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XII.

Wolkow traf in der Alexander-Station ein. Diese lag seinem Hause am nächsten. In der Hand hielt er einen großen Nelkenstrauß und zwei kleine Flaschen mit Aprikosenkompott. Das war das Geschenk der Anastasia Feodorowna für Therese. Sie schärfte ihrem Manne ein, das Geschenk der Therese persönlich zu überbringen.

»Die Nelke würde dem Kinde Schönheit verleihen, Therese sollte die Blume häufig betrachten und ihren Duft einatmen; die Aprikosen bringen die Güte; sie soll sie mit gutem Appetit verzehren.«

Während der zwei Tage, die er zu Hause verbracht hatte, wurde nur vom Kinde gesprochen: wie es beschaffen sein würde, wenn es ein Knabe sei, und wie, wenn ein Mädchen käme. Beiden wäre ein Mädchen lieber, denn Knaben sind unstet und trotzig, während die Mädchen sanft und lieblich sind und gerne daheim bleiben. Anastasia Feodorowna träumte und phantasierte, als ob sie selbst ein Kind im Schoße hätte. Sie weinte, was schon seit Jahren nicht mehr geschehen war. Tränen der Güte und Liebe flossen aus ihren Augen. Bei dem Abschiede küßte Wolkow die pergamentene Stirn seiner armen Frau mit noch größerer Innigkeit als sonst, und er empfand die überirdische Güte, von der das Herz der armen Frau erfüllt war. Wortlos, mit weisem Verzicht und stummer Ergebenheit in die Fügung des Schicksals erwartete sie die neue Freude, das keimende Leben, mit dem sie nichts zu schaffen hatte. Das Kind, ein Kind der fremden Vengerka war die merkwürdige Brücke, die der Traum und die Hoffnung, die Sehnsucht über die Kluft der Herzen gespannt hatte.

Wolkow läutete, und weil die Tür nicht sofort geöffnet wurde, läutete er nochmals ungeduldig-nervös. Nadinka kam heraus.

»Wo ist deine Herrin?«

»Sie ist nicht zu Hause.«

»Wann ging sie fort?«

»Schon vor zwei Tagen, in den frühen Morgenstunden ...«

»Was? Vor zwei Tagen? In den Morgenstunden?«

Erschrocken, mit bleichem Gesichte wiederholte er Nadinkas Worte ... Ohne seinen Rock abzulegen, eilte er in das Zimmer, wo er den gepackten Koffer und die Hutschachteln sah.

»Was ist denn das?«

»Ich weiß nicht ..., sie hat vorgestern früh alles so hier gelassen.«

»Erzähle mir alles, was du weißt.«

Mit lebhaften Gesten und schmerzlichen Seufzern begann Nadinka ihre Erzählung: Bozse moje! Bozse moje!« und sie sagte alles, was sie wußte. Daß die Herrin geweint und gewehklagt, immerfort ihre Mama angerufen habe und am Morgen eilig fortgegangen. Gewiß war ihre Mama gestorben und Bozse moje!! ... die arme Herrin hatte vielleicht ihrem Leben ein Ende bereitet.

Wolkow sah klar, daß nur der Zeitungsausschnitt, den Amélie der Therese übergab, das Unheil angerichtet haben konnte. Er fuhr sofort zur Madame Amélie.

Die ganze Gesellschaft saß im Speisezimmer und spielte Sechsundsechzig. Sie zankten gerade über einen Einsatz -- die Mädel knieten im Hemde auf den Stühlen --, als Wolkow eintrat. Er wartete nicht, bis er angemeldet war; er schob Dunyasa beiseite und stand in seiner Kleidung eines russischen Bauern plötzlich in dem überhitzten Zimmer vor der lärmenden, überraschten Gesellschaft da.

»Nein, so etwas!« schrie Manci, die im Hemde, mit aufgelösten Haaren bei dem Tische saß und in ihren klappernden Pantoffeln rasch davonschlich.

»Schau ... schau ... Herr Wolkow? Was geht denn vor?« frug Amélie, die selten überrascht war.

»Ich suche Therese ...«

»Therese? Die wohnt nicht mehr hier,« erwiderte Amélie. »Wenn ein Mädchen mich und den Chor verläßt, so kann Gott allein für ihre ferneren Wege verantwortlich sein ... Ist sie flüchtig?« frug sie mit unverschämter Neugierde.

»Jüngst war ich mit ihr in der Yard.«

»Ich weiß, Herr Wolkow. Wir danken Ihnen im Namen des Chors.«

»Sie haben ihr einen Zeitungsausschnitt gegeben. Was stand darin?«

»Nichts ... rein nichts ...« und Madame lachte mit boshafter Schadenfreude. »Die Mama des kleinen Fräuleins wurde eingesperrt, weil sie gewiß auch so eine feine Frucht war wie ihre Tochter. Das ist alles, Herr Wolkow, nicht der Rede wert.«

Wolkow stieg das Blut zu Kopfe. Er frug sie mit heiserer Stimme:

»Mußten Sie ihr denn die verfluchte Zeitung zeigen?«

»Es ist doch nur in Ordnung, wenn das Mädel weiß, was mit ihrer Mutter geschehen ist ...«

»Sie alte Kupplerin, Gott soll Sie strafen! ...« schrie er in seiner Erbitterung.

Madame Amélie erschrak nicht so leicht. Hätte ein anderer ihr das gesagt, so würde sie ihm die Karten an den Kopf geworfen und so unflätig geschimpft haben, daß die Nachbarschaft zusammengelaufen wäre. Allein Wolkow war ein alter, geschätzter, freigebiger Besucher des Lokals. Er durfte nicht beleidigt werden, namentlich jetzt nicht, da die Truppe erst vor einer Woche in das Lokal zurückgekehrt war. Da hieß es, klein beigeben.

Um der kleinlichen Situation eine würdige Wendung zu geben, setzte Madame Améle die Miene der stillen Dulderin auf, der ein schweres Unrecht zugefügt wurde. Sie rief schluchzend aus:

»So spricht man mit einer anständigen Frau wegen einer solchen nichtswürdigen Dirne! Es lohnt sich wahrlich nicht, sich so zu plagen, sich mit der Erziehung der Mädel abzugeben.«

Wolkow hörte ihre Worte nicht mehr. Er ging fort.

Kaum schloß sich die Tür hinter ihm, als Amélie schon im ruhigsten Tone der Welt frug:

»Nun, Kinderchen, wer teilt jetzt aus?«

Wolkow eilte zum Polizeichef des Bezirkes, der sein alter Freund war. Sie hatten die Mittelschule zusammen besucht und Wolkow half ihm oft aus seinen Geldverlegenheiten.

»Ich habe nur noch einige Angelegenheiten zu erledigen; in einer Stunde bin ich bei dir, um das Dienstmädchen zu verhören,« sprach er.

Und Wolkow saß wieder in seiner im Kusnetzky-Most befindlichen kleinen Wohnung. Er saß im Überrock vor dem offenen Fenster, weil er in seinem nervös-erhitzten Zustande das geschlossene Fenster nicht dulden konnte. Auf dem Tische standen der Nelkenstrauß und die beiden Flaschen Kompott. Regungslos, stumm wartete er; die Lippen hatte er aneinandergepreßt, auf seiner Stirne waren die Adern angeschwollen, die Kehle war trocken.

Er klingelte und fragte die eintretende Nadinka:

»Haben wir einen Apfel im Hause?«

»Ja.«

Sie stellte einen Teller, ein Messer und einen Apfel vor ihm hin ... Er rührte ihn gar nicht an. Er dachte nicht mehr daran, er mochte ihn nicht mehr.

Die Gedanken jagten einander in seinem Kopfe, aber sie nahmen keine bestimmte Form an. Am meisten peinigte ihn der Gedanke, daß Therese jemanden habe, von dem sie sich verabschieden wollte, bevor sie ging ... Sie wollte offenbar gehen, wozu hätte sie sonst ihre Sachen eingepackt? Sie wollte fort, fort mit dem Kinde ...

»Nadinka; ... Nadinka!« ... schrie er plötzlich.

Die bleiche, erschrockene Magd lief herbei.

»Wo ist der Schlüssel des Spindes?«

»Sie nahm ihn mit.«

»So? ... Du kannst gehen.«

Er trat zum Spinde, dessen Tür er mit einem Ruck aufriß ... Unter einigen zurückgebliebenen Wäschestücken fand er den Notariatsakt und die beiden Einlagebüchel. Das eine über das ersparte Geld der Therese, das andere ... gehörte dem Kinde ...

Wolkow blickte auf dieses Buch und wurde für einen Augenblick von einem krampfhaften Schluchzen geschüttelt; dann wurde sein Gesicht von neuem ruhig, seine Züge wurden wieder hart. Den Akt und das Büchel steckte er in die Tasche. Merkwürdigerweise dachte er gar nicht daran, daß Theresen ein Unfall zugestoßen sein könnte. Sein eigener Schmerz beschäftigte ihn mehr als Therese ... Er zitterte für das Kind, für seine Hoffnungen. Er hatte die Empfindung, daß es da nicht mit rechten Dingen zugehen müsse. Darum gärte es in ihm wie in einem überhitzten Kessel.

In dieser großen Stille stand er mit gesenktem Kopfe, von trüben Gedanken gequält, in der Mitte des Zimmers.

Es wurde geläutet. Gewiß ist das der Polizeihauptmann, dachte er sich.

Doch nein. Es waren kleine, weibliche Schritte, die Schritte Thereses ... nur waren sie müde, schleppend ...

Wolkow stand noch immer regungslos da.

Die Tür öffnete sich, und Therese erschien auf der Schwelle. Ihr Gesicht war bleich, blutleer, ihre Augen erweitert und hatten einen schmerzlichen Ausdruck, ihr Kinn war länger geworden ... In drei Tagen hatte sie gealtert ...

»Wolkow!« ... klang es von ihren Lippen wie ein leiser Seufzer.

»Wo warst du seit drei Tagen?«

Die Frage, mit leiser Stimme gestellt, schnürt ihr die Kehle zusammen ... Die bleiche Gestalt mit den bläulichen Lippen stand stumm da. Endlich antwortete sie ganz leise:

»Ich muß wegreisen ... Ich muß meine Mutter sehen ... Ich muß sie vor der Tür des Gefängnisses erwarten, wenn sie es verläßt ...

Eine wahnwitzige, starre Ruhe hatte sie erfaßt. Wozu die Sachen beschönigen? Es war ja ohnehin einerlei.

»Und das Kind? ... Was soll mit dem Kind werden?« ... frug er fieberhaft keuchend.

Therese antwortete mit halb geschlossenen Augen und gesenktem Kopfe:

»Es ist nicht mehr ... Darum war ich drei Tage lang fort ...«

Aus ihren müden, roten Augen rollten zwei schwere Tropfen über ihr Gesicht ...

»Wolkow ... ich bitte Sie ... und auch Ihre Frau ... um Verzeihung ...«

Der Bauer klammerte sich an die Lehne des kleinen vergoldeten Strohsessels. Alles Blut strömte nach seinem Gesichte. Das dünne, gedrechselte Holz krachte unter seinen Fingern.

»Was ist geschehen? ... Mein Kind ist nicht mehr?«

»Nein ... es ist nicht mehr,« erwiderte sie kaum hörbar.

»Du Mist! Du Letzte! Du Auswurf der Menschheit!« ... schrie Wolkow mit röchelnder Stimme. »Wie hast du es über dich gebracht, das zu tun?«

Bei jedem Worte stieg seine heisere Stimme höher und höher, mit jedem Worte nahm seine Wut zu ... Er hob den kleinen Sessel und warf ihn mit solcher Wucht zu Boden, daß er in mehrere Stücke zerbrach ...

»Du ... du ... du ... du weißt gar nicht, was du getan hast? Du Mörderin! ...«

Mit erhobener Faust näherte er sich ihr. Starr vor Schrecken flüchtete Therese hinter den Tisch, doch Wolkow holte sie ein, faßte mit der Linken ihren Arm, mit der Rechten griff er nach den auf dem Tische stehenden Nelken, die er ihr in das Gesicht schleuderte, dann erfaßte er in schäumender Wut das auf dem Tische liegende Dessertmesser und stach nach ihr ...

Therese wendete sich plötzlich ab und stieß einen schrecklichen Schrei aus ... das Messer traf ihren Arm ...

»Ich töte dich, töte dich!« ... brüllte er; seine Augen blickten starr, sein Mund blieb offen und der Speichel spritzte ihm aus dem Munde.

»Zu Hilfe! ... Hilfe!« ... schrie Therese mit entsetzter, gedehnter Stimme.

Draußen werden die Türen zugeschlagen, eilige, dröhnende Schritte. Nadinka stand mit verglasten Augen an der Schwelle, die Nachbarn stürmten in das Zimmer und rissen Wolkow von Therese los ...

»Um Gottes willen, was ist geschehen?«

»Aber Herr Wolkow« ...

»Man muß um die Polizei schicken« ...

»Nichts ... er hat ihr nur in den Arm gestochen.«

Die Wohnung füllte sich mit Fremden; Wolkow war noch immer außer Fassung, während die wunde Stelle am Arme Theresens mit einem nassen Umschlage verbunden wurde.

»Schaut euch mal das Aas an,« schrie Wolkow, mit dem Fuße nach Therese stoßend, »ich habe sie aus dem Dreck gezogen, ich habe sie in das Leben zurückgeführt ...«

Der Polizeihauptmann traf ein und bahnte sich durch den Menschenring einen Weg.

»Was ist denn geschehen, Wolkow?«

»Sie ist schon da, sie kam zurück ... Ich will sie nicht sehen, werft sie hinaus, versetzt ihr einen Fußtritt ... Schmutzige Vengerka ... Sie hat mein Kind getötet!« ... stöhnte er mit schmerzlichem Schluchzen.

»Wer hier nichts zu suchen hat, der gehe hinaus!« ... befahl der Polizeihauptmann.

Die Nachbarn verließen jammernd das Zimmer, von der Straße kamen zwei Polizisten herauf, die die Tür schlossen.

Therese saß leichenblaß auf ihrem Koffer, mit dem Gesichte gegen die Wand, den Kopf zu Boden gesenkt.

»Verhaftet sie!« befahl der Polizeihauptmann.

Wolkow trat dazwischen:

»Nein ... Lasset sie!« ...

Seine Stimme war wieder leise und ruhig geworden.

»Tut ihr nichts zuleide ... Aber sie muß fort aus Rußland ... Sofort!« ...

»Begleitet sie also zum Bahnhofe ... Mit dem ersten Zuge soll sie nach Smolensk« ...

— — — — — —

Im Jahre 1912 fuhr ich im Auftrage meines Blattes an die russische Grenze. Europa war vom Gespenste des zweiten Balkankrieges bedroht, in Bukarest waren große diplomatische Unterhandlungen im Zuge und nebst Serbien mobilisierte auch Rußland an der österreichischen Grenze. In Lemberg und Krakau wurden die Spione zu Hunderten verhaftet. Die Spannung war eine entsetzliche. Ich stand in Stschakowa, in einem Grenzdorfe der nach Warschau führenden Linie, am Ufer der langsam dahinfließenden Przemsa. Am jenseitigen Ufer begann Rußland. Es war ein milder Winter; vom anderen Ufer winkten die traurigen weißen Pappeln herüber; in der Ferne erschien hie und da die Gestalt eines Grenzwächters mit dem aufgepflanzten Bajonett, und ich sah die Umrisse des zwiebelförmigen Kirchturmes von Granitza; darüber hinaus nur wandernde Wolken und der Nebel der melancholischen Tiefebene Polens. Und in der Ferne das geheimnisvolle, rätselhafte Rußland mit seinen hundertsechzig Millionen Menschen, seinen riesigen Heeresmassen, unbekannten Gärungen und Vorbereitungen. Auf den beiden Ufern war kaum jemand zu sehen, aber die gewitterschwüle Atmosphäre verriet, daß die Heere für den entsetzlichen Kampf auf Leben und Tod bereitgestellt waren.

In Gedanken versunken ging ich langsam zur Bahnstation Stschakowa zurück. Im Wartesaale zweiter Klasse fiel mir ein bleiches Mädchen mit eingefallenen Augen auf ... Irgendwo muß ich sie schon gesehen haben ...

»Ist das nicht Goldfischlein?« ...

Sie trat einmal in irgendeiner Operette auf.

Sie trug einen kostbaren Pelz, neben ihr stand eine Hutschachtel und eine Handtasche.

Ich sprach sie an.

Ja, sie war es. Wir fuhren zusammen bis Budapest. Unterwegs erzählte sie mir ihre Geschichte. Ihr Reisekoffer ist irgendwo zurückgeblieben. Sie konnte in keiner russischen Station aussteigen, weil von Moskau ein telegraphischer Befehl bis Granitza erging, sie nirgends russischen Boden betreten zu lassen. In jeder Station stieg ein Polizist zu ihr in das Coupé ein. Außer einigen hundert Rubeln und dem Geschmeide in der Handtasche verblieb ihr nichts. Ihre sonstige Habe ist in einer russischen Station oder vielleicht schon in Moskau zurückgeblieben.

Wir fuhren noch stundenlang beisammen ... Sie setzte ihre Erzählung fort. Der Zug schleppte sich langsam bergauf und fuhr dann talwärts. In einer Station erblickten wir unter dem Coupéfenster die grünblaue Hahnenfeder des ersten ungarischen Gendarmen.

Die Vengerka war in der Heimat eingetroffen.

Finis

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