der Hitze etwas schläfrig.

Zwei Familien gab es, die in diesem Sommer entgegen ihrer Gewohnheit nicht aufs Land gingen, und die sich also durch die bittern Anklagen der Volksmeinung formell nicht getroffen zu fühlen brauchten. Caecilia sagte geradeheraus zu ihrem Vater, daß es unverantwortlich wäre, den Marcellus in einer Zeit zu verlassen, wo er sich so unverkennbar im Schmelztiegel befinde; und Nigidius Vaccula mußte es mit offenem Mund erleben, daß Elina auf die schlechten Zeiten hinwies und fand, es gelte nun, mit gutem Beispiel voranzugehen. Caecilius ging, wie zu erwarten gewesen war, auf den Gedanken seiner Tochter ein, und Nig fügte sich voll zweifelnder Verwunderung dem neuerworbenen Sparsamkeitstalent seiner Frau.

Der Grund dafür, daß zwei verwöhnte Frauen also mit der fröhlichen Hölle Bekanntschaft machten, die Rom im Hochsommer bedeutet, ging derweil nichtsahnend und rastlos umher und suchte sein Dasein aus Mangel an anderem Inhalt mit Arbeit auszufüllen. Marcellus hatte sich darauf geworfen, kleinen Kaufleuten ihre Bücher zu führen, und saß nun manchmal Tag und Nacht tief über seine Rechnungen gebeugt. Wenn Papirius ihn fragte, warum er keine feste Stellung annehme, antwortete er, er wolle damit noch ein Weilchen warten. Übrigens zeigte er, wie Euphemus sich ausdrückte, eine beginnende Tendenz, »sein Herz verzehrend und die Gesellschaft der Menschen scheuend« herumzulaufen.

Der Gefahr entgegenzuarbeiten, daß diese gewagte Diät sich zu einem Dauerzustand entwickle, beschloß Papirius, an der Wiederaufrichtung des fast kameradschaftlichen Verhältnisses zu arbeiten, das zwischen ihm und Marcellus in dessen Flegeljahren bestanden hatte. Auch jetzt hielt er es für zweckmäßig, den Sohn dadurch in Atem zu halten, daß er auf allerlei Arten sein Interesse weckte. Unter anderem hatten sie damals häufig ein Spiel gespielt, für das Papirius eine große Vorliebe besaß. »Leute beschreiben« nannten sie es. – Es bestand darin, daß sie abwechslungsweise den Namen eines von ihren gemeinsamen Bekannten vorschlugen, worauf jeder seine Tafel ergriff und eine Charakteristik der genannten Person niederschrieb. Dann verglichen sie die Resultate. Es war ein besonders erzieherisches und oft lustiges Spiel.

Eines Tages saßen sie beide im Gartenzimmer, dem kühlsten Raum in dieser Jahreszeit, und waren jeder mit seiner Arbeit beschäftigt. Papirius schwitzte heftig, obgleich er nur einen leichten Rock trug, und sein Gesicht erinnerte an eine unebene Portion Heringssalat mit zwei in der Mitte (und zwar der Länge nach) durchschnittenen hartgekochten Taubeneiern als Augen. Hätte das Gesicht in diesem Zustand auf einer bürgerlichen Gemäldeausstellung von einer Leinwand heruntergeschaut, dann wären alle beachtlichen Bäche der Kritik in einem breiten und pastoralen Bette des Tadels zusammengeflossen. Noch hat der Schöpfer Himmels und der Erden gewisse Vorrechte vor dem Künstler voraus.

Marcellus hatte diese Studie in Rot schon eine Weile gemustert, als deren Augen sich plötzlich auf ihn richteten und Papirius ohne Übergang fragte: »Wollen wir mal Leute beschreiben?«

Es war wenigstens fünfzehn Jahre her, seit sie das zuletzt gespielt hatten, und Marcellus antwortete lächelnd: »Ja, gern! Wen wollen wir beschreiben?«

Sie beschrieben zuerst den Gastwirt Stephanus; und die Charakteristiken von Steph wichen nicht wesentlich voneinander ab. Sie beschrieben den Buchhändler Eros und konnten sich über ihn auch nicht uneinig werden – weiter den kaiserlichen Prinzen Commodus, den Prophet-Agenten Paetus, die Hundsphilosophen Glücksrad und Labyrinth, den Geldwechsler Sergius Orata sowie eine Reihe sonstiger Zeitgenossen. Und fast Satz auf Satz glichen sich ihre Urteile. Die Jahre hatten ihrer Art, die Leute zu betrachten, eine Ähnlichkeit verliehen, über die sie sich selbst wunderten.

»Wir müssen es nun noch mit jemand versuchen, den wir unabhängig voneinander kennen«, sagte Papirius, in Schweiß gebadet. »Schlag einen vor!«

In Marcellus stieg ein Gedanke auf, und er fragte: »Kennst du die Tochter des Max Caecilius von der Appischen Straße?«

»Cornelia Stella Attica – ja, so halbwegs, immerhin ausreichend! Nehmen wir also sie!« antwortete Papirius.

»Nun bin ich auf die Perspektive gespannt!« dachte Marcellus. »Es ist jedenfalls ausgeschlossen, daß der Alte etwas ganz Verkehrtes schreibt.«

Caecilia beanspruchte etwas mehr Zeit als die früheren Opfer. Marcellus war zuerst fertig; aber schon kurz darauf konnten sie ihre Tafeln austauschen.

»Sehr richtig!« nickte Marcellus, als er die seines Vaters gelesen hatte. »Du kennst sie anscheinend gut.«

»Ich hab' sie einmal in einem Schuhladen gesehen«, sagte Papirius gähnend. »Aber jetzt geh' ich hinein und lege mich ein bißchen aufs Ohr.«

Auf der Tafel stand mit den charakteristischen Buchstaben des Papirius: »Sie ist wie die edeln Tiere, die entweder das Rennen machen oder sich aufreiben. Ein Dementi der Götter gegen die sonst nur zu begründete Behauptung, daß der Adel nichts als trostlose Entartung und Zügellosigkeit sei. – Ein Seezeichen, dazu berufen, jedem, der die Orientierung verloren hat, den rechten Weg zu zeigen. Ein weiblicher Hund.«

Papirius steckte noch einmal den Kopf zur Tür herein und fügte hinzu: »Verehr sie nur, mein Junge, aber lieb gescheiter die andere!«

 

War Marcellus ein Dichter?

Apulejus, der Träger des goldenen Literaturpreises, bezeugte es; aber vielleicht wurde ihm mit Recht nachgesagt, daß er jeden lobte, der ihn um sein Urteil anging. Warum hätte er auch nicht liebenswürdig sein sollen?

Euphemus sagte nein; aber er wirkte allmählich wie eine verstaubte, alte, originell verkorkte Flasche Skeptizismus extra trocken.

Und was hatte Papirius gesagt? »Lebe so, daß du eines Tages am Rande eines Abgrunds aufwachst – und dann schreib dein Gedicht!«

»Ein billiger Rat«, war des Marcellus Meinung gewesen, als er Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln. »Das ist ein spitznäsiger und geduldig-wohlwollender Aphorismus, ausgebrütet zwischen Braten und Dessert.« Und dann ging es doch so, wie es immer geht: als Apulejus mit seinem väterlichen Wohlwollen, der gesellschaftliche Beifall der Frauen und die stirnrunzelnde Anerkennung der Weinstuben zu kalter Asche geworden waren, glostete es immer noch in dem durch Zufall angezündeten Holzstoß der beiden häuslichen Kritiker.

Es dauerte eine Weile, bis Marcellus den Mut fand, auch Caecilia um ihre Ansicht darüber zu bitten. Elinas unkritische Bewunderung kannte er. Sie war mit seinen Gedichten vertrauter als er selbst, ja, auch Hectica, die unruhige Salon-Hottentottin, hatte lange Stücke auswendig gelernt, die sie unter viel Zeitaufwand in solchen Zusammenhängen anzubringen versuchte, wo sie komisch wirkten. Aber den Appell an das höchste Gericht der Caecilia hatte er aufgeschoben, und es war ein kleiner, eigentlich nicht zur Sache gehöriger Vorfall, der ihm seine Angst nahm: er merkte nämlich, daß sie nicht singen konnte. Diese Entdeckung machte er eines Tages, als sie Urban nach einem bestimmten Liedertext fragte und ihn durch die Melodie auf den Text bringen wollte. Wäre sie schieläugig oder grobknochig gewesen, so hätte man ihr Singen ein Piepsen genannt. So aber klang es in seiner Unbeholfenheit nur anziehend und ließ sie gerade nur die eine Stufe heruntersteigen, die sie vorher unerreichbar gemacht hatte.

»Wodurch wird ein Mann zum Dichter«, antwortete sie auf seine Frage, »oder ein Vers zum Kunstwerk? Wenn ich glaubte, du könntest dir daran genügen lassen, ein Blumenhirte oder ein Mistkäfer-Besinger zu sein, so wäre ich nicht um die Antwort im Zweifel. Ach, die geschäftigen, flinken Bürschlein – stell sie dir einmal vor, wie sie dabei sind, ihre Schachteln zurechtzubasteln, in die sie nichts hineinzustecken haben – und in denen übrigens auch nichts sein kann. Den einzigen Stoff für ein großes Gedicht bilden die Angelegenheiten der Menschen – der armen, liebenswerten Menschen.«

»Wodurch entsteht ein großes Gedicht, liebe, kleine Schwester?« fragte Marcellus.

Sie antwortete ohne Schwanken: »Nur durch Liebe, mein großer, tüchtiger Bruder! Nur Liebe ist imstande, die Brust eines Menschen aufzureißen und zu zeigen, was für ein ärmlicher Dreckklumpen sein Herz ist. Und nur Liebe ist imstande, einem Menschen zu zeigen, wie liebenswert Menschen sind.«

»Aber ich?« fragte Marcellus. »Du hast nicht gesagt, was du von mir hältst.«

Sie antwortete mit einem kaum merklichen Anflug von Bosheit: »So ein summender Mistkäfer, der blitzend durch den Sonnenschein fliegt – es ist eine glückliche Gabe, den Menschen zeigen zu können, wie schön dieser Käfer ist. – Und es ist eine noch glücklichere Gabe, ihn verlassen zu können, um sich mächtigeren Schönheiten zuzuwenden«, fügte sie hinzu.

 

Gerade diese römische Generation war dadurch eine außergewöhnliche Erscheinung, daß man ihr mit Bestimmtheit wenigstens in einer Hinsicht ein eigenes Gepräge nachsagen kann. Die »abgebrochene Epoche der Entfaltung« wäre eine brauchbare Bezeichnung für diesen kurzen Zeitraum, da sie sich auf den mannigfachsten Gebieten bereit machte, das Ungewöhnliche zu erreichen, im entscheidenden Augenblick aber immer gleichsam vor dem Sprung anhielt. Bis zu seinem Tode, der wenige Jahre nach dem Sommer eintrat, wo sich dieses ereignete, führte der Kaiser Marcus Aurelius einen zähen und niemals nachlassenden Kampf darum, sein Volk auf eine höhere Stufe sittlicher Reinheit zu erheben, und die schmerzliche Tragik seines Lebens war die Gewißheit, daß sein Sohn, sobald er zur Macht käme, sofort alle seine Kraft darauf verwenden würde, niederzureißen, was sein Vater aufgebaut hatte. Wie glücklich für ihn, daß die Götter ihm die fernere Zukunft verbargen: die fast ununterbrochene Folge von schlechten Regenten, bis die Schmach unter Heliogabal, dem größten Schurken, der jemals an der Spitze eines Volkes stand, ihren Höhepunkt erreichte.

Auf vielen anderen Gebieten kann man dasselbe Mißgeschick beobachten. Heron war unausgesetzt auf dem Sprung, weltumwälzende Erfindungen zu machen. Er war sehr nahe daran, die Dampfmaschine zu erfinden, und es ist geradezu unverständlich, daß er nicht soweit kam. Aber im großen und ganzen hinterließ er nur Spielzeug. Galen war daran, eine ganze Reihe der Funktionen des menschlichen Körpers zu ergründen, und doch mußte er die Segel streichen, bevor er zu dem Verständnis einer nach modernen Begriffen so elementaren Sache wie der des Blutkreislaufs kam. Und nun das unvollendete Heroicum des Marcellus! Marcellus empfand es wie ein Fieber, daß er vor dem seltsamen Augenblick stand, wo er den Zusammenhang der Dinge begreifen würde. Bisweilen meinte er es geradezu zu hören, wie sich das Wunderbare in einem anstoßenden Zimmer ereignete, aber es glückte ihm nie, die Tür dahinein zu finden.

Caecilias oft wiederholte Behauptung, daß er Fortschritte mache, kann nicht als Antwort auf eine Frage hiernach dienen. Die Menschen sehen, was sie zu sehen wünschen. Daß er aber den Mysterien der Christen nicht länger abweisend gegenüberstand, ergibt sich daraus, daß er auf ein paar praktischen Gebieten bereit war, seinen orthodoxen Standpunkt mit dem der Galiläer zu vertauschen. Dies bezog sich überdies auf die wichtige Frage der Leichenbestattung – und das ist vielleicht von allen Fragen die, an deren Untersuchung die Menschen mit der allergeringsten Neigung herantreten. Die einen wollen verbrannt werden, andere legen den größten Wert darauf, als vollständiger Körper in die Erde zu kommen, und der alte Demonax hat gesagt, daß er nichts Schlimmes darin fände, wenn sich Hunde und Krähen nach seinem Tod an ihm gütlich täten. Die Christen begruben ihre Toten. »Wie man Kinder begräbt, die vor den ersten Zähnen sterben!« sagte der Durchschnittsrömer verächtlich. Aber selbst dazu war Marcellus bereit, und das beweist, wie weit er das Bollwerk schon hinter sich gelassen hatte.

 

Marcellus war für die Erkenntnis, zu der er durch Caecilia gelangt war, nicht dankbarer, als ein Baum für die Nahrung dankbar sein mag, die die Erde ihm gibt. Ebenso aber wie der Baum bedankte er sich für seine Nahrung auf die einzig richtige Weise: er wuchs. Sein Wachstum war allerdings nicht wie das eines tropischen Wunderbaumes; aber Caecilia war auch kein Fakir, der seine Aufgabe darin sieht, vor den Augen einer gaffenden Zuschauermenge eine Riesenzeder in den Himmel schießen zu lassen. Sie war auch kein ungeduldiges Kind, das am Abend Erbsen sät und am nächsten Morgen rasch hinausläuft, die Pflanzen hervorsprießen zu sehen. Sie war mehr als das – sie war Caecilia: ein Säemann, der durch sein Dasein allein Samen ausstreut, und der mit der Sicherheit der Liebe glaubt und hofft.

In manchem Stück war sie aber doch wie ein ungeduldiges Kind. Als sie eines Tages mit Urban zusammen feststellte, daß schon eine Woche vergangen war, seit Marcellus sich zum letztenmal bei ihnen gezeigt hatte, meldete sie ihren Besuch in dem Hause auf Alta Semita an und traf dort im Laufe des Nachmittags ein. Dieser Tag bekam für Marcellus seine besondere Färbung dadurch, daß die galiläischen Probleme fast gar nicht berührt wurden. Die Großmutter und Caecilia spielten Würfel miteinander, und die alte Dame mußte mehrmals mogeln, um gewinnen zu können, was ihr sehr imponierte. Nachher saßen sie in der Bäckerei und nahmen in der kleinen gemütlichen Gartenanlage eine Mahlzeit ein; erst unmittelbar, bevor Caecilia wieder aufbrechen sollte, bekam Marcellus Gelegenheit, allein mit ihr zu reden.

»Einen unwilligen Hund soll man nicht mit auf die Jagd nehmen!« hatte an demselben Tage Urban von Marcellus gesagt. Caecilia hatte gegen den Sinn dieses Gedankenganges heftig protestiert, und jetzt sah sie deutlicher noch als vor kurzem, daß er durchaus kein unwilliger Hund war. Er war so weit gekommen, wie ein Mensch, der in einen Strom hinausgeschwommen ist und nun merkt, daß es ebensoweit hinüber wie zurück ist. Und er hatte mancherlei Bedenken. Eines davon bezog sich auf die fremdartige christliche Terminologie.

»Sehr oft klingt sie mir in den Ohren wie eine fremde Sprache«, sagte er bedauernd, und das begriff Caecilia durchaus.

»Laß mich gleichnisweise sprechen!« sagte sie. »Ein Soldat, dem die rechte Hand abgehauen ist, erlebt das Merkwürdige, daß in der ersten Zeit, während er seine linke Hand einübt, sein Sprechvermögen gehemmt ist. Er stottert und stolpert über die Wörter und ist überhaupt ein sehr unglücklicher Mensch, bis er die Herrschaft über sich einigermaßen wiedergewonnen hat. Ein Mensch, der Christ wird, ist in der ersten Zeit auch so ein armer Krüppel. Das ist ein schrecklich schlechtes Bild. Du magst dir selbst ein viel besseres suchen. Aber ich werde dich sprechen lehren.«

Doch trotz allem Verständnis fühlte er sich mehr und mehr wie ein magerer Esel vor einem überlasteten Karren – während der Lenker gutmütig und im Halbschlaf mit der Peitsche nach den vier bis fünf empfindlichen Stellen flitzt, die die Menschen schon vor zehntausend Jahren bei dem kleinen Langohr entdeckt haben.

 

Marcellus hatte Caecilia an den Tragsessel hinausgeleitet, er blieb dann ruhig stehen und folgte ihr mit den Augen, bis der letzte Fackelschein hinter dem äußersten Hügel auf Alta Semita in der Richtung gegen die City verschwunden war. Dann wendete er sich um und ging leicht vorgebeugt nach seinem Zimmer. Auf dem Wege dahin kam er durch die Küche, wo die Großmutter sich zu Euphemus gesetzt hatte, und blieb einen Augenblick stehen, dem Gespräch der beiden alten Menschen zu lauschen. Wenn sie nicht gerade über seine persönlichen Angelegenheiten verhandelten – was sie oft genug mit unbeschwerter Offenheit taten –, hörte er ihrem bizarren Gedankenaustausch sehr gern zu. Ihre Ansicht über die meisten Dinge war ursprünglich und schnurrig, und sie zogen Widerspruch in jeglicher Form der kritiklosen Ehrerbietung vor dem Alter, dessen einziges Verdienst die Jahre sind, die es auf dem Rücken hat, bei weitem vor.

Gegen seine Gewohnheit trank Euphemus keinen Toddy. Er war kurz zuvor von einem Essen im Verein der Hausmeister (die durchaus kein Vereinsrecht hatten) zurückgekommen und trug einen Lorbeerkranz, dessen Blätter er eins nach dem andern zerkaute, während seine Gedanken mit einigen inneren Angelegenheiten des Vereins beschäftigt waren. Seine Person dampfte von Wohlwollen gegen die Schöpfung. Sein Gesicht war eine kleine Fabrik zur Herstellung eines allgemeinen und prinzipiellen Vorhand-Verständnisses für etwa auftretende Phänomene. Euphemus war ein urbaner Mann.

»Na, wie ist's, wenn man sich verliebt?« fragte die Großmutter unzeremoniell, zu ihrem Enkel gewendet, und Marcellus antwortete feierlich:

»Es ist, wie wenn man ohne Übergang aus einem kalten, nassen Winter kommt und nun an einem unendlichen tiefblauen Meer unter blühenden Magnolienbäumen dahinwandert.«

»Das klingt wie ein Gedicht«, sagte die Großmutter zweideutig. (Es entsprach übrigens ihrer Überzeugung, daß es ein Gedicht war; sie konnte sich nur nicht erinnern, woher es stammte.) Zu Euphemus sagte sie: »Wie war es denn, als du noch verliebt warst und den Mädchen Fallen stelltest?«

»Es hat da sehr viele Arten von Verliebtheit gegeben; aber die meisten erinnerten etwas an Flohstiche: sie juckten tüchtig, vergingen aber bald wieder.«

Aber das machte keinen Riß in das Glück des Marcellus. Er sagte lächelnd gute Nacht und ging mit seliger Überlegenheit weiter, wie einer, der ein unverlierbares Wissen hat, und zwar vollständig für sich allein.

Euphemus schüttelte sich und rückte näher zur Feuerstätte hin. Auch der Großmutter schien es nicht sehr warm, und so ließ sie sich in seiner Nähe nieder. Keines von ihnen war in den dreizehn Jahren jünger geworden, die seit jenem Saturnalienfest vergangen waren, wo Jon zur Welt kam. Aber ein verwandter Trotz hauste in beiden und verzehrte die Hälfte der Jahre, die angemessenerweise auf ihren Schultern ruhen sollten, und ihre Geisteskraft hatte sich auch nicht mehr verändert als ihr Äußeres.

»Welche Ansicht darf man sich über den jungen Herrn erlauben?« fragte die Großmutter, als sie sich gesetzt hatte.

»Ja, welche Ansicht darf man sich über einen Fisch erlauben, der einen Angelhaken im Maul hat?« versetzte Euphemus.

»Ja freilich!« gab die Großmutter zu. »Aber glaubst du, sie hat es überhaupt im Sinn, den Fisch herauszuziehen?«

Euphemus war bedenklich: »Man soll nichts verschwören. Auch vernünftige Mädchen machen manchmal Dummheiten. Und die hier sieht nicht danach aus, als ob sie ihr Konto überzogen hätte. Am bedenklichsten macht es mich, daß ich wirklich schon früher geglaubt habe, er liefe mit einem Angelhaken im Maule herum.«

Die Großmutter brummte: »Das war seine bekannte jugendliche Schwärmerei; aber heute hab' ich beinah geglaubt, er ist drauf und dran, die erotischen Weisheitszähne zu kriegen.«

»Großer Gott!« jammerte Euphemus.

Die Großmutter aber fuhr unangefochten fort: »Was mich am bedenklichsten macht, ist doch, daß sie ganz sicher eine Christin ist.«

»Dann wird er auch Christ!« prophezeite der Türhüter optimistisch.

»Bist du dir dessen nun auch ganz gewiß?« fragte die Großmutter scharf.

»In dem Stadium sind die Männer zu allem fähig«, antwortete Euphemus. »Ich bin selbst einmal, als es mir ähnlich ging, heulend in einer Kybele-Prozession mitgelaufen.«

»Ja – du!« seufzte die Großmutter, ohne den geringsten Anflug eines Zweifels.

 

Drüben in seinem Zimmer war Marcellus damit beschäftigt, ein Stückchen Kuchen auf die Nase seines Hundes Tobias zu legen, der aus diesem Anlaß »schön machte«.

»Gib acht, Tob!« sagte er. »Laß die Natur nicht Herr über die Erziehung werden. ›Mach schön‹ und bedenke es wohl: wenn ich dich ein wenig plage, so ist es zu deinem eigenen Besten.«

Tob zitterte ein wenig und winselte, während seine Augen umschichtig nach dem Kuchen schielten.

»Du hältst dich für ein besonders geplagtes Tier«, fuhr Marcellus fort. »Du solltest nur ahnen, daß ich auch ›schön mache‹ und mit einem Stückchen Kuchen auf der Schnauze winsle. Der Unterschied ist nur, daß du nach einem Weilchen deinen Kuchen erschnappen darfst, und ich ... Tob, alter Idiot! Also bitte – schnapp zu!«

Tob schleuderte das Stück Backwerk mit einer raschen Bewegung in die Luft und fing es auf; als er es verschlungen hatte, setzte er sich und schaute seinen Herrn erwartungsvoll an.


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