Anton von Perfall
Truggeister
Anton von Perfall

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3.

Die Heiligegeistkirche ist das älteste Gotteshaus der Stadt M..., in jener urwüchsigen, plumpen Gotik ausgebaut, welche wohl hauptsächlich durch den Mangel an einem gefügigen Baumaterial verschuldet war. Aus gebrannten Backsteinen werden keine »Strahlen der Andacht«, die in feiner Gliederung emporzucken zum Himmelsgewölbe, es ist vielmehr ernstes, kräftiges Werktagsgebet, welches darin zum Ausdruck kommt, und das war es auch, was Jahrhunderte hindurch von frommen Lippen dort gemurmelt wurde. Kurz, die Heiligegeistkirche ist eine streng bürgerliche Kirche, ihrem Bau, ihrem Aussehen, ihrer Umgebung und ihrer Gemeinde nach.

Sie liegt mitten in der Altstadt; die Giebeldächer drängen sich in mittelalterlicher Hilfsbedürftigkeit um den schützenden Koloß, einige wenige dunkle Gäßchen um ihn herum bildend, und nur die Portalseite liegt frei. Vor ihr breitet sich der Obst-, Gemüse-, Fleisch- und Fischmarkt. Das Himmlische und das Irdische kommt hier in vertrauliche Berührung; der Lärm der Käufer und Verkäufer mischt sich mit Orgeltönen und Choralgesang, man geht hinein, um für die Seele – heraus, um für den Leib zu sorgen. Das Gebetbuch kommt auf das appetitliche Sonntagsganserl zu liegen, der Rosenkranz verwickelt sich in das Grünzeug, Himmel und Erde vertragen sich vortrefflich und predigen hier laut ihre innige Zusammengehörigkeit.

Es war ein bitterlich kalter Dezembertag, die Sonne stand machtlos über der Heiligengeistkirche im frostklaren Himmelsblau. Auf dem Markte herrschte trotzdem reges Leben, nur ging der Verkauf heute schneller und ruhiger vor sich als gewöhnlich. Die weibliche Redseligkeit war offenbar eingefroren; man kämpfte nicht, wie gewohnt, eine halbe Stunde um ein paar Pfennige, die stehenden Fragen, Lock- und Schmeichelworte wurden bedeutend verkürzt oder ganz weggelassen. Und doch herrschte eine auffallende Unruhe unter den Standbesitzern. Man rief sich zu, flüsterte sich in die Ohren, schlug die Hände zusammen, lachte spöttisch, blickte ärgerlich von allen Seiten auf das Zifferblatt oben am Turm der Heiligengeistkirche – man erwartete etwas!

Da schlug die große Glocke an, ein tiefer Brummbaß; dazwischen hinein ein voller heller Tenor. Die Weiber schnellten förmlich empor aus ihren strohgefütterten Holzkästen, alles rannte, unbekümmert um die Kunden, vor die Standtüren und blickte gegen das Portal der Kirche, um welches eine Menge Volk sich gesammelt hatte.

»Na, die Großtuerei! Mit der großen Glock'n läut'n wegen so einer!«

»Je weniger nutz, desto mehr Glück!«

»Wie wir uns nur so herstell'n mögen, als käm a Prinzeß!«

Unzählige derartige Redensarten schwirrten durcheinander. Dann drängte sich alles der Kirche zu. Kälte, Kunden, Waren, alles wurde vergessen. Die »Damen der Halle« schoben sich in die erste Reihe mit der Miene voller Berechtigung. Man sprach gar nicht mehr, die Erwartung war zu groß.

Der Schnee knirschte und tönte von nahenden Wagen; der erste rollte um die Ecke, noch einer, ein dritter, und noch immer kein Ende – jetzt wurden die Leute unruhig.

»Die Protzerei! A Schand' is! A Schwind'l!«

Aus dem sechsten Wagen beugte sich ein Mädchen in vollem Brautschmuck, mit dem sichtlichen Bemühen, gesehen zu werden.

»Die Loni soll leben, hoch!« rief jetzt ein junger Metzgerbursche aus der Menge heraus.

Der Ruf wurde von dem jungen Volk trotz heftigen Widerspruchs der Weiber begeistert aufgenommen, und das Mädchen im Wagen verbeugte sich hocherrötend mit fürstlichem Anstand.

Es war die Trauung Hans Margolds mit Loni Weinmann. Der alte Margold hatte dem Drängen seiner Kinder nachgegeben und verkauft.

Wer nur irgend konnte, drängte sich in die Kirche, man kannte ja die ganze Sippe der Margolds und Weinmanns und war begierig, sie in ihrem vielbeneideten Glück zu sehen. Eine feierliche Hochzeit mit sechs Wagen, am Hochaltar der Heiligengeistkirche – zwei Gärtnerskinder, die zwischen ihren Ständen aufgewachsen waren, das machte die Leute ganz verwirrt.

Endlich trat der Zug aus der Sakristei. Die Braut in weißem Atlas, kostbarem Schleier, geführt von zwei eleganten Herren im Frack – die Loni! das ungezogene Mädel, mit dem sie ihre Kinder gar nicht umgehen ließen. Wie sie stolz daherging, den weißen Strauß für mindestens zwanzig Mark in der Hand! Wo sie wohl die zwei Brautführer hergenommen hatte? Natürlich nicht aus der Familie, feine Herren waren's – vielleicht gar gute Freunde, ehemalige Kunden von Weinmanns! Hinter ihr der Hans, auch mit Frack und Zylinder, und neben ihm – wer ist denn die? Ein sauberes Mädel! Einfach und nett gekleidet und den Kopf sittsam gesenkt, wie sich's gehört in der Kirche – ja, das ist ja die Bertl! die Bertl Margold! Die mit dem Baron! O, die wird die nächste sein in der Heiligengeistkirche, dann werden's mit Gefährten und Bedienten kommen – nein, was das Pack für ein unverschämtes Glück hat! – Ah, da kommt der alte Weinmann! Wie der sich bläht vor Hochmut! Wie ein Bankier schaut er aus – und daneben, richtig, der Margold! O je, den hat das Glück ja ganz zusammengedrückt! Der versteht's noch nicht, den Rentner zu spielen. Und sie erst recht nicht! Schaut's doch! Die Margoldin! Den Hut, wo sie den aufgabelt haben mag, und das seidene – na – das kennen wir bereits. Wie sie daher kommt, als wenn sie einen Sack Kartoffeln tragen müßt! Und wer ist denn der Glatzköpfige da hinten? 's ist keiner von uns! 'n Orden hat er an sein'm Frack – ja, wer kann denn nur das – –

»Der Stefanelly, der Bauunternehmer!« ging's plötzlich andächtig flüsternd von Mund zu Mund. »Der Millionär, der ihnen abkauft hat! Der Millionär!« flüsterte es weiter – dann war's feierlich still.

Die hohe Halle mit den unzähligen Heiligen, Engeln, Marien, Himmelfahrten und Kreuzigungen, die heilige Zeremonie, die sich am Hochaltar vollzog, alles war vergessen; alle Blicke, alle Gedanken hefteten sich auf den Mann mit dem kahlen Haupt und dem Orden vor der Brust, der zwei von ihnen losgekauft hatte aus der Knechtschaft der Arbeit – auf den Millionär Stefanelly!

Wie ein Messias erschien er ihnen, und wäre er jetzt vorgetreten mit der Verkündigung seines kostbaren Geheimnisses, das heißersehnte Gold mit zauberhafter Kraft an sich zu ziehen, sie hätten ihm andächtiger, brünstiger gelauscht, als einem Engel, der herabgeschwebt wäre von dem sternbesäten Gewölbe. –

Sonst waren nur wenige Hochzeitsgäste da, und die wenigen, wohl die nächsten Verwandten, trugen in ihrer altmodischen, ärmlichen Kleidung, ihrer eckigen, schüchternen Haltung zum Glanz des Festes nicht bei.

Als die kurze Trauungsfeierlichkeit vorüber war, stieg Stefanelly in einen Wagen mit dem alten Weinmann, der sich in lärmender, auffallender Weise mit dem Baumeister wie mit einem guten Freunde unterhielt und die knochige Hand mit dem großen blitzenden Diamant wie ein Aushängeschild plump und schwer zum Wagenschlage heraushängen ließ. Loni, die junge Frau, liebäugelte lebhaft mit dem Brautführer, dem jungen Mareschal, ohne es dabei zu versäumen, mit den Augen ihre früheren Verehrer vom Markte zu begrüßen. Trotzdem war sie den neugierigen Leuten immer noch sympathischer als die Bertl Margold, die ihre Umgebung nicht einmal mehr eines Blickes würdigte und sich in die Ecke ihres Wagens drückte – die künftige »gnädige Frau«! –

Der Wagen war verschwunden, man kehrte zu seinen Geschäften zurück und feilschte wieder um jedes Pfennigstück, der lüsterne Traum vom goldenen Glück war verflogen. –

Das Hochzeitsmahl fand bei Arnold statt, das ließ sich der alte Weinmann nicht nehmen. Er war jetzt Hausbesitzer und gehörte zu der großen Spekulantengesellschaft, an deren Spitze Stefanelly stand. Da mußte man doch auftreten.

Ein besonders üppig ausgestattetes Zimmer des Arnoldschen Anwesens war heute für die Hochzeitsgäste in Bereitschaft gesetzt. Loni war ausgelassen fröhlich; die Atmosphäre dieses Raumes behagte ihr, sie warf sich kichernd auf die samtenen Sessel, betrachtete sich in den hohen Spiegeln, knapperte vor Beginn der Mahlzeit schon an dem Konfekte herum, erklärte ihrem Mann, solch ein Speisezimmer müsse sie auch haben, und schien es noch immer nicht vergessen zu haben, daß Ingenieur Mareschal, ihr heutiger Brautführer, ihr einst gefährlich nahe gestanden hatte.

Weinmann erfüllte die Luft mit einem ständigen erschütternden Lachen, und machte sich über Margold lustig, der still und schweigsam dasaß und sich offenbar hier ebensowenig behaglich fühlte wie die übrigen beiderseitigen Verwandten. Mit neugieriger Verlegenheit blickten die Leute auf die reichbesetzte Tafel und umher in dem üppigen Raum, der ihnen wenig Hoffnung gab auf die in ihren Kreisen bei solchen Festen übliche Gemütlichkeit.

In einem sonderbar erregten Zustande befand sich Bertl; jeder Unbeteiligte hätte sie mit dem hochgeröteten Antlitz, den leuchtenden Augen für die Braut gehalten. Es war aber auch ein harter Tag für sie. Der süße Traum, den ihr Vater erbarmungslos gestört hatte, indem er ihr seine Unterredung mit dem alten Brennberg über ihr Verhältnis zu dessen Sohn mitteilte, umgaukelte sie heute wieder mit seinem ganzen verführerischen Zauber. Sie dachte sich auf den Platz Lonis, und wie mit einem Zauberschlag versank ihre ganze Umgebung, der lärmende Weinmann, die unbeholfenen Verwandten, der verhaßte Stefanelly, ja selbst der Vater, die Mutter – und an ihre Stelle trat eine vornehme Gesellschaft, Damen in strahlendem Schmuck, Herren in glänzender Uniform! O, wie sie jetzt alles um sie her anwiderte! Was nützte es ihr, daß der Vater verkauft hatte, daß ihr Wunsch erfüllt war, in M . . . zu sein, wenn sie immer unter diesen Leuten leben mußte! Woher sie nur einen solchen Abscheu gegen dieselben gewonnen hatte? Sie gehörte ja zu ihnen, war mitten unter ihnen aufgewachsen. – Er allein, dem all ihr Denken galt, er war schuld daran, er machte sie unzufrieden durch die trügerischen Hoffnungen, die er in ihr wachrief. – Aber am Ende waren sie doch nicht so trügerisch, diese Hoffnungen? Wie der alte Brennberg sprechen würde, das hatte sie ja von vornherein wissen müssen, ebenso, daß Theodor nicht offen seine Neigung bekennen durfte, ohne alles zu verderben.

Sie fühlte eine heißere Sehnsucht nach ihm als je, nicht nur eine wirkliche Leidenschaft, sondern das angstvolle drängende Gefühl, daß er allein sie retten könne aus diesen ihr jetzt verhaßten Lebenskreisen. Sie errötete über das spöttische Lächeln der bedienenden Kellner, die sich über die Unbeholfenheit und Ungeschicklichkeit dieser Gäste im stillen lustig machten; ihr selbst fiel heute die häßliche Gier, die unsaubere Art ihres Essens auf, das geräuschvolle Lachen, die harte unbeholfene Sprache. Selbst ihr Bruder Hans, trotzdem er aussah wie ein Kavalier, und sogar der reiche Stefanelly mit seinem Orden auf der Brust, seinem gewandten weltmännischen Benehmen kamen ihr entsetzlich gewöhnlich vor. Der Gedanke packte sie, ob sie nicht am Ende auch so aussehe, auch sich so benehme, ohne daß sie es selbst wußte, und ob nicht der junge Brennberg, nachdem er zuerst oberflächlich Gefallen an ihr gefunden hatte, das plötzlich entdeckt haben könnte. Sie musterte und prüfte sich streng im Spiegel gegenüber, forschte nach jeder Bewegung, jedem Zug ihres Antlitzes, der ihr mißfallen könnte, und obwohl sie nichts fand, was sie sich hätte vorwerfen können, so vermochte sie doch nicht, ihrer Beklemmung Herr zu werden.

Stefanelly beschäftigte sich angelegentlich mit dem alten Margold, der neben ihn zu sitzen kam, trank ihm zu, legte ihm die besten Bissen vor, drückte ihm seine Freude aus, daß es ihm, einem tüchtigen, fleißigen Arbeiter, durch die glücklichen Zeitumstände vergönnt sei, seine alten Tage in Ruhe und Behagen zu genießen im Kreise seiner Kinder, und fragte teilnehmend, wie er sein Kapital wohl anlegen werde. Heutzutage könne man nicht vorsichtig genug sein, es gebe immer Leute, die Unerfahrene auszubeuten suchten.

Margold entwickelte darauf mit unruhigem Eifer seinen Plan. Er wolle die Gärtnerei durchaus nicht aufgeben, denn ohne Arbeit könne er nun einmal nicht leben; er habe zu diesem Behufe ein schönes Stück Land außerhalb Hachings, dort, wohin die Stadt doch nie dringen werde, um billiges Geld gekauft, da wolle er einen neuen Garten anlegen, in der Stadt selbst aber vorderhand einen Laden für kunstgärtnerische Erzeugnisse mieten; sein Hans und seine Bertl seien gar geschickt in diesem Fach, er brauche keinen Wettbewerb zu scheuen, und die jungen Leute fänden auch ihre Rechnung dabei, denn sie brauchten sich bei so einem noblen Geschäfte ja nicht einmal mehr die Hände schmutzig zu machen.

Hans und Loni hatten gespannt auf die Reden Margolds gehorcht und warfen jetzt Stefanelly einen bittenden Blick zu.

Dieser runzelte die Stirn; er erklärte sich durchaus nicht einverstanden mit dem Plan, es ginge ihn zwar nichts an, aber da er einmal davon wisse, könne er seine abweichende Meinung nicht zurückhalten. Es sei geradezu ein Verbrechen, mit einem Kapital, wie Margold es jetzt in Händen habe, in dieser wirtschaftlich blühenden Zeit anderen Leuten den Diener zu machen, das könne er seinen Kindern doch nicht mehr zumuten. Das Geld liege ja für ihn auf der Straße; er brauche sich nur zu bücken, um es aufzuheben, doppelt, dreifach so viel, als mit Strauß- und Kränzebinden und dergleichen Kleinkram zu verdienen sei.

Der sonst so kühle, verständige Mann, der auf den alten Margold bisher immer durch sein ruhiges entschiedenes Auftreten Eindruck gemacht hatte, bekam einen roten Kopf vor Erregung; die Sache schien ihm wirklich zu Herzen zu gehen.

Margold begriff ihn nicht; Stefanelly war doch selbst ein Arbeiter, war durch die Arbeit emporgekommen, wie konnte nun er gerade dem Nichtstun so das Wort reden! Margold wußte sehr wohl, was Stefanelly mit dem »auf der Straße liegen« meinte – Häuser- und Börsenspekulation, die Arbeit des Kapitals anstatt derjenigen der Hände. Aber Margold haßte, verachtete diese Art von Erwerb, er konnte sich nicht helfen, Geld verdienen ohne jegliche Arbeit, nur durch Spekulation auf Kosten anderer, dünkte ihm wie Diebstahl. Und er sprach diese Ansicht auch dem Stefanelly gegenüber offen aus.

Hans und Loni lachten hell auf über seine Verschrobenheit; Stefanelly aber stutzte und ging dann scheinbar auf die Gedanken seines Nachbars ein.

»Unter Umständen kann ja ein solcher Erwerb allerdings Diebstahl sein, rechtlich betrieben aber ist er eine absolute Notwendigkeit für das allgemeine Wohl, ein Segen für die Menschheit und gerade für die arbeitende Menschheit. Je mehr Kapital, desto besser, desto mehr bezahlte Arbeit. Wer leistet mehr und Segensreicheres für unsern Stand« – er betonte das Wort »unsern« scharf – »der, welcher mit seiner Hände Arbeit sein tägliches Brot verdient, das heißt, sich und seine Familie ernährt, oder der, welcher mit seiner Kopfarbeit sein Kapital vermehrt und, dieses in den Dienst der Arbeit stellend, Tausende ernährt?«

Das war ein Treffer. Margold blickte mit unverhohlener Bewunderung auf den Unternehmer, der klug die Bresche benutzte, welche er sich in diese harte Brust gebrochen hatte.

»Ich,« fuhr er mit vollem Bewußtsein seiner Bedeutung fort, »ernähre wirklich Tausende, ohne einen Stein anzurühren oder eine Kelle in die Hand zu nehmen. Ich rufe eine neue Stadt ins Leben, begründe unzählige Existenzen – glauben Sie, ich könnte das für mich, aus eigenen Mitteln? – Leider nein! Das Kapital, das vielgelästerte, das nicht meine beiden Hände, mit denen ich früher arbeitete, sondern mein Kopf, mit dem ich jetzt arbeite, mir dienstbar macht, verleiht mir die Riesenkraft, das alles ins Werk zu setzen, und am Ende hat der Kapitalist, welcher ruhig seinen Zins genießt, dasselbe Verdienst für das große Ganze wie ich, der ich ihm denselben zukommen lasse, wie der Arbeiter, durch dessen Fleiß das alles wird, was den Zins trägt. Wechselwirkung, Austausch der Kräfte – darin liegt das ganze Geheimnis der Maschinentechnik, und die ganze Welt ist eine Maschine. O, es sträuben sich viele gegen diese Anschauung! Der alte Herr von Brennberg zum Beispiel – Sie kennen ihn ja« – der Unternehmer beobachtete scharf den Alten – »der gehörte auch dazu, so lange er nichts hatte als sein altes Nest Schönau – jetzt ist er Kapitalist und läßt sich bekehren.«

»Der Herr von Brennberg bekehren?«

Margold brachte das Glas, aus dem er eben hatte trinken wollen, nicht zum Munde vor Erstaunen.

»Und zwar gründlicher, als ich hoffte! Er ist seit einigen Wochen auf meinen Rat und meine Vermittlung hin Hauptaktionär einer Baugrund-Erwerbungsgesellschaft, er wird in einigen Jahren sein Vermögen verdoppeln, ohne einen Schritt dafür machen zu müssen, und er wird dann über seine Schönauer Tätigkeit lachen.«

»Das wird er nimmer, der Herr von Brennberg, auch wenn er ein dreifacher Millionär wird,« fuhr jetzt Margold empört auf. »Lachen über etwas, was ihm sein ganzes Leben heilig war, das tut der alte Herr von Brennberg niemals.«

»Übrigens,« unterbrach ihn, ohne auf seine Erregung zu achten, der Unternehmer, »hätte ich noch einige Aktien zu vergeben – ich bin nämlich der Gründer jener Gesellschaft – und wenn Sie zugreifen wollen, es ist lediglich eine Gefälligkeit von mir; doch da wir einmal schon in geschäftlicher Verbindung gestanden –«

Er zog ein Notizbuch heraus.

»Wollen Sie?« fragte er, seinen kalten Blick auf Margold ruhen lassend. »Bis morgen ist's zu spät, die Dinger gehen ab wie warme Semmeln.«

Die ganze Tischgesellschaft war allmählich auf das Gespräch der beiden aufmerksam geworden, andächtig lauschte sie auf die Worte Stefanellys und blickte jetzt neidisch auf den Alten, den es nur ein Wort kostete, einzutreten in das Goldland, das den meisten von ihnen für immer verschlossen war.

Hans und Loni drängten den Vater und Schwiegervater mit funkelnden Augen und vorwurfsvollen Worten: selbst Bertl, auf die der Alte einen hilfesuchenden Blick warf, nickte ihm zu, er solle nur zugreifen. Der Vater war ja dann der Geschäftsteilhaber Brennbergs, und der Ausgleich zwischen dem Gärtner und dem Rittergutsbesitzer, von dem Theodor einst gesprochen hatte, tat einen weiteren Schritt vorwärts!

Margold war ganz verlassen, allein mit seinem Mißtrauen, mit seiner instinktiven Furcht, die ihm der Antrag einflößte.

»Nun, Herr Margold –« ermunterte der Unternehmer, den Bleistift zwischen den Lippen netzend.

»Nun, so nehme ich eine Aktie!« rang es sich endlich schwer aus der Brust. »Wenn der Herr von Brennberg es riskiert –« Der Gärtner wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Eine? Das ist ja nicht der Mühe wert, unter fünf tue ich es nicht! Lassen Sie sich doch nicht zu Ihrem Glücke drängen!« meinte Stefanelly.

»So schreiben Sie nur fünf für den Vater!« sagte Hans. »Ich nähme alle, soviel Sie mir gäben! – Ums Himmels willen, ist der Mann schwerfällig!«

»Darf ich, Herr Margold?«

»So schreiben Sie fünf!« klang es gepreßt.

Der Unternehmer tat es rasch und schob das Notizbuch ein, indem er einen Augenblick seine stechenden Augen schloß, als wolle er nicht die Freude sehen lassen, die in ihnen aufleuchtete.

Man trank jubelnd auf Margolds Wohl.

»O, er wird schon noch recht werden, wenn er auf den Geschmack kommt!« meinte Hans. »Wie sollen wir Ihnen nur danken, Herr Stefanelly, für alles, was Sie für uns tun!«

»Bitte, bitte, es liegt ja in meinem Interesse, verständige Leute, welche die Zeit begreifen, für das großartige Unternehmen zu gewinnen. Ich stelle mich Ihnen jederzeit zur Verfügung, Herr Margold. Selbstverständlich werden die Herren Aktionäre bei allenfallsigen Häusererwerbungen von mir besonders bevorzugt und von Gelegenheiten zu vorteilhaften Geschäften zu rechter Zeit in Kenntnis gesetzt. Ich kann das machen, nicht wahr, Herr Weinmann, Sie können sich nicht beklagen über Ihr neues Haus!«

»Das meine ich auch, um das Doppelte gebe ich's nicht her!« bestätigte Weinmann.

»Sehen Sie! Machen Sie es auch so, Herr Margold,« drängte Stefanelly, »ich hätte eben eines an der Hand, vorzüglich für Sie geeignet, auch wenn Sie Ihren Plan mit der Kunstgärtnerei durchführen wollen, von dem ich übrigens abrate; es ist schade um das Geld, das Sie hineinstecken. Wenn Sie sich das Haus kaufen, so bekommen Sie mehr für die Miete, als Sie je mit Ihrer Gärtnerei verdienen können, und über Jahr und Tag schlagen Sie es mit einem Gewinn von Tausenden los; wir stehen ja erst am Anfang der Entwicklung von M . . .. Wollen Sie nicht gleich morgen –«

Frau Margold stieß den Gatten kräftig mit dem Ellbogen an und flüsterte: »Greif zu!«

Der Alte war bös in der Klemme.

»Haben Sie etwas Geduld mit mir, Herr Stefanelly,« flehte er; »ich bin alt und kann mich nicht so rasch entschließen. Das kommt alles so plötzlich über mich, dazu der starke Wein hier, ich bin das nicht gewöhnt – morgen vielleicht –«

Hans schlug ärgerlich auf den Tisch und leerte auf einen Zug ein Glas Schaumwein.

Loni und ihr Vater lachten spöttisch, nur Bertl hatte jetzt Mitleid mit dem Vater und unterstützte ihn; heute sei keine Zeit zu Geschäften, morgen könne man ja davon reden. Vorsichtig gab Stefanelly selbst ihr recht und brach das Gespräch ab.

Der Schaumwein erhitzte die Köpfe. Die Geladenen verloren ihre Schüchternheit, vergaßen den vornehmen Raum, der sie anfangs so eingeschüchtert hatte, und lärmten nun auf ihre gewohnte Art, in ihrer gewohnten Sprache. Als Hans in einer wirren Rede Stefanelly als den Wohltäter der Arbeiter, den Stolz der Stadt feierte, da erreichte die ausgelassene Stimmung ihren Höhepunkt, und selbst Margold wurde durch die Erregung und den Wein mit fortgerissen. Er lauschte mit unsicherem Blick auf die Erzählungen Stefanellys, wie er das geworden, was er jetzt sei, durch das Vertrauen, das er sich erworben habe; er bewunderte zuletzt selbst den Mann und kam sich recht albern und unwissend neben ihm vor. Was konnte er erzählen? Von Graben und Schaufeln sein Lebtag lang. Er unterhielt sich jetzt trefflich und sah die Welt plötzlich so lustig vor sich liegen wie damals vor vierzig Jahren, da er sie als Gärtnerbursche mit dem Ränzel auf dem Rücken durchwanderte. Auch Bertl konnte sich der allgemeinen Stimmung nicht entziehen, der Champagner löste in ihr alles in weiches, wonniges Sehnen auf; war ihr Vater nur erst ein reicher Mann – und er war ja auf dem besten Wege dazu – so kam das übrige dann schon von selbst nach.

Der Abend war schon angebrochen und noch immer war kein Ende. Gluthitze erfüllte den Raum und ein schwerer Dunst von Speisen und Wein. Aus dem Zimmer nebenan ertönte Säbelgeklirr, Männerstimmen, Gläserklang – dann trat wieder in bestimmten Zwischenräumen lautlose Stille ein, die nur von einem eigentümlichen leisen Rascheln unterbrochen wurde.

Bertl saß dicht an der verschlossenen Verbindungstür; seit sie das erste Klirren gehört hatte, horchte sie mit höchster Anstrengung – er war bei der Gesellschaft – eine innere Stimme sagte es ihr, Arnold war ja sein Stammlokal. Die peinliche Stille, die nun wieder herrschte, hatte für sie etwas Unheimliches, war ihr unerklärlich. Endlich wagte sie es, den Kellner um Bescheid zu fragen. »Es sind Offiziere, die ihr Spielchen machen bei einer Ananasbowle,« war der Bescheid.

Sie mußte lachen, daß sie das so beunruhigt hatte; aber nach Leutnant Brennberg zu fragen, wagte sie nicht; sie war bei der ersten Frage schon so frech angelacht worden. Den übrigen am Tische fiel der Vorgang im Nebenzimmer nicht auf.

Plötzlich entstand drüben verworrener Lärm, allgemeines Durcheinander, laute Ausrufe: »Gib nach!« »Laß ab!« »Es ist umsonst!« »Verdammtes Pech!« tönten herüber. Ein Stuhl wurde gerückt, eine Tür zugeschlagen, gleich darauf überreichte ein Kellner Stefanelly eine Karte. Bertl hörte deutlich, wie er dem Baumeister ins Ohr flüsterte: »Der Herr Baron möchte Sie sprechen!«

Gewiß, das war er, Brennberg, und was konnte er anders wollen, als nach ihr fragen! Am Ende wollte er gar sich von Stefanelly hier einführen lassen, um sie zu sehen! Über der Freude bei diesem Gedanken vergaß sie ganz, in welcher unpassenden Verfassung für solchen Besuch sich die Gesellschaft schon befand.

Stefanelly verließ das Zimmer mit einem unwillkürlichen Griff in die Tasche. Draußen auf dem Gang stand Leutnant Brennberg mit dunkelrotem glühendem Antlitz.

»Eben gehört, daß Sie hier sind, Herr Stefanelly. Bin in verdammter Verlegenheit, eben den letzten Einsatz verloren, und jetzt will und darf ich nicht gehen! Kamerad aus dem Norden hier, von Berlin, da wär's eine Schande. Der Mensch hat unerhörtes Glück, kann aber nichts, ich kriege ihn doch noch unter, wenn Sie mir aushelfen. Sie haben immer die großen Bohnen bei sich, und wir stehen ja in Geschäftsverbindung, die sich noch erweitern wird, verlassen Sie sich darauf! Fünfhundert Mark? können Sie?«

Stefanelly hatte schweigend seine Brieftasche herausgezogen und einige Worte auf eine Karte geschrieben.

»Hier unterschreiben Sie!« Er reichte dem jungen Mann Karte und Bleistift.

Mit zitternder Hand schrieb dieser seinen Namen darunter, während der Unternehmer fünf Banknoten herauszählte.

»Hier, Herr Leutnant! Es ist zwar nicht recht, daß ich Ihre Leidenschaft unterstütze, aber ich sehe Sie doch lieber in meinen Händen als in denen eines anderen.«

Theodor griff hastig nach dem Gelde, aber Stefanelly hielt es fest; ein Gedanke war ihm gekommen.

»Folgen Sie mir erst zu der Hochzeitsgesellschaft, bei der ich mich befinde, Geschäfte halber natürlich. Sie werden sich unterhalten mit dem komischen Volk. Ein paar hübsche Mädels dabei – na, Sie kennen sie ja, die Loni Weinmann, die Braut, und die junge Margold. Kommen Sie, es liegt mir daran, Sie erweisen mir einen Gefallen –«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich komme, aber zuerst muß ich an den Spieltisch.« Theodor zerrte an den Banknoten, indem er wiederholte: »Ich komme, ich schwöre es Ihnen, nur jetzt –«

Die Finger Stefanellys gaben nach. Theodor blieben die Banknoten. Im Nu war er damit im Nebenzimmer verschwunden.

Zu Bertls bitterster Enttäuschung kehrte Stefanelly allein in das Zimmer zurück, und Theodor hatte doch sicher erfahren, daß sie da war!

Da erklärte der Unternehmer in selbstbewußtem Tone, daß noch ein Gast sich einfinden werde, ein guter Freund von ihm, den er selbst einzuladen sich erlaubt habe, Herr Leutnant von Brennberg.

Ein Offizier als Gast bei der Hochzeit! Das setzte dem Ganzen noch die Krone auf, die späte Stunde, in der dieser Gast kam, wurde nicht in Anrechnung gebracht. Aber wohl oder übel mußte man sich nun doch etwas zusammen nehmen.

Frau Margold lachte mit dem ganzen Gesicht und warf selige Blicke auf Bertl hinüber, der die hellen Tränen in den Augen standen.

Der alte Margold schlief und hörte von der ganzen Sache nichts.

Im Nebenzimmer herrschte wieder lautlose Stille; nur hie und da ein leises Rauschen von Geld und Karten.

Bertl war mit ganzer Seele drüben, was mußte das für ein Spiel sein, bei welchem so andächtige Stille herrschte? Jetzt verworrene Stimmen, lautes Gelächter, Stühle werden gerückt, Gläser klingen; gleich darauf geht die Tür auf und Leutnant Brennberg tritt ein, geradeswegs auf Stefanelly zu, dem er herzlich die Hand drückt.

»Berlin ist besiegt, ich danke Ihnen,« sagte er lachend. Dann wandte er sich, nach einigen mehr als flüchtigen Höflichkeitsworten an den alten Weinmann und an das junge Paar, Bertl zu, die am unteren Ende des Tisches saß, bleich, die großen Augen starr auf ihn gerichtet.

Sie war entzückend als Brautjungfer mit den Blumen im Haar und er sah sie zum ersten Male im festlichen Gewande – kein Zweifel, Berta ward von Tag zu Tag schöner. Der Anblick fesselte ihn, seine Nerven zitterten noch vom Spiele.

»Warum allein und so ernst, Fräulein Berta?« fragte er, sich über sie herabbeugend.

»Warum allein? – Weil ich allein bin!« flüsterte sie erregt und eine Blutwelle schoß in ihr Antlitz.

Theodor setzte sich, der Kellner füllte das Kelchglas.

»Oder glauben Sie vielleicht, ich fühle mich heimisch hier, glücklich?«

»Bei Ihren Leuten?« fragte der Offizier spitz.

»Sie waren es, bis ich andere kennen lernte und mir diese anderen weismachten, diese hier seien zu schlecht für mich. Übrigens sehen Sie mich heute zum letzten Male dabei. Wir sind nicht mehr in Haching, wir haben gut verkauft wie Ihr Herr Vater. Ja, unsere Väter sind ja seit heute Geschäftsfreunde.«

»Wie so, mein Fräulein?«

»Der Vater hat eben Aktien erworben von Herrn Stefanelly, ich weiß nicht, wie die Dinger heißen, aber Ihr Papa hat dieselben –«

»Ah, in dieser Beziehung meinen Sie's, das nennen Sie Geschäftsfreunde? – Reizend, Fräulein Berta! Übrigens freue ich mich, daß Sie meinen Rat so rasch befolgt haben.«

»Freuen Sie sich wirklich? Nun, Sie sind auch schuld daran, ich ließ dem armen Vater keine Ruhe mehr; jetzt freilich merke ich, daß damit eigentlich wenig getan ist, wir nehmen eben Haching mit herein, wie Sie sehen.«

»Das sehe ich gar nicht,« erwiderte Theodor, der mit seinen Augen die blühende Gestalt des schönen Mädchens verschlang. »Sie können heute jede Fürstin beschämen, jedem Salon zur Zierde gereichen. Sie sind wirklich schön, Berta, entzückend schön.«

Theodor sprach diese Worte so verlangend, so lang gedehnt, und sie drangen ihr so tief in die Seele, daß alles flimmerte um sie her. Sie saßen dicht nebeneinander, ganz allein. Die übrige Gesellschaft hatte wieder mit sich zu tun und bei neuen Flaschen den neuen Gast rasch vergessen. Der Ingenieur Mareschal flüsterte, unbekümmert um den Bräutigam, der auf die Lehren Stefanellys horchte mit Loni; nur Frau Margold verlor keinen Blick von dem Paare unten am Tische.

Da erwachte der alte Margold aus seinem Schlafe, blickte verlegen über seine Schwäche umher, und plötzlich blieb sein Blick starr an dem Paare unten haften, an Bertl und Theodor. Er griff sich in das spärliche Haar, er wollte fragen, aber die Sprache versagte ihm. Wo war er denn? Auf der Hochzeit seines Kindes, mit – mit –? Dort saß sie ja an seiner Seite und er neigte sein Gesicht zu ihr – war das die Wahrheit, oder hatte er, der alte Margold selber, den Verstand verloren? Seine Gedanken wälzten sich wirr durcheinander.

»Was gaffst du denn so auf den Baron?« schalt seine Frau. »Gehe hin und bedanke dich für die hohe Ehre, daß er gekommen ist zur Hochzeit von Hans.«

»Zur Hochzeit von Hans – ja so – ist er gekommen! Das ist freilich eine hohe Ehre« – er lachte bitter auf – »der Sohn von meinem guten Herrn! Aber ich kann ihm nicht mehr danken, ich bin ganz wirr im Kopf, es taugt nichts, das Zeug da, für einen alten einfachen Mann, wie ich bin. Komm, Mutter, wir gehen heim, Berta soll auch mit, es ist schon spät!«

Frau Margold war empört.

»Jetzt gehen? Nun, die Bertl wird sich bedanken! Merkst du denn gar nichts mehr?« flüsterte sie ihm zu; »er ist ja ganz vernarrt in sie! Schau doch nur, wie er in sie hineinredet! Es vergeht kein Jahr, da sitzen wir wieder da, aber in anderer Gesellschaft!«

»Wir gehen, Mutter!« Die Worte klangen jetzt bestimmt und klar wie ein Befehl.

Frau Margold wußte aus Erfahrung, daß dagegen nichts zu machen war, wenn sie nicht einen unangenehmen Auftritt heraufbeschwören wollte, und ein solcher mußte jetzt gerade um jeden Preis vermieden werden. Mit einem schweren Seufzer erhob sie sich, ebenso Margold, sicher, fest; er schien wieder völlig nüchtern geworden zu sein.

Alles Zureden der Gesellschaft, selbst Stefanellys, war vergeblich. Das Pärchen unten am Tische wurde durch den plötzlichen Aufbruch jäh aufgeschreckt.

Bertl warf einen flehenden Blick auf den Vater, auch Theodor bat um Aufschub. Margold dankte ihm für seinen Besuch, blieb aber dabei, daß es höchste Zeit sei, er fühle sich unwohl von dem ungewohnten Leben, und auch für Bertl sei es nur schädlich. Es war noch kein Wagen da, aber Margold erklärte, lieber zu Fuß gehen zu wollen, die frische Luft würde ihnen allen gut tun.

Nachdem alle Versuche, ihn zurückzuhalten, sich als vergeblich erwiesen hatten, bot Theodor seine Begleitung an. Margold wohnte erst seit kurzem in dem Hause Weinmanns in dem neuen Stadtviertel, und Theodor stellte ihm vor, er könnte leicht irre gehen, er möge ihm darum erlauben, den Führer zu machen. Das konnte der alte Mann mit dem besten Willen nicht abschlagen.

Loni flüsterte beim Abschiede Bertl ins Ohr: »Ich gratuliere!« und empfing dafür einen innigen, ernstgemeinten Kuß; auch Hans gab der Schwester seine Ermahnung mit auf den Weg, die Gelegenheit zu nutzen. Theodor versprach, um sein Anerbieten weniger verdächtig erscheinen zu lassen, wiederzukommen, dann bot er Bertl den Arm.

Die Mutter wußte es, trotz aller Gegenanstrengung Margolds, der doch nicht mehr ganz fest auf den Beinen war, so einzurichten, daß die jungen Leute einen Vorsprung gewannen, den sie sich nicht mehr rauben ließen. Das war ein wonniger Gang für Bertl, eng geschmiegt an den geliebten Mann, durch die nächtlich stillen Straßen der Stadt. Die frische Luft weckte erst recht die Champagnergeister in ihrem Köpfchen, sie sah alles im rosigsten Lichte, alle Bedenken und Zweifel schwanden. Auch Theodor war erregt vom Spiel und Wein, von dem Anblick des schönen Mädchens, das er bisher stets nur im Werktagskleide, ohne den bestechenden Reiz zu sehen gewohnt war, der jetzt so mächtig auf ihn wirkte.

Eine verzehrende Glut strömte von ihr aus, ihr Arm zuckte in dem seinigen. Sie war für ihn begehrenswert in diesem Augenblick, und zum Entsagen war er jetzt als der Sohn des reichen Vaters noch viel weniger aufgelegt, denn vor wenigen Monaten als armer Leutnant.

Er nannte das Gefühl, das er jetzt empfand, Liebe und ließ sich ganz davon beherrschen, ohne sich über die Zukunft Gedanken zu machen.

Anders Bertl. Der Sinnentaumel, in den sie verfallen war, gipfelte bei ihr in der verlockenden Aussicht auf die Zukunft. Sie gehörte nicht mehr zu den Eltern, die hinter ihnen schweren Trittes und zankend daherzogen, zu der häßlichen Gesellschaft bei Arnold.

Das Gespräch stockte, sie fürchteten sich beide vor Worten, und dieses lautlose Dahinwallen, die stummen heißen Blicke, der leise Druck des Armes – das alles war ja viel süßer als Worte!

Viel zu früh kamen sie in die Neustadt. Baugerüste, denen sie ausweichen mußten, scharfer Mörtelgeruch erinnerten sie daran, ja sie waren schon achtlos an dem Hause Weinmanns vorbeigeeilt, den Eltern weit voraus.

Der alte Margold schrie in wahrer Todesangst: »Bertl! Bertl!«

Das war ein fürchterliches Erwachen! Die Qual der plötzlichen Empfindung preßte ihr die Worte heraus: »Verlassen Sie mich nicht, Theodor, ich verzweifle sonst!« Hastig hatte sie ihm das ins Ohr geflüstert, er aber wandte sich rasch, drückte einen Kuß auf ihre Lippen und sagte leise: »Ich verlasse dich nicht! Nur Geduld, Berta! Ich liebe dich!«

Sie wankte in seinem Arm, das Flüsterwort gellte betäubend tausendfältig in ihr Ohr – da standen auch schon der scheltende Vater, die Mutter vor ihr.

»Ich sag's ja, Herr Baron, das Mädel ist den starken Wein nicht gewohnt, Sie müssen es nicht so genau nehmen mit dem, was sie jetzt alles daher schwatzt!« brachte Margold mühsam stotternd hervor.

Theodor aber löste fast gewaltsam den Arm Bertls, der den seinen ängstlich umklammerte, und empfahl sich mit einigen scherzenden Worten, einem herzlichen Händedruck, mit der Gewandtheit eines in jeder Lage gefaßten Weltmannes.

Als hinter Berta die schwere Haustür ins Schloß fiel, dröhnte der dumpfe Schlag schmerzlich durch ihr Hirn; sie ächzte laut auf.

»Bring' das Mädel zu Bett, es ist ihr ja totenübel,« sagte Margold, während er sich um das Schließen der Tür bemühte.

Die Mutter befolgte seinen Rat und führte ihr halb ohnmächtiges Kind die Treppe hinauf; sie konnte es ohnehin nicht erwarten, bis sie mit Bertl allein war.

Der Alte stolperte lärmend durch das finstere Stiegenhaus, das der Neubauten eigene dunstig feuchte Geruch erfüllte, und brummte von Schwindel und Schande.

Oben in der Stube fiel Bertl schluchzend der Mutter um den Hals.

»Macht er Ernst, sprich, Kind?« fragte sie neugierig.

»Er liebt mich, er hat es mir gestanden!« jubelte das Mädchen auf unter Tränen, ihr Gesicht im Sturm der Gefühle an das der Mutter pressend.

»Sonst nichts? – das kann jeder!« entgegnete diese in kaltem, ärgerlichem Tone.

Bertl riß sich los. Hier fand sie kein Verständnis – nur einen Augenblick hatte sie, in dem Drang, sich mitzuteilen, vergessen, daß sie allein stand – jetzt war sie sich dessen wieder voll bewußt. Sie wich den Vorwürfen, mit denen sie von der Mutter jetzt überhäuft wurde, weil sie mit dem Baron nicht deutlich gesprochen habe, aus und ging auf ihr Zimmer. Dort genoß sie auf ihrem Lager mit geschlossenen Augen tausendfältig den glückseligen Heimgang an seinem Arme: – der Säbel klirrte, die Blicke bohrten sich ineinander, es zuckte hinüber und herüber von Arm zu Arm, und das Zauberwort: »Ich liebe dich!« zitterte ihr im Ohre. Da störten der die Treppe herauffluchende Weinmann, das gemeine Lachen Lonis die Bilder ihrer Seele – der Tag graute schon hinter dem Vorhang.


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