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Siebentes Kapitel

Wenn Gewöhnung durch viele Geschlechter hindurch gegen eine Krankheit immun machen kann, hätten die Römer gegen Furcht immun sein müssen, denn durch Jahrhunderte hatte Furcht jeder Art dieses Volk von Unterdrückern geplagt. Als ein nur zu getreuer Kamerad trabte sie in der Wagenspur triumphierender Feldherrn. Als ein allzu gehorsames Echo scholl sie zitternd hinter den selbstbewußten Volksreden der Konsuln her. Als ein nicht abzuschüttelnder Schatten wuchs sie genau in dem Verhältnis, wie der Reichtum der Emporkömmlinge an Umfang zunahm. Es war eine übertriebene Furcht – Furcht für das Leben, wie sie aus Neid und Gewalttat geboren wird, Furcht vor den Mitbewerbern um hohe Ämter und vor der Gier der Vorgesetzten. Und da war die zitternde Furcht der kleinen Leute vor der Willkür ihrer Herren. Doch gemeinsam war es all dieser Furcht, daß sie – wenn sie zu schwer drückte – dem Befürchteten durch einen brutalen Ausfall zuvorkommen konnte. Der Kaiser konnte die Verschworenen vernichten, wenn diese nicht vorher den Kaiser vernichteten, und der Reiche konnte den, der ihm nach dem Leben trachtete, aus dem Weg räumen, ehe der Mord vollbracht war. Selbst Sklaven konnten sich gegen ihren Herrn erheben und ihm die Gurgel abschneiden, wenn es nötig wurde. Es war eine Furcht, die dem Tatkräftigen Möglichkeiten bot.

Aber eines Morgens hielt eine neue Art von Furcht ihren Einzug in Rom – eine über alle kommende, demokratische Furcht, die keinen Unterschied zwischen Mutigen und Feigen machte und auch dem Verzweifeltsten kein Ziel für einen Ausfall bot. Gleich einem Pferd, das durch den Startstrich zurückgehalten wird, mußte sich die Entschlossenheit einspannen lassen. Gleich einem Blinden, der im Finstern tappt, mußte der Mut umhertappen. Gleich einer Herde, die das Kreisen des Wolfes um ihre Schar während der Nacht wahrgenommen hat, mußten sich die Römer zusammendrängen und den Angriff abwehren. Und es kam: Gleich Lämmern, die zappelnd einzeln aus der Herde gerissen werden, wurden die Römer einzeln geholt – dann mehrere miteinander – und beständig mehr.

Also überflutete der Jammer der Pest die goldene und lachende Stadt.

 

Alle Epidemien, die Rom gemartert haben, ob sie nun körperlicher oder geistiger Art waren, hatten ihren Ursprung im Osten, und diese Pest machte keine Ausnahme davon. In Seleucia hatte das übermütige römische Heer sie als Saldoausgleich von Seiten geschlagener und gedemütigter Völker entgegengenommen, und diese Fäulnis strahlte jetzt unaufhörlich aus und lähmte jede menschliche Gemeinschaft, die sie auf ihrem Wege traf. Die Legionen bildeten eine lange hungrige Larve, die langsam auf Rom zukroch. Niemals war ein siegreiches Heer geschlagener heimgekehrt, und niemals waren römische Truppen mit größerer Gleichgültigkeit dem Triumph entgegengeeilt als die Legionen in dem Lager, das an diesem Morgen noch ungefähr sieben römische Meilen von der Siebenhügelstadt entfernt war.

Dicht vor dem Lager draußen lag ein Mann und schlief. Es lagen noch viele andere da und schliefen: Marketender, Handelsleute, Gauner und Soldatenweiber; aber dieser Mann war einzigartig in der Häßlichkeit seines Gesichts. Es schien aus Erhöhungen und Vertiefungen gebildet, die weißgerändert und nässend waren; es war so fürchterlich mißhandelt, daß man vergebens nach menschlichen Zügen forschte. Darüber starrte in Büscheln sparsames weißes Haar, gleich dem eines räudigen Hundes.

Mit dem Kopf auf dem Leibe dieser Ungestalt lag ein Junge von sechs Jahren und blinzelte mit zwei blanken schwarzen Augen in das schwachgefärbte Tagesgrauen hinein. Durch die Erde und des Mannes Körper hindurch drangen allerlei Laute, die er sich merkte: das Scharren der Pferde im Stallpark, die Schritte der Wache in ihren genagelten Stiefeln, die kurzen Kommandorufe der Inspektion und von da und dort die Stimmen einzelner Menschen, die miteinander sprachen, oder die von Kranken, die jammerten. Der Junge hatte sich an das alles gewöhnt, seit er und sein Begleiter sich ein wenig nördlich von Brundisium an den Marodeurzug angeschlossen hatten. Er hörte einen Hund knurren und wußte, daß es die Hündin des Mithraspriesters Felix war. Er hörte ein Kind weinen und sagte sich selbst, das sei das Soldatenkind, dem er am Tag vorher ohne Erfolg ein Auge in den Kopf zu drücken versucht hatte. Das Ganze war friedlich und heimelig – man könnte beinahe sagen behaglich.

Plötzlich wurde sein kleines dunkelgebräuntes Gesicht gespannt und er hell wach, und im nächsten Augenblick hatte sein Körper eine Bewegung gemacht, daß er auf den Knien lag; er schüttelte die schlafende Gestalt und rief eifrig:

»Potiphar!«

»Potiphar!!«

»Po–ti–phar!!!«

Die Stimme, die diese Worte bildete, klang sehr bestimmt und bei der letzten Wiederholung sehr verdrossen. Als sie sich zum viertenmal erhob, war der Entschluß zu erkennen, nun müsse die Sache zu Ende kommen, und sie schallte wie eine Posaune des Gerichts, die sich ein Pfeiferjunge vor den Mund hält:

»Po–ti–phar!!!«

Eine breiige Stimme in der Nähe bat um Ruhe; aber sonst geschah nichts, und es wäre auch nichts geschehen, selbst wenn über dem Kopf des Schlafenden die Trompeten von Jericho geblasen worden wären. Er wachte nicht auf, ehe seine Zeit, zu erwachen, gekommen war. Er hätte trotz der Trompeten denselben bleischweren Schlaf geschlafen, der für ihn ein Geschenk der gnädigen Vorsehung war. Seine Brust hätte sich ebenso unangefochten gehoben und gesenkt, gehoben und gesenkt, während die Luft sich gleichsam widerstrebend den Weg hinein und heraus durch das harte rechte Nasenloch bohrte. Die schweren Lider hätten sich auf dieselbe Art über seine Augen geklebt, als wären sie nie wieder zu trennen. Der ganze Kopf – dieser fürchterliche Kopf, von dem sich die Leute von Ekel erfüllt oder lächelnd abwendeten – hätte in seinem Schlaf jeglichen Lärmes gespottet, wie er im Wachen jeder Furcht und jeder Verachtung spottete. Denn dieser Mann war vom Tode gezeichnet wie ein Opfertier.

Gerade als der Junge die Hoffnung aufgegeben und sich umgedreht hatte, einen selbständigen Zug anzutreten, erwachte der Mann doch, weil er am Ersticken war. Es begann mit einem Ruck in Potiphars herabhängendem linken Arm und einem gurgelnden Husten. Darauf folgte ein Zittern, das durch den mageren Körper rann – gleich dem Zittern eines Pferdes, das damit sein Fell wieder in Ordnung bringt, wenn ihm die Sielen abgenommen sind. Zugleich blickten zwei müde Augen ins Weite, und eine rauhe, aber freundliche Stimme fragte:

»Jon, bist du da, Junge?«

Der Junge wandte sich rasch um und antwortete: »Ja, Potiphar! Hier bin ich.«

»Wie spät mag es sein?«

»Frühstückszeit, das Lager ist wach.«

»Schon!« rief der Mann verdrießlich. Er reckte sich, stand dann auf und wankte einige Schritte vorwärts, bis er endlich fest auf den Füßen stand.

»Himmel, was bin ich matt!« klagte er. Danach machte er Feuer und begann das Essen herzurichten.

Vom Lager her erscholl indessen das vierfache Bellen der »Buccina«, des schneckenförmig gewundenen Waldhorns, dessen Aufgabe es war, zum Ausmarsch gegen den Feind zu blasen, zu verkünden, daß ein Soldat wegen eines Verbrechens den Tod erleiden müsse, oder – wie jetzt eben – die Reveillehörner zu alarmieren. Es hatte kaum fertig gebellt, als die Tuben dumpfen Tones in den Gassen des Fußvolkes zu kläffen anfingen, und dann kam die Trompete der Reiterei, »Lituus« genannt, ein seltsames Instrument, das am Ende eine scharfe Biegung hatte und schlimmer zeterte als das Unglück. Endlich kam das kleine Hagelwetter der Trommeln, womit die Artillerie der Welt verkündigte, daß sie wie gewöhnlich zu spät dran sei.

Jon hatte mit den Füßen einen Haufen Stroh von dem Lager seines Begleiters unter sich gescharrt, er saß jetzt mit untergeschlagenen Beinen da und starrte wie hypnotisiert in das Lager hinein, dessen lederne Zelte sich allmählich aus der Dunkelheit herausarbeiteten. Er wußte, die Soldaten waren jetzt damit beschäftigt, ihre Pferde zu striegeln und die Morgenmahlzeit zuzubereiten; aber am meisten dachte er darüber nach, wie es wohl seinem neuen Freunde gehe, dem Zenturio, auf dessen Fürsprache hin der kranke Mann die Erlaubnis bekommen hatte, mit dem Train zu fahren. Ohne diese Hilfe lägen sie nun wohl irgendwo dort draußen, wo die Appische Straße wie eine Lanze in die Albaner Berge hineinsticht. Und nun war das vorbei.

»Glaubst du, daß uns Sergius Felix vergißt, wenn wir nach Rom kommen?« fragte Jon, ohne sich nach Pedanius umzuwenden, der einer Ohnmacht nahe war, weil die Geschwüre seine Luftröhre halb verstopften. Pedanius stöhnte vor Schmerzen und Ermattung, bestrebte sich aber dennoch, freundlich zu antworten.

»Dich nicht, mein kleiner Prinz«, sagte er. »Wie sollte er dich vergessen können! Sicherlich sucht er dich auf und erzählt dir allerlei, und vielleicht macht er dich einmal zu einem großen Feldherrn, der mit vier Schimmeln vom Marsfeld durch den Triumphbogen zum Kapitol fährt.«

»Potiphar! Bleiben wir in Rom, wenn du wieder gesund bist?« fragte der Junge.

»Du wenigstens wirst wohl vorläufig in Rom bleiben. Du sollst Griechisch lernen und Fechten und vielleicht Reiten und Beredsamkeit.«

Er rührte im Topf herum, dessen Wasser ins Kochen gekommen war und auf den Zusatz von Salz und Mehl wartete, um ein Brei werden zu können; aber der Junge ließ sich nicht narren. Er fragte: »Ja, aber wo wirst denn du sein, Potiphar?«

»Bei Proserpina!« antwortete Pedanius leise.

Vom Lager her war deutlich ein Chor zu vernehmen, der das neueste Lagerlied brummte. Es war ein roher und liederlicher Gesang, dessen Strophen alle mit den Worten anfingen: Hodie mihi – cras tibi! Heute mir – morgen dir! Das Lied war von einem an der Pest Sterbenden nach dem Blutbad von Ktesiphon gedichtet worden, und es erklang jeden Morgen als grauenvolle Hymne, wenn die nächtliche Ernte an Toten verbrannt wurde. Aber Jon hörte nicht darauf. Er zankte mit seinem Begleiter.

»Bei Proserpina! sagst du wieder. Aber ich habe dir doch gesagt, sobald wir nach Rom kommen, hole ich dir den tüchtigsten Arzt von der ganzen Welt, und der wird dich schon wieder gesund machen.«

Pedanius, der im Lauf der Jahre auf viele merkwürdige Namen gehört hatte, sagte langsam: »Du kleiner Freund der Morgenröte! Sechs Jahre sind wir nun zusammen gewandert, und ich habe dir einige Male eine hilfreiche Hand gereicht, wenn es not tat. Jetzt lehnst du dich an eine stürzende Mauer. Mir träumte heut nacht, ich stünde mitten in einer Feuersbrunst und entdeckte, daß ich Zähne aus Wachs hätte. Du weißt, ich habe dich's gelehrt, was das bedeutet.«

»Tod!« sagte der Junge beinahe flüsternd.

»Tod – ja! Was Jupiter bestimmt hat, dürfen wir nicht tadeln. Hodie mihi – cras tibi! Wer sind wir, daß wir des Höchsten Willen bemängeln sollten!«

»Und wer wird mir Sesambrot und Olivenbrot und Brot mit gebackenem Käse geben, wenn du nicht mehr da bist?«

Pedanius reichte Jon eine Muschelschale, und gemeinsam aßen sie den Brei aus dem Tontopf, in dem er gekocht war.

»Die Leute in Rom werden wetteifern, dir Essen und vornehme Kleider und alles, was du brauchst, zu bringen.«

»Aber einen Arzt hole ich doch!« nickte Jon. »Den besten von der ganzen Welt.«

»Der beste ist immer der Leibarzt des Kaisers!« sagte Pedanius mit einem schwachen Lächeln. »Und zum Kaiser wagst du doch wohl nicht zu gehen?«

»Löwen greifen das Vieh an, verschonen aber die Schmetterlinge!« zitierte Jon. »Ich hole den Leibarzt des Kaisers.«

Nachdem sie den Brei verzehrt hatten, und ehe Pedanius abseits ging, um sich der Speise, wie es die Krankheit verlangte, wieder zu entledigen, reichte er Jon einen kleinen Beutel mit gelben Pflaumen und Gurken. Das war Jon die tägliche Belohnung dafür, daß er als Vorbeugungsmittel gegen die Pest Essigwasser trank. Jon aß regelmäßig die Früchte und spuckte die Flüssigkeit aus. So auch jetzt. Und während er aß, überlegte er, ob dieser Traum auch einer von den echten gewesen sei – von den unbedingt wahren, die man hat, wenn man sich Lorbeerblätter unter das Kopfkissen legt. Es richtete ihn einigermaßen auf, als er bei sich feststellte, wie unwahrscheinlich es sei, daß Pedanius imstande gewesen sein sollte, sich hier in der nächsten Umgebung Lorbeerblätter zu verschaffen.

Ein großer bärtiger, einäugiger zerlumpter Buckliger kam daher und setzte sich neben Jon. Der Junge kannte ihn gut, ja rechnete ihn zu seinem intimsten Freundeskreis. Er war bei den Marodeuren unter dem Namen »Tausendschön« bekannt und hatte eine lange Reihe von Tugenden, aber nur einen Fehler, von dem zu reden es sich der Mühe lohnt, nämlich eine fließende Nase. Wegen des bevorstehenden Einzugs in Rom hatte er sich mit einem Kranz von wildem Thymian und weißen Veilchen geschmückt, was ihm ein jugendliches, ja beinahe geckenhaftes Aussehen gab.

Er und Jon kamen gut miteinander aus; denn obgleich seine militärische Sachkenntnis unerschütterlich zu sein schien, deuchte er sich doch nicht zu erhaben, auf des Jungen Erzählungen zu lauschen, die in der Regel frisch aus allerlei trüben Quellen im Lager bezogen waren. Jon erzählte eine – wie er glaubte – einzig dastehende Geschichte von dem Heldenmut des Sergius Felix bei der Einnahme von Dausara. In Wirklichkeit war die Geschichte typisch, und der Trommelschläger, von dem aus sie zu Jon hinübergesickert war, erzählte sie ungefähr folgendermaßen:

»Sie formierten einen ›Schweinskopf‹. Vornedran waren Sergius Felix und zwanzig andere Zenturionen und ebensoviel Triarier; und darunter war keiner, der nicht mit Narben und einem Schorf von frischen Wunden herumlief. Niemand sagte einen Ton, als die Formation ihren Rüssel in die vorderste feindliche Legion bohrte. Das ging ganz ruhig vor sich, die Bewegung stockte kaum einen Augenblick. Wie ein Schwert mit gehärteter Spitze fuhren sie dem Feind in die Kaldaunen. Kaum ein Laut war zu hören. Selbst die Sterbenden schienen vor Spannung den Atem anzuhalten. Wenigstens machte der ganze römische Keil nicht mehr Geräusch als ... sagen wir, ein Adler, der ein Aas öffnet. Nur so ein Stöhnen ... Es ging fast so her wie im Manöver ... Was von dem feindlichen Fußvolk am Leben blieb, trampelte dann ihre eigene Reiterei nieder, als sie eingesetzt wurde.«

Tausendschön wußte einen kleinen grausigen Zug von einer näher bezeichneten Kohorte, die als eine kleine gymnastische Morgenübung einen »Globus« gebildet und so den Feind zu Wurstfleisch zerhackt hatte. Alle Geschichten bewegten sich auf dieser Ebene. Entweder bildete man einen Schweinskopf oder einen Globus, oder wie der strategische Fachausdruck nun lautete, und es endete immer damit, daß die Feinde »zu Wurstfleisch zerhackt«, »ihre Kutteln zum Pastetenbäcker geschickt« oder auf andere Weise »molestiert« wurden.

Jon wußte noch eine dritte Geschichte. Aber noch bevor er recht drin war, begann der Aufbruch des Lagers, der notwendigerweise sowohl von Jon als auch von Tausendschön überwacht werden mußte. Pedanius, der blauweiß im Gesicht einherschwankte, fürchterlich schwer atmend und mit zitternden Gliedern, schloß sich ihnen an, wobei er sich auf die Schulter des Jungen stützte. Zusammen bestiegen sie eine kleine Anhöhe, von der aus sie in großen Linien die Entwicklung der Sache verfolgen konnten.

Der Aufbruch wurde dadurch eingeleitet, daß das Vexillum – die rote Fahne – vor dem Zelt des Feldherrn gehißt wurde, während zugleich die Buccina das Aufbruchssignal »Classicum« bellte. Das Signal bestand aus drei Tönen, die viermal wiederholt wurden, und ehe noch das Echo verhallt war, rissen die Soldaten bereits die Zelte nieder. Zuerst das des Feldherrn, nachher die anderen in der festgesetzten Reihenfolge. In unmittelbarem Zusammenhang damit packten die Soldaten ihre eigenen Sachen. Beim zweiten Signal wurden Wagen und Packtiere beladen. Beim dritten Signal stießen die Soldaten Marschrufe aus und nahmen die befohlene Marschordnung ein. In einer Stunde mußte das Lager geräumt sein.

Pedanius und Jon wanderten hinunter, ihre Töpfe und sonstigen Gegenstände zusammenzupacken, und Tausendschön wollte mit bei der Vorhut sein. Sie trennten sich mit einem: »Auf Wiedersehen in Rom!«

 

Anderthalb Kilometer straßaufwärts lagen zwei Hügel, um die herum die Straße zwischen Rom und den Albaner Bergen die einzige Biegung machte. In diesen Hügeln ruhte die Asche von zweien der Brüder aus dem Geschlecht der Horatier, die unter Tullus Hostilius den Streit zwischen Rom und Albalonga ausgefochten hatten. Hier war auch die Stelle, wo der Kampf zwischen den berühmten Brüdern lange Zeit unentschieden tobte. Man weiß, daß einen Augenblick alles verloren schien; – die beiden Horatier waren gefallen, und der dritte Bruder, der jetzt allein im Kampf gegen die drei leichtverwundeten Curiatier stand, ergriff die Flucht. Schon hallte die Gegend von dem Feldgeschrei der Albalonger wider, und der alte Horatius verfluchte seinen Sohn. Doch dessen Flucht war nur eine List, durch die Publius Horatius seine Gegner dazu verlocken wollte, ihn einzeln anzugreifen. Das gelang. Der schlaue Römer griff seine Feinde einen nach dem andern an, und die Strahlen der untergehenden Sonne beleuchteten – wie Martial sich ausdrückt – das heilige Feld der Horatier mit den Leichen von drei Albalongern, während Horatius siegreich nach Rom zurückkehrte und an der Porta Capena die Huldigung des Volkes entgegennahm.

Auf dem größten dieser beiden Hügel hatten sich der Vogelhändler Verecundus und der Kioskbesitzer Fabius einen Balkonplatz eingerichtet, von dem aus sie den Betrieb auf der Landstraße beobachten konnten. Müde von dem morgendlichen Spaziergang, machten sie sich unverweilt an ihren Mundvorrat, dessen wesentliche Bestandteile Hirsebrot, Rettiche und Schweinsfüße waren. Eine Flasche mit unverdünntem Wein wanderte von dem einen zu dem andern und verschönte das frugale Mahl. Seit der Unterredung in dem hinteren Lokal des Verecundus war ihnen das Heer eingefallen, dessen Heimkehr erwartet wurde, und von diesem Platz aus hatten sie einen ausgezeichneten, wenn auch etwas schematischen Überblick über das aufbrechende Lager. Zu Anfang war alles in anscheinend hoffnungsloser Verwirrung; später ließ sich ein einfaches System in den Dingen vermuten. Dieses schien mit Hilfe von einem Dutzend Kavalleristen zustande zu kommen, die, auf den Rücken ihrer Pferde stehend, mit verschiedenfarbigen Flaggen jonglierten. In Wirklichkeit ging der Aufbruch in rasendem Tempo vor sich, und nach kurzer Zeit waren die Lagergassen nach Truppenteilen, Farben und Rang geordnet und bereit, die Kolonnenreihe gemäß der Breite der Straße zu bilden.

Einige Zeit, bevor das Marschsignal gegeben wurde, sah man die ersten Plänkler der Marodeure und Lagerläuse den Marsch nach Rom antreten. Es waren Leute in sehr verschiedenen Vermögensumständen – von mehr als halbnackten Bettlern an bis zu kleinen Handelsfürsten mit Sklaven und großem Transportapparat. Die meisten hatten es recht eilig, in die Stadt zu kommen; aber einige bestiegen die umliegenden Anhöhen, noch einen letzten Blick auf die rauhen Legionen zu werfen. Andere krochen herauf und schlossen sich ohne weiteres Verecundus und Fabius an, über die sie ihre Kenntnisse über Feldherrn und Krieger ausgossen. Und die beiden Nachbarn lauschten aufmerksam, um womöglich einen Fingerzeig für ihr Suchen zu bekommen. Die Offenherzigkeit der Fremden erwiderten sie damit, daß auch sie kein Hehl aus ihrem Vorhaben machten, sondern ausführlich von dem erwarteten Vertreter des satanischen Prinzips erzählten.

Einer der Neuangekommenen, ein dicker Mann, der mit einem so gut wie unfehlbaren Mittel gegen die böse Seuche handelte, beurteilte die Aussicht, ein bestimmtes Wesen mit den in Frage kommenden Eigenschaften ausfindig zu machen, ziemlich trüb. Er philosophierte: »Über ein Kleines kommen acht Legionen in scharfem Trab zu unsern Füßen vorbeigerasselt, oder was man so fünf Legionen nennt. Wenn wir jede Legion zu fünftausend Mann berechnen – was freilich nicht mehr zutrifft –, sind das vierzigtausend, und unter diesen vierzigtausend gibt es vielleicht nicht zehn, auf die deine Beschreibung nicht paßte. Sie sind sicherlich ein Wachsfigurenkabinett der härtestgesottenen Teufel, die jemals zu einem römischen Heer zusammengestoppelt wurden.«

»Möchte wissen, ob nicht Avidius Cassius es sein könnte!« überlegte ein anderer, und der bloße Name dieses Generals rief eine Woge von Bemerkungen hervor.

»Er ist jedenfalls ein reiner Oberteufel!«

»Er ist der beste Soldat, der jemals an der Spitze einer römischen Division gestanden hat!«

»Er ist eine recht harte Faust!«

Fabius fragte unschuldig: »Ist er denn wirklich so schlimm?«

»Ob er so schlimm ist!« rief der Mann mit der Patentmedizin. »Frag ein zweijähriges Soldatenkind, wer uns die Pest aufgeladen hat! ›Avidius Cassius selbstverständlich!‹ sagt es dir. Aber du bist wohl nicht mit im Krieg gewesen. Cassius und seine Kumpane haben in der Gegend am Mittellauf des Euphrat und im nördlichen Mesopotamien wie die Ochsen auf der Tenne herumgetrampelt und nur zu ihrem Vergnügen darauflos geschlachtet. Das war zu der Zeit, wo er einen neuen König über Groß-Armenien einsetzte und nachher Dausara, Edessa und Nisibis stürmte. Aber natürlich war Cassius mit solch einer Kleinigkeit nicht zu sättigen. Dann machte er noch einen Spaziergang an den unteren Tigris und bekam Einlaß in Seleucia und Ktesiphon, wofür er schwur, die Städte zu schonen. Aber als der tolle Kerl, der er ist, jawohl! Kaum war der letzte Schwanz des Heeres in den Mauern, als er auf die bekannte Manier loslegte. Das ist noch kein Jahr her; aber die mit dabeigewesen sind, sagen, ihretwegen könnte es hundert Jahre her sein, und sie hätten doch nichts von dem vergessen, was sie dort erlebten. Avidius Cassius aber hat vermutlich das meiste schon vergessen: nachdem sie vierhunderttausend Leuten den Bauch aufgeschlitzt hatten, war niemand mehr da, der die übrigen noch zählen mochte. Nicht wahr: diese ruhige Fresse mit der Zutrauen weckenden, freundlichen Stimme: ›Wir wollen euch ja nichts Böses tun! Schließt ruhig eure Tore auf!‹ Und dann eine gemütliche kleine Portion Wurstfleisch von viermalhunderttausend Menschen! Wenn Cassius kein Teufel von Format ist, dann weiß ich beim Henker nicht, wer das Format dazu haben sollte.«

»Aber habt ihr euch die Pest dort geholt?« fragte Verecundus, der langsam nicht mehr abgeneigt war, der Theorie beizutreten, daß Avidius Cassius der erwartete Antichrist sei.

»Die Pest – nein, die kam aus Babylon. Als ein Soldat unversehens einen goldenen Schrein im Tempel des Apollo öffnete, stieg daraus ein Pesthauch empor. Das war die Strafe! Cassius ist das natürlich gänzlich gleichgültig. Ihm kann nichts etwas anhaben: weder Schwert noch Pest noch Strick. Die Frau, die euch geweissagt hat, wußte schon, was sie tat.«

Hier mischte sich eine Stimme von hinten her in die Unterhaltung: »Ich habe es mit angesehen, wie er alte verdiente Soldaten strafte, die nichts anderes getan hatten, als daß sie in einem Frauenbad in Daphne gesehen worden waren. Sie wurden in einer Reihe an einen hundert Fuß langen Stamm gebunden, dieser dann aufgerichtet und Feuer darunter angezündet. Die untersten starben am Feuer, die in der Mitte am Rauch und die obersten am Schrecken. Er sagte selbst, er wolle den syrischen Legionen ihren Geschmack an warmen Bädern, Blumenkränzen und anderen Zärtlichkeiten schon austreiben.«

»Das könnte Pertinax auch getan haben«, meinte einer, der inzwischen erfahren hatte, wovon die Rede war.

»Der Kohlenbrenner! Niemals!« widersprachen mehrere Stimmen. »Er ist ein gewaltiger Soldat, aber es ist nichts Böses an ihm.«

»Oder Lucius Verus – der ist auch nicht zu schön dazu«, sagte die Stimme von vorher.

»Gott segne Kaiser Lucius!« warf Fabius fromm ein, und ein Dutzend Stimmen echote begeistert: »Jupiter segne den Kaiser!«

»Avidius Cassius nannte ihn einmal einen hohlköpfigen Bajazzo«, wurde nur so hingeworfen.

»Und Marcus Aurelius nannte er ein frommes altes Weib«, ergänzte der Mann mit der starken Arznei.

»Gott segne den Kaiser Marcus Aurelius!« wünschte Fabius loyal, und wieder gaben eine Menge Stimmen ihr Einverständnis damit zu erkennen; aber zugleich machte sich eine gewisse Gereiztheit über die verstockt prokaiserliche Gesinnung geltend, die der Kioskbesitzer an den Tag legte, und die Schar wurde dünner. Einige eilten wieder auf die Straße nach der Hauptstadt hinunter; aber die meisten lagerten sich in einiger Entfernung am Abhang des Hügels, um ja keine Einzelheit von dem Aufzuge zu verlieren, der sich jetzt im Sturmschritt näherte.

Der Medizinmann betrachtete die Truppen mißbilligend und brummte: »Doch ein starkes Stück, daß dieser Henker ein krankes Heer im schnellsten Geschwindschritt marschieren läßt!«

Und in der Tat kamen sie in der ersten Geschwindigkeit daher, das heißt, mit hundertachtunddreißig Schritt in der Minute. Beim normalen Marsch mit sechzig bis achtzig Pfund Gepäck wurden hundertundsiebzehn Schritt in der Minute zurückgelegt; aber aus Angst, daß die Pestkranken bei einem solchen Schlendertempo umfallen könnten, hatte Avidius Cassius den rascheren Marsch befohlen. Das Heer war nicht mehr eine Larve, die dem Stiel entlang dem fleischigen Blatte Rom entgegenkroch. Es war jetzt eine strahlende, blinkende vielfarbige Schlange, die sich zischend vorwärts schlängelte, die Lagerläuse und Marodeure weit zur Seite putschte und eine Kakophonie von Flüchen und reich wechselnden Schimpfworten erzeugte.

 

Es begann wie ein fernes, dumpfes Donnern, wuchs zu einem eintönigen Rollen an und gipfelte in einem stundenlangen ununterbrochenen Brüllen, das rasch abnahm, als die letzten Einheiten des Zuges, der Krümmung der Straße folgend, um die Zwillingshügel bogen. Es war ein wahres Gelage von Lärm, hervorgebracht durch das Klirren der Waffen und Gerätschaften, das Knirschen des Leders, den dumpfen Rädergesang der Wagen und das Stöhnen der Kranken. Aber den Grundton bildete der Hufschlag der hartbeschlagenen Kavallerie und der taktgemäß trommelnde Tritt der stark genagelten Infanteriestiefel. Das Tempo wurde angegeben durch Pauken, Tympanen und Flöten – sowohl den »dextra« genannten, die einen tiefen, als auch den »sinistra« genannten, die einen hohen Klang hatten.

An der Spitze ritt ein stattlicher, schöner Mann mit großem Bart. Die zusammengewachsenen Brauen gaben dem Gesicht ein täuschendes Gepräge von Kraft. Die Augen waren munter, und Haar und Bart waren mit Goldstaub gepudert. Er saß behaglich auf einer dicken seidenen Schabracke und kitzelte hie und da das Pferd mit den Fußspitzen. Die ganze Gestalt schien fortwährend einen Bericht darüber zu erstatten, wie königlich er sich langweilte. Das war Lucius Veras – nominell Feldherr und Mitkaiser. Er hatte zwei Hauptinteressen: Pferde und Wirtshäuser. Außerdem war er den Künsten ergeben, die sich mit Weibern und Würfeln ausüben lassen. Endlich machte er gern Verse, obgleich er in den letzten Jahren lieber Reden gehalten hatte. Es hieß indes von ihm, daß er ein besserer Redner als Dichter sei, was von Avidius Cassius dahin korrigiert wurde, daß er ein noch schlechterer Dichter als Redner sei. Er hatte zwei Lieblingsabneigungen: Staatskunst und Militärwesen. Es war ihm niemals gelungen, in einem von den beiden einen Sinn zu finden.

Hinter ihm ritten der alte geniale Feldherr Statius Priscus und der übrige Stab. Es waren kräftige, wetterharte Gestalten, ohne jeden Prunk. Diese Männer waren es, die die zerrüttete Mannszucht wiederhergestellt und eine so eiserne Disziplin eingeführt hatten, daß sie krasser selbst die Republik nicht gekannt hatte. Ihre Aufgabe war es, in den kommenden Jahren in allen Grenzmarken gegen die Feinde des römischen Reiches und gegen Götter und Naturkatastrophen zu kämpfen. Einzelnen unter ihnen ist es geglückt, den Kaiserthron zu besteigen, aber keiner ist eines friedlichen Todes gestorben. Auf ihre Schultern legte das Römerreich seine Lasten und seine Sünden; aber nur selten wurden sie durch Beweise der Dankbarkeit oder Achtung geehrt.

Zwei Männer des Stabes ritten außer der Reihe und lenkten ihre Pferde dem von den beiden Hügeln zu, auf dem sich die beiden Späher gelagert hatten.

Der Medizinmann hatte gerade noch Zeit zu flüstern: »Kein Wort von der Pest! Offiziell gibt es keine Pest – nur ein normales bißchen Krankheit!«, da waren die Pferde zu ihnen heraufgeklettert, und der eine Reiter stieg ab. Er war ein Mann mit dem typischen abweisenden Soldatenkopf – von jener Art Köpfen, die nichts verraten. Wenige Jahre später ist eine Stafette mit diesem Haupt unter dem Mantel zum Kaiser Marcus Aurelius geeilt. Der andere, der zu Pferde blieb, war eine plumpere und freundlichere Gestalt. Er sollte länger leben als jener, aber nicht glücklicher. Es stand in den Sternen geschrieben, daß er den Kaiserthron besteigen und bald darauf durch denselben Soldatenrat, der ihn erhoben hatte, fallen sollte. Der eine war Avidius Cassius, der andere Pertinax, ein Kohlenhändlersohn aus einem Flecken im Appenin. Der Medizinmann teilte das dem anderen flüsternd mit. Beide starrten unbewegt auf das vorüberhastende Heer hinunter, und die Soldaten richteten sich stramm auf, wenn ihre Blicke auf ihre Henker fielen. Aber die Blicke, die von der Straße zu der Anhöhe hinaufflogen, waren genau so voll Furcht und Haß, wie sie Vorgesetzten gegenüber sein mußten, die den gemeinen Mann im Heere mit Namen kannten, die den Soldaten wegen Desertion die Hände abhacken und sie ans Kreuz nageln ließen, nur weil sie ein Päckchen Schuhnägel gestohlen hatten.

Die Legionen, die über das dröhnende Besaltpflaster der Straße hinflitzten, waren nach der neuen Heeresordnung in Kappadozien, Phönizien, Syrien, Judäa und Arabien beheimatet, und sie waren von dort weggeführt worden zum Einsatz gegen die Barbarenstämme, die das Römerreich von Norden her bedrängten und es vor bangen Ahnungen zu Eis erstarren ließen. Es waren die Divisionen zwölf: Fulminata, fünfzehn: Apollinaris, drei: Gallica, vier: Scythia, sechzehn: Flavia, sechs: Ferrata, zehn: Fretensis und drei: Cyrenaica. Es war eine unvergleichliche Reinkultur von roher Kraft und diszipliniertem Banditengeist, ein wunderbares Muster von militärischem Mechanismus.

Kohorte folgte auf Kohorte nach Rang und Waffenart, und Division schloß sich an Division, jede aufgebaut aus ihrer genau festgehaltenen Kohortenanzahl von Lanzenträgern, von Ältesten, die Triarier genannt wurden, und von Kräftigsten, die Principes hießen. Auf je zehn Kohorten dieser Waffe waren zwölfhundert Veliten oder Plänkler gleich verteilt. Deren Aufgabe war es, das Heer gegen Hinterhalte zu sichern und in der Schlacht den Lanzenträgern und den Vollbewaffneten Waffen zu bringen. Sie selbst waren nur mit dem ovalen Schild aus Korbgeflecht und den drei Fuß langen Wurfpfeilen ausgerüstet, deren jeder sieben mit sich führte. Auf dem Kopf trugen sie einen mit Metall beschlagenen Lederhelm.

Der Stolz des Heeres waren aber jederzeit die vollbewaffneten Legionäre: die Veteranen und die Kräftigsten. Die meisten trugen den Metallhelm in einem Futteral vor der Brust, aber ein Teil hatte ihn aufgesetzt. Er schützte die Stirn durch einen breiten Schirm und wurde durch Schuppenketten festgehalten, die Wangen und Kinn bargen, während der Nacken durch einen schwer niederhängenden Pferdeschweif gedeckt wurde. Oben war er mit ellenlangen schwarzen und roten Federn geschmückt. Der Brustharnisch bestand aus zusammengefügten Metallplatten, die durch gepanzerte Lederriemen um Brust und Schultern festgemacht waren, und die Beinschiene war eine beschlagene Gamasche, die das rechte Bein schützte. Das kurze, zweischneidige spanische Schwert hing im Wehrgehenk an der rechten Seite – nur die Befehlshaber trugen es in einem Bandelier an der linken Seite. Der Schild hing an seiner Schlinge über der linken Schulter. In der rechten Hand hielt der Soldat seine beiden vierkantigen Wurfspieße; mit der Linken trug er an einer geschulterten Gabel seinen persönlichen Besitz wie Kochgeschirr, Kornmühle und Brotbeutel, den Rücken belasteten Palisadenpfähle und Schanzzeug samt einer Ledertasche mit Proviant für ungefähr vierzehn Tage. Mit diesem Gepäck und von der Pest gepeinigt und durch schlechte Pflege niedergedrückt, war er imstande, am Tag bis zu vierundvierzig Kilometer im Eilmarsch zurückzulegen. Und doch blieb ihm noch Zeit, die Luft mit liederlichen Versen und zügellosem Spott zu würzen. Auf ein paar hunderttausend Mann von dieser Art beruhte die Herrlichkeit Roms.

Von der ersten Kohorte der Legion zwölf: Fulminata bis zur letzten in der arabischen Legion drei: Cyrenaica war das Heer ein Atemzug und ein Fußtritt, geleitet von der Kavallerie, die in leichtem Trab zu beiden Seiten die Formationen des Fußvolkes eskortierte. Zuerst kamen die Numidier und anderes Vasallenvolk, einige rittlings, einige seitlings sitzend, noch andere auf ihren nackten, mageren Pferden ohne Zügel – schlafend. Ihnen folgte provinziale und rein römische Reiterei in Helm und Harnisch mit kleinen runden Schilden und langen geraden Schwertern, mit der an beiden Enden Spitzen aufweisenden griechischen Lanze und den drei in einem Köcher verwahrten Wurfspießen. Diese Reiter saßen stramm und schwer auf Decken von Löwen- oder Pantherfell, und wenn einer von ihnen vor Krankheit oder Ermattung vom Pferd fiel, stolperte er daneben her, bis er an einen der Steigsteine kam, die sich längs des Weges befanden; oder einer der Veliten legte sich auf Sklavenart als Auftritt neben das Pferd.

Unaufhörlich wälzte sich das Heer weiter, mit der Artillerie als Schluß jeder Division: den demontierten Ballisten, deren Aufgabe es war, schwere Steine, Balken, glühenden Sand und Pech tausend Schritt weit zu schleudern, und den Katapulten, die als große Armbrüste auf mechanischem Wege gespannt wurden und Pfeile und Wurfwaffen auf dieselbe Entfernung schossen. Dazu gehörte in jeder Division die leichte Feldartillerie, die aus fünfundsechzig Carro-Ballisten mit je elf Mann Bedienung und zehn Onagern bestand, die von Mauleseln und Ochsenwagen befördert wurden. Nur die Vorratswagen und Lasttiere des eigentlichen Trains, beladen mit Geschütz, der Intendantur und dem Sanitätskorps, leicht kenntlich an den Mützen mit dem Äskulapstab aus Bronze, samt der Priesterschaft für den Mithrasdienst und den Marsdienst mit ihren Heiligtümern auf vierräderigen Wagen, kamen in einer geschlossenen Reihe daher und bildeten den etwas schlotterigen Schwanz des Heereskörpers.

So passierten die acht Legionen Revue vor Avidius Cassius, dem Gehaßten und Bewunderten, dem Manne, dessen Wille das Heer zügelte, und dessen Geist es mit Feuer und Kraft erfüllte. Wie die einzelnen Teile heranmarschierten, wurden die lorbeer- und federgeschmückten Adler der Legionen grüßend gegen ihn erhoben, und ihre festlich bunten kleinen Tücher flatterten im Winde. Die Fahnenträger, deren Helme unter Bären- und Löwenfellen versteckt waren, die keine Wurfwaffen trugen, und deren Brust nur mit einem Halbpanzer gedeckt war, machten die spitzen Stangen aus den Tragriemen frei und hoben die Adler, die zerrissene Tiere oder Donnerkeile in den Klauen hielten, hoch dem Hügel entgegen, wo er stand. Ihnen folgten die Fahnenträger der Kohorten, die Kaiserbilder und die Tafeln der Ritter mit den Nummern der Alae, und als das Ärarium – die Heereskasse – in ihrer transportabeln Kapelle vorbeirumpelte, salutierte die berittene Wache mit einem donnernden »Io!« Sonst aber marschierte das Heer schweigend dahin, von dem gemeinen Mann und den Zeltabteilungskorporalen an bis zu den Zenturionen mit ihren Stöcken aus Rebholz. Und schließlich war es so weit, daß die Männer auf dem Hügel den letzten Rest des Lagers in dem gleichmäßig hingleitenden Faden auf der Straße dahinziehen sahen. Die Legion sechs: Ferrata verschwand um die Wegbiegung, und die unübertreffliche Legion zehn: Fretensis marschierte vorbei. Kein Korps – nicht einmal die Lieblinge des Avidius Cassius in der Legion drei: Gallica – besaß einen solchen Glanz von Auszeichnungen wie diese. Da waren Dutzende von Männern mit den goldenen Mauerzinnen oder der ebenfalls goldenen Lagerkrone, die einem Kranz von Palisaden glich. Da waren Hunderte von Männern, die die Auszeichnung der »hasta pura« hatten, einen silbernen Lanzenschaft, der neben dem Helmfutteral über die Brust herunterhing, und die Reiter oder deren Pferde in dieser Division strahlten von Brustgehängen, als wären diese ein reglementmäßiger Teil der Uniform. Und unübersehbar war die Menge derer, die silberne Armspangen oder kleine rote Fahnen trugen.

Die zwei Generale hatten bis jetzt geschwiegen. Doch wie aus einem Traum erwachend, hob Avidius Cassius nun den Kopf und schaute sich um. Als sein Blick auf die drei Zivilisten fiel, winkte er dem Medizinmann, rief ihn bei Namen und befahl ihm, als er herbeigekommen war, sich neben das Pferd zu hocken. Und der Mann ließ sich gehorsam auf Hände und Knie nieder, worauf Avidius Cassius den Fuß auf seinen Rücken setzte und sich aufs Pferd schwang; die beiden Reiter lenkten nun ihre Pferde seitlich den Hang hinunter und galoppierten dann die Straße entlang.

»Habt ihr gehört: er hat mich gekannt?« fragte der Fremde, als er hinkend zu den beiden Freunden zurückkam.

»Ich habe gesehen, daß er dir einen Fußtritt gab«, antwortete Fabius spitzig.

»So, das hast du gesehen? Ja, beim Jupiter! Sein Ruf ist schlimm; aber er gehört zu den seltenen Menschen, die noch schlimmer sind als ihr Ruf. Meinst du nicht, er könnte der sein, den ihr sucht?«

Fabius schaute Verecundus und Verecundus schaute Fabius an.

»Ja und nein«, sagte Fabius zögernd.

»Aber mehr nein«, meinte Verecundus. »Priscilla hat gesagt, er wäre so leicht zu erkennen wie ein Drache, der einem in den Weg läuft. Und dem Aussehen nach könnte es ebensogut der andere sein – Pertinax, oder wer es war.«

»Ich verbürge mich für Pertinax!« erwiderte der Fremde etwas verärgert. »Er ist schlecht und recht Soldat und nichts Schlimmeres. Übrigens ist es eure Sache, ob ihr euch meine Anweisung dienen lassen wollt oder nicht. Vielleicht ist all euer Geschwätz von dem Weltenschöpfer nichts als Unsinn und Erfindung. Jedenfalls will ich mit euch nicht noch mehr Zeit vertun.«

Unten auf der Straße wurde die letzte Division jetzt durch einen malerischen Aufzug von Kriegsgefangenen aus dem fernen Osten abgelöst. Besonders in die Augen fallend war ein Trupp Schauspieler zu Pferde, mit einem gewissen Maximin, der sich Paris nannte, und Agrippus, mit dem Zunamen Memphis, an der Spitze. Der letztere hatte den Titel Vergnügungsrat und wurde zu den teuersten Freunden des Kaisers Lucius Verus gerechnet. Ihnen auf den Fersen folgte das technische Korps des Heeres: Schmiede, Bleigießer, Steinhauer, Dachdecker, Kohlenbrenner und Lederarbeiter, mit ihren Geschäftswagen und den Karren, die ihre Zunftzeichen trugen. Endlich kam der Train mit der Geistlichkeit und dem Sanitätswesen.

Während die hinkende Gestalt des Mediziners sich in der Ferne verlor, gingen Fabius und Verecundus langsam auf die Straße hinunter, den Nachtrab in Augenschein zu nehmen. Ihre Seele schwankte wie ein schweres Pendel zwischen Glauben und Unglauben hin und her. Keiner von ihnen war Christ – durchaus nicht. Aber sie hatten gemeinsam so viele Morgen unter den nach der Taufe Begehrenden hinter dem Lattenverschlag im Vorraum von Rab Chaninas Bethaus zugebracht, daß sie vollständig bereit waren, den Antichrist in ihr römisches Normallager von mystischen Vorstellungen aufzunehmen. Sie waren dazu um so mehr bereit, als ihre rastlos suchenden Seelen vor nicht zu langer Zeit einer anderen Sekte angehangen hatten, die auch auf den Satan wartete. Der einzige Unterschied war, daß die eine Partei sein Kommen fürchtete, die andere darauf hoffte. Vor die Wahl gestellt, war Verecundus geneigter, der letzteren den Vorzug zu geben – schon weil sie Schlangen als Symbol des erwarteten Weltenschöpfers anbetete. Und Verecundus war jederzeit tüchtig in der Lieferung von kleinen und großen Schlangen.

»Andererseits ist Priscilla, bei Licht besehen, doch nur ein Frauenzimmer!« sagte Fabius plötzlich tiefsinnig. Er hatte vorher kein »Einerseits« gesetzt, aber Verecundus verstand ihn dennoch vollständig, wie zwei alte Kameraden einander verstehen. Er antwortete: »Schon wahr! Aber für ein Frauenzimmer ist sie doch erstaunlich wenig Frauenzimmer, und wenn sie sagt, daß wir ihn so leicht erkennen könnten wie eine weiße Kuh in einer roten Herde, so bin ich geneigt, ihr das zu glauben. Das erinnert mich daran, wie ich einmal als Junge mit einer Botschaft von einem Mädchen in den Isistempel gehen sollte. Sie sagte ganz auf die gleiche Art: ›Du brauchst gar nicht nach Biquesa zu fragen ... wart nur, bis der Gottesdienst vorbei ist, und dann sieh dir die Priester ein bißchen an. Wenn du sie angesehen hast, weißt du, daß nur der eine es sein kann.‹ Du begreifst: er war dort die weiße Kuh. Keine Beschreibung weiter, als daß sie sagte, er wäre eine X-Ziffer unter einer Schar von I-Ziffern. Und richtig! Nach dem Gottesdienst nehme ich die Gesellschaft in Augenschein und gehe auf einen zu. Ob das wohl Biquesa wäre? Und richtig – selbstverständlich! Er war die weiße Kuh. Als er den Brief bekommen hatte, fragte er: ›Was willst du lieber, einen Sesterz oder einen Segen?‹ – ›Einen Segen!‹ sagte ich. Ich wagte nichts andres zu sagen. ›Lügenbeutel!‹ rief er. Und ich bekam einen Sesterz und einen Fußtritt als Geleite die Treppe hinunter.«

Wie gewöhnlich waren sich die beiden Freunde einig. Fabius nickte: »Genau so, wie ich es verstand. Darum habe ich auch dagegen gesprochen, daß es Avidius Cassius sein sollte!«

Sie arbeiteten sich stetig weiter von der Theorie über die kaiserlichen Feldherren hinweg. Verecundus legte noch eine Bootslänge zwischen sich und das gebrechliche Bollwerk. Er sagte: »Es ist überhaupt die Frage, ob man sich einen Weltenschöpfer vorstellen kann, der herumreitet und die Städte einzeln verwüstet.«

Fabius unterwarf diesen Einwand einer Prüfung und sagte dann: »Das wird sich zeigen ... oder auch nicht!«

Eine Betrachtung, der sich der Vogelhändler vollständig anschloß.

 

Der Weltenschöpfer. Der Widersacher. Der Antichrist.

Vielleicht könnte man sich ihn wie einen Blitz denken, oder wie einen feuerspeienden Drachen mit Zähnen, so groß wie tausendjährige Zedernbäume. Fabius – mit dem vergnüglichen Beinamen Ululu tremulus – war bereit, über jegliche Theorie zu verhandeln.

»Oder wie etwas ganz Unansehnliches. Eine Fliege – oder eine Spinne!« schlug Verecundus vor. Darin lag nichts Unwahrscheinliches. Dämonen haben oftmals die Gewohnheit, solche Gestalten anzunehmen. Namentlich liebte es die Überlieferung, sie als Fliegen umhersummen zu lassen. Aber wie sollte eine Fliege die unverkennbare weiße Kuh sein, selbst wenn sie eine Goldfliege wäre und wie eine Hummel brummte. Und schließlich saß bei den zwei Freunden in dem Mark ihrer wirren religiösen Vorstellungen die Überzeugung, daß die Menschen sterbliche Götter seien und die Götter unsterbliche Menschen. Selbst größere Intelligenzen und gründlichere Gehirne haben ihre Spekulationen damit beschlossen, daß sie das übernatürliche Prinzip in menschliche Form gossen.

Und darum geschah das Erstaunliche. Fabius behauptete später, er habe Verecundus am Arm gepackt; aber Verecundus sagte, es sei gerade umgekehrt gewesen, und er habe den Kioskmann alarmiert. Man sieht daraus, wie vorsichtig man darin sein muß, Einzelheiten in einer Erzählung für wahr zu nehmen – selbst bei Kronzeugen. Hier aber spielt das nur eine untergeordnete Rolle, denn es geht aus dieser Meinungsverschiedenheit hervor, daß sie wie mit einem Munde riefen – oder zischten – oder stöhnten:

»Die weiße Kuh!«

Und zugleich deutete jeder von ihnen mit dem freien Arm auf eine Apotheose der Häßlichkeit, die dahergewankt kam, beladen mit Kochtöpfen, einer Bratpfanne, dem Eßbeutel und einer Feldflasche voll Essig, und sich jämmerlich auf einen braungebrannten kleinen Jungen stützte.

Das ungleiche Paar kam auf der südlichen Seite der Straße daher – der Seite, wo die beiden Wartenden standen. Während der Nacht hatte es ein paarmal geregnet, und vor dem Heer hatten in Myriaden von durch die dünne Sandschicht, die den Basaltbelag der Straße polsterte, gezognen Rinnen ebensoviel Regenwürmer gelegen. Schon die Schuhe der Marodeure in ihren vielen verschiedenen Stadien von Zerrissenheit hatten die meisten davon zertreten. Hinter den Hunderttausenden von genagelten Stiefeln des Heeres aber war nichts Lebendiges mehr zurückgeblieben. Nur ganz außen an der Seite der Straße lag noch da und dort in langen Zwischenräumen ein zitterndes Stückchen von einem Wurm. Und über diesen Kirchhof hin wanderte Ruths teuer erkaufter Sohn. Mit sich schleppte er die Reste des anderen Lebens, das für ihn bezahlt hatte, eines Lebens, das nicht mehr viel lebendiger war als ein zertretener Wurm, doch trotzdem noch imstande, zwei ehrsame Krämer mit einem schwindelnden heiligen Schauder zu erfüllen.

»Die weiße Kuh!« wiederholte Verecundus mit trockenen Lippen.

»Ich habe es schon die ganze Zeit gewußt!« sagte Fabius zitternd, und er glaubte an das, was er sagte.

»Aber was fangen wir mit ihm an?« fragte Verecundus.

»Bringen wir ihn einfach um?« überlegte Fabius. Aber die Unbedachtheit dieses Vorschlags war doch so deutlich, daß sich selbst in die andächtige Stimmung des Vogelhändlers eine Andeutung von Heiterkeit mischte. Denn – nicht wahr! – ein Weltenschöpfer, ein Antichrist, der sich umbringen ließe, könnte sicher in nennenswertem Maße weder das eine noch das andere sein.

Pedanius wankte auf sie zu. Dann blieb er, ein paar Schritte nur vor ihnen, so plötzlich stehen, daß den beiden Männern mit einem Satz das Herz in den Hals fuhr, und ihre Blicke saugten sich wie Blutegel an dem blauweißen Gesicht mit den nässenden Unebenheiten und den rotgeränderten toten Emailknöpfen von Augen fest. Sie sahen nur die Häßlichkeit, die grauenvolle unversöhnliche Häßlichkeit in diesem Gesicht, und beachteten weiter nichts. Aber über diese mißhandelten Züge hin flog einen Augenblick ein Beben – ein dunkler Glanz. Man ahnte, daß irgend etwas in dieser Maske fähig war, das Bild da vor sich aufzufassen; nur konnten es unmöglich die Augen sein.

»Seid gegrüßt, – Fremde!« sagte der Vogelhändler. Er wußte, daß er die Lippen bewegte, aber seine Stimme war dick und klanglos.

»Sei selbst gegrüßt, Verecundus!« stöhnte Pedanius. »Und Fabius!« fügte er hinzu. Und als ob ihn diese wenigen Worte eine allzu große Anstrengung gekostet hätten, griff er sich an die Kehle, wankte und wäre gefallen, wenn ihm nicht die beiden Freunde zu einem Sitz am Wegrain verholfen hätten. Verecundus zitterte am ganzen Leib, und Fabius wünschte sich überall anders hin als in die Gesellschaft dieses Fremden, der nichts sah und doch so gut durch sie hindurch sah, daß er sie beim Namen nennen konnte.

Aber während sie ihm den Mantel lösten und ihm die Stiefel abzogen, rollte sich die lärmende Sandalenmachergasse leuchtend auf der Leinwand der Erinnerung vor Pedanius ab. Der Vogelhändler, der Kioskmann, Priscillas Salzladen, die Wirtshäuser, Rab Chaninas Bethaus – alles miteinander. Und der Sandalenmacher-Apollo! Einen Augenblick schien es ihm, als wäre es alle die raffiniertesten Martern der Welt wert, den Sandalenmacher-Apollo nur noch ein einziges Mal zu sehen. Und vielleicht nur noch einmal dem Harpokrates an der Wand der »Vier Säfte« ein paar Rosen darzubringen. Er röchelte, ohne es zu wissen. Aus einer Beule in dem einen Augenwinkel floß ihm Eiter ins Auge und blendete es; aber er beachtete es nicht. Brustschmerzen, Husten, aufsteigende Krämpfe – er empfand sie in diesem Augenblick als etwas außer ihm, das ihn, strenggenommen, gar nichts anginge. Und namentlich hatte er nicht die entfernteste Ahnung davon, daß zwei Paar Augen wie hypnotisiert auf das breite rote Kreuz starrten, das jede seiner müden Fußsohlen trug. Allmählich, da die Krankheit ihn mehr und mehr abmagerte, bis kaum noch etwas wegzubrennen da war, waren die alten, halbvergessenen Brandmale in rotem runzligem Relief hervorgetreten. Rund um sie zeigten sich jetzt auch die kleinen Blasen, deren Natur es war, sich unter heftigen Schmerzen zu großen, bis auf die Knochen gehenden Beulen zu entwickeln. Nur in den Narben war kein Anzeichen von Krankheit zu sehen. In schwachem, rotem Glanz leuchtete dieses Zeichen, das die beiden Männer so gut von der Tracht der Diakonissen und dem Gebärdenspiel der christlichen Brüder und Schwestern her kannten.

Und ein Mann, der auf dieses heilige Zeichen trat, der keinen Schritt tat, ohne es zu verunehren – wer sollte das wohl sein, wenn nicht der Widersacher, der Antichrist? Sie kannten den landläufigen Brauch, daß sogar einer, der unwissend auf eine Münze mit dem Bild des Kaisers trat, in Strafe genommen wurde. Um wieviel härter mußte dann die Strafe sein, die den traf, der bewußt die Mysterien kränkte, sooft er einen Schritt machte!

Wenn nicht – und das erschien natürlich einleuchtend – er selbst die Strafe war, der Rächer war, der war, den die Christen den Antichrist nannten – der große Dämon!

Und Fabius, dessen Gedanken sich die vorher ausgesprochene Vermutung zurückriefen, daß Avidius Cassius der Erwartete sein könnte, lächelte unverhüllt: Avidius Cassius – ein Mann, der wohl treulos in einer orientalischen Stadt viermalhunderttausend vertrauende Menschen in ein paar Tagen hatte hinschlachten lassen, der aber doch, alles in allem, nur ein Bock an der Spitze seiner Herde war!

Und Verecundus dachte sich ungefähr dasselbe. Alle anderen Möglichkeiten verdunsteten vor der Tatsache, die hier vor ihnen lag, hustend, niesend, stöhnend, röchelnd. Eine daherwankende stinkende Leiche in voller Auflösung, mit blinden Augen, die alles durchschauten, woran sie vorbeikamen. Konnte man sich den Antipoden des großen Jupiter anders vorstellen?

Einem raschen Einfall gehorchend, wendete sich Fabius an Jon, der damit beschäftigt war, sich einen Dorn aus einer Falte der Hornhaut unter seinem einen Fuß zu ziehen. Der Kioskmann deutete mit dem Kopf nach der weißen Kuh und fragte:

»Wer ist der Fremde?«

»Der große Pan!« antwortete Jon nachlässig und ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Er hatte sich von seiner zartesten Kindheit an daran gewöhnt, Namen aus Mythen und Märchen auf die Mitglieder seines Umgangskreises anzuwenden. Pedanius hatte eine lange Reihe solcher Namen gehabt, und keiner war ihm lieber gewesen als der des Herrn der Wildnis, der Schluchten und der Unordnung. Verecundus, der aufmerksam zugehört hatte, sagte leise zu seinem Kameraden:

»Welch ein Unterschied ist denn zwischen dem großen Pan, dem Satan und dem Antichrist? Eine Bestätigung nach der andern! Frag den Kleinen, woher sie kommen!«

»Wo kommt ihr her, kleiner Herr?« forschte Fabius.

»Vom Ende der Welt!« antwortete Jon, der die Operation glücklich zu Ende geführt hatte und sich jetzt nach neuen Taten umsah.

»Vom Ende der Welt?« wiederholte Fabius ohne Erstaunen. »Wie lange seid ihr da gewandert?«

»Immer!« erwiderte der Junge und schaute Fabius aufmerksam in die Augen. Und wie um dem Wißbegierigen weitere Fragen zu ersparen, fügte er hinzu: »Und jetzt gehen wir nach Rom, uns die Welt zu unterwerfen!«

In dieser Antwort lag eine Erinnerung an die unermüdlichen Prophezeiungen des Pedanius über die Zukunft des Jungen; und wer könnte sagen, daß dies ganz aus der Luft gegriffen gewesen wäre! Geht doch ein jeder – oder sollte es wenigstens tun – bei der einen oder der andern Gelegenheit nach Rom, sich die Welt zu unterwerfen, und es ist nur die Schuld ihrer zufälligen Einstellung, daß diese Antwort einen beinahe überwältigenden Eindruck auf die beiden Männer machte. Wieder schauten sie einander an und zögerten einen Augenblick, ehe sie fortfuhren. Dann fragte Fabius:

»Gehörst du zur Familie des großen Pan – kleiner Fremder?«

»Er ist mein Dienstmann!« berichtigte der Junge. »Mein Wurm!« verbesserte er sich, weil es aussah, als ob die Zuhörer ihn nicht recht verstünden. Es klang allerdings etwas prahlerisch; aber die Wahl dieses Wortes stammte von Pedanius selbst, und er bekräftigte es noch, indem er nun weich und sanft zischte – wenn man überhaupt weich und sanft zischen kann:

»Dein geringster Sklave, dein Wurm, mein kleiner Fürst!«

Pedanius' Stimme erinnerte Jon an seine Pflichten gegen den Kranken. Er sprang auf, ihm Essig und Wasser gegen den entsetzlichen Durst zu geben, der ihn jederzeit quälte. Und zurück blieben zwei Männer mit einer Aufgabe, die ihnen glatt und eben erschienen war; aber plötzlich hatte sich alles in Trümmer aufgelöst.

Konnte man sich den Weltenschöpfer als den Wurm eines barfüßigen Bettelbuben vorstellen?

Durch die Erde weitergeleitet, wurde das ferne Rumpeln eines Wagens drunten auf der Landstraße vernehmlich. Während er näher kam, hörten sie den Jungen und seinen Mann miteinander flüstern. Der Kleine sprach in einem Kommandoton, der seiner Behauptung, daß er ein Fürst sei, keineswegs zuwiderlief. Die weiße Kuh sprach abgebrochen und schien, dem Tonfall nach zu schließen, Widerspruch zu erheben, der indessen immer schwächer wurde.


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