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Viertes Kapitel

Die Saturnalien – das römische Fest der Wintersonnenwende – hatten etwas Lawinenartiges. Menschen, die sich ein halbes Jahr oder länger darauf gefreut hatten, wurden davon überrumpelt, und wenn das Fest endlich über die Stadt hereinbrach und diese in ihrer massiven Massensuggestion begrub, war die Hälfte der Bevölkerung mehr oder minder mit ihren Vorbereitungen, Backen, Schlachten und Reinemachen, im Rückstand. Handwerker und Kaufleute schufteten bis zuletzt, und sie waren so mürb wie Bergarbeiter, wenn sich die berittene Schar der Magistratsherolde über die Stadt verbreitete und verkündete, daß nun die große Zeit gekommen sei, da für eine kurze Weile der Friede seinen Einzug auf Erden halte und die von ihrem Griff um Waffen und Werkzeug krumm gewordenen Hände sich eine kurze Rast vergönnen dürften.

Wie die Winde im Krater des Ätna versammelt sind, so versammelte sich ein kleines Kollegium von Hundephilosophen bei Sonnenaufgang in den Säulengängen der Neptunsbasilika auf dem Marsfeld. Sie saßen oder standen in einer Gruppe um die korinthische Säule her, die mit Bildern aus der Provinz Kleinasien geschmückt war. Da war »Säbel«, dessen Stolz es war, daß er für ein As im Tag leben konnte, und »Labyrinth«, den Kummer drückte, weil er sein tägliches Budget nicht unter anderthalb herunterbrachte. Da waren »Modell«, »Malteserhund« und »Glücksrad«, die schweigend ihre neugeborenen Sorgen und Freuden in sich hereinfraßen, wie manche Säue ihre Ferkel fressen. Da war Petrus Einpfennig – ein Denker, der fanatischer Altruist war; das heißt, er liebte die wimmelnden Millionen Asiens, hatte aber einen Pik auf den Schuhmacher Pedanius aus der Sandalenmachergasse, weil er ihm noch das Geld für ein paar Sohlen schuldig war. Und da war Orbilius.

Die Unterhaltung ging schleppend. Es gibt Stunden, wo die Pflege des Seelenlebens eine ziemlich untergeordnete Sache wird. Das Saturnalienfest gewährte den Menschen ein solches Aufatmen, und das ist einer der Gründe für die Sorglosigkeit, die es mit sich bringt. Selbst der Malteserhund und Petrus Einpfennig, die sich nun schon mehr als dreißig Jahre stritten, waren außerstande, den Topf im Kochen zu halten. Es ging so weit, daß ihr Meinungsaustausch zu verebben drohte und vor den Richterstuhl des Orbilius gebracht werden mußte. Der alte magere Hund griff sich in seinen grauen Bart und fällte das Urteil: »Ihr habt beide recht. Der Malteser melkt einen Bock, und Petrus hält ihm ein Sieb unter!«

Gewöhnlich fanden solche kleinen treffenden Abfuhren freundliche Aufnahme, und auch diese hätte wahrscheinlich trotz der beginnenden Festmattigkeit größeren Beifall hervorgerufen, wäre die Aufmerksamkeit der Hunde nicht gerade in diesem Augenblick durch einen ungewöhnlichen Aufzug festgehalten worden. Ohne bemerkt zu werden, war er vom Isis- und Osiristempel, oder wenigstens aus dieser Richtung, hergekommen. Voraus gingen ein Trommler und ein riesiger Neger, der in jeder Hand einen Knüppel trug. Hinter ihnen kamen zwei hellergefärbte, aber ebenso kräftige Sklaven, hinter diesen wieder zwei Mann mit einem knallroten Tragsessel, dahinter noch ein Neger und zuletzt noch ein Tragsessel von grüner Farbe, ebenso leuchtend wie der erste.

In all diesem lag nichts Ungewöhnliches. Es war ein gemieteter Trommler, es waren gemietete Sklaven und gemietete Sesselträger. Das einzige, was nicht gemietet war, und was die Prozession sehenswert machte, war eine alte Dame, die in dem ersten Tragsessel saß – soweit man überhaupt sagen kann, daß sie saß; denn ungefähr die Hälfte von ihr hing auf der Seite, wo die Basilika lag, aus dem Beförderungsmittel heraus und redete unter heftigem Zusammenwirken von Kopf, Schultern und Armen auf die Sklaven vor ihr ein. Der vernehmliche Teil der Rede klang von weitem wie ein von kurzem, scharfem Hüsteln unterbrochenes Gackern. Diese Rede bewirkte indes, daß der Zug hielt; die Träger setzten den Sessel nieder und schoben gewohnheitsmäßig die Polster zurecht, die sie unter die Tragriemen geschoben hatten. Der Trommler kratzte sich mit den Trommelschlegeln zwischen den Schulterblättern auf eine Weise, die kundtat, daß er nicht aus Zufall gerade diesen Körperteil dafür erwählte. Der vorderste Neger setzte sich auf das breite Ende der einen Keule und jonglierte mit der andern. Die Zuschauer mußten den Eindruck bekommen, daß es nur der Mangel an wichtigeren Dingen als Trommelschlegeln und Marmorsäulen war, was ihn veranlaßte, sich auf diese bescheidene Morgenübung zu beschränken. Er verfügte über unbändige Kräfte.

Während sie sich so benahmen, wie es die ungeschriebenen Gesetze für das Personal der Mietpalankine vorschrieben – und die waren älter als der älteste Mensch in Rom –, steuerte einer der farblosen Männer auf die Schar der Hunde zu. Er sah aus wie ein Mann, der sich einer unangenehmen Pflicht entledigt – oder wie ein Gläubiger, der zu Ungläubigen herabsteigt und – allzu deutlich herabsteigt. Ein scharfes Gackern aus dem roten Tragsessel ermunterte ihn, seine letzten fünfzehn Schritte ein ganz klein wenig zu beschleunigen; aber der Ausdruck von bekümmerter Mißbilligung in seinem Gesicht veränderte sich nicht. Er fragte in klagendem Ton: »Heißt einer von den Herren Orbilius?«

Niemand antwortete; aber wie in einer gut ausgeführten Turnübung richteten sich die Augen sämtlicher Hunde auf Orbilius.

»Heißt du Orbilius?« fragte der ehrbare Gesandte. Der alte Hund versuchte diese Tatsache nicht zu leugnen; er schüttelte sich ein wenig und bejahte mit unsicherer Stimme.

»Hier ist eine Dame, die mit dir reden möchte«, sagte der Mann, und das klang wie ein Richterspruch. Orbilius schoß einen flehenden Blick auf seine Berufsgenossen ab, aber die musterten ihn ohne Teilnahme. Wenn die mindeste Aussicht gewesen wäre, daß es geschehen könnte, hätte er freudig seinem Schutzgott Herkules wer weiß was gelobt, bloß um eine der Schneeflocken zu werden, die jetzt sparsam herabzurieseln anfingen. Aber die Großmutter Papiria hatte etwas an sich, was ihrer Umgebung alle Lust zu magischen Experimenten vergällte. Ihr Reich war ganz von dieser Welt. Dasselbe könnte in ihrer Ausdrucksweise etwa lauten:

»Ich glaube, es gab einmal einen alten Esel von einem Hund, der mir versprochen hatte, uns zu besuchen«, sagte sie. Orbilius schlug als Einleitung zu einer Erklärung seine Augen auf; aber er kam nicht erst zu Worten, denn die alte Dame fuhr fort: »Ich weiß genau, daß du uns einmal aufgesucht hast ... einmal in neun Monaten ... als ob das eine Entschuldigung wäre. Mit jedermann sonst umzugehen hast du Zeit. Und alles Leugnen hilft dir nichts. Ich habe von dem Mulattenmädchen und ihrem Makedonier gehört, die du in einer Kneipe bei den Docks untergebracht hast. Übrigens ein netter Lebenswandel für einen heiligen Mann, dort junge Menschen hinzuführen. Du brauchst gar nicht zu widersprechen (er hatte mit keinem Blick widersprochen), ich bin über deine Meriten sehr genau unterrichtet. Aber davon können wir noch später reden. Ich soll dich von meinem Sohne grüßen. Er bittet um die Ehre, dich zu den Saturnalien einladen zu dürfen. Hier hinter mir ist ein Sessel. Setz dich hinein, aber beeile dich! Wir haben mit dem Gesuche nach dir durch die halbe Stadt zwei Stunden schon versäumt. Ich habe heute schon mehr Bärte und Mäntel und Hundestecken gesehen als in all den sechsundsechzig Jahren meiner Lebenstage.«

»Ich habe dir versprochen ...!« sagte Orbilius.

»Du hast mir versprochen!« gackerte die Großmutter vergnügt. »Ja, deine Versprechungen, die kennen wir. Du hast mir den Buckel vollgelogen mit Versicherungen, schon damals, wo du mich in Tibur als armes und verschmähtes Mädchen sitzen ließest. Wenn du nicht mit Gewalt mitgeschleppt sein willst, dann steige schleunigst ein!«

Der Neger und die beiden andern starken Männer kamen heran, als hätten sie diese Drohung buchstäblich aufgefaßt, und Orbilius stieg in den grünen Tragsessel, wo er sich gegen die demütigenden Blicke der andern Hunde gleichsam doppelt dadurch zu sichern suchte, daß er sich so tief wie möglich darin verkroch und starr in die Richtung des Isis- und Osiristempels blickte.

Auf diese Weise ging es zu, daß der alte Hund das Fest bei Papirius auf Alta Semita beging, statt, wie er es versprochen hatte, mit Maës und seiner Frau im Wirtshaus zum »Weißen Walfisch«, gegenüber den Docks in der Aventinerregion. Schon bei Tagesgrauen trat Sabina zum erstenmal auf die Straße, nach dem erwarteten Gast auszuschauen. Als der Schatten des Sonnenzeigers (während einer Aufhellung zwischen zwei Regenschauern) sechs Fuß lang war und man sich ins Bad begab, runzelte Maës unter starkem Grübeln die Stirn. Als das Wirtshaus seine Türe schloß, lag eine gedrückte Stimmung über dem Haus. Endlich, ungefähr um die Zeit, wo das Küchenmädchen erklärte, die Linsensuppe könne nicht länger warten (sie war aus Linsen von Gela in Sizilien zubereitet und mit zwei fetten Hühnern gekocht!), stieß ein eisenbeschlagener Stiefel gegen die Tür, und ein Polizist brachte einen versiegelten Brief. Maës öffnete ihn mit bangen Ahnungen. Da stand:

 

»Orbilius an Maës und Sabina. Meinen Gruß zuvor. Eine Kraft, die stärker war als ich, hat mich von meinem Wege abgeführt. Die Eigenliebe, die die einzige Sünde und die Mutter von Neid, Schwatzsucht und Faulheit ist, läßt mich wünschen, ich wäre bei Euch. Ich bin bei Menschen, die sagen, ich nähme ihre Freude mit, wenn ich fortginge. Erwartet mich nicht, bevor Ihr mich seht. Möge des Höchsten Gnade Euch fröhliche Saturnalien bescheren.«

 

Enttäuscht sah der Makedonier seine Frau an, als er den Brief laut vorgelesen hatte. »Eigenliebe ist die Mutter des Neides«, zitierte er mit betrübtem Lächeln.

 

Bei Papirius auf Alta Semita aber herrschte eitel Freude. Ein Gemisch von allerlei Erwartungen wogte durch das Haus und erfüllte es mit Düften – süßen und bezaubernden Düften, denen sich niemand entziehen konnte. Schon seit Wochen stand draußen im Hof hochaufgerichtet eine Metallsäule, in die das Gesetz über das Gastrecht eingegraben war. Und von dieser Säule heißt es seit den ältesten Tagen: solange sie stehe, werde weder Hunger noch Pest noch Feuer noch sonst eine Plage das Haus heimsuchen; sollte sie aber wider Erwarten zerstört werden, dann behüte der Himmel! Denn sie soll – wie die Saturnalien überhaupt – an die Freiheit und Gleichheit der Menschen in der ersten goldenen Zeit auf Erden erinnern. Unter ihrem Zeichen sind Ameise und Kamel einander gleich.

Jeden Tag kamen die Diener des Hauses in einem verstohlenen Augenblick herbei, die alte Botschaft zu lesen. Die Sklaven, die Mägde, Mutter Sara, Ruth, Euphemus – alle mußten immer wieder einmal hinaus und sich diese Befehle einprägen, die sie doch auswendig kannten. Aber am häufigsten kam Papirius – wie es in der Ordnung war – und von der Säule weg ging er hinein und verbesserte und erweiterte die Liste der Freunde seines Hauses, die er nach dem Gesetz aufzustellen hatte. Er legte auch eine Summe baren Geldes zurecht, sowie alles, was an Kleidungsstücken, Hausrat und Silberzeug entbehrlich war. Und er kaufte Leuchter ein aus kostbarer Bronze, Bücher in wertvollen Ausgaben und Spielzeug, wie Puppen, Bälle, Singvögel und farbige Nüsse. Und nichts von dem allen war etwas anderes, als was das Gesetz verlangte.

Da die Zeit des hohen Festes näherkam, stieg die Stimmung bis zu einer Art von Rausch. Dazu trug auch das Wetter bei. Selbst die Kinder konnten sich schon an Jahre erinnern, wo dieses Fest in Schnee gehüllt und bei gefrorener Erde eingezogen war, mit einem pfeifenden Nordwind, daß sich die Menschen um die Kamine drängten. Aber in diesem Jahr war es ganz anders. Der Herbst erledigte zwar seine kleine Aufräumungsarbeit und pflückte die Blätter von den Bäumen, ging dann aber gleich in einen Lenz über, warm wie die Luft aus einer Schmiede. Wohl gab es beim Einzug des Festes ein paar Stöße von Schneetreiben, aber nur als ein scherzhaftes Zwischenspiel. Und die Menschen fühlten sich gleichsam eins mit der vernichtenden und sich verjüngenden Natur und glaubten schließlich, die Wettertugenden seien ihre eigenen guten Eigenschaften.

Das Fest rückte immer näher. Die Tage brausten in fröhlicher Rastlosigkeit dahin, und die Nächte wurden so weich und mild, daß sich selbst die Elendsten unter den Brücken, in den Arkaden der Bogengänge und auf den Bänken der Parke weniger verlassen fühlten als sonst. Am letzten Tag trug der Sklave Philetus unter Anleitung des Papirius schwere Räuchergefäße im Hause herum. Dies Räuchern war ein Reinigungsmittel, das Geiz und Habsucht und ähnliche weniger achtungswerte Gäste vertreiben sollte. Danach opferte Papirius nach griechischer Weise dem Jupiter Plutodotes, dem Hermes Dotor und dem Apollo Megalodoros, und gegen Abend las er zum letztenmal die Liste der Freunde seines Hauses durch.

 

Gerade um diese Zeit trat Marcellus wieder durch die Tür des Schuhmachers Pedanius in der Sandalenmachergasse. Pedanius hatte seine beiden nackten Füße auf einen Stuhl gelegt und schaute in die Rechenschaftsbücher, die er als Kassenwart im Fachverein der Leichenträger zu führen hatte. Er war Reserve-Leichenträger und ein Mann, der mit bekümmerter Bereitwilligkeit allerlei Vertrauensämter übernahm.

Da seine Fußsohlen in all ihrer Schmächtigkeit dem Eingange zugekehrt waren, hätte Marcellus sehr unachtsam sein müssen, wenn ihm nicht ein breites kreuzförmiges Brandmal auf beiden Fußsohlen aufgefallen wäre. Er stutzte, denn er hatte Pedanius für einen Freigeborenen gehalten. Pedanius folgte seinem Blick, und da fiel ihm – zu spät! – das Brandmal ein. Er nahm die Beine vom Stuhl herunter und biß sich auf die Lippen.

»Du bist ein Freigelassener!« stellte Marcellus fest.

Pedanius hätte einfach ja sagen können; allein sein Charakter war ebenso reinlich wie sein Körper, und so sagte er: »Ich bin ein entlaufener Sklave.« Dies rief die Pause hervor, die nötig war, eine neue Einstellung herzustellen oder aber die alte zu stärken. Pedanius fragte ängstlich: »Jetzt willst du meine Hilfe wohl nicht mehr?«

Aber Marcellus schaute ihn zornig an und antwortete: »Schwatz keinen Unsinn! – So bin ich doch nicht! Ich komm' gerade, dir zu sagen, daß ich deine Hilfe annehme, wenn du immer noch meinst, daß du sie mir gewähren kannst.«

Der kleine Flickschuster sprang auf, ergriff Marcellus' Hand und sagte beinahe weinend: »Und wenn ich mit Bären und Dämonen kämpfen und Hunger und Not leiden muß – solange ich lebe, soll den kleinen Jon nichts Böses treffen!«

Flammend vor Begeisterung schüttelte er Marcellus die Hand, und dieser lächelte nachsichtig und gerührt. Daß er sich Pedanius im Kampf mit einem Bären vorstellen solle, war ein wenig viel verlangt. Selbst im Glanze dieser Festtage stellte das eine zu schwere Aufgabe dar. Als die heftige Hochstimmung sich gelegt hatte, zog Marcellus ein Amulett hervor aus einem Jaspis von der Art, die man »boria« nennt, und die die Farbe eines herbstlichen Morgenhimmels hat. Das gab er Pedanius und sagte: »Ruth läßt dich bitten, dieses Amulett zu tragen. Es ist dem geweiht, der Barmherzigkeit übt, und es wird dich sicherlich ohne Schaden wieder nach Rom zurückbringen.«

Von dieser Verschwörung wußte Papirius glücklicherweise nichts. Er wußte, daß Marcellus mit einem Festgedichte schwanger ging, und dachte, sein Sohn habe den etwas hochfahrenden väterlichen Rat befolgt, er solle mit der Geburtszange nachhelfen.

Als der Tag zu Ende ging, stellte sich Euphemus mit zwei andern erprobten Dienern festlich gekleidet in der Vorhalle auf, und Philetus übernahm als Stellvertreter den Türhüterdienst. Die drei nahmen eine umständliche Unterweisung entgegen und zogen, beladen mit Paketen, aus, die unbemittelten Freunde des Hauses aufzusuchen, die erwartungsvoll zu Hause saßen. Die Straßen waren an diesem Abend nur wenig und meist nur von alten vertrauten Hausdienern belebt, die mit Geschenken beladen umhereilten, um die Grüße ihres Hauses zu überbringen und den pflichtmäßigen Becher Wein zu trinken. Aber überall nur einen; so befiehlt es das Gesetz.

Und so war nun der Tag endlich erschienen. In den schlimmen Jahren, wo der Tiber über seine Ufer trat, geschah das nicht mit mehr Kraft oder unerwarteter, als das erwartungsvolle Rom von dem Feste der Saturnalien überrumpelt wurde. Im Hause auf Alta Semita versammelten sich schon am Morgen die Sklaven, die Freigelassenen und die Familienmitglieder im Atrium. Marcellus führte unter Flötenmusik das junge Opfertier herein, und Papirius untersuchte es so gründlich und genau, als sollte dies kein Ende nehmen. Nicht einmal die vergoldeten Hörner und die Haut unter den Stirnbändern und den weißen herabhängenden Bändern gingen frei aus. Es war, als hinge das Heil der Welt davon ab, daß in des Tieres rotem seidenen Fell nicht ein einziges schwarzes Haar gefunden werde. Aber es fand sich keines, und Papirius wendete sich von dem fehlerfreien Tiere ab und erhob verhüllten Hauptes die Arme zu dem Bilde Saturns unter den Laren des Hauses.

So stand er einen Augenblick schweigend, und die Stille im Räume wurde nur von dem Schnaufen des Tieres unterbrochen, das die Fliesen des Bodens beroch und einen Streifen Dampf darauf zurückließ. Die Arme aller andern erhoben sich ebenso zu dem heiligen Bilde – Großmutters dünne, gekrümmte Hände, die haarigen Flossen des Euphemus, Balbillas rote Scheuerfinger, die Arme der Sklaven, der Frauen, der Kinder – alle streckten sich in andächtiger Erwartung empor. Die Lippen des Papirius bewegten sich ohne Worte, endlich aber kam der erste Laut, zögernd, voller Ehrfurcht. Dann fand er seine Stimme wieder, und scharf und ohne Wanken meißelte sie ihr Bildnis in den Marmor des Schweigens. Es war das Ritual, dessen Worte so alt waren, daß keiner der Zuhörer sie verstand. Es war ein Latein, das schon vor Jahrhunderten veraltet gewesen war, als die Schlacht von Actium geschlagen wurde. Ein von Grünspan überzogenes, schönes und gebrechliches Latein, einem ungeheuer alten ziselierten Dolch aus Bronze ähnlich, untauglich für grobe Arbeit, aber wunderbar geeignet, bei einem Triumphzug im Gürtel eines Kriegers zu prangen. Die Stimme des Papirius, die sich alltags nur allzuoft Schlurfschuhe von Spott anzog, bewegte sich an diesem Morgen elastisch und rhythmisch wie ein Seiltänzer. Sie sprach gelassen, geradezu und ohne Zaudern bis zum Ende. Zum Schluß erhob sie sich noch einmal zu einem besonderen letzten Sprung und verstummte dann.

Ein kleines Kind war inmitten der zwei Menschenreihen herausgetreten und betrachtete Papirius nun mit großen strahlenden Augen. Seine Mutter zog es an der kurzen Tunika, aber es war viel zu sehr vom Anblick des Papirius hingenommen, der Räucherwaren und Wein auf den tragbaren Opfertisch vor dem Altar stellte. Als der rote Stier mit Wein besprengt wurde und dabei plötzlich ein kurzes freundliches Brüllen ausstieß, klatschte das Kind hingerissen in die Hände, und die Mutter zog es verlegen an sich und versuchte, es zum Schweigen zu bringen.

Nun ergriffen Marcellus und zwei Sklaven den Kopf und das eine Vorderbein des Tieres und warfen es halb um. Papirius mit dem großen blanken Opfermesser trat dicht dazu, vergewisserte sich, daß der Strick und der Schnürstock am Kopf stramm saßen, und stieß das aufblitzende Messer bis zum Heft in den Hals des Tieres. Ein zweites Aufblitzen verkündigte, daß die Handlung vollendet sei, und das Blut sprang in einem warmen, dicken Strahl in den großen Kupferkessel hinunter. Dann wurden die Teile, die dem Gott gehören, auf dem Altar verbrannt: Lunge, Leber, Galle und Fetthaut. Als dies vorbei war, hatte die goldene Zeit ihren Einzug im Hause gehalten.

Unmittelbar nach dem Opfer war die Großmutter auf die bereits erwähnte Expedition ausgezogen, von der sie mit Orbilius heimkehrte. Sie schilderte die Fahrt, als handle es sich um einen gewöhnlichen entlaufenen Hund, den sie auf die übliche Art mit einem Kescher eingefangen hätte. Anfänglich benahm sich Orbilius auch ungefähr so – es sah aus, als sei er immer auf dem Sprung, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wieder auf die Straße hinauszuschlüpfen. Nachdem er gebadet und einen Brief geschrieben hatte, den Papirius durch einen Polizisten besorgen ließ, beruhigte er sich aber. Und eine Stunde vor dem großen abendlichen Festmahl saß er mit Ruth und Marcellus zusammen in dessen Zimmer.

Der alte Hund betrachtete das schmucke Paar mit bewundernder Aufmerksamkeit. Ruth hatte die Haare in der einfachen Weise aufgesteckt, wie es unter christlichen Mädchen oft der Brauch war: sich glatt der Kopfform anschmiegend und mit einem Knoten im Nacken. Sie trug eine leuchtend gelbe Dalmatika, also eine Tunika mit Ärmeln, und, wie die verheirateten Frauen pflegen, ein Kopftuch, aber aus dünnem Flor und von der rotgelben Farbe, die zum Schmuck der Bräute dient. In ihren Ohren hingen zwei schöngeschnittene Serpentine, die Schulterspangen waren aus Karneol, um den Hals schlang sich eine schwere Kette von etruskischer Goldschmiedearbeit, und den rechten Arm sowie die Knöchel beider Füße schmückten schwere Ringe. Alle diese Schmuckstücke hatten der Mutter des Marcellus gehört. An den Füßen hatte sie weiße, silbergestickte Schuhe, deren jeder mit einer Perle verziert war. Auf den Schuhen des Marcellus aus lakonischem Saffian saßen konkav geschliffene Heliotrope. Sein Anzug war von dem Stoff, der in Berytus aus chinesischer Seide und Baumwolle zu einer Art Halbseide verwebt wurde. Am vierten Finger trug er einen Siegelring aus Karneol, der durch Kochen in Honig in einen schönen Onyx verwandelt worden war. Auf dem Kopfe trug er einen grünen Kranz.

Eben hatten sie Orbilius ihren Kummer auseinandergesetzt und saßen nun Hand in Hand da. Marcellus schaute den Alten flehend an und sagte: »Du hast uns schon einmal geholfen, und du hast gewissermaßen teil an Jon. Hilf ihm noch einmal, jetzt, wo es gut!«

»Bin ich denn ein Zauberer, daß ich das Unabwendbare abwenden könnte?« fragte Orbilius weich.

Ruth schaute bekümmert und träumerisch vor sich hin. Sie dachte an die ägyptischen Priester, und daß diese ihr müßten helfen können. Mit verschleierter Stimme und leise seufzend erzählte sie von ihrem Besuch des Isistempels in der dritten Region – von dem Segen, den Pabek über sie gesprochen hatte, und von dem Bilde des kleinen Horuskindes. Auf dem Gesicht des Orbilius zeigte sich ein schwacher Schein von Mißbilligung. Er fühlte etwas von dem neuerwachenden Appetit, von dem ein satter Hund ergriffen wird, wenn ein fremder Hund an seine Schüssel kommt. Orbilius traute den Männern aus dem Nillande nicht. Ein Instinkt, der durch gewisse halbvergessene Legenden über deren Vorleben verstärkt wurde, gebot ihm, auf der Hut zu sein. Und so sagte er: »Ich habe zu viel römisches Blut in mir, als daß ich mich mit diesen Orientalen versöhnen könnte.«

»Ich bin Orientalin!« sagte Ruth.

Orbilius entschuldigte sich wegen seiner Gedankenlosigkeit und fügte hinzu: »Aber du bist mehr: du bist die Mutter eines Römers.«

Und Ruth wiederholte vor sich hin: »Ja, ich bin die Mutter eines Römers!«

Jetzt klopfte Euphemus an die Tür und bat sie, hinüberzukommen und die Gäste zu begrüßen, die allmählich einträfen. Orbilius ging voran. Als er zur Tür hinaus war, klammerte sich Ruth an Marcellus fest. Sie schob ihr Kopftuch zurück und zitterte vom Scheitel ihres pechschwarzen Haares bis zu den Perlen auf ihren Schuhen und klagte halb weinend: »Mir ist so bang!«

Er suchte sie nach bestem Vermögen zu trösten, allein es nützte nichts. Ihr Weinen schwoll über wie ein eingedämmtes Wasser, das einen kleinen Riß im Deich gefunden hat und ihn rasch erweitert, um endlich mit unwiderstehlicher Kraft das Hindernis zu beseitigen. So gut sie es vor Weinen vermochte, jammerte sie: »Ich habe es schon lange gefürchtet. Jeden Tag stand es klarer vor mir, aber ich schob es zur Seite. Auch fürchtete ich mich, du könntest mich auslachen. Ich habe eine entsetzliche Angst vor etwas, was Jon betrifft. Und«, sie verlor fast die Besinnung, »wenn ihm etwas geschieht, glaube ich nicht, daß ich es ertragen kann.«

Marcellus preßte sie an sich, und während sich ein Teil ihrer Angst auch in ihn einschlich, tröstete er sie: »Sei guten Muts, sei tapfer, Geliebte! Das kommt von der Müdigkeit und der Gemütsbewegung. Wenn du dich einen Augenblick hinlegst, wirst du dich beruhigen, und sobald wir Jon haben, bringen wir ihn in Sicherheit. Ich verspreche dir, daß dies geschieht.«

Sie war einer Ohnmacht nahe. Als er sie losließ, schwankte sie willenlos und fiel ihm von neuem in die Arme. Da hob er sie auf und trug sie über den Hof in Mutter Saras Wohnung. Hier verfiel sie in einen halb bewußtlosen Zustand, nachdem er sie aufs Bett gelegt und versucht hatte, ihr Mineralwasser aus Santander einzuflößen – nur um überhaupt etwas zu tun. Aber sie schüttelte bloß den Kopf, und er lief hinüber, eine Amphora Caecuberwein zu holen, während die Alte umhertrippelte und leise jammerte. Nachdem Ruth getrunken hatte – sie lehnte dabei den Kopf an seine Schulter, und ihr gelöstes Haar floß ihr über den Rücken –, schaute sie ihn mit einem erzwungenen Lächeln an und legte sich mit geschlossenen Augen zurück. In diesem Zustand verließ er sie und eilte zu dem Fest zurück, wo man ihn wahrscheinlich vermißte. Vorher forderte er Mutter Sara auf, ihn auf dem laufenden zu erhalten, wenn Beunruhigendes eintreten sollte.

 

Für Marcellus wurde dieser Abend zu einer Art Wahnsinn, und er mußte einen auch toll machen. Er war ein unglaubliches Wechselspiel zwischen tiefer Tragödie und einer bis zum Idiotischen entfesselten Lebensfreude.

Als er ins Atrium hinüberkam, waren die Gäste dort schon versammelt. Er kannte die meisten von ihnen seit seiner Kindheit. Da waren sie, der Buchhändler Eros, ein ungläubiger Mann mit dem Zunamen Mecentius, Hermias, der ein Heiratsvermittlungsbüro irgendwo in der inneren Stadt leitete, und ein Polizeiarzt mit winzigem Köpfchen und dröhnendem Baß. Weiter waren da einer von den Freigelassenen des Hauses, ein Salzhändler, sowie ein außerordentlich heiserer Mann, der davon lebte, im Straßenhandel warme Würste mit Senf zu verkaufen. Er hieß Egrilius und erinnerte an jene Blutegel, die in dem einen Augenblick kugelrund sind und sich im nächsten zu einem dünnen Faden ausstrecken. Jedenfalls kam es Marcellus vor, als hätte dieser Mann jedesmal, wenn er ins Haus kam, eine andere Gestalt. Dieses Mal war er kurz und aufgeblasen, und seine Augen waren so groß, daß es aussah, als seien die Lider zu kurz, sie zu bedecken. Diese Männer waren ohne Ausnahme fröhliche Leute, die ihre Grüße mit Fragen begleiteten wie: »Läuft die Dachrinne über?« oder »Klingen dir die Ohren, Alter?« Sie stießen einander auch mit dem Finger in den Bauch, zogen einander am Bart und unterhielten sich augenscheinlich großartig, ohne daß ein Uneingeweihter imstande gewesen wäre, zu sagen, was ihnen eigentlich so erheiternd schien.

Außer diesen Schelmen befand sich auch eine Dame, ungefähr im Alter von Marcellus, in der Gesellschaft. Sie hieß Elina, war die Witwe eines Tapezierers und leicht an einem großen gefühlvollen Lachgrübchen in der rechten Wange zu erkennen. Sie war rundlich und in ständiger Bewegung, und ihre Füße, die in roten, mit Achaten geschmückten Schuhen aus parthischem Saffianleder staken, waren sehr klein. Gekleidet war sie in eine leuchtende, ärmellose und nur wenig verhüllende, mit Lakmusflechte gefärbte Tunika. Auf dem Kopf hatte sie einen froschgrünen Schleier, und der Gürtel wurde von einer Spange aus hellem Bernstein zusammengehalten. Aus dem gleichen Material waren zwei Spangen über dem Gürtel der Tunika, die die Brüste etwas hoben und sie einander näherten. Zwischen Schultern und Ellbogen schnitten breite Armreifen in das weiße Fleisch der Arme, und die Finger waren mit juwelenfunkelnden Ringen besteckt.

Endlich erblickte man auch einige der Frauen besagter Herren. Sie waren schlecht und recht der Anhang ihrer Ehemänner – wetteten im Zirkus auf »Rot«, wenn ihre Männer es taten, nahmen an deren abfälligen Äußerungen über Marc Aurels hinkränkelndes Silbergeld teil und zitierten Vergil falsch, genau wie ihre Männer.

Elina begann sofort eine Unterhaltung mit Marcellus. Auf einem Tisch hinter dem Impluvium stand ein Lampenträger in der Form eines Baumes, von dessen Zweigen Öllämpchen herunterhingen. Mit großer Offenherzigkeit führte sie ihn dahin und vertraute ihm an, sie habe es keineswegs im Sinn, unverheiratet zu bleiben; sie werde im Gegenteil noch einmal das rote Haarnetz tragen und sich noch einmal die sechs Zöpfe mit Lanzenspitzen flechten.

Marcellus dachte an Ruth und lächelte höflich. Er hatte keinen Augenblick daran gezweifelt.

»Ich habe ... Werd aber nur nicht eingebildet!« sagte sie. »Ich habe wirklich dabei auch eine Weile an dich gedacht! Ach, aber du bist zu jung, Marcellus – um wenigstens fünf Jahre zu jung!«

Sie lachte laut, und auch Marcellus mußte lachen. Ein Ehestand schien für sie etwas zu sein, was in aller Gemütlichkeit vorbereitet werden mußte. Sie beriet sich eingehend mit Marcellus darüber, mit was für einer Art Mann sie sich verheiraten solle, lehnte es dabei aber zum voraus ab, noch einmal so einen wie ihren verstorbenen Tapezierer zu nehmen. Nach dreijähriger Unterhaltung mit ihm über Teppiche und Tapetenmuster war sie von solchen Gelüsten kuriert. Was sie für sich ersehnte, war, kurz gesagt, ein Marcellus, der nur fünf Jahre älter wäre als dieser – ein Mann mit praktischem Sinn, der doch für geistige Werte Zugänglichkeit zeigte.

In diesem Augenblick, und ehe Marcellus Zeit fand, seinen Geist zu produzieren, kamen die Sklaven herein, und so einigte man sich dahin, man wolle später wieder auf die Frage zurückkommen. Zum vorläufigen Abschied warf sie Marcellus einen nicht mißzuverstehenden Blick zu; aber seine Gedanken waren beständig bei Ruth, und er bemerkte diesen Blick kaum.

Die Saturnalien stellten eine monumentale Wiederholung jener goldenen Zeiten dar, wo die Ameise und das Kamel einander gleich waren, und sie wurden dadurch natürlicherweise in besonderem Grad ein Fest der Knechte und der Unterdrückten. Während des Festes tauschten Herren und Sklaven ihre Rollen, und während die Diener zu Tisch saßen und sich's wohl sein ließen, wurden sie von dem Herrn und seinen Gästen bedient.

Das Fest begann damit, daß die Flötenbläser einige aufmunternde Läufe in die Zimmer schickten, worauf sich die Sklaven, mit allen Beleuchtungskörpern bewaffnet, die das Haus entbehren konnte, in zwei Reihen aufstellen. Mit Lampen und Kandelabern, mit Lichtern, die in Blasen oder ölgetränkte Leinwand eingeschlossen waren, setzte sich der Zug in Bewegung. Voraus – unmittelbar hinter den Flötenbläsern – schritten die zwei großen Sklaven aus den Mehlmühlen. Um den Hals waren ihnen grobe Ringe geschmiedet, in die die Hausmarke des Papirius eingestempelt war. Hinter ihnen kam das übrige Hausgesinde – Knechte und Mägde –, alle mit Lampen und Palmenzweigen oder Lorbeerzweigen in den Händen. Die doppelte Reihe wurde von Philetus und Balbilla beschlossen, und ganz zuletzt kam Euphemus, der die Tür mit Schloß und Riegel gesichert und dann seinen Posten verlassen hatte.

Unter Absingung der Saturnalienhymne wandelte die Gesellschaft in den Speisesaal und verteilte sich an die Tische. Drinnen legte man an der Tür die kokosfarbigen Sandalen ab, und kaum hatte man sich zu Tisch gelegt, als auch schon die Lustigkeit vom einen zum andern lief. Schon der Gedanke, zu Tisch zu liegen wie die Herren, auf mit Bronzereliefs beschlagenen Diwanen (wenn man nicht einen Schemel aus massivem Kupfer vorzog) und sich von Marmorkandelabern bescheinen zu lassen, genügte, das erste kitzelnde Gefühl der Wollust hervorzurufen. Für das übrige sorgten Papirius und seine Freunde. Zum Beginn gab es den guten Wein aus Lesbos, der ohne Zusatz von Meerwasser versandt wurde. Er wurde in Becher von Terebinthenholz geschenkt, die man zu Ehren des Herdfeuers leerte. Danach kam spanischer Baeticaner an die Reihe. Der schmeckte nach Rauch wie gallischer Wein und entlockte einigen von den Frauen vergnügte Schreckensrufe. Endlich wurde Wein aus Vienna angeboten – dem Pech zugesetzt war – und erst nun begann die Mahlzeit.

In seiner Eigenschaft als Alterspräsident betete Euphemus das Tischgebet, und jetzt erst wurden unter Führung des Marcellus die Fingerschalen und Servietten gebracht. Er hatte vergebens versucht, sich einen Augenblick zu entfernen, um nach Ruth zu sehen, sich aber darauf beschränken müssen, den beiden Frauen Essen und Trinken hinüberzuschicken. Jetzt wurde der Tischaufsatz – das Repositorium – mit den ersten Gängen der Vorspeisen hereingefahren und diese auf Tragbrettern aus mit Silber und Schildpatt eingelegtem Ahornholz herumgereicht. Die Vorspeisen bestanden aus weichen Eiern in einer Tunke von mit Kümmel, Majoran und Kardamom gewürztem Sardinenextrakt, weiter aus Artischocken, in Essig und verdünntem Honig eingemacht, weiter aus Turteltauben, Drosseln und gerösteten Haselmäusen mit Essig und getrockneten Champignons angerichtet und Riesenspargeln in feinem öl als Beilage. Zu allem diesem bog sich der Tisch von Honig, Obst und köstlichem weißen Brot.

Wie die Mahlzeit voranschritt, stieg die Lustigkeit und teilte sich auch den Anbietenden mit. Witzige und aufmunternde Bemerkungen flogen zwischen den Sklaven am Tische und den Herren und Gästen mit den Schüsseln und Platten hin und her, und in der besten Laune kam man nach einer neuen Handwaschung zu der Hauptmahlzeit, die dadurch eingeleitet wurde, daß Papirius die Speisekarte verlas. Sie war solid und einfach und umfaßte keine aufregenden Merkwürdigkeiten. Trotzdem rief die Vorlesung lebhaften Beifall hervor. Die Dinge, die also gelobt wurden, waren Saueuter, Schweinskopf, gebratene Enten, eine andere Art Enten gekocht, Hasen, Schinken in Teig gebacken und numidische Hühner aus der kleinen Perlhühnerfarm des Papirius in der Nähe von Tibur. Zu diesen letzteren wurden Trüffeln aufgetragen; sie wurden aber nur von wenigen angerührt, denn man fand sie zu alltäglich.

In einer Eßpause trat Elina, heiß von Anstrengung und Arbeitseifer, zu Marcellus hin. Sie lachte über die ungewohnte Beschäftigung, die sie sehr unterhaltend fand; aber sie war doch froh, daß sie nicht täglich Sklavin sein mußte. Sie sagte: »Denk doch, wie rasch man versanden müßte – geistig gesprochen – bei einem solchen Geschlepp.«

Marcellus dachte an Ruth und wünschte ihren Stand zu verteidigen. Er erwiderte: »Es gibt zweifellos ebensoviel versandete Freigeborene wie edelgeborene Sklaven.«

»Ist das nicht ein wenig, ein klein wenig – Widerspruchsgeist?« fragte sie.

Auf einem Nebenweg landeten seine Gedanken bei dem Schuhmacher Pedanius, und er sagte: »Es gibt Sklaven, die man um ihre Eigenschaften beneiden könnte.«

»Epiktet!« schlug sie spottend vor.

»Und viele andere«, erwiderte er, und sein Blick ruhte einen Augenblick auf Euphemus. »Schuhmacher, Türhüter, Walker, Fischer – Namenlose.«

»Hundekotsammler für die Gerbereien!«

»Warum nicht?«

Elina lachte laut auf. »Ich könnte in Versuchung geraten, dich zu nehmen – nur um dich ein wenig zu erziehen!«

Und sie verabschiedete ihn mit einem neuen unverhüllten und etwas schwülen Blick, als die Pflicht jedes von ihnen wieder an seinen Tisch rief.

Die Hauptmahlzeit war beendigt. Papirius hatte den Laren des Hauses das Speiseopfer dargebracht und gab stumm das Zeichen zum Auftragen des Nachtisches. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Decke über den Tischen, und herunter fielen Kränze und Blumen, und während sich die Sklaven bekränzten, wurden Salben zum Einkneten herumgeboten. Endlich kam der Nachtisch, der aus warmem Gebäck, Mandeln, griechischen Haselnüssen und eingemachten Blumen aus Damaskus bestand. Dazu wurde zum erstenmal während der eigentlichen Mahlzeit Wein aufgestellt. Mit Andacht trug Papirius eine verstaubte Amphora mit fünfzehn Jahre altem Faustianer Falerner herein. Das war ein heißer, süßer Wein, und seine dunkle Glut garantierte zusammen mit dem Siegel des Papirius für seine Echtheit. Als er eingeschenkt war, wurden die Becher gegen den Hausherrn erhoben, und taktfest erklang das dreimal wiederholte: »Bene tibi!« Ein neuer Wein wurde herumgeboten – diesmal ein Auloner aus Süditalien. Dieser war in einem Lederschlauch aufbewahrt gewesen, damit er einen etwaigen Wasserrest abgeben könnte. Er war schwer und golden, und die meisten verdünnten ihn mit warmem Wasser aus der Maschine, die auf dem Tische kochte. Wieder wurden die Becher erhoben, und dreimal ertönte aus aller Mund ein »Bene tibi!« für Marcellus. Noch einmal wurden die Becher gefüllt, diesmal mit einem Praenester (obschon Euphemus seinem Nachbarn anvertraute, das sei wohl infolge einer Verwechslung ein Priverner), und zum drittenmal erscholl es grüßend: »Vivas!«, während die Becher dreimal in der Richtung gegen die Großmutter drohend rasch aufgehoben wurden, als fühlten sich die Sklaven versucht, Rache für die vielen Male zu nehmen, wo sie ihnen mit ihrem Gackern den Morgenschlaf vertrieben hatte. Und die Großmutter lächelte majestätisch und gerührt wie ein Häuptling, der die Huldigung seines Clans entgegennimmt. Als dies geschehen war, verlangten die Sklaven ihre Sandalen und verließen den Tisch. Sie wanderten in die Gesellschaftsräume hinüber, und als die Servierenden sich jetzt in die Küche begaben, um da zu speisen, benutzte Marcellus die Gelegenheit, Ruth aufzusuchen.

Sie war ihm während der ganzen Mahlzeit kaum aus den Gedanken gekommen. Beständig tauchte ihr feines, schmerzverzerrtes Gesicht mit der zarten Haut vor seiner Seele auf, und immer wieder hörte er das klagende: »Mir ist so bang!« Jetzt eilte er rasch über den schlecht beleuchteten Hof nach der Wohnung der Jüdinnen; aber vor der Tür hielt er jäh an, mit starrem, ungläubigem Blick. Eine Gestalt saß auf der Türschwelle – eine magere, etwas vorgebeugte Gestalt, an der man bei besserer Beleuchtung vermutlich einen dichten grauen Bart und sanfte, nachdenkliche Augen bemerkt hätte.

»Was tust du hier?« fragte Marcellus rasch.

»Vier Pfund!« antwortete der Hund nachdenklich.

Marcellus blieb zweifelnd stehen, ergriff Orbilius bei den Schultern und schüttelte ihn. »Eil dich, sag, was geschehen ist!«

»Jon ist angekommen. Er wiegt vier Pfund!« sagte der Alte und stöhnte unter dem harten Griff.

Marcellus wollte Orbilius zur Seite stoßen und in die Wohnung hineinstürmen; doch in diesem Augenblick ging die Tür auf, und es zeigte sich eine große, furchteinflößende Frau mit dicken roten Armen. Marcellus kannte die Ärztin und Geburtshelferin Turia gut, und sie hatte ihm jederzeit einen ängstlichen Respekt eingeflößt. Turia bemerkte brummend: »Das ist eine schöne Art, die Saturnalien zu feiern ... Hallo, bist du es, Marcellus?«

»Laß mich hinein!« bat er.

Doch sie streckte abwehrend die Hände aus. »Jetzt nicht! Aber wenn du mir einen Tropfen von irgend etwas verschaffst, können wir ja in einer Stunde davon reden.«

Marcellus wendete sich, um Wein zu holen. Sie rief ihm nach: »Aber komm mir nicht mit Vatikaner ... Mit diesem Zeug kommen sie überall daher, wenn sie einen gefragt haben, ob man einen Becher Falerner will.«

Als er den Wein brachte, fragte er: »Wie geht's ihr?«

Ordnungshalber versuchte Turia erst den Wein, antwortete dann aber gutmütig: »Den Umständen nach geht es ihnen beiden ordentlich. Er ist ja recht armselig, und Ruth ist etwas matt, aber was ...«

»Ist es ein hübscher Junge?« fragte der verwirrte Vater.

»Hübsch?« rief sie. »Nein! Als Kind war ich einmal in Pompeji ... wir wohnten nicht weit davon. Wir gingen hin, die Ausgrabungen zu sehen ... und vielleicht eins oder das andere zu finden. Unser Vater hoffte, wir könnten auf ein Gefäß mit Geld stoßen, wie der Sohn unseres Nachbarn ... Aber das einzige, was wir fanden, war ein versteinertes ganzes gebratenes Ferkel auf einer Pfanne!«

»So? Wo willst du damit hinaus?«

»So sieht der kleine Kerl da drinnen aus!«

Marcellus fuhr zusammen und rief: »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

Turia gähnte faul. »Daran ist doch nichts zum Entsetzen. So sehen alle kleinen Kinder aus. Aber was versteht so ein Gelbschnabel davon! Komm in einer Stunde, dann wollen wir sehen, wie die Dinge stehen.« Als er keine Miene machte, zu gehen, fügte sie hinzu: »Ich habe mit Orbilius gesprochen und weiß darum etwas von ... dem hier ... um was es sich handelt. Sonst mische ich mich nicht in solche Sachen; aber er hat mir einmal einen Dienst erwiesen, als ich in Not war. Ich sehe, er ist weggegangen. Sieh zu, daß du ihn auftreibst, dann wollen wir sehen, wie wir es einrichten.« Damit schlug sie die Tür zu, und Marcellus blieb allein im Hof zurück.

Ehe er wegging, setzte er sich einen Augenblick auf die Vortreppe – grübelnd und mit geneigtem Kopf lauschte er auf den Lärm, dessen lautes Dröhnen die ganze Zeit zu ihm gedrungen war. Das lange Erwartete hatte ihn überrumpelt – gerade wie die Saturnalien Rom überrumpelten. Bis zu dieser Stunde war Jon ihm nur eine theoretische Möglichkeit gewesen ... Marcellus mußte einräumen, daß es wirklich nicht anders gewesen war. Ja, eine lyrische Schnurrpfeiferei war Jon gewesen. Und in einem Nu hatte er jetzt mit seinen Händchen die Schleier weggerissen und war als eine barsche und handgreifliche Forderung auf der Bühne erschienen ... wahrlich nicht als eine Verhandlungsgrundlage oder als etwas, was man hätte ändern können ... Und nur vier Pfund! Vier Pfund, die ihre Fäustchen drohend und fordernd einem Vater entgegenstreckten, der neun Monate Zeit gehabt hatte, sich auf seinen Empfang vorzubereiten, dessen erster Gedanke jetzt aber war, den Hund Orbilius um Rat zu fragen.

Aber der Hund Orbilius wurde eben in der Küche von der Großmutter gefüttert, und da dies im Augenblick nicht abgewartet werden konnte, ging Marcellus zu den Sklaven hinüber.

 

Bei den Sklaven neigte sich ein Würfelturnier seinem Ende zu, dessen Ausfall entscheiden sollte, wen das Schicksal zum Saturnalienkönig ausersehen hätte. Die letzten Kämpfer hatten sich ohne Skrupel auf das kostbarste Möbelstück des Hauses gesetzt, einen Tisch mit einer Platte von mauretanischem Zitronenholz auf einem Fuße von Elfenbein. Rundherum standen die andern, mit Ausnahme von einigen Kindern, die woanders mit Nüssen spielten. Jeder Wurf wurde laut ausgerufen und abwechslungsweise mit Freudengeschrei oder Jammern wiederholt. Augenscheinlich waren sie am meisten darauf aus, Philetus zum König zu bekommen, und als der Mühlensklave »Bäcker und Esel« warf, da jubelte die ganze Schar, und ebenso, als Philetus »Vezir« warf oder sogar »König« – den allerseltensten Wurf. Aber endlich war man so weit, daß die Entscheidung, auf wen die Würde als Festkönig falle, mit einem letzten Wurf entschieden werden sollte. Der Mühlenmann warf zuerst – aber es wurde nicht mehr als der »Dieb« – der zweitniederste Wurf, wenn man den »Hahn« nicht mitrechnet. Dann warf Philetus, und in dem Zimmer herrschte atemlose Spannung, aber nur eine Sekunde lang. Dann rief es durch das Haus: »König! König! Philetus ist König! Es lebe der König Philetus!« Bis in die Küche drang der Ruf, und alle kamen gelaufen, dem neuen Monarchen zu huldigen.

Nur Marcellus nahm den Auftritt mit Unwillen wahr. Er zitterte sehr, und seine Lippen waren trocken wie im Fieber. An diesem Abend kam ihm außer Ruth und Jon alles sinnlos vor. Er sehnte sich nur danach, die beiden zu sehen und mit ihnen vereint zu sein, und es gelang ihm nur schlecht, sich ruhig zu verhalten.

Aber von der Seite der Sklaven gesehen, war der Jubel berechtigt. Es hatte wirklich große Bedeutung, wer Saturnalienkönig wurde, denn gegen seinen Richtspruch über den, der etwas verkehrt machte, gab es keinen Widerspruch, und das ganze Vergnügen hing davon ab, daß ein Mann mit Humor gewählt wurde. Außerdem leitete er das Gelage und bestimmte die Geschwindigkeit beim Trinken, und Philetus konnte trinken. In seinen besten Stunden übertraf er sogar Papirius.

Die Erinnerung an frühere Saturnalien schwamm in den Gedankenkreis des Marcellus hinein und nahm die besondere Färbung seines augenblicklichen Hauptinteresses an. Einseitig sah er jetzt nur das Kindische und Grobe an den Scherzen. Besonders drängte sich eine Erinnerung aus dem vorigen Jahre vor, wo ein anderer der Sklaven Saturnalienkönig gewesen war und sich äußerst angestrengt hatte, Papirius lächerlich zu machen, ohne daß dieser es gemerkt hätte – oder es sich hätte merken lassen. Marcellus sah den Vater wieder vor sich: wie er, betrunken und nackt, über den ganzen Körper mit Ruß beschmiert, in eine Wanne mit eiskaltem Wasser sprang, während die Männer vor Begeisterung brüllten, die Frauen einander vor unbeherrschter Freude um den Hals fielen und die Kinder mit Jubelgeschrei umhertanzten oder sich am Boden wälzten. Marcellus sah ihn auch noch durch einen andern Richterspruch verurteilt, einen der Flötenbläser dreimal im Hause herumzutragen, und es wurde ihm vor Ekel beinahe übel.

Aber Papirius, der wieder hereinkam, fühlte sich nicht krank. Ihm waren die Saturnalien eine Quelle unbezahlbaren Vergnügens, und er fand es ganz in der Ordnung, daß er nach Vermögen die Schulden seiner unbemittelten Bekannten bezahlte, mit wertvollen Gaben um sich warf und den Leuten noch dazu in seinem eigenen Hause den Narren machte, wenn das eigentliche Fest anfing.

Die erste Regierungshandlung des Philetus war es, Wein und Becher hereinzubefehlen, und Papirius entfernte sich mit seinem Stab, den Befehl auszuführen. Sie brachten Kühler mit kleingehacktem Eis und Warmwassermaschinen herein sowie für den ersten Umtrunk Honigwein, in den Veilchen- und Rosenessenz gemischt war, für die Kinder, die auch mit Pfeffer, Essig und andern pikanten Dingen gewürzte Melonen bekamen. Darauf folgten die Trinkgerätschaften – zuerst der Apparat zum Mischen und Filtrieren des Weins. Er war bekrönt von einer Art Sieb, in das Eis gelegt werden konnte. Dazu gehörten Schöpflöffel und schließlich die Becher. Diese waren aus Silber und so groß, daß sie einen Sextarius faßten. Durch Kreise waren zwölf Abteilungen an ihnen bezeichnet, und der Leiter des Trinkgelages hatte zu befehlen, wie viele Abteilungen man leeren mußte. Elf Abteilungen waren das Maximum und wurden ein Deunx genannt. Philetus begann bescheiden damit, daß er einen Deunx auf sich selbst trinken ließ. Da gehörte keine prophetische Gabe dazu, das Ende vorauszusagen.

Als Marcellus nachher den Orbilius zu fassen bekam, war seit seinem Besuch auf Mutter Saras Türschwelle mehr als eine Stunde verflossen. Die beiden zogen sich in die kleine Zelle des Euphemus dicht beim Haupteingange zurück. Marcellus war sehr aufgeregt und sprach nervös. »Wenn der Vater erfährt, daß ein Kind von vier Pfund geboren ist, zerschmettert er ihm den Kopf und wirft es in den Tiber. Das ist sein Recht, und er wird es für seine Pflicht halten. Du verständest mich besser, wenn dir seine Theorien über Schwächlinge bekannt wären. Ach ...« Marcellus ballte die Fäuste, »ich höre schon sein Gelächter, wenn er dieses Vierpfundkind eines Gladiators vorzeigt!«

Der Hund antwortete ihm mit einer praktischen Beredsamkeit, die bei ihm fast brutal wirkte. Er sagte: »Wir wollen sehen, ob sich das nicht noch ordnen läßt Ich habe mit Turia darüber gesprochen. Sie hat in den letzten Tagen acht Frauen entbunden – Sklavinnen und Arme –, und es ist vorauszusehen, daß mindestens zwei von den Kindern vor der Namengebung umgebracht werden. Erst heute hat sie einer freigelassenen germanischen Sklavin bei einem Kinde von acht Pfund beigestanden. Soll ich das holen?«

Er sah Marcellus freundlich an, und dieser ergriff eifrig seine Hand. »Willst du das wirklich? Und glaubst du, daß du es bekommst?« Aber zugleich meldete sich eine neue Sorge. »Wo sollen wir inzwischen Jon verbergen?«

»Ein paar Tage wird er wohl bei der andern Mutter sein können. Laß nur mich machen!« schloß Orbilius, und dabei blieb es. Während der Hund sich in die öde Winternacht hinausstahl, bei einer armen germanischen Frau in der Nähe des Vicus Cuprius ein Kind zu holen, eilte Marcellus über den Hof in Mutter Saras Wohnung. Erinnerungen suchen sich zu gern mit einiger Bosheit den Moment aus, aufzutauchen – und so fiel ihm wie der Blitz der Tag ein, an dem ihm Papirius einen Mangel an Tatkraft vorgeworfen hatte. Er konnte sich nicht verhehlen, daß er jetzt auf die eine oder andere Art mitten in den Begebenheiten hätte stecken müssen, und zugleich überfiel ihn der Gedanke, daß sein einziger seitheriger Beitrag zu der Geschichte (um einen von den leichtfertigen Aussprüchen der Großmutter zu benützen) die Kiellegung Jons gewesen war. Dies war eine Abart von Reue – von passiver Reue.

Ruth lag da und wartete auf ihn. Eine müde und grau aussehende Ruth, in ihren Augen noch bedeutende Reste von der Angst, die er vor dem Mittagessen darin gesehen hatte. Sie versuchte ihm zuzulächeln, als er die Tür aufriß und eintrat; aber Tränen erstickten dieses Lächeln, und sein Leichnam blieb in dem unterdrückten Weinen zurück, und das war schlimmer, als wenn nie ein Lächeln dagewesen wäre. Als er auf die Bettstufe trat und sich neben sie setzte, schlang sie ihre Arme um seinen Hals, und er versuchte flüsternd ihre Verzweiflung zu beschwören. Dabei fielen seine Blicke auf seinen Sohn.

Etwas weniger Versprechendes als Jon ließ sich kaum ersinnen. Er sah wirklich aus wie ein Ferkel, wie es Marcellus einmal als Ganzes in einer Kohlsuppe mit Salpeter gekocht gesehen hatte. Der Körper war nicht größer als ein kleines Weizenbrot, und wenn man die Dicke der Handgelenke mit ägyptischen Linsen verglich, so mußte das am peinlichsten für die Linsen sein. Die Glieder bewegten sich mit kleinen krampfartigen Rucken, und von Zeit zu Zeit stieß das Kind Töne aus, die Ruth Weinen nannte; aber es war nur eine kleine ärmliche Abart des Weinens. Selbst wenn man die vier Pfund in der wohlwollendsten Absicht ganz genau untersuchte, war es unmöglich, etwas anderes an ihm lobenswert zu finden als die Augen. Sie waren glänzend und schwarz und funkelten auf rätselhafte Weise. Marcellus beugte sich nieder und küßte diese Augen, und beide Küsse waren so behutsam, daß sie kaum richtige Küsse waren.

Hinterher zeigte es sich, daß das kleine Wesen doch noch andere Eigentümlichkeiten hatte. Das Merkwürdigste war, daß es mit einer Glückshaube zur Welt gekommen war. Kinder mit einer Hand auf dem Kopf oder in ähnlichen Stellungen waren nicht besonders selten. Es wurde angenommen, das bedeute soziale Übel und Neigung zur Verschiebung der Gesellschaftsschichten. Aber eine Glückshaube hatte nur für den Träger Bedeutung und versprach ihm Glück. Turia war eben dabei, die Glückshaube am Feuer zu trocknen, denn die getrocknete Glückshaube brachte auch Juristen Glück. Sie trugen sie als Talisman bei sich, der ihnen bei ihren Prozessen beistehen sollte. Und Turia kannte einen Anwalt, der gern mehr Wind in seinen Segeln gehabt hätte und bereit war, dafür auch etwas auszugeben.

Während Marcellus Jon musterte, fühlte er plötzlich Ruths Hand in der seinen, und er sah, daß ihr Gesicht einen merkwürdigen Ausdruck hatte, als wäre es zu gleicher Zeit viel kindlicher und viele Jahre älter geworden. Wie um ihre Gedanken zu suchen, schaute sie zu der schwarzen, mit gelben Beinornamenten verzierten Holzdecke hinauf; dann kehrten ihre Blicke zurück, und sie sagte: »Ich habe einen schönen Traum gehabt, als ich schlummerte, nachdem du mich herübergetragen hattest.«

»Erzähle mir, was du geträumt hast!« bat Marcellus und wickelte eine Locke ihres weichen schwarzen Haares um seinen Finger.

Nun erst lächelte sie ein wenig. »Ich träumte ... wir hätten Hochzeit. Wir kamen daher, und du hattest einen großen Beutel Walnüsse, die du unter die Jungen warfst, und sie schrien und pfiffen auf den Fingern.«

»Und was tatest du, Geliebte?«

»Ja, vor uns her trug einer von deinen Freunden die Fackel aus Weißdorn und hinter uns kamen zwei andere mit Rocken und Spindel. So erreichten wir das Haus. Es war das hübsche neue Haus in der Sandalenmachergasse – du weißt, das mit den Hermen an beiden Seiten der Treppe. Und während Flöten und Zimbeln und Trompeten geblasen wurden, salbte ich die Türpfosten mit Fett und Öl und umwand sie mit wollenen Binden ...«

»Und dann?« Marcellus berührte ihre Lippen mit den seinen. Sie schaute ihn unverwandt an, mit großen schwermütigen Augen. »Du trugst mich über die Schwelle, und ich höre noch, wie du sagtest, du nähmest mich in die Gemeinschaft von Feuer und Wasser auf.«

Ihr müder Blick wanderte zu Turia hinüber, die in einem Metallkessel mit Korbgeflecht am Feuer saß und die heilbringende Glückshaube fertig trocknete. Ohne nach Marcellus hinzusehen, fügte Ruth tonlos hinzu: »Aber Jon war nicht dabei!«

Er liebkoste und tröstete sie. »Sei ruhig, mein Täubchen! Das hat nichts zu bedeuten. Heute nacht noch wird Jon in Sicherheit gebracht.«

Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. Darauf schlang sie die Arme um seinen Hals und schrie laut: »Mir ist so bang!«

Die zwei Frauen, Mutter Sara und Turia, kamen herbeigelaufen, ihr beizustehen. Die Ärztin übergab Jon Mutter Sara, fing an, das Lager der Kranken zu ordnen und brummte dabei vor sich hin: »Hab mir's doch gedacht!« Aber sie sagte das in einem Tonfall, der deutlich verriet, daß sie sich das im Grunde nicht gedacht hatte.

»Geh jetzt!« fuhr sie, zu Marcellus gewendet, fort. »Und komm später wieder.«

»Aber wenn etwas vorfällt?« fragte er unruhig.

»Dann schicken wir Botschaft, junger Herr.«

Er warf Ruth einen besorgten Blick zu; sie lag in mattem Halbschlummer und schien nichts von dem zu merken, was um sie her vorging. Da die Ärztin ihre Kaltblütigkeit wiedergewonnen zu haben schien, beruhigte sich Marcellus mit der Annahme, die Symptome seien wohl normal.

 

Der Festsaal war indessen zu einer Schenke geworden, in der Philetus die Unterhaltung leitete. Das erste, was Marcellus sah, als er eintrat, war die Großmutter mit Euphemus mitten in einem Tanz, den als unanständig zu bezeichnen nicht besonders bezeichnend wäre, denn alle römischen Tänze waren unanständig. Dieser war grotesk und absurd, und die jetzt mehr als halbbetrunkene Gesellschaft sparte nicht mit Beifall. Als der Tanz vorbei war, brachte Papirius ein Hemina, einen Toast von sechs Ringen, auf Elina aus. Dadurch beging er einen Formfehler, und so wurde er vor den Richterstuhl des Philetus gestellt. Und während die Großmutter in ihrer altmodischen Festtunika aus dunkelgrauem Musselin eine Inspektionsrunde in der Küchenregion machte und Euphemus die Haustür und deren Umgebung inspizierte, bildete die Gesellschaft einen Kreis um den Richter und den Angeklagten. Die Stimmung war sehr erwartungsvoll. Rundum wurde die Erinnerung an die Demütigungen aufgefrischt, die frühere Jahre dem Papirius gebracht hatten. Es fehlte auch nicht an gutgemeinten Ratschlägen und Gegenratschlägen oder wohlgesinnten Stimmen, die vor Übertreibungen warnten. Ein Kind bat flehentlich darum, Papirius solle auf den Händen durchs Zimmer gehen. Als das Durcheinander auf dem Gipfel dessen war, was man von dem vorhandenen Material erwarten konnte, schlug die Keule des Philetus dreimal gegen das Bronzebecken, das zusammen mit dem Purpurmantel das handgreifliche Zeichen seiner Würde war, und das Urteil lautete: Papirius müsse die eisernen Ringe, die die beiden Mühlensklaven um den Hals trugen, mit eigner Hand durchfeilen und entfernen.

Auf einen Urteilsspruch bei den Saturnalien folgten meist Jubel, Beifall, Widerspruch oder andere unwillkürliche Beweise der Teilnahme. Auf diesen folgte nur Schweigen. Ein Gefühl von Bedenklichkeit und Unbehagen bemächtigte sich der Teilnehmer. Hätte Papirius sie, wie früher so oft, mit Narrenpossen unterhalten müssen, so wäre alles gewesen, wie es sein sollte, und der Jubel hätte in tropischer Fülle geblüht. Aber diese Sache ging über die herkömmlichen Grenzen hinaus. Und hier war man auf ein Gebiet geraten, das jenseits der Berechtigung eines Narrenfürsten lag. Offenkundig oder verstohlen richteten sich aller Blicke auf Papirius. Sein Gesicht erschien wie aus Blei gegossen, und die Fältchen, die vom Mund und den Augen ausliefen, waren länger und tiefer als gewöhnlich. Und die Augen dieses Gesichtes suchten Philetus, der strahlte selig in stillschweigender Prahlerei.

»Nun?« sagte er und tötete ein Gähnen durch einen Schlag auf seinen Mund.

Wieder sah man den Hausherrn an. Sein Gesicht belebte sich, die Farbe wurde normal rötlich, und die Fältchen ordneten sich zu einem spöttischen Lächeln. Auf eine Handbewegung hin wurden die Becher neu gefüllt.

»Ein Bes für Philetus!« schlug Papirius vor. Die Becher wurden erhoben, und dieser Toast von acht Ringen stellte das fehlende Gleichgewicht wieder her. Als Papirius lachend Feile, Sand und Lappen verlangte, erhob sich eine lärmende Fröhlichkeit. Die gewünschten Dinge wurden herbeigeschafft. Die Sklaven setzten sich auf Schemel. Die Lappen wurden zwischen Hals und Ring geschoben. Das Unglaubliche sollte also vor sich gehen.

Als Papirius schon die Arbeit an einem der Sklaven begonnen hatte, lagen noch Reste von Bedenklichkeit in der Luft; aber die Feile ging, ohne dem Sklaven weh zu tun, in raschem Laufe hin und her. Zuweilen wurde sie in Öl und Sand getaucht, aber nur, um gleich weiterzueilen, und die Arbeit schritt rasch voran. Als der Ring durchgefeilt war, ergriff Papirius beide Seiten und bog sie vom Halse weg. Der Ring sprang dabei in zwei Stücke, die in eine Ecke geworfen wurden.

Bei dem anderen Sklaven wurde diese Zeremonie wiederholt. Eine neue Feile fuhr hin und her und vertiefte den Einschnitt allmählich, und wieder flogen zwei Ringhälften in die Ecke.

Da erhob sich ein herzlicher und langwährender Beifall, und Philetus schloß die Sache ab, indem er ein Sextans, einen Toast von zwei Ringen – auf jeden der befreiten Sklaven ausbrachte. An den Stellen, wo die Ringe gesessen hatten, erzählten weiße Merkzeichen davon, daß das Eisen, als es angebracht wurde, reichlich heiß gewesen war.

(Nach den Saturnalien verkaufte Papirius die beiden Mühlsklaven an ein Quecksilbersyndikat, das sie in die Zinnobergruben von Sisapo in Baetica schickte. Die durchschnittliche Lebenszeit der Sklaven in diesen Gruben betrug drei Jahre. Philetus aber bekam bei dieser Gelegenheit zwei Ringe als Schmuck für seinen Hals, hergestellt aus den vier Hälften, was sich ohne Schwierigkeit machen ließ, weil sein Hals dünner war als die der Mühlsklaven. Ein halbes Jahr darauf wurde er an einen nicht ansässigen Sklavenhändler verkauft, der besonders betonte, daß er ihn um seines komischen Aussehens willen nehme. Philetus war während dieses halben Jahres nicht wenig heruntergekommen ... Bei den nächsten Saturnalien bewegten sich dann die Possen in den bekannten Grenzen.)

 

Das Bacchanal wurde wilder und wilder. Sklaven und Gäste wechselten ab als Luftspringer, Tänzer, Possenreißer, Narren und Sänger. – Egrilius, der Wurst- und Senfmann, trat in einem Pelz ohne Ärmel als Hirte auf. Er erzählte Geschichten aus Tanais an der Mündung des Don, wo er behauptete, warme Würste an die Pelzhändler verkauft zu haben. Einerlei, in welcher Eigenschaft er dort gewesen sein mochte, er erweckte große Begeisterung, und die Augen hingen ihm womöglich noch weiter aus dem Kopf als vorher. Euphemus zauberte aus einem gewöhnlichen kleinen Nachttopf fünf weiße Kaninchen, eine silberne Flasche mit Essig und einen Damenstrohhut hervor. Er wurde mit einem siebenringigen Toast geehrt. Marcellus wurde dazu verurteilt, den Fahnenmarsch allein auf der Trompete zu blasen. Was er blies, glich dem Fahnenmarsch recht wenig, und der Jubel brodelte wie ein Schlammkrater vor dem Ausbruch. Nachher spielte er ihn tadellos auf der Kithara, und die ganze Gesellschaft brummte als Chor mit. Niemand konnte sich an einen fröhlicheren und harmloseren Verlauf der Saturnalien erinnern. Nur einmal fiel etwas vor, was an die Einleitung zu einer kleinen Mißstimmung erinnerte. Elina sollte nach freier Wahl einen der neuesten Schlager singen. Sie wählte ein beliebtes Revuelied über den neugeborenen kaiserlichen Prinzen Commodus. Auf dem Kothurn und in einem Schauspielerinnengewand, so leicht wie Flor, bestieg sie die improvisierte Tribüne und fing an. Jedermann kannte das Gedicht, dessen Refrain eine Art Wechselgesang bildete. Nach einer umständlichen Schilderung der kaiserlichen Glückseligkeit gelangte man am Schluß jeden Verses an die kitzlige Frage, die von den Zuhörern einstimmig gestellt wurde: »Wer ist des Kindes Vater?« Und Elina sang mit ihrer tiefen, glockenklaren Stimme:

»Ich bin still;
Doch die feilen Dirnen wagen
Keck zu sagen,
Daß der Knirps ein Kompilator ...«

Und der Chor summte:

»Und der Vater?«

Elina:

»Ja, man sagt ...«

Chor:

»Nun – der Vater?«

Und Elinas Stimme gluckste vor Lachen:

»Fünf Matrosen und ein dicker Gladiator!«

Der Beifall war so lärmend, wie wenn ein Haus von sieben Stockwerken einstürzt, und er wiederholte sich nach jedem Vers. Nach dem letzten wollte er kein Ende nehmen. Man trampelte, klatschte und fiel einander um den Hals; aber gerade als Elina die Kothurne von den Füßen schleuderte, kam irgendwoher ein Pfeil geflogen, aus einem viereckigen Stück Papier zusammengefaltet und mit einem Haken versehen, und blieb in den Stirnhaaren der lustigen Witwe hängen. Sie machte ihn vorsichtig los, öffnete ihn und las. Einen Augenblick runzelte sie die Stirn, dann zuckte sie – etwas bleich – die Achseln und reichte Papirius den Zettel. Es stand nur das eine Wort darauf: »Cave!« Das heißt: »Paß auf! Sieh dich vor!« oder wie man es übersetzen will. Darunter stand, in Wachs abgedrückt, unverkennbar das bemerkenswerte Ohr, das Siegel der Curiosa: der geheimen Polizei. Papirius schlug eine laute Lache auf, knüllte den Zettel zusammen und warf ihn weg. Zufällig traf er die Nase des Egrilius, und auch dieser schüttelte sich vor Lachen.

»Wahnsinnig lustig!« stöhnte Egrilius, während sie einander einen Rippenstoß versetzten.

»Dummkopf!« zischte Papirius dem pelzbekleideten Hirten ins Ohr.

Nachher brachten sie gemeinsam das Wohl des kaiserlichen Prinzen aus, und zwar elfringig.

Mit Ausnahme von Elina schenkte kaum jemand diesem Zwischenfall besondere Aufmerksamkeit. Ihr verursachte er dagegen etwas Kopfzerbrechen, aber nur aus Neugier; denn selbstverständlich würde ihr nichts geschehen wegen des Scherzes, den jeder Warenhauspikkolo zehnmal am Tage zum besten gab, und der öffentlich im Theater vorgetragen wurde – sogar im Beisein der kaiserlichen Majestäten. Sie fragte Marcellus nach seiner Meinung, als sie ihn im Privatkontor seines Vaters traf. Dies war ein mittelgroßer Raum, dessen Wände mit Jagdgerätschaften behängt waren: mit Lanzen, Schwertern, Messern, Netzen, Schlingen und Leimruten. An Ausstattung gab es hier sonst noch die Büsten der beiden regierenden Kaiser, einen Schreibtisch, mehrere Stühle und einen großen nach dem griechischen Alphabet eingerichteten Kartothekschrank. Elina setzte Marcellus lachend die Sache auseinander, während er am Schreibtisch saß und mit einer Quaste seiner Tunika spielte. »Ich wüßte gern, ob das ein Scherz ist oder Ernst«, sagte sie zusammenfassend.

»Das wüßte ich auch gern«, nickte Marcellus. »Zu Zeiten hab' ich ein Gefühl, als wäre das Haus voll von geheimer Polizei, und ich bin mir beinah sicher, daß die Kartothek hier Material genug enthält, um ganz Rom holterdiepolter durcheinander zu schütteln wie die Würfel in einem Becher.«

»Du willst doch wohl nicht sagen, daß dein Vater etwas damit zu schaffen hat?« wendete sie ein.

»Nein, die Götter mögen meinen Mund bewahren! Ich denke das nicht einmal. Es gibt Gedanken, die gesundheitsschädlich sind. Aber ist es dir noch nicht aufgefallen, daß der Alte den Einfältigen spielt? Und noch etwas: warum bewegt er sich vorzugsweise in der höchst ungewöhnlichen Gesellschaft von Eros, Egrilius, dem Polizeiarzt und Hermias?«

Sie betrachteten sich den Schrank neugierig. Es war ein ganz gewöhnlicher Kartothekschrank, mit dicken Stahlplatten gepanzert und durch runde Metallstangen geschlossen, die reihenweise den Zugang zu den einzelnen Fächern sperrten. »Es könnte interessant sein, den mit heimzunehmen«, meinte sie.

»Da wäre es viel einfacher, sich ohne diesen Umweg aus dem Leben fortzumachen«, erwiderte Marcellus.

Elina kam ein neuer Gedanke. »Aber man behauptet doch, daß die Curiosa aufgehoben wäre.«

»Die wird nie aufgehoben!« versetzte Marcellus mit Nachdruck. »Ich verstehe ja weiter nichts davon, aber ich denke mir, das sind so Gerüchte, wie sie unter guten Kaisern aufzutauchen pflegen. Ein Herrscher, der die geheime Polizei abschaffte, wäre wie ein Mann, der sich die Ohren abschnitte und sie wegwürfe – und die Augen hinterdrein.«

»Hm, das klingt wenigstens überzeugend; aber wir wollen das etwas im Auge behalten!« sagte sie und machte sich bereit, sich wieder der Gesellschaft anzuschließen.

»Laß uns die Augen lieber zumachen davor!« meinte Marcellus und folgte ihr. Einen kurzen Augenblick beschäftigte ihn die Möglichkeit, Elina könnte selbst ein Mitglied dieser Körperschaft sein, aber er verwarf diesen Gedanken wieder. In diesem Fall hätte der Auftritt, der sich vorhin abgespielt hatte, gar keinen Sinn gehabt. Was Papirius betraf, so schien Raum für mehrere Erklärungen vorhanden zu sein.

Dies dämmerte Marcellus, und er fühlte sich überwältigt.

Inmitten des festlichen Kampfplatzes fingen die tüchtigsten Streiter jetzt wie ausgehende Lichter zu flackern an, und die am stärksten flackerten, waren bereits zu einem Kreis für sich geordnet.

Jetzt wurde nur noch Vaticaner von jener verächtlichen Sorte geliefert, in der die Wolle vor dem Färben gewaschen wurde. Aber da er in den leeren Amphoren der edeln Weinsorten aufgetragen wurde, machte das keinen Unterschied, und eine Ambulanz stand schon bereit in der Gestalt eines angeschirrten Esels, der nur darauf wartete, das erste Opfer nach dem mittlerweile in der Materialkammer der Mühle eingerichteten Lazarett zu schleppen. Dies geschah so, daß der Kopf fest auf einen kurzen Sackschlitten gebunden wurde; dann wurden zwei verbundene Seile unter den Armen des Verunglückten angebracht, und der Esel bekam einen Schlag hintendrauf. In der Materialkammer hielt das Fahrzeug an einer langen Reihe von Kissen längs der Wand gegen die Bäckerei zu. Die Kissen waren von Leder, und ihr Inhalt bestand aus Stroh und Seegras. Wenn sie verunreinigt wurden – wofür es Beispiele gab –, war die Reinigung nicht sehr beschwerlich. Die Damenabteilung befand sich in den Baderäumen, und die Schicklichkeit hatte auf diese Weise nicht zu leiden. Die Korrektheit des Papirius war sprichwörtlich.

Beeinflußt von den demokratischen Lüften des Abends und erfüllt von einem Mut, der seine Wurzeln in eine halbe kapitolinische Amphora voll Wein hinuntersenkte, ließ Hermias sich Elina vorstellen. Das geschah zum vierten- oder fünftenmal im Laufe der Zusammenkunft, und die Vorstellung übernahm Egrilius. Beide Herren traten mit teilnehmender Würde auf wegen des Verlustes, den die junge Witwe doch offenbar durch des Tapezierers Abgang ins Jenseits erlitten haben mußte. Hermias sprach seine Teilnahme aus, worauf Elina sachlich erwiderte, besagtes Ereignis liege nun ein Jahr zurück. Nach dieser Mitteilung wurde die Teilnahme auf halbe Flammengröße heruntergeschraubt, und Hermias krabbelte der nächsten Absperrung entgegen.

»Und das Leben ist doch nun einmal für die Lebenden bestimmt!« zitierte er tiefsinnig. In einem irrsinnigen Anfall von Wagemut zog er zugleich eine Karte hervor und reichte sie ihr mit den Worten: »Für den Fall, daß da etwas zustande kommt, darf ich vielleicht meine Firma empfehlen.«

Elina las die Karte: »Ehevermittlungsbüro Hermias. Erstklassige Ausweise. Vermittlung von Partien, in allen Gesellschaftsklassen. Man verlange Angebote.« Sie lachte mit der Ausgelassenheit dritten Grades, die einem Mann in der Stellung des Hermias zukam, und fragte: »Hast du einen präsentablen Mann in guter Stellung und mit geistigen Interessen?«

Hermias sah sie mit fachgemäßer Glaubwürdigkeit an und sagte: »Jawohl, genau das habe ich. Sogar drei.«

Hier fiel Egrilius ein und rief: »Verzeih mir, wenn es grob klingt; aber einer Dame, die aussieht wie Elina, könnte ich in einer Woche dreihundert verschaffen.«

Hermias scheuchte ihn mit einer Handbewegung weg, als ob er eine Fliege wäre. »Selbstverständlich! Aber hier handelt es sich darum, was ich im Augenblick auf Lager habe – wenn ich so sagen darf –, und da ist namentlich einer: ein Fabrikant. Er macht antike Silberbecher, und er ist geradezu ein Künstler darin, ihnen ein zuverlässiges Gepräge von Abnützung zu geben. Soviel ich weiß, hat er bescheiden mit einem Ziselierrad angefangen. Heute beschäftigt er dreißig Mann. Ein nobler und achtbarer Mann vom Scheitel bis zur Sohle.«

»Ist das P.?« fragte Egrilius mit einem Blinzeln. Hermias antwortete durch Ausweiten seiner einen Backe mit der Zunge und eine schlaue Miene.

»Das klingt ja vielversprechend!« sagte Elina. »Aber was sind die andern?«

Hermias antwortete mit dem Gesicht eines Mannes, der das Trumpfas ausspielt: »Der eine ist ein einsichtiger Geschäftsmann, der unter anderem ein Geschäft in der Sandalenmachergasse betreibt. Von ihm sehen wir vorerst einmal ab. Aber der andere: Theologe, meine Gnädige, ein hochangesehener Geistlicher! Er bekleidet die Stellung eines Oberpriesters – das soll nicht verheimlicht werden – am Isistempel in der dritten Region. Biquesa heißt er. Nimm ihn, und dein Glück ist gemacht!«

»Nach menschlicher Berechnung!« fügte Egrilius mit einer Frömmigkeit hinzu, die er sich angeeignet hatte, als er ein paar Monate lang draußen vor ein paar Synagogen und Bethäusern jenseits des Flusses seine Ware feilhielt.

»Nach menschlicher Berechnung – allerdings!« bestätigte Hermias nachgiebig.

 

Als Marcellus Elina bei den beiden Auguren vertäut sah und sich vergewissert hatte, daß nur erlaubte Ausschweifungen vorkamen, gab er seiner Unruhe nach und ging hinüber, Ruth und Jon noch einmal zu sehen. Des Kindes Ankunft hatte seit ein paar Stunden seine ganze Auffassung vom Dasein und besonders von Säuglingen verändert. Selbstverständlich hatte er Kinder schon immer »gern gehabt« – wer tut das nicht; aber mit Jon lag die Sache doch ganz anders. Bei näherem Besinnen mußte ihm der Vergleich mit einem Ferkel nicht nur als gesucht, sondern geradezu als irreführend erscheinen. Und was die Größe betrifft, so hatte die ja, strenggenommen, in diesem Alter nichts zu sagen – und übrigens auch später nicht. Selbst der große Alexander war ein sehr kleiner Mann gewesen.

Während er so die Sache in immer lichteren Farben sah, kam er wieder an die Haustreppe, die zu Mutter Saras Wohnung führte. Hier blieb er stehen, denn es kam ihm vor, als höre er ein Gemurmel vieler Stimmen. Als er das Ohr an die Tür legte und horchte, war kein Zweifel möglich. Das waren Stimmen, und es waren Stimmen von Männern, wer es nun auch sein mochte. Mit einem Ruck riß er die Tür auf und stand vor einem höchst unerwarteten Anblick: Im Bett lag Ruth, weiß wie frischgewaschene Wolle, und in ihren Armen lag Jon, der sich augenscheinlich in der seitdem verflossenen Zeit nicht weiter verändert hatte. Schon von der Tür aus konnte man sehen, daß seine Augen schwarz waren, und es kam Marcellus so vor, als hätten sie ein klein wenig Ausdruck bekommen – wie von nachsichtiger Mißbilligung. Zwei Ellen vom Bett entfernt saßen auf Schemeln zwei Männer, von denen der eine das leicht kenntliche Gewand eines Wahrsagers trug. Er hatte einen langen weißen Bart, der ihm, wenn er sich vorbeugte, bis auf den Leib hinunterreichte, weiße Zähne und Augen, die merkwürdig weiß aus dem wettergebräunten Gesicht herausleuchteten. Der andere war Pedanius in festlichem Anzug; seine Schultern wurden durch eine dicke weißwollene Toga verbreitert. Auch die Zähne des Pedanius schimmerten in einem breiten Lächeln. Hinter beiden stand der Hund Orbilius. Sein Lächeln war nicht geringer, aber es zeigte eine Beimischung von Mitleid und Zweifel. Am Feuer saßen Mutter Sara und Turfa. Alle schauten nach dem Bett hin, mit Ausnahme der Ärztin, die aussah, als ob sie schlummere. Niemand schaute nach einem anderen großen Säugling hin, der auf einem Kissen abseits am Boden lag und schlief. Dieses Kind hatte etwas Gesundes und Beruhigendes an sich, und es machte hier, wo sich doch niemand darum kümmerte, einfach ein Schläfchen. Das Bild dieses kleinen hellen und rothaarigen Kindes machte auf Marcellus den Eindruck eines Balancierrades. Seine Gedanken zeigten wieder Neigung, sich in Reih und Glied zu ordnen. Er wachte auf.

Lange nachher – zu einem Zeitpunkt, wo das nicht mehr viel Interesse hatte – verursachte es Marcellus Kopfzerbrechen, herauszufinden, wie diese Gesellschaft zusammengekommen wäre. Im gegebenen Augenblick – nachdem er sich erst orientiert hatte – kam ihm das ganz selbstverständlich vor. Sie waren einfach da als liebe und längst erwartete Gäste. Sie saßen so friedlich wie Tauben, die, von einem Naturgesetz, einer unwiderstehlichen Kraft getrieben, zu ihrem Schlage heimgeflogen sind. Von seinem väterlichen Standpunkt aus war nichts Merkwürdiges dabei, daß dieses Naturgesetz Jon hieß.

Als Marcellus hereinkam und sich still zu Ruth setzte, die ihn unaufhörlich mit den Blicken gesucht hatte, war Pedanius eben mit der Deutung eines Traumes fertig, der in schwindelndem Grade günstig für Jon zu sein schien. In den Augen des Pedanius war das vierpfündige Kind das Produkt eines Kompromisses zwischen furchtbaren und mächtigen Kräften. Jon mußte als ein selbständiger magnetischer Pol oder als ein Extrakt von umwälzenden embryonischen Handlungen aufgefaßt werden. Pedanius brauchte nicht gerade diese Worte, aber sie geben ein verkleinertes Spiegelbild des Sinnes seiner Rede. Er nannte ihn eine Gottesgabe und pries sich glücklich, daß es ihm, Pedanius, vergönnt war, das Glückskind in seiner ersten Nacht zu schauen.

Das klang alles sehr gut, und nun fing der Wahrsager an: Rom habe zu den meisten Zeiten Aberglauben und Spott gekannt, wo es sich um die verborgenen Quellen des Verständnisses für rätselhafte Dinge handelte. Selbst in den höchsten Schichten, die doch den Göttern am nächsten sein müßten, hätte man die Roheit Wurzel schlagen sehen. Und man brauche nicht einmal so bösartige Beispiele wie Nero anzuführen, der die Vorzeichen der Glaskugeln, des Vogelfluges, der tierischen Eingeweide oder der Schärfe des Beils verachtet habe. Aber sein Ende sei auch danach gewesen. Der Wahrsager, der sich an Jons Bettchen niedergelassen hatte, sagte, er habe es nicht im Sinn, zu enden wie die Spötter. Sein Glaube sei unverletzt, besonders sein Glaube an die Glaskugeln. Die Kugeln, die er nun aus seinem Gewande zog, waren von Mittelgröße, und er gruppierte sie vorsichtig um den Fuß einer Schale, die auf dem Tische stand. In bedeutendem Abstand dahinter zündete er ein Licht an, und damit war die Brücke über den Abgrund geschlagen, der den Menschen vom Schicksal seiner Zukunft trennt.

Von einem kühlen und unbeteiligten Standpunkt aus gesehen, nahm sich das alles wahrscheinlich sehr einfach aus; aber für die Anwesenden, die alle mehr oder weniger Anteil an Jon nahmen (wenn man von Turia und dem rothaarigen Säugling absieht), war es ein Augenblick von größter Bedeutung, als der weise Mann gleichsam im Äther zu suchen begann. Seine Stirn runzelte und glättete sich abwechselnd, seine Nasenflügel zitterten, und seine Lippen bewegten sich murmelnd. Nur einmal wurde ein Laut hörbar, der klang, als beschwöre er die zwölf Zeichen des Tierkreises. Sein Gesicht war ein mimisches Wunderwerk. Allmählich erhob sich seine Stimme, und seine Worte waren warm und glatt wie eine Hundezunge.

»Hm – hm – hier ist Saturn – ja, bei meiner Seele und Seligkeit – hier ist Saturn, der alte Schuft – es sind doch keine unschuldigen Damen hier? –, nachdem er seinen Vater Uranus seiner Mannheit beraubt hat. O Wunder aller Wunder: der Kerl ist mit der Geschichte der Saturnalien zusammengewoben – vollständig zusammengewoben. Nachdem er die Herrschaft an sich gerissen hat, ist Saturn jetzt damit beschäftigt, seine eigenen Kinder zu verschlingen. Allmächtiger! Singet den Saturnaliengesang, dann singet ihr damit zugleich den Sang für den Wicht hier!« Der alte Weise bleckte alle seine Zähne in einem verklärten Lächeln; er trocknete sich das Gesicht mit einem Zipfel seines unsauberen Gewandes ab und wendete dann seine Aufmerksamkeit wieder seinen magischen Kugeln zu. »Hier ist Rhea, die Gattin des Saturn – mit dem kleinen Jupiterkind. Sie runzelt die Stirn und lächelt. Sie ist im Begriff, ihrem Gemahl einen Streich zu spielen. Sie nimmt ... ja wahrhaftig! Sie läßt ihn statt des kleinen Jupiter einen in Windeln gewickelten Stein verschlingen. Ist das nicht großartig? Ist das nicht prachtvoll?« Der Wahrsager mußte einen Augenblick innehalten, um sich hingerissen die Schenkel zu reiben, ehe er weitermachte. »Der kleine Jupiter liegt auf einer Wiese und saugt an einer Ziege. Er strampelt mit den Beinen, er ... er ... ach, da kommt ein Nebel! Ein Nebel, so dick wie ... wie ... Jetzt ist es verschwunden. Alles ist verschwunden. Das ist doch schändlich! So ein merkwürdiges Kind!«

»Schüttle die Kugeln einmal!« schlug Orbilius vor.

Dieser Rat war vielleicht oberflächlich ersonnen, doch er war gut gemeint. Er fand aber keinen Beifall. Der Wahrsager betrachtete Orbilius von oben bis unten mit einem schiefen Blick und sagte belehrend: »Eine Glaskugel ist nicht dasselbe wie ein ungezogener junger Hund, den man im Nacken fassen und schütteln kann. Sie gibt, was sie geben will, und damit fertig.«

»Selbstverständlich!« applaudierte Pedanius, der als Liebhabermystiker sich selbst in seinem Fach gekränkt fühlte. »Man kann eine Glaskugel nicht schütteln ...!«

Orbilius lachte. »Daran kann etwas sein. Und es ist ja auch nicht wenig, was sie gegeben hat; aber wenn unser kleines Saturnalienkind jemals so weit kommen soll, das große Wunder zu werden ... oder nur so weit, gleich dem Jupiterkind an einer Ziege zu saugen, so fürchte ich, daß es nun bald Zeit wird, es aus dem Wege zu schaffen.«

»Das kann nicht früh genug geschehen«, ließ Turfa ihre nüchterne Ansicht hören.

»Wenn es nur nicht der Tod ist für den kleinen Wicht!« sagte Mutter Sara bekümmert.

»Jedenfalls ist der Tod, wenn er hierbleibt, sein unvermeidliches Schicksal!« warf Marcellus bitter ein. Es war ihm langsam klargeworden, daß alle seine Spekulationen und Überlegungen wegen der Flucht mit einem ganz andern Kind gerechnet hatten. Dem wirklichen lebendigen Jon gegenüber hatte er eine ganz andere Ansicht von diesen Dingen bekommen. Der Weg, der ihm als gebahnt erschienen war, schien nun voller Hindernisse zu sein, und was theoretisch leicht geschienen hatte, war nun plötzlich schwierig. Es war ihm vorher nie eingefallen, daß so fürchterliche Kräfte hinter einem kleinen Wesen her sein könnten, das noch nichts begriff.

»Laßt ihn mir bis morgen früh!« bat Ruth leise. Müdigkeit und Angst waren keineswegs von ihr gewichen, sie war im Gegenteil angegriffener als je. Ihre Stirne war glühend heiß, und sie wischte sich von Zeit zu Zeit eine Träne ab.

Turia stand auf und sagte fest: »Jetzt müssen die Fremden gehen. Und«, sie zögerte einen Augenblick, fuhr aber doch fort: »Pedanius nimmt den Kleinen mit zu der Mutter des Rothaarigen. Auf diese Weise retten wir beiden Kleinen das Leben. Alles übrige ergibt sich dann wohl von selbst.«

Pedanius und der Wahrsager standen auf, um zu gehen. Ruth weinte unbeherrscht, und Jon mußte ihr beinahe mit Gewalt entrissen werden. Auch er weinte nun ziemlich menschlich, wenn auch nicht sehr kräftig. Turia nahm wieder das Wort:

»Und im übrigen halten wir den Mund. Morgen früh ist der Achtpfundjunge Ruths Gladiatorenkind. Nach den Saturnalien wird er seinem Herrn ausgeliefert, und im nächsten Jahre fängt er Schmetterlinge am Ufer des Nils. Ist das beschlossen?« Trüber Beifall erklang, und Turia schloß: »Übrigens wasche ich meine Hände in Unschuld. Es war mir nicht angenehm, damit zu tun zu haben, und für einen andern als Orbilius hätte ich es auch nicht getan.«

Es gab eine herzzerreißende Szene, als das Saturnalienkind weggebracht wurde. Selbst Turia mußte sich rasch mit einer Riechflasche die Nase reiben. Ehe Pedanius ging, zog er Marcellus auf die Seite und vertraute ihm an:

»Mir träumte heute nacht, mein Kopf sei umgedreht, und ich sähe die Dinge von hinten. Nach Artemidors Traumauslegung ist das ein entschiedenes Hindernis, sich von Hause weg auf Reisen zu begeben.«

Marcellus sah ihn forschend an und sagte: »Hoffentlich wird es auch nicht notwendig. Wir müssen einen Ausweg suchen, daß wir ihn irgendwo hier in der Stadt behalten können.«

»Aber ich reise, und wenn der Tiber brennt!« setzte der Schuhmacher seine eigene Betrachtung fort.

Marcellus wurde unruhig wegen dieses unbändigen Eifers und sagte: »Aber wart jedenfalls, bis ich dir Botschaft schicke.«

»Das Gesetz des Höchsten ist das einzige Gesetz!« lautete die rätselvolle Antwort. Unruhig schaute Marcellus den beiden, die das Kind wegtrugen, nach; und nachdem er Ruth geküßt hatte, ging er mit Orbilius wieder zu dem Fest hinüber.

Sie kamen eben recht, zu sehen, wie Papirius nicht mehr konnte und auf einen Diwan fiel. Er versuchte wieder aufzustehen, aber da dies nicht gelang, ließ er sich zurückfallen und blieb liegen. Philetus, der noch unter den Lebenden, wenn auch hart geschlagen war, riß einen kostbaren Gobelin von der Wand und rollte seinen Herrn hinein. Vier Männer trugen ihn ins Bett. Unmittelbar darauf fiel Philetus um und wurde von dem Esel weggebracht. Jetzt waren nur noch wenig Leute da. Unter ihnen befand sich Egrilius, der den ganzen Abend über der berauschenden Wirkung des Weines dadurch entgegengearbeitet hatte, daß er ihn mit Myrtensaft mischte. Da ihn augenscheinlich keiner der Anwesenden brauchte, zog sich Marcellus zurück und überließ den Rest der Großmutter und Orbilius. Als er dabei durch die Zimmer schritt, sah er, daß alles in größter Unordnung war. Sogar die Büste des Hausherrn, die seinem Genius geweiht war und ihren Platz am Eingang zum Tablinum hatte, wackelte und war im Begriff, herabzustürzen. Marcellus rückte sie ehrerbietig wieder zurecht und schaute sich ein letztes Mal um ehe er zu Bett ging.

Es war spät.

 

Marcellus erwachte, als das erste Tageslicht den Marmor von Roms Palästen erreichte. Es kam ihm vor, als habe er irgendein ungewöhnliches Geräusch gehört. Er konnte jedoch nichts bestimmt auffassen und hatte sich eben umgedreht, um weiterzuschlafen, als er deutlich ein leises Klopfen an der Tür vernahm. Schnell stand er auf und öffnete einen Spalt. In dem schwachen Lichte draußen sah er Mutter Sara stehen, klein und zitternd, in großer Erregung.

»Was ist geschehen?« fragte Marcellus.

»Ach, sie stirbt, sie stirbt mir!« jammerte die kleine Judenfrau.

Hastig warf er sich einige Kleidungsstücke über und fragte dabei: »Wann hat es angefangen?«

Sie rang die Hände. »Schon gestern abend hab' ich das Schlimmste befürchtet; aber allmählich beruhigte sie sich, und ich dachte, es ginge wohl vorüber.«

Sie gingen zusammen über den Hof. Auf Marcellus lag eine schreckliche Angst, und er lief mehr als er ging. Hinter sich hörte er das Weinen der Frau, und das veranlaßte ihn, sich noch mehr zu beeilen.

Als er die Stube betrat, richtete sich Ruth, blaß und mit einem schmerzlichen Ausdruck im Gesicht, im Bette auf, streckte die nackten Arme aus und rief nur das einzige Wort:

»Jon!«

Danach sprach sie nichts mehr. Als Marcellus sie unter lauten Beschwörungen aufrichtete, war sie tot.

 

Später am Tage legte Mutter Sara dem Papirius das entlehnte Kind zu Füßen und berichtete ihm von dem Tode Ruths. Papirius beugte sich nieder, hob das Kind auf und sagte: »Schickt es sofort an diese Adresse!« Er ritzte einige Worte auf eine Schreibtafel und sagte zu Mutter Sara: »Du bist frei, sobald wir die Formalitäten geordnet haben.«

Mutter Sara dankte mit weinender Stimme.

»Den Ölhandel wird jemand andres verwalten«, fuhr Papirius fort. Mutter Sara zeigte durch Gebärden, daß sie verstanden habe. »Du sollst bekommen, was du brauchst!« schloß er. »Aber an deiner Stelle ginge ich nicht zu den Christen.«

Sie dankte mit Verzweiflung im Herzen, denn wo sollte sie hingehen, wenn nicht zu den Christen!

Marcellus hatte gehofft, Orbilius im Laufe des Tages zu treffen. In seiner Verzweiflung wußte er sonst niemand, an den er sich wenden könnte; aber der alte Hund war gleich beim Morgengrauen aufgestanden und weggegangen – niemand wußte, wohin. Die Großmutter war freundlich, aber es war eine übertriebene Freundlichkeit. Sie fuhr ihm mit der Hand durchs Haar und sagte:

»Ist es schlimm, lieber Junge?«

Dafür haßte er sie beinah. Er wußte, daß ihr unbestreitbarer Verstand eine grundsätzliche Ansicht über das Leid hatte. Diese Ansicht ging in ihrer anscheinenden Herzlosigkeit davon aus, daß bei den Menschen, wenn sie kaum ein schwerer Kummer betroffen hätte, die Zeit sich sofort daran mache, diesen Kummer auf ein erträgliches Maß herabzudrücken. Und warum dann trauern? Oder warum sich freuen? In Wirklichkeit war die Großmutter ein eingefleischter und leidenschaftsloser alter Hund, aber von einer andern, einer frostigeren Schule als Orbilius. Als Marcellus ihre mageren, krummen Finger in seinen Haaren fühlte, hörte er mehr den Klang der Stimme als die Worte. Sie sagte etwa dies: »Bei dem Höchsten! In einem Monat lächelst du, und in einem halben Jahre lachst du; und in einem ganzen Jahr ist die Wunde zu einer Narbe geworden, an deren Ursprung du dich kaum mehr erinnerst.«

Sein Kummer aber, das fühlte er, würde noch ebenso tief und schmerzlich sein, einerlei, wieviel Zeit darüber hinginge. Er wünschte, er könnte sterben.

Marcellus starb nicht. Kurz nach seiner Unterredung mit der Großmutter ging er zu Mutter Sara hinüber und bat sie um Ruths Schreibzeug. Er hatte es ihr selbst in der Salbenhändlerstraße gekauft. Es war ein gewöhnliches Tintenfaß für schwarze und rote Tinte, mit einem Schwamm zum Auswischen des Geschriebenen und einem Schleifstein zum Schärfen der Federn.

Doch hatte er bei seinem Besuch noch eine zweite, weniger ausgesprochene Absicht. Im Lauf der Zeit hatte er die stille kleine Frau sehr schätzen gelernt, deren einziges in die Augen fallendes Talent ihre verblüffende Fähigkeit zur Resignation war. Ohne es sich recht klarzumachen, sehnte er sich nach einem Menschen ohne Grundsätze und großen Verstand – nur mit ein wenig Herzensweisheit, die ihre Träger mit der Gabe schweigender und freundlicher Teilnahme ausrüstet.

Die Großmutter begriff das, als sie ihn von der Küchentür aus zu der Jüdin hinübergehen sah. Sie ging zu Euphemus hinein, der am Feuer saß und seinen Kater vom vorhergehenden Tag mit einem Toddy erquickte.

»Glaubst du an radikale Veränderung bei einem Menschen?« fragte sie und schüttelte sich und setzte sich in ihrer Lieblingsstellung ans Feuer.

Euphemus zuckte die Achseln. »Dazu gehört Charakter«, sagte er.

»Er ist wie einer, der eine Portion Gicht im Halse hat«, fuhr sie fort. »Und jetzt möchte er einen von den kleinen Gichtkötern, die man zu sich ins Bett nehmen kann, und die das Zeug herausziehen sollen.«

Euphemus zischte: »Dies Bild hast du mir gestohlen. Wenn du dich besinnst, so wirst du dich daran erinnern, daß ich es öfter auf den anzuwenden pflege, der in seiner Verwirrung zu den orientalischen Mysterien läuft.«

Die Großmutter erwiderte: »Dann hast du es sicherlich irgendwo anders gestohlen; aber deshalb hast du noch nicht das ausschließliche Recht darauf. Es paßt sehr gut auf diesen Fall.«

Der Türhüter braute sich einen neuen Toddy. »Es paßt außerordentlich schlecht darauf«, behauptete er. »Na, ich verstehe, was du meinst – abgesehen davon, daß dir die Gabe mangelt, die Dinge in deinem Vorstellungskreis zu gestalten. Und was den vorliegenden Fall anbelangt, so hast du zweifellos recht. Marcellus ist nicht zu beeinflussen, denn er ist geradlinig im zweiten Grad.«

Die Großmutter seufzte: »Du bist ein Abgrund von Weisheit. Wenn dich ein armer Tropf nur auch verstehen könnte!«

Euphemus ließ sich dazu herab, verständlicher zu werden, und sagte: »Die normale, die Geradlinigkeit ersten Grades, wird dadurch hervorgerufen und aufrechterhalten, daß einem Individuum, um ihm zu helfen, Scheuklappen aus herkömmlichen moralischen usw. Ansichten aufgesetzt werden. Verstehst du?«

Die Großmutter nickte lebhaft. Sie konnte Euphemus gut leiden, wenn er Kopfweh hatte. Um die Farbe seines Toddys besser genießen zu können, hatte er ihn in einem hohen Glase angerührt. Das hielt er jetzt bewundernd vor das Feuer, nippte daran und fuhr fort:

»Geradlinigkeit zweiten Grades ist die Wirkung entweder von Furcht oder von Tatenscheu (in casu, von dem letzteren). Sie ist feuer- und diebessicher und jenseits von Gut und Böse. Ihr wesentlichster Fehler ist nicht, daß sie eine gerade Linie verfolgt, wie ein Huhn, das man auf einen Kreidestrich gelegt hat, sondern daß diese Linie zu niedrig liegt. Geradlinigkeit ist unvereinbar mit hohem Flug. Aus demselben Grund ist unser Freund kein Dichter und wird niemals einer werden.«

Die Großmutter suchte nach einem treffenden Widerspruch; aber sie fand keinen. Die beiden alten Ratten kannten einander viel zu gut, als daß sich nicht die eine der andern durch den geringsten unechten Tonfall verraten hätte. Euphemus genoß seine Überlegenheit und seinen Toddy schweigend.

Aber aller genauen Bekanntschaft zum Trotz hätte Euphemus der Großmutter niemals verraten, daß er an diesem Abend in seinem Zimmer sitzen und mißmutig einen Fächer anstarren werde, den er in einem Laden der Heiligen Straße für Ruth gekauft hatte, den er ihr aber nicht mehr hatte geben können. Und die Großmutter bewahrte es als ein tiefes Geheimnis bei sich, daß sie eine ganze Schublade voll von Kleidchen für ein kleines Kind hatte, die aber nun niemals dessen kleine Glieder umhüllen würden.

Man muß armen Seelen diese Art von Seelenverstecken gönnen.

 

Der Einäugige führt den Blinden – Mutter Sara versuchte, die Wunden des Marcellus dadurch zu heilen, daß sie ihm von ihrer Resignation mitteilte. Sie war selbst tief gebeugt, und ihr Gebet – das fühlte auch sie – war wie ein Brandopfer, dessen Rauch erstickend an der Erde hinkroch und niemals den Weg zu dem Höchsten hinauffand. Sie hatte versucht, dem Gott ihrer Väter dafür zu danken, daß er aus Liebe, die über alle Vernunft geht, ihr liebes Kind von einer bösen und häßlichen Erde hinweggerafft hatte. Und sie hatte gefühlt, daß sich ihre Worte, die gleich dankend emporgestreckten Händen waren, noch ehe sie den Mund verließen, zu Fäusten ballten, die sich anklagend gegen den Himmel schüttelten.

Als Marcellus hereinkam und sich setzte, las sie eben die Geschichte von Jephtas Tochter. Es war ein Zufall – sie sagte sich selbst immer wieder, es wäre ein Zufall gewesen –, daß sie gerade bei dieser Stelle sein mußte. Aber da es nun einmal so war, las sie die Erzählung dem Marcellus vor – stockend und monoton, wie alte Leute lesen, wenn ihre Buchgelehrsamkeit gering ist. Nachher las er sie selbst, und er las sie ganz langsam, um sich jedes Wort einzuprägen. Und als er sie gelesen hatte, sagte er hart und verächtlich:

»In Arkadien bringt man dem Zeus Lykaios Menschenopfer – wie ihr eurem Gott. Unsere Götter sind besser. Sie begnügen sich mit Opfern von Tieren und Früchten und Räucherwerk. Ich hasse deinen Gott!«

Entsetzt riß Mutter Sara die Buchrolle an sich und beschwor ihn, nicht so zu reden. Wenn er es nur verstünde, würde er sehen, daß ihr Gott im Gegenteil unfaßbar liebevoll sei. Er sei ein unerschöpfliches Meer von Liebe.

Marcellus lachte.

Wieder versuchte sie, es ihm zu erklären, aber die Worte versagten ihr. »Liebe!« sagte sie, und sie fühlte, daß dies »Grausamkeit« bedeutete. Das Wort »Gerechtigkeit!« formten ihre Lippen, und »Willkür!« klang es durch die Stube.

Als läse er ihre Gedanken, sagte er ein einziges Wort:

»Ruth!«

Da neigte sich der gelbweiße zerzauste Kopf unter der Last, und der schmächtige Körper bebte vor Schluchzen. Marcellus fühlte, daß er etwas sagen mußte, wenn er sich nicht neben ihr niederwerfen und jammern wollte wie sie. Als er nichts anderes zu sagen fand, wiederholte er – noch härter, noch verächtlicher:

»Aber Ruth!«

Sie wendete ihm ihr gefurchtes, tränennasses Gesicht zu und stammelte: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen – der Name des Herrn sei gelobt!«

Marcellus war vor der einen Art von Grundsätzen geflohen, und nun fiel eine andere Art gleich Keulenschlägen über ihn her. Müde stand er auf. Einen Augenblick vorher hätte er den Gott des verzweifelten Weibes verflucht, jetzt ging er müde aus der Stube – müde aller Götter, müde der Menschen und verzweiflungsvoll müde seiner selbst. Mechanisch nahm er das Schreibzeug und trug es in sein Zimmer hinüber. Wenn er nur gewußt hätte, wo Orbilius war, so hätte er ihn aufgesucht. Es war ihm, als müßte der alte Hund auch dafür Rat wissen.

Die Saturnalienwoche verging für Marcellus mit Kreuz- und Querzügen durch sämtliche vierzehn Regionen der Stadt. Ruths Leiche war den Christen übergeben worden, aber er fragte nicht nach dem Begräbnis. Er wollte nichts wissen. Vorläufig genügte es ihm, umherzuwandern. Unermüdlich lief er, von sich selbst los- und in etwas anderes hineinzukommen. Eines Tages sah er die Kaiserin Faustina aus einem Palankin steigen und sich in einen Palast unweit des Eselstors begeben. In seinem träumerischen Zustand trat er ganz nah hinzu, bevor die Leibwache ihn wegjagte. Er sah, daß die Kaiserin plump war und ein hartes Gesicht hatte und einen Hals, der einer Preßwurst glich und wie eine solche deutliche Schnürmerkmale aufzuweisen schien. Diese Begegnung rief bei ihm keine andere Wirkung hervor, als eine dumpfe Klage darüber, daß die Götter die Schönen und Makellosen hinwegrafften und die Berüchtigten und Häßlichen zurückließen. Er gewöhnte sich daran, in Gemeinplätzen zu denken und alle Geschehnisse danach zu beurteilen, in welchem Verhältnis sie zu Ruth standen.

So geriet er bei seinen Wanderungen am zweiten Tage nach der Festwoche in die Kleinbildergasse. Die stark ausverkauften Buden mit den spärlichen Restbeständen von Figuren aus Ton, Marmor, Bronze und Holz, sowie die strammgespannten Schnüre mit Miniaturen von Kindergesichtern erinnerten ihn an das Kleinbilderfest, das er so ganz vergessen hatte. Und sie erinnerten ihn an Jon. Ein Gefühl aufsteigender Unruhe führte ihn zu der germanischen Sklavin, die das Kind aufgenommen hatte. Die Adresse erhielt er von Turfa, die er auf der Straße traf, und er fand eine blonde, kräftige Frau, die ihn überaus kühl behandelte. Sie hätte nicht das Vergnügen, Marcellus zu kennen. Übrigens hätte der Mann, durch den ihr Jon gebracht worden sei, ihn gerade tags vorher auch wieder abgeholt und sie durchaus befriedigend für ihre Mühe entlohnt.

Ob er an ihren Worten zweifle? Sie umfaßte die schmutzige Armseligkeit der Wohnung mit einer Handbewegung: Bitte – sieh nach! Entgegenkommend öffnete sie eine Fensterluke, und das Licht strömte herein gleich fettem, goldenem Öl, ohne doch bis in die Ecken zu dringen oder überhaupt etwas anderes zu erreichen als die Entschleierung von noch mehr Armut.

Marcellus war erschüttert. Er fragte, ob Jon etwas an sich getragen hätte, das als Erkennungszeichen dienen könnte. Die Frau überlegte und schüttelte dann den Kopf. Er sei so fein angezogen gewesen wie ein Prinz; sonst aber habe er nichts Auffälliges an sich gehabt, nicht einmal einen ledernen Lutschbeutel. Doch – bei genauer Überlegung fiele ihr noch ein, daß allerdings ein Stückchen Goldblech dagewesen wäre mit etwas Eingekratztem auf der einen Seite und ein paar Worten auf der andern.

»Stand da: ›Si me amas‹?« fragte er ruhig.

Sie sei sich dessen nicht sicher, erwiderte sie, aber es sei wohl möglich. Offen gestanden, könne sie lateinische Buchstaben nur mit Mühe und Not lesen – der Herr müsse entschuldigen.

Marcellus legte einen Denar auf den Tisch und wendete sich zum Gehen. In diesem Augenblick hörte er ihre Stimme verzagt und tonlos fragen: »Weißt du, ob mein Junge lebt?«

»Er lebt«, erklärte Marcellus mit Überzeugung. Strenggenommen, wußte er nichts darüber, aber er hatte das Gefühl, daß Orbilius so gesprochen hätte.

Die Frau seufzte erleichtert auf und sagte: »Glaubst du, daß es ihm gut ergehen wird?«

»Wie einem weißen Huhn!« lautete die auf gut Glück gegebene Antwort.

»Dann sei Christus gelobt!« lächelte die Frau, und Marcellus verließ sie mit einem höhnischen Lächeln.

»Läuse, Spatzen und Galiläer trifft man überall«, sagte er vor sich hin. Dieser Spruch war eine Anleihe, die er der Schatzkammer des Euphemus entnommen hatte; aber es war eine Anleihe, die sich bis auf das letzte Quadrans mit seinem eigenen Eindruck deckte.

Marcellus begab sich geradeswegs in die Sandalenmachergasse, aber statt sofort Pedanius zu befragen, ging er in die »Vier Säfte«, eine große moderne Bar – oder ein Mittelding zwischen Bar und Restaurant – mit schlanken, hohen, ledergepolsterten Metallstühlen auf einer Erhöhung längs der Schranke und der herkömmlichen Harpokratesbüste auf einer Marmorkonsole über dem Bord mit den Mischapparaten. Marcellus war schon früher hier gewesen, mied aber für gewöhnlich das Lokal, weil er wußte, daß sich Papirius meist hier aufhielt. Er bestellte einen Toddy und ein wenig Kaviar mit geröstetem Brot, und zugleich bat er den Wirt, einen Jungen mit einem Handschreiben zu dem Schuhmacher Pedanius zu schicken.

Er war mit dem Kaviar fertig und wollte sich eben eine Spezialität des Hauses – Weizenbrot mit Butter, die bis zu einem bestimmten Grad von Ranzigkeit gelagert hatte – zu Gemüte führen, als der Junge mit dem ungeöffneten Brief zurückkam. Er hatte Sulpicia, die Frau des Pedanius, in größter Erregung auf einem Schuhmacherstuhl im Keller sitzend angetroffen. Sie war so in Tränen aufgelöst gewesen, daß sie ihm nur mit größter Mühe hatte mitteilen können, Pedanius habe sich am Morgen des gestrigen Tages entfernt und sei seither nicht mehr heimgekommen. Und besonders habe sie betont, daß er während der Nacht nicht zu Hause gewesen sei.

Marcellus hörte wie betäubt zu. Noch wollte er nicht glauben, daß es wahr sei; aber die letzten verblümten Worte des Pedanius machten es nur zu wahrscheinlich, daß er die Sache in die eigene Hand genommen habe.

»Das sollte meine Alte probieren, sich so anzustellen, wenn ich mal eine Nacht ausbliebe!« schloß der Pikkolo mit grimmigem Gesicht und einer Handbewegung, die andeutete, daß er gegebenen Falles auch vor einer körperlichen Züchtigung nicht zurückschrecken würde. Der Wirt, der den Bericht mit angehört hatte – er saß dabei mit dem einen Bein auf dem Schenktisch, hatte eine rotgestreifte Serviette unter dem linken Arm, und seine Rechte war damit beschäftigt, sich die Zähne zu stochern – der Wirt zollte dieser Äußerung Beifall. Was ihn betreffe, so sei er genau so oft bei Nacht zu Hause, wie es ihm passe. Aber er kenne Pedanius. Pedanius sei ein brillanter Mann, der nur den einen Fehler habe, verheiratet zu sein. Ganz außerordentlich und ausgesprochen ver-hei-ra-tet! Sollte indes dieses Ereignis den Beginn einer Epoche bedeuten, die eine gesündere Verteilung der Zügelgewalt im Hause des Pedanius einleitete, so würde er, der Wirt, diese Veränderung mit herzlicher Sympathie begrüßen. Bei diesen Worten ließ er den Zahnstocher in der Tasche seiner Tunika verschwinden und schlug mit der Serviette auf den Deckel eines der Kupferkessel, in denen allerhand kleine Vorspeisen warm gehalten wurden.

Marcellus hatte nur mit halbem Ohre zugehört. Der Leichtsinn, mit dem er Pedanius zu einer Handlung angespornt hatte, von der man befürchten mußte, daß sie für Jon verderblich werden könnte, kam ihm sehr unbehaglich zum Bewußtsein. Er gab sich infolgedessen der ihm eigenen Form von Reue hin – einer unfruchtbaren Reue. Sie brachte ihn aber doch so weit, daß er sich einen Augenblick lang wie ein Verbrecher gegenüber dem Andenken Ruths vorkam. Schließlich trieb sie ihn sogar dazu, sich mit Energie auf Nachforschungen nach seinem Sohn zu werfen – doch war diese Energie durch die instinktive und ganz richtige Erkenntnis der Nutzlosigkeit alles Suchens kastriert.

Jon war verschwunden.


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