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Erster Teil

Es kommt darin ein Mensch zur Welt in einem unruhigen Haus.

Erstes Kapitel

Mit Mutter Sara ließ sich nicht viel Staat mehr machen. Im Lauf der Jahre war ihr Bauch zu dick geworden, und ihre Haare hatten eine sonderbare Farbe angenommen – eine Farbe, die weder grau noch weiß noch sonst ehrwürdig wirkte, sondern am ehesten noch der wochenalten Schnittfläche eines Stockfisches glich. Bittere Erlebnisse hatten ihre Züge hart gemacht, und heute war eine neue Last von schwerer Kümmernis dazugekommen. Während sie betete, dachte sie an eine dieser Sorgen: wäre wenigstens eine von den anderen sechs Hennen krank geworden, so hätte das noch angehen können, – oder nein – Henne ist Henne, und für eine arme Judenmutter ist es kein Spaß, wenn eine ihr erkrankt. Aber gerade »die große«, nicht nur die jüngste, sondern auch die schwerste unter ihnen. »Gerade die schwerste!« wiederholte sie bei sich, indessen ihre Lippen weiterbeteten, wie ein Pferdegespann auf wohlvertrautem Weg auch ohne Lenker weitertrottet.

In einer Ecke der Stube war Ruth an dem Heukorb tätig, in dem das gestern schon gekochte Essen mißmutig versuchte, warm zu bleiben. Obgleich der Inhalt des Korbes auf keine Art dazu ermutigte, hätte sie beinah ein Liedchen anstimmen wollen, das sie vor ein paar Tagen irgendwo gehört hatte. Es war ein schlichtes Lied von einem Mädchen und einer blauen Glockenblume. Außer denen und einem jungen Mann mit einer Kithara kam eigentlich gar nichts Erwähnenswertes darin vor – wenn man den Kuß, den er ihr gab, nicht als erwähnenswert ansehen will. Aus diesem Liede wurde aber nichts; denn dieses alles ging am Tag des Neumonds vor sich, und selbst wer schwarze Augen hat und sechzehn Jahre zählt, tut doch am Neumondtage nichts. Er singt nicht einmal flüchtig nur ein Liedchen, das ihm in der Kehle steckt. Jedenfalls, wenn man zum Stamme Abrahams gehört, mag man sich gleich der Sekte angeschlossen haben, die Christus ehrt, erlaubt man es sich höchstenfalls, sein Essen aus dem Korb mit Heu zu nehmen, und freut sich schon, daß man nicht auch noch fasten muß.

»Ruth!« rief die Mutter plötzlich. Ihre Lippen hatten das Gebet beendet. »Ruth, liebe Ruth, mit unsrer ›großen‹ steht es schlecht. Ihr hängt der Kamm so schlapp.«

»Ja, Mutter Sara«, sagte Ruth mit leiser Stimme, wie es sich an einem solchen Tag gehört. »Wenn sie uns nur nicht wegstirbt!«

»Das will das Ungeheuer ja«, erklärte Mutter Sara. »Es gibt da jemand, der uns um sie neidisch ist. Ich weiß, was ich mir davon denke ...«

»Wer soll uns eine kümmerliche Henne neiden?« wendete Ruth mit einem schwachen Lächeln ein.

»Ich sag' dir ja, daß ich mir einiges darüber denke, jawohl, ich weiß schon was. Und kümmerlich ist unsre Henne keineswegs. Ein gutes Legehuhn. Es gibt vielleicht kein besseres in ganz Rom. Und weißt du, was ich meine? Ob es nicht am besten ist, sie abzuschlachten. Aber heute noch; denn morgen ist es sicher schon zu spät.«

»Am Neumond, Mutter Sara?« fragte Ruth.

»Das weiß ich, Dummchen! Neumond! sagst du. Hab' ich denn gesagt, wir schlachten sie? Aber du könntest ja – aber ganz leise und mit Vorsicht – du könntest, mein' ich, zu dem jungen Herrn hinübergehen. Euphemus, diese alte Schlafmütze, schnarcht ja wahrscheinlich doch.«

»Marcellus?« gab das junge Mädchen zurück und wurde rot. Fiel ihr doch ein, daß eben er es ja gesungen hatte, jenes Lied vom Mädchen und der blauen Glockenblume.

»Marcellus, ja, und bitte ihn recht freundlich, die ›große‹ für uns abzustechen und sie dann in der Ecke neben unserm Knoblauch an den Beinen aufzuhängen. Das tut er sicher gern, warum soll er es denn nicht tun?«

»Wie hübsch er doch geworden ist!« bemerkte Ruth. Das wirkte fehl am Ort und gleichzeitig ein bißchen oberflächlich, gemessen daran, daß hier doch ein Todesfall bevorstand. Mutter Sara überhörte es absichtlich. Sie hatte auch noch andere Sorgen, und schwerere, und fühlte keine Lust, zu schelten. Sie zankte auch nicht, als das Mädchen einen Spiegel holte und ihr Haar mit einer Sorgfalt aufsteckte, die ihren Grund wohl keinesfalls in dem sachlichen Teil des ihr gewordenen Auftrags haben konnte. Und Mutter Sara übersah es auch demonstrativ, daß sie das schwere goldene Armband anlegte, einst Mutter Saras Eigentum zu jener Zeit, wo sie noch kleine weltliche Lieder von blauen Glockenblumen vor sich hin gesummt und junge Kitharaspieler noch in vollem Ernst für Leute von besonderer Wichtigkeit gehalten hatte.

Komischerweise hatte sich Marcellus tags vorher hinreißen lassen, dem Türhüter Euphemus gegenüber genau die gleiche Charakteristik von Ruth abzugeben, als diese an der Bank vorüberging, auf der er mit dem alten Diener saß. »Wie hübsch sie doch geworden ist!« hatte er gesagt; aber es sah so aus, als hätte Euphemus dies auch früher schon bemerkt. Er hatte sich mit einem unbestimmten Brummen begnügt und mit dem dunklen Hinweis, daß Marcellus im Augenblick wohl wichtigere Dinge zu tun hätte, als die Sklavinnen des Hauses abzuschätzen.

Und so war es auch. Nachdem der junge Herr seine Examina gemacht und sich zwei Jahre als Volontär betätigt hatte, war er gerade in diesen Tagen als Buchhalter eines großen Clearinghouses im Stadtteil am Fluß angestellt worden. Das war ein Posten, der einem strebsamen Manne große Möglichkeiten bot; leider aber war Marcellus ein Mann mit einem großen Ruhebedürfnis. Zu dieser Veranlagung kam eine unglückliche Geneigtheit, sich leicht zu verlieben, und zwar gerade zu den Zeiten, wo er seine ganze Tatkraft nötig hatte. Wie schwache Männer Leibweh kriegen, wenn es in die Schlacht geht, hatte er bei jeder von den seltenen Gelegenheiten, wo es ihm wirklich an der Zeit gebrach, sich zu verlieben, eine Liebesgeschichte auf dem Hals. Und so auch jetzt. Er hatte seine Neigung zu der genannten Schwäche fast vergessen, als ihm Ruth zu seinem Unglück und mit größtmöglicher Deutlichkeit klar machte, daß er dies Gebrechen noch nicht los war. Und Euphemus, der den Patienten sachkundig beobachtet hatte, sah, daß er durch eine mystische Zentrifugalkraft von sich selber weg in ein Sonnensystem hineingewirbelt wurde, wo er für eine Weile jede Herrschaft über seine Bahn verlieren würde.

Ruth war mit ihrer Toilette fertig. Ein letztes bißchen Farbe auf die Lippen und ein paar Striche mit der Puderquaste, von kundiger Hand über die Wangen geführt, verwandelten sie zu der Porträtbüste der Königin Nofretete, Tutanchamons bezaubernder Schwiegermutter. – Ruths Mund war vielleicht um eine Andeutung kleiner, und es mag sein, daß ihre Nase um eine Unbedeutendheit schmäler war; aber das Oval des Gesichts und die schlanken Linien des Halses waren gewissenhaft kopiert. Man könnte sagen, daß sie in ihrer Schönheitsklasse ohne Tadel war, aber richtiger sagte man, daß sie eine Klasse für sich bildete. Sie schien dazu geschaffen, die Arbeitsruhe von Männern zu zerstören, Straßenunfälle hervorzurufen und magnetische Störungen in ehrenwerten Ehebünden zu veranlassen. Selbst Euphemus beugte sich später am Tag dem Ungewöhnlichen und gab seine Anerkennung dessen, was er da sah, mit den Worten kund, daß sie wahrhaftig eine »Hexe« sei. Denn sie hatte die Entwicklungsstufe erreicht, auf der ein Mädchen sich wie eine Blume der Sonne und der Welt eröffnet, und sie strahlte in der Glorie, die Unschuld und Reife im Verein um eine Stirne legen. Als sie eben zur Tür hinausgehen wollte, rief Mutter Sara sie zurück.

»Bevor du gehst, muß ich dir noch etwas sagen.«

»Ja, Mutter Sara?«

»Etwas sehr Ernstes.«

»Das klingt unheimlich.«

»Und ist auch unheimlich.«

Nun gab es eine kleine Pause; da aber Ruth nichts sagte, mußte wohl die Mutter anfangen.

»Könnte ich es dadurch abwenden, daß ich mir den rechten Arm an einem langsamen Feuer verbrennen ließe, ich täte es.« Von neuem stockte sie, und eine Atmosphäre von Unbehagen breitete sich im Zimmer aus, das spärliche Licht erschien dadurch noch spärlicher. Ruth legte ihre Hände auf die schmalen Schultern ihrer Mutter und schüttelte sie mit einem bangen Lachen.

»Du liebe Zeit, das ist ja fürchterlich!» rief sie. »So spann mich doch nicht länger auf die Marterbank! Ist denn jemand gestorben?«

Mutter Sara hackte mit dem Kopf, wie sie es häufig tat. »Nein«, sagte sie, »ach nein, wenn es nichts anderes wäre! Setz dich, Ruth, und laß uns davon sprechen. Sieh – du weißt, Papirius hat uns immer gut behandelt. Daß wir den Sabbat halten können und kein Opferfleisch zu essen brauchen, hat er uns abgesondert wohnen lassen, und der kleine Ölhandel hat uns Nahrung und ein bißchen Verdienst gebracht – zu dem, was wir für ihn verdienten.«

»Er will uns doch den Ölhandel nicht nehmen?« fragte das Mädchen.

»Nein – ach, wäre es nur das! Aber sieh – du hast vielleicht gehört, daß er uns damals kaufte, weil er fand, daß du ein schönes kleines Mädchen seist – du warst sechs Jahre alt –, und weil er erwartete, daß, daß ...«

»Daß ich ein schönes großes Mädchen würde?«

»Das ist's. Du weißt es ja, wie er sich auszudrücken pflegt. Und siehst du, liebe Ruth – kürzlich hat er entdeckt, daß das nun im Begriff ist, wahr zu werden.«

Ruth war totenblaß und bewahrte nur mit Mühe ihre Gelassenheit. »Es ist wohl nicht dein Ernst, daß ich zu dem widerlichen alten Trunkenbold hinüberziehen soll?« erkundigte sie sich.

»Nein!« die Stimme der Alten klang wie zersprungen, und diese schien vor den Augen des Mädchens älter zu werden. »Nein – wenn es nur nichts anderes wäre!«

»Da muß ich schon sagen!« schnaubte Ruth. »Nichts anderes! Als ob ...«

»Still, liebes Kind – hör mich jetzt ruhig an. Er sagte mir, bis zu einem gewissen Zeitpunkt hätte er das vorgehabt; aber er ist zu alt dazu geworden und zu dick. Er sagte – nun, er kann das Spotten ja nicht lassen! –, ja, er sagte, das Fleisch sei willig, aber der Geist sei schwach.«

Ein Strahl von Hoffnung und Zweifel leuchtete in dem Gesicht des Mädchens auf, und Ruth sagte: »Er will mich doch wohl nicht Marcellus geben!?«

»Das auf keinen Fall«, versetzte die Mutter Sara. »Lieber gibt er dich dem ersten besten Bodenputzer in einer Badeanstalt. Du weißt, er hat sich allerhand Theorien über die Fortpflanzung zurechtgebastelt, und er hält Marcellus für einen Schwächling ...«

»Marcellus ist kein Schwächling. Er ist zehnmal soviel wert als der alte ...«

»Still, Kind! Nur nicht so heftig! Was verstehst du übrigens davon, was Männer wert sind! Der Alte hält den jungen Herrn für einen Schwächling, also ist er ein Schwächling. Hier im Haus.«

»Er ist vielleicht der beste Mann von Rom – was den Charakter angeht.«

»Gut, nehmen wir das einmal an. Aber das ändert ja für dich die Sache nicht. Und dann: du weißt wohl, daß er – Papirius, meine ich – des öfteren gesagt hat, es sei am besten, alle Dinge rein geschäftlich zu betrachten.«

»Mit meinen eigenen Ohren habe ich ihn das wohl einige tausend Male sagen hören.«

»Er sagt, wer das nicht tut, der opfert das Geschlecht dem ... ja, wie sagt er gleich?«

»Dem Illusionsbedürfnis – der gebrechlichen Seele!«

»Ja, so war's. Er sagt, man füttert das – nun das, was du gesagt hast –, bis es über alle Grenzen quillt und das wirkliche Leben erstickt.«

»Wenn es nur ihn erstickt hätte!«

»Unser Meister hat uns gelehrt, niemand Böses zu wünschen, und er hat uns gelehrt, uns unseren Herren nicht zu widersetzen.«

»Aber um Himmels willen, was soll denn mit mir geschehen?«

»Er hat uns auch gelehrt, daß wir nicht schwören sollen, weder beim Himmel noch bei der Erde, noch bei Göttern und Dämonen.«

Ruth setzte sich mit einem Seufzer nieder. »Du bist eine Prüfung, Mutter Sara! Aber jetzt mach, damit es einmal überstanden ist. Es wird durchs Aufschieben wohl auch nicht angenehmer.«

»Nein, siehst du, sein letzter Einfall ist planmäßige Menschenzüchtung! Das ist zwar kein neuer Gedanke – hier in Rom wird er seit vielen Jahren ausgeführt. Man nimmt dazu eine Elite von Gladiatoren oder Wagenlenkern.«

Ruth war aufgesprungen und stand nun totenblaß vor Mutter Sara. Ihre Hand tastete nervös nach der Perle an ihrem einen Ohr, und ihre Augen funkelten fieberisch. Sie schwieg.

Mutter Sara schluchzte: »Es kommt einer – ich weiß es schon seit vier Tagen –, er kommt vom Circus Maximus. Er ist der Wagenlenker, der kürzlich vom Wagen stürzte und sich dabei den Arm gebrochen hat.«

Ruth stand unbeweglich. »Wie heißt er?« fragte sie.

»Maës!« jammerte die Alte, und Ruth nickte. Sie hatte von dem Unfall gehört, der sich an einer Kehre zugetragen hatte, und sie erinnerte sich wohl, den Mann fahren gesehen zu haben. Er stand vor ihrem Gedächtnis als ein Tier aus lauter Muskelbündeln, als eine Art rasierter Menschenaffe mit roten Augen und mit Kinnladen, von denen man sich leicht vorstellen mochte, daß sie Pflastersteine zu Pulver zermalmen könnten. Sie stellte sich ihn vor wie eines jener Fabelwesen, die ihren Pferden den Hals brechen und noch stolz darauf sind. Je länger sie darüber nachdachte, desto übertriebener und widerlicher wurde er von ihr ausgestattet, mit Händen, so groß wie Spaten, mit Ohren wie Dessertteller und Haaren gleich einer Hyänenmähne.

Die liebe Mutter Sara war neben dem Stuhl in die Knie gesunken und weinte, während sie ihren Kopf auf den Armen wiegte. In ihrer Verzweiflung versuchte sie zu beten, allein ihre Lippen formten keine Worte. In ihrem Innern war eine tiefe Nacht, in die Regen und Ungewitter mit strengen Schauern eindrangen und alle Gedanken schon im Entstehen töteten. Aber mitten durch dieses Unwetter hörte sie ein Klirren, und sie wußte, es war das Armband, das in einen Winkel sauste. Dann zeichneten sich auch noch andere Laute ab – sie vernahm es fern und schwach. Jetzt waren es zwei Perlohrringe, die denselben Weg gingen. Nun folgten ihnen vier Elfenbeinhaarnadeln und ein Kamm; kaum hörbar war dann noch der Laut, mit dem eine Rose zu Boden fiel. Der Ton, der zuletzt erklang, kam von der Tür, die zufiel. Aber gleich danach ging sie schon wieder auf; Ruth fragte: »Wann kommt er?«

»Morgen abend!« sagte Mutter Saras verschleierte Stimme.

»Warum hast du mir es nicht früher gesagt!« klagte das Mädchen. Das war nicht als Frage gemeint, und es kam auch keine andere Antwort als das eintönige Schluchzen, das die ganze Zeit über zu hören gewesen war.

Als die Tür zum zweitenmal ins Schloß gefallen war, hörte man nur noch Ruths elastische, entschlossene Schritte auf den Fliesen im Hof.

»Der junge Herr ist nicht zu Hause«, sagte Euphemus, als er das Mädchen auf Marcellus' Zimmer zugehen sah. »Er macht einen Ritt auf dem Marsfeld.« Der alte karische Türhüter betrachtete Ruth anerkennend. Er war in dieser müßigen Stunde damit beschäftigt, die Namen der Konsuln auf die irdenen Weinfässer zu malen, die in diesem Jahr gefüllt werden sollten.

Marc. Ael. Aur. Ver. Cass. III. Mal.
Luc. Ael. Aur. Commodus II. Mal.

malte er sehr genau und ordentlich. (Das geschah im 914ten Jahr nach der Gründung der Stadt.) Bei dieser Gelegenheit geschah es, daß er sich klar darüber wurde, man dürfe sie eine »Hexe« nennen. »Ich geh' hinein und besuch' ihn trotzdem«, sagte Ruth, und sie fragte ihn mit einem Lächeln, das ihm gleich einer Maus das Rückgrat entlang und bis in die Kniekehlen lief: »Hab' ich mir da nicht einen flotten Schal angeschafft?«

»Er ist grün wie die Haare Neptuns«, grunzte Euphemus – als ob eine Möglichkeit vorhanden gewesen wäre, daß jemand ihn für rot ansähe –, und er fügte hinzu: »Du kannst gleich hineingehen, zieh nur den Türriemen herunter.«

Durch einen dichten Vorhang drang die Frühlingssonne in das Zimmer, und der Schein verteilte sich in der Stube, als habe er keine andere Aufgabe, als den gedämpften Geschmack zu unterstreichen, womit der Raum ausgestattet war. Nicht als ob die Ausstattung sehr reich gewesen wäre: zwei Sessel mit schwarzem Bronzebeschlag, ein Tisch aus rauhen Marmorblöcken mit einer losen Holzplatte, eine Lagerstatt, die den Eindruck machte, als gingen ihre ersten Erlebnisse in die Zeit des seligen Augustus zurück; in Wirklichkeit aber stammte sie aus der Zeit Domitians. In einer Ecke schimmerte eine hohe Vase aus honiggelbem orientalischem Alabaster, und an der Wand, dem Fenster gegenüber, befand sich ein Ehrfurcht gebietendes halbverwaschenes Gemälde, das einen Triumphator hinter einem Schimmelviergespann darstellte – ein Bild, das ursprünglich seinen Platz zusammen mit den rauchgeschwärzten Wachsmasken der Ahnen in der Vorhalle des Hauptgebäudes gehabt hatte. Wie gesagt, die Ausstattung unterschied sich nicht wesentlich von dem, was sich anderthalb bis zwei Jahrtausende später als etwas wiederholte, was man Herrenzimmer-Kultur nennen könnte. Allein Ruth war mit der Innenausstattung bürgerlicher Häuser nicht sonderlich vertraut, und mit einem Gefühl des Behagens schob sie den Vorhang zur Seite und setzte sich an den geräumigen Schreibtisch. Eben wollte sie ihre Gedanken für das Schreiben sammeln, das der eigentliche Zweck ihres Hierseins war, als ihr Blick auf ein beschriebenes Stück Papier fiel. Sie nahm es auf und las es ... einmal ... zweimal ... mehrere Male, bis sie es auswendig konnte. Es war ein Gedicht. (Marcellus litt zuweilen an der Wahnvorstellung, ein Dichter zu sein.) Das Gedicht handelte von einem Sperling – einem toten Sperling. Es war ein so herzzerreißendes Klagelied, daß man hätte von Stein sein müssen, wenn einem beim Lesen nicht sanfte Wehmut aufgestiegen wäre; aber Ruth war in diesem Augenblick von Stein. Sie warf einen letzten Blick auf das Kunstwerk, dann knüllte sie es zusammen und warf es verächtlich in eine Ecke.

»Ein Spatz!« schnaubte sie verächtlich. »Ein kleiner dreckiger Spatz!« Und das in einer Behausung, die nur von ihr hätte erfüllt sein müssen. Sie hatte eine unklare Empfindung, daß da irgend etwas Unbestimmtes nicht in Ordnung war mit Marcellus. Aber da ihr das nicht klar wurde, ergriff sie ein Stück Papier und eine Gänsefeder, tunkte diese gedankenvoll ein und schrieb mit großen hüpfenden Buchstaben. Der Brief lautete:

 

»Die Sklavin Ruth an Marcellus, Buchhalter bei Aulus Vettius Conviva. Sei vielmals gegrüßt. Es tut mir leid, Dir sagen zu müssen, daß Dein Vater ein Châmor ist. Wenn es Dir angenehm ist zu hören, daß ich von einem Wagenlenker, der den Arm gebrochen hat, ein Kind bekommen soll, brauchst Du nicht bei mir vorzusprechen, wenn Du heimkommst. Ich bete beständig für Deine Gesundheit. Ich selbst bin gesund.«

 

Wie man sieht: etwas unklar in seiner Sachlichkeit, aber formal tadellos. Es war in Wirklichkeit ein Muster von schwer belasteter Unbekümmertheit. Sie las es noch einmal durch, nachdem sie den Vorhang wieder vorgezogen und auf dem Schreibtisch Ordnung gemacht hatte. Als sie ging, ließ sie den Brief mit einem Stück Kohle beschwert mitten auf dem Tisch zurück; vorher aber hatte sie das mißhandelte Gedicht über den Sperling aufgehoben und es sorgfältig geglättet. Es ruhte jetzt auf ihrer Brust, und die Brust bewegte sich heftig. Aber niemand hätte behaupten können, daß das Mädchen weine.

Es war frühes Frühjahr, und das Marsfeld wimmelte von Leben wie ein Ameisenhaufen. Zwischen glänzenden Marmorgebäuden und Statuen wanderten Reihen von glänzend gestriegelten Eseln mit Schellengeschirr, mit Reiherfedern, die über dem Stirnbüschel nickten, und vergoldeten Hufen gravitätisch dahin. Ihre Aufgabe war, kleine Kapitalistenkinder einen Ritt machen zu lassen. Die kleinsten Babys staken da wie Patronen in einem Gürtel – je zwei oder drei zu jeder Seite, mit Klappern und Trockenschnullern aus Leder oder Elfenbein bewaffnet. Die größeren saßen mit selbstbewußter Miene, die Reitpeitsche in der Hand, rittlings auf den frommen Tieren. Die allergrößten, denen die Esel verächtlich schienen, ritten umschichtig auf zwei mächtigen bleigrauen Elefanten spazieren. Diese hießen Ajax und Juna und ließen ihre büschelartigen Schweineschwänzchen wie Pendel hin und her schwingen.

Marcellus, der auf dem Weg zu einem der Hippodrome war, hielt sein Pferd an, um den Schuhmacher Pedanius aus der Sandalenmachergasse zu begrüßen. Pedanius war ein schlanker, tüchtiger Kerl mit schmalen Schultern und einem Hang zur Mystik. Außerdem war er ein Mann von Grundsätzen und hatte unter anderen auch den, niemals auszugehen, ohne den oder jenen Lieblingskummer mitzunehmen. In den Tagen sprach man in Rom weit und breit von der wachsenden Wohnungsnot. Nichts war darum natürlicher, als daß er heute die Wohnungsnot zu seinem Lieblingskummer machte. »Niemand kann Rom mehr bewundern als ich«, erklärte Pedanius und ging dann stracks dazu über, die Stadt und deren Verwaltung herunterzureißen. »Da fehlt es irgendwie am System«, sagte er. »Betrachten wir nur einmal die Wohnungsfrage! Die Oberklassen mit ihren Palästen und Lustgärten breiten sich bald über die halbe Stadt aus, so daß für gewöhnliche Menschen kein Platz mehr bleibt. Und was ist die Folge? Alle Mietshäuser von einem Ende der Stadt bis zum andern sind in den Händen von Wucherern und deren Pächtern und Unterpächtern. Ich beklage mich nicht um meiner selbst willen. Mein kleiner Keller und meine kleine Wohnung reichen mir völlig für meine Frau und mich. Aber wir brauchen nicht weiter zu gehen als bis zu meinem Schwager. Der hat eine elende Wohnung im sechsten Stock und muß doch zweitausend – zweitausend! – Sesterzen Miete zahlen. Und ich weiß aus zuverlässiger Quelle, daß man in den Städten des Nordens nette und bequeme Wohnungen für fünfhundert bekommt. Ja – ich habe neulich gehört, in Sora und Frusino könne man sich Haus und Garten für das kaufen, was man hier Jahresmiete zahlt. Das ist doch ein Unterschied.«

»Ja, die Zeiten sind schlecht«, gab Marcellus zu. »Aber irgendwo und an irgendwas fehlt es wohl immer.« Er hatte den Grundsatz, alle Kümmernisse möglichst schon bei der Geburt umzubringen, wie man junge Katzen ertränkt. Immerhin hatte er nichts gegen die Armen trotz deren Kümmernisse, aber er betrachtete sie mit den Augen eines Menschen, der niemals gehungert hat. Für ihn waren sie eine besondere Tierart mit besonderen Gewohnheiten und einem besonderen Geruch, er aber hatte für Reinlichkeit bei weitem mehr übrig. Das war einer der Gründe, warum er den kleinen Flickschuster schätzte, denn dieser war für einen Schuhmacher erstaunlich wenig schmutzig.

»Ich sehe wirklich nicht übertrieben schwarz«, behauptete Pedanius. »Aber wenn jeder Tag seine Unglücksfälle und seine Vorboten bringt, kann man ja seine Augen davor nicht verschließen. Erst gestern ist ein Wolf die Heilige Straße entlang zum Markt spaziert und hat einen Kohlenhändler beinahe ganz aufgefressen. In der Nähe des Marktes hat man einen Ameisenhaufen entdeckt, was ein noch schlimmeres Zeichen ist. Es sollte mich nicht wundern, wenn wir an einem der nächsten Tage eine brennende Fackel am Himmel sähen.«

Marcellus wollte eben einwenden, daß der hungrige Wolf vielleicht erblich belastet gewesen sei; aber er verkniff sich dies Wort, weil ihm ein erstaunlicher Traum einfiel, den er heute nacht gehabt hatte.

Pedanius, der das Vorfahrtsrecht des anderen in der Unterhaltung nicht respektierte, kam dem Bericht von dem Traume zuvor und fuhr fort: »Aber wenn man sieht, wie sich die Gottlosigkeit ausbreitet, kann es einen nicht wundern, daß die Götter Warnungen senden, und daß die Armut so groß ist wie noch nie. Kann man von den Göttern verlangen, sich jeden Tag von Epikureern und Galiläern verhöhnen zu lassen und trotzdem die Stadt mit Wohltaten zu überschütten? Würden wir, du und ich, das vielleicht tun? Nein, man kann seine Opfergabe nicht selbst aufessen und zugleich die Götter damit versöhnen wollen. Man kann nicht einkaufen und das Geld wieder mit heimbringen.«

Marcellus fühlte sich von der Vernunft in des Schusters gußeiserner Frömmigkeit geschlagen. Er nickte tiefsinnig und sagte: »Das mit der Armut ist sicherlich richtig. Durch die Arbeit wird niemand reich, – selbst wenn er vom Morgen bis zum Abend schwitzt wie der Braten im Ofen. Wenn ich nicht meinen Alten als Stütze hätte, möchte ich wissen, wie ich die Geschichte im Gleichgewicht halten sollte. Übrigens – weil wir gerade von den Gottlosen reden – du verstehst dich ja etwas auf Träume. Ich habe in der letzten Nacht einen merkwürdigen Traum gehabt! Ich sah den alten Gastwirt Gaphyrus – du weißt, der, den sie ›Butterblume‹ nennen – in ein Bethaus hineingehen ...«

»Das war ein schlimmer Traum!« sagte Pedanius ernsthaft. »Was geschah weiter?«

»Nichts, als daß er plötzlich wieder draußen stand und abermals hineinging.«

»Hm, und dann?«

»Stand er wieder da und ging hinein. Ich glaube, das geschah fünf- oder sechsmal.«

»War es eins von den Bethäusern der Galiläer?«

»Der Galiläer – jawohl.«

»Und um welche Zeit hat dir das geträumt?«

»Zwischen Mitternacht und dem Hahnenschrei muß es gewesen sein.«

»Nach Mitternacht sind die Traumgesichte wahr. Daran ist kein Zweifel. Artemidor von Daldis, der große Traumdeuter, hielt neulich einen Vortrag, und ich schlich mich von meiner Arbeit fort, ihn zu hören. Er sprach auch über Bethäuser. Dein Traum ist zwiefach schlimm. Höre: ist bei dir zu Hause jemand krank?«

»Niemand, soviel ich weiß.«

»Bring dann den Göttern jetzt bei Neumond ein Opfer, um alles Böse abzuwenden. Ich habe deinen Traum, wie man das soll, von vorn und hinten durchdacht, und ich habe folgendes herausgebracht: ein Gastwirt bedeutet für einen Kranken Tod, denn er ist insofern mit dem Tode zu vergleichen, als er jeden aufnimmt. Für alle anderen Menschen bedeutet er Drangsal, Angst und Reisen. Das ist das eine. Ein Bethaus aber bringt Frauen und Männern Kummer, Sorge und Seelennot, denn niemand bedarf eines Bethauses, wenn keine Sorgen ihn niederdrücken. Ein Landstreicher, der in ein Haus kommt, bedeutet Streit mit jemand, und falls er etwas mitnimmt, sei es mit Gewalt, sei es, daß man es ihm gibt, bedeutet das einen außerordentlich großen Verlust.« Pedanius hielt einen Augenblick inne, um seine Gedanken zu ordnen. Dann faßte er zusammen: »Gaphyrus, der einmal Gastwirt gewesen ist, kann jetzt als Landstreicher betrachtet werden. Er wohnt unter den Brücken und bettelt sich durch. Daß er in ein Bethaus ging – und noch dazu siebenmal – kann nichts Gutes bedeuten: denn nur der Bettler, der etwas kriegt, kommt wieder. Es tut mir leid, es dir sagen zu müssen; aber du mußt dich auf schwere Verluste gefaßt machen.«

»Gib mir zuerst etwas, was ich verlieren kann!« sagte Marcellus lächelnd, aber trotzdem war er nicht frei von Bedenken, als er kurz darauf sein Pferd ablieferte und nach Hause ging. Er dachte über die vorhandenen Unglücksmöglichkeiten nach und bemerkte auf seinem Weg durch die überdachten Säulengänge kaum die verstohlenen Blicke der Frauen. Während sich die Herzen der schlanken Gestalt im hyazinthblauen Mantel zärtlich zuneigten, stellte er bei sich selbst fest, daß er Geld ja nicht verlieren könne; und Angehörige hatte er keine mehr als seinen Vater Papirius und die alte Großmutter. Der Verlust dieser beiden müßte ihn mit ehrerbietiger Trauer erfüllen. Er entschloß sich, gegebenen Falles das Leichenbegängnis so prunkhaft und trauerreich zu gestalten, wie er es für Geld nur bekommen könnte. Namentlich entschloß er sich, den Scheiterhaufen grün anstreichen zu lassen.

Äußerlich wirkte Marcellus zu jener Zeit besonders nett und antiseptisch – wie eine Art von stutzerhaftem Aszeten. Wo er erschien, brachte nur allein sein Auftreten seine Umgebung – die männliche jedenfalls – zum Nachgrübeln über irgend etwas Unbestimmtes. Er wirkte wie ein Gedankenstrich zwischen Gänsefüßchen, und seine Anziehungskraft nährte sich gewiß mehr von dem, was sein Wesen versprach, als was er leistete. Seine Augen waren ein Paar traurige Schelme in einem mürrischen Gesicht, seine Bewegungstechnik war eine etwas stilisierte Schuldemonstration der Behauptung, daß der menschliche Gang – genau wie der Flirt – in einem fortgesetzten, gerade noch vermiedenen Hinfallen bestehe; und die Gabe, seine Maske zu wahren, die sich mancher erst durch mühselige Arbeit erwirbt, war bei ihm ein angeborenes Talent. Er war ein ehrenwerter Mann.

Die Deutung seines nächtlichen Traumes durch Pedanius hatte Marcellus so zerstreut gemacht, daß er vergaß, die Huldigungen einzukassieren, die ihm von Mädchenaugen, ebenso schwarz wie seine eigenen, dargeboten wurden, und die sich unter den ersten Strohhüten des Jahres nur recht mangelhaft versteckten. Ja, er vergaß sogar, stehenzubleiben und sich die bunte Reihe der Esel mit den kleinen Kapitalistenkindern zu betrachten und die Elefanten, deren Rüssel sich bettelnd nach Münzen ausstreckten. Auch an dem großen Sonnenweiser-Obelisk mit dem farbigen Schattenstein, an den Tempeln, Statuen, Pergolas und den wimmelnden Hafenanlagen ging er vorüber, ohne sie zu sehen. Er gedachte der leichten Feindseligkeit, die zwischen ihm und seinem Vater herrschte, und jetzt, wo er vor der Möglichkeit stand, daß der Alte eines schönen Tags Ernst damit machen könnte, sich totzutrinken (eine Todesursache, mit der zu rechnen immerhin geboten schien), wurde es ihm dennoch weich ums Herz. Mit der Sentimentalität, die damals in der Luft lag, war er beinah geneigt, seinem Erzeuger zu verzeihen, wenn es ihm dadurch glücken sollte, mit ihm auf den Verhandlungsfuß zu kommen, was aber nicht gerade wahrscheinlich war. Denn er glich seinem Vater in keinem Stücke mehr, als etwa ein Aal einem Kofferfisch gleicht, und an sich wünschte er es sich auch gar nicht, dem alten Papirius in irgend etwas zu gleichen. Seine Mißbilligung für den Alten ging so weit, daß er diesem bei verschiedenen Gelegenheiten in unverblümten Wendungen seine Flüche, seine Trunksucht, seine plumpen Witze, sein unsauberes Geschäftsgebaren vorgeworfen hatte und noch eine Menge andrer Dinge, die ihm, Marcellus, allerlei Gedanken machten. Sooft dieses Thema behandelt wurde, kleidete der Alte sein Keksgesicht stets in ein herausforderndes Lächeln, worauf denn Marcellus eine moralische Extranummer zum besten gab und schließlich hinausgeworfen wurde.

Trotzdem war er nun eigentlich zu einer allgemeinen Sündenvergebung entschlossen, als er zu Hause ankam und nach einer hastigen Mahlzeit, die er allein mit seiner Großmutter eingenommen hatte, in seinem Zimmer landete und dort Ruths Brief entdeckte. Zu sagen, daß er überrascht war, hätte viel zu milde geklungen. Beim ersten Durchlesen fühlte er sich verwirrt, beim zweiten entsetzt und beim dritten abgestoßen – entsetzt bei dem Gedanken an die Wirklichkeit der Mitteilung, soweit sie ihm klar wurde, und abgestoßen von dem kaltblütigen Ton, in dem das Schreiben gehalten war. Schließlich wäre er nicht überraschter gewesen, wenn ihm seine Großmutter die unanständigsten Stellen aus dem Ovid auf aramäisch vorgetragen hätte, als er jetzt von Ruths Schreibfertigkeit überrascht war. Er brauchte einen erfahrenen Ratgeber und rief zur Tür hinaus nach Euphemus.

»Was ist los?« fragte der Türhüter phlegmatisch und streckte den Kopf zur Tür herein.

»Komm her und mach die Tür zu, Euphemus!«

Der Alte kam herein, setzte sich und trocknete sich die Finger an seiner Schürze ab. Er war eben dabeigewesen, Anchovis für die Küchenmädchen einzupökeln, und brachte eine Luft mit, die weit davon entfernt war, geruchlos zu sein. Sie war sogar so kräftig, daß Euphemus sich veranlaßt fühlte, eine Art Entschuldigung vorzubringen. »Ich fürchte, daß ich nicht zum besten rieche«, begann er.

Marcellus schnupperte ein Pröbchen der Luft ein, machte betrübt eine krause Nase und sagte mit einer Handbewegung: »Es wäre eine Übertreibung, so was zu behaupten; aber wir wollen nicht kleinlich sein. Ich möchte dich nach etwas fragen ... sag mir einmal, was ist ein Châmor?«

»Hm – in welchem Zusammenhange kommt das vor?«

»Na – unter uns gesagt, es klingt, als sollte es eine Bezeichnung für den Alten sein.«

Euphemus ließ einen Ausdruck von liebenswürdiger Geistesschwachheit über seine Züge gleiten und zuckte die Achseln. »Ich fürchte fast, das weiß ich nicht.«

»Besinn dich doch einmal, Euphemus!«

»Ich erinnere mich nicht, daß ich das je gehört hätte.«

»Aber wenn es nun keine Verbindung mit dem Alten hat? Nehmen wir einmal an, es ginge auf den Schuhmacher Pedanius.«

Das Gesicht des Türhüters erhellte sich wieder, und er antwortete: »Könnte es da nicht ›Esel‹ heißen?«

»Aus welcher Sprache wäre es denn genommen?«

»Es sollte mich nicht verwundern, wenn der Ausdruck von einem Juden stammte.«

Marcellus trommelte leise mit den Fingern auf dem Tisch. Die Übersetzung war nicht sehr aufschlußreich gewesen – vorausgesetzt selbst, daß sie stimmte. Er schaute wieder in den Brief und fragte: »Hast du etwas von einem Wagenlenker gehört, der sich den Arm gebrochen hat?«

Euphemus schüttelte den Kopf. Von einem Wagenlenker hatte er überhaupt nichts gehört. Marcellus sah ein letztes Mal in den Brief, darauf legte er ihn auf den Tisch und fragte: »Weißt du, ob etwas mit Ruth geschehen ist?«

»Sie hat einen eleganten grasgrünen Schal bekommen.«

Marcellus runzelte die Stirn. »Wie ist sie aufgelegt?« fragte er.

»Als sie hier hereinging, war sie genau so naseweis wie immer. Als sie herauskam, war sie so traurig wie ein Affe bei abnehmendem Mond.«

»Aha – du hast sie hier hereingehen sehen?«

»Ich hab' ihr selbst gezeigt, wie sie den Verschlußriemen öffnen muß.«

»Sei so gut und ruf sie her.«

Der Türhüter zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Darf ich vorher noch etwas sagen?«

»Leg nur los, Euphemus!«

»Bevor ich hierher kam – in meinen jungen Jahren –, hab' ich die Frauen besser gekannt, als der Durchschnitt unsrer jungen Männer den Vorzug hat.«

»Ich bin ganz überzeugt davon, daß du ein Teufelskerl gewesen bist, Euphemus.«

»Und ich bin mit der Zeit zu der Erfahrung gelangt, daß selbst die feurigste Verliebtheit ganz von selbst vergeht, wenn man die Dinge nur mit kaltem Blute nimmt. Geschieht's nicht früher, so doch sicher, nachdem man den Gegenstand eine Zeitlang beobachtet hat. Im schlimmsten Falle muß man warten, bis eine kommt, die noch schöner ist. Und es kommt immer eine, die noch schöner ist.«

»Weiter!«

»Ich habe ferner die Beobachtung gemacht, daß, was an einem Tage volle Wahrheit war, am nächsten oftmals zweifelhaft erschien und in der Woche darauf zur glatten Unwahrheit zu werden pflegte.«

»Hast du noch mehr Beobachtungen gemacht?«

»Ich habe es als eine Hauptregel erkannt, daß man alle häuslichen Verhältnisse rein geschäftsmäßig behandeln muß. Anderenfalls gibt es unweigerlich Verdruß.«

»Und hast du diese preisenswerten Erfahrungen dir selber stets zur Lehre dienen lassen?«

»Aufrichtig gestanden: selten.«

»Sonst noch was?«

»Nein, weiter nichts mehr.«

»Willst du jetzt Ruth rufen?«

Und der alte karische Türhüter, der weise war wie Seneca und Salomon und ebenso erfahren, wanderte zu seinen Anchovis zurück, rief aber zuerst Ruth herbei. Sie erschien auch sofort, und Marcellus sah sie erwartungsvoll an.

»Was ist ein Châmor?« fragte er.

Das Mädchen ballte die Hände und glich der Königin Nofretete ganz verblüffend. »Ach, das ist mir gleich! Aber wenn du wissen willst, was dein Vater ist ...!«

»Nicht nötig. Ich kenn' meine Familie. Aber was hat er dir getan?«

»Das hat er mir getan, daß morgen ein Wagenlenker mit einem gebrochenen Arm kommt, und wir ... wir sollen ein Kind zusammen haben, und dieses Kind ist schon verkauft, und ... und ...« Sie schlang dem jungen Mann die Arme um den Hals und jammerte: »Und du mußt mir helfen. Hörst du, du mußt mir helfen. Ich glaube, ich sterbe, wenn das geschieht.«

Marcellus war erst zwanzig Jahr alt. Er drückte das Mädchen an sich und streichelte ihr den Kopf. Er war gänzlich verwirrt und wußte nicht, was er anfangen solle. »Das wird nicht geschehen!« sagte er fest. Sie sah ihn fragend an, wendete aber den Blick wieder ab. Das klang mehr nach einer heroischen Theorie als nach einem Gelübde.

»Willst du mich fortschaffen?«

Das weckte ihn gleichsam, er wurde wieder nüchtern und fragte: »Fort? Wohin sollte ich dich bringen ... so ganz ohne Vorbereitung! Aber es gibt wohl noch andere Auswege.«

»Und welche wären das?«

»Zuerst könnte ich ja einmal mit meiner Großmutter reden.«

»Ach, die Großmutter mischt sich da niemals hinein.«

»Wenn es nicht anders geht, muß ich eben einmal ernstlich mit dem Alten reden ...«

»Pflegt es was zu nützen, wenn du ernstlich mit ihm redest?«

»Schließlich könnte ich ja in den Zirkus gehen und mit dem Wagenlenker reden. Es muß doch eine Einigung möglich sein. Auf jeden Fall ein Aufschub.«

»Und wenn auch das nichts nützt?«

Er zögerte. Auf einmal kam ihm ein Gedanke, der seinem Sinn für Dramatik zusagte. »Im schlimmsten Falle könnten wir zusammen sterben.«

Sie richtete sich auf und machte sich von ihm frei. Dann warf sie den Kopf zurück und sagte entschieden: »Ich will nicht sterben – jetzt noch nicht. Ich will leben und kleine Kinder bekommen und glücklich sein. Warum soll ich sterben? Weil dein Vater verrückt geworden ist?«

»Wir wollen der Aphrodite morgen ein Opfer bringen«, schlug Marcellus vor.

»Ja – und Isis und Kybele!« rief das Mädchen wütend. »Und wir wollen Christus anrufen ... und uns auf die Art vorbereiten, diesen Maës zu empfangen.«

»Wenn ich nur Geld hätte!« seufzte er. »Aber ich habe nur Schulden. Mit Geld läßt sich alles ordnen.«

»Ich habe zwei Smaragden!« lachte sie, »... von täuschend gefärbtem Kristall, aber doch nicht so täuschend, daß sie ein Juwelier für echt nimmt.«

»Und ich habe ... wart einmal!« Er wendete sich ab und zog ein Amulett hervor. Es war ein Goldplättchen an einer dünnen Kette. Auf der Platte war ein halbverwischtes »Si me amas« eingraviert. Er küßte das Amulett und hängte es Ruth um den Hals. »Trag dies, wenn du mich liebst!« sagte er.

Und während er ihr alles das zuflüsterte, was einst der erste Mann der ersten Frau auch zugeflüstert hat, verreckte in einem engen Hühnerstall drunten auf dem Hof ein Huhn.


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