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VI.

Am anderen Tage erwachte sie eine Viertelstunde nach Mittag. Im Zimmer war es ganz finster; die blauen Vorhänge bannten das Licht des Außenlebens und durch die geschlossenen Rollbalken drang der Lärm der Stadt Moskau gleich dem Geräusch einer unbekannten, märchenhaften Gegend herein. Sie hatte keine Ahnung davon, wie spät es sei; aus dem anderen Bette drang das langgedehnte, beinahe pfeifende Atmen Irenes herüber.

Ihre weit geöffneten Augen suchten die Finsternis zu durchdringen und allmählich konnte sie die Umrisse der sie umgebenden Gegenstände unterscheiden. Gedankenlos starrte sie in das Dunkel, und erst jetzt besann sie sich darauf, daß sie sich nach einer mehrtägigen Reise in Moskau befinde, wobei sie im Gefühle einer lähmenden Beklemmung sich all dessen erinnerte, was seit gestern mittag in der Yard geschehen war. Sie befand sich also auf russischem Boden, im gelobten Lande der Frau Tomcsányi, wo sie ihr Glück finden sollte. Ein sentimentaler Russe hatte ihr für nichts, für einen Blick, fünf Rubel gegeben; der Mann hatte sie dafür belohnt, daß sie das Kleid seiner verstorbenen Freundin trug. Hatte sie dieses Geld wegen ihres Talents oder wegen ihrer Schönheit bekommen? Nein. Wegen eines anderen Mädels, das vor kurzem im Napoleonsaale herumging, gerade so, wie gestern abend Therese. Es wäre passend, einige Rosen auf ihr Grab zu legen. ... Und im Gewirr der ungeordneten und dennoch zusammenhängenden Gedanken, die sich besonders im Finstern zu eigentümlichen Einfällen verknoten, begann sie zu rechnen: fünf Rubel, das macht zwölf Kronen fünfzig Heller, fünfzig Rubel aber hundertfünfundzwanzig Kronen, fünfhundert Rubel tausendzweihundertfünfzig und tausend Rubel zweitausendfünfhundert Kronen. ... Sie mußte tausend Rubel erübrigen, um Frau Lebán und das Klavier auszahlen zu können. Tilgte sie die Schuld in kleinen Raten, so mußte sie monate-, ja jahrelang hier bleiben, während sie sich doch von Amélie losmachen wollte. Sie würde Solistin werden. Sie konnte ja auch geradeso gut singen und tanzen wie die Solistinnen im Varieté. ... Welch ein schöner Mann war doch Jurakowsky, der Kapellmeister. Bisher hatte sie über die bärtigen Männer gespottet, und doch könnte sie diesen einen sogar küssen. Ja ... besonders um die Mundwinkel war er schön anzusehen. Wie voll und rot seine Lippen waren. ... Das Geld würde sie der Mutter schicken, damit sie das Klavier und die Schneiderin auszahle, das würde die arme, alte Frau beruhigen. Sofort wollte sie ihr einen langen Brief schreiben. Sie möchte das Lichtbild des Mädchens sehen, dessen Kleid sie trug. Der Bauer würde es sicherlich haben.

So schwirrten ihr die Gedanken durch den Kopf, während Dunyasa draußen ein sanftes Lied aus der Wolgagegend sang und Eßgeschirr über den Korridor trug.

»Mittagmahl! Mittagmahl!« ertönte plötzlich eine Stimme, und die Zimmertür ging auf.

Es war nicht die Stimme der Amélie, sondern wahrscheinlich jene der Köchin. Therese erschauerte, sprang aus dem Bett, schlüpfte in ihre hochroten Pantöffelchen, die sie zuerst gelegentlich der Trikotprobe bei der Rosa Ligeti getragen, ging im Hemde zum Fenster und lüftete ein wenig den Vorhang. Greller Sonnenschein flutete in das Zimmer; Irene stieß die Decke mit den Füßen vom Bette und lag halbnackt da. Ihre Kleider lagen auf dem Tische und auf den Stühlen in der größten Unordnung herum. Thereses Schlafrock lag auf ihrem Koffer.

»Na ... das Fenster ... Was springen Sie herum?« brummte Irene, indem sie, ohne die Augen zu öffnen, die Decke aufhob.

»Ich will nur den Schlafrock anziehen«, erwiderte Therese.

Sie eilte im Schlafrock in das Badezimmer; dieses befand sich in einer finsteren Ecke des Korridors; Seife oder ein Handtuch war darin nirgends zu sehen. Gerade wusch sich die Gabi, die in der mächtigen Holzwanne nackend dastand und gleich einem kleinen Kinde mit den Füßen im warmen Wasser herumplätscherte. Auf dem Fenstergesims stand eine Kerze, die ein kümmerliches Licht verbreitete.

»Haben wir nur dieses eine Handtuch?« frug Therese.

»Nicht einmal dieses eine!« kreischte Gabi im Wasser. Jedes Mädel hat Handtuch und Seife mitzubringen. Bitte, seifen Sie mir den Rücken ein.«

Und sie hockte nieder, während Therese ihr mit der Seife über Schultern und Rücken fuhr.

»Wenn Sie rasch zurückkommen, will ich Sie ebenfalls einseifen.«

Therese ging hinaus, um Seife und Handtuch zu holen. Als sie zurückkam, saß auch schon die Manci in der Wanne. Man merkte ihr das Behagen an, mit welchem sie sich bis zu den Schultern in das warme Wasser senkte. Therese stand schüchtern und verschämt in dem von Wasser- und Bretterdunst erfüllten Zimmer da.

»Sie baden nicht?« frug Gabi.

»Später, ... wenn ihr hinausgeht ...«

»Vielleicht schämt sich ... Virginia!«

Und die beiden Mädel brachen in lautes Gelächter aus. Sie trockneten sich ab und liefen in ihren klatschenden Pantoffeln über den Korridor.

»Das Jungfräulein wäscht sich ... das Jungfräulein wäscht sich!« schrien sie lachend, daß das ganze Haus es hören mußte.

Therese ließ das Wasser abfließen und wartete, bis sich die ganze Wanne aufs neue füllte. Sie bemerkte gar nicht, daß Amélie in das Badezimmer trat.

»Fräulein, Sie müssen mit der Kerze und mit dem Wasser haushälterisch umgehen, ... diese sind in der Gage nicht mit inbegriffen.«

Und sie verschwand. Therese wusch sich, hüllte den gereinigten Leib in ihr Negligé und ging in das Speisezimmer, wo der Tisch nur für drei Personen gedeckt war. Amélie, Lencsi und Manci saßen vor den Tellern.

»Was wollen Sie, Fräulein?« frug die Direktrice in geschäftsmäßigem Tone.

»Ich will essen.«

»Hier? Dann irren Sie sich sehr ... Gestern, am Tage Ihrer Ankunft, waren Sie mir willkommen, aber die Damen speisen gewöhnlich in ihrem Zimmer ... Dunyasa wird Sie dort bedienen.«

Therese ging in das dunkle Zimmer zurück. Irene pfiff noch immer und stieß die Decke abermals mit den Füßen weg.

»Na ... na ...« brummte sie, als Therese den Vorhang wegzog.

»Es ist ja schon zwei Uhr.«

»Na und dann? Und wenn es fünfundzwanzig Uhr wäre. ... Nicht einmal schlafen kann man ... Wozu schickt man mir ein neues Mädel auf den Hals?«

Dunyasa brachte das Essen. Auf der Tasse stand ein Teller Suppe, Kohlgemüse, ein Stück Brot und Mehlspeise.

»Wo bleibt das Fleisch?« frug Therese.

Das russische Dienstmädchen schüttelte bloß den Kopf, ohne zu antworten, und ging hinaus. Irene setzte sich im Bette auf.

»Was fehlt Ihnen sonst noch? ... Vielleicht ein gebratener Kapaun? Seien Sie froh, daß Sie das hier bekommen ...«

Als sie merkte, daß Therese die Platte auf den Tisch stellen will, begann sie plötzlich zu raunzen.

»Was fällt Ihnen ein. Der Tisch gehört mir, ich habe ihn gekauft. ... Essen Sie auf dem Bett, wie wir alle es zu tun pflegen.«

Und sie fand es ganz natürlich, daß Dunyasa ihr Essen auf das Bett hinstellte. Sie kämmte ihre Haare mit der Hand nach rückwärts und begann zu essen.

»Warum haben denn Sie Fleisch bekommen?«

»Wenn Sie Solistin mit einer Gage von siebzig Rubeln sind und sich vier Jahre hier geplagt haben werden, sollen Sie auch Ihr Fleisch haben ...«

Indes ließ ihre Schroffheit während des Essens nach, und sie suchte ihre Gefährtin zu trösten:

»Na, ... Sie brauchen deswegen nicht den Kopf hängen zu lassen. Ich habe mich in der Strelna bis neun Uhr früh mit einem Kapitän unterhalten, der in Warschau bei den Grodno-Husaren liegt. ... Er gab mir dreißig Rubel. Ich war schläfrig. ... Ja, mein Kind, ein Mädel muß hier manches herunterschlucken, solange es grün und unpraktisch ist. Ich sage dir, verschaffe dir einen guten Freund, dann bist du eine Herrin. Willst du in das Lokal hereinkommen, so tust du es, wenn nicht, so bleibst du zu Hause, zahlst für den Tag Strafe und pfeifst auf die ganze Truppe. Nicht wahr?«

Sie hatten das Essen noch nicht beendigt, als Amélie eintrat.

»Nun, was gibt's?« frug sie Therese, ihr auf die Schulter klopfend. »Ist die kleine Virginia vorhin erschrocken? ... Na, wenn sonst nichts! Aber, liebes Kind, man muß ja ein klein wenig Ordnung halten.«

Dann wandte sie sich an Irene:

»Hast du wenigstens etwas verdient? Ich hörte dich um halb zehn Uhr vormittags nach Hause kommen. ...

»Gewiß beneiden Sie mich!« erwiderte Irene spöttisch.

»Der Teufel mag dich beneiden. ... Kinder, ich wollte euch bloß sagen, daß die Lencsi hier ist ... nach dem Essen werden wir eine kleine Zsuga haben ...«

Dann ging sie.

Was wird nach dem Essen sein?« frug Therese.

»Wir werden Karten spielen ... Einundzwanzig, Sechsundsechzig. Da geht's manchmal sehr ulkig zu, wir ziehen Madame die letzte Kopeke aus der Tasche.«

Therese wollte sich ankleiden.

»Wozu denn, du Närrchen?«

»Ich möchte ausgehen, um die Stadt ein wenig kennen zu lernen.«

»Du wirst noch genug von ihr zu sehen bekommen. So im Schlafrock ist es sehr gemütlich bei der Zsuga. ... Du hast ja Zeit, Moskau später kennen zu lernen. Du wirst erst in zwölf Tagen hier eintreffen.

Therese starrte sie verwundert an.

»Nun, bei den Russen kommt der Tag, den wir heute daheim haben, erst nach dreizehn Tagen ... kurz, du bist noch gar nicht hier, sondern triffst erst in dreizehn Tagen hier ein.«

Dunyasa trat in das Zimmer und sagte etwas, was Therese nicht verstand.

»Nun also?« frug Irene ihre Freundin.

»Was denn?«

»Hast du nicht gehört? Schesdisatsches ... Sechsundsechzig ... Das wird heute gespielt ... Am ersten wird, wenn wir genug Geld haben, Bakkarat gespielt. Aber heute nur Sechsundsechzig ...

Therese gefiel diese Einladung nicht. Sie wollte nicht hingehen. Fünf Rubel, das sind zwölf Kronen fünfzig. Die Monatsmiete für das Klavier betrug vierzehn Kronen. Wenn sie heute abend nur etwas verdiente, wird sie das Geld morgen aufgeben. Sie wollte nicht haben, daß die Mutter vergebens warte oder ihretwegen zahlen müsse ... Morgen würde sie zur Post gehen ... Das erste in Rußland verdiente Geld ...

All dies fuhr ihr wie ein Blitz durch den Kopf, und sie erwiderte in entschiedenem Tone:

»Ich gehe nicht, ich will lieber meine Sachen einräumen ...«

»Wenn du dich langweilst, wirst du schon hereinkommen«, sprach Irene achselzuckend und lief im Hemde davon.

Das Stubenmädchen stand noch im Zimmer. Sie blickte ruhig und voll Liebe auf Therese. Vielleicht tat sie ihr leid? Wer weiß! Dann sagte sie etwas ...

»Was willst du?« frug Therese mit dem Blick.

»Dos vidany ...«

»Ich verstehe nicht ...«

Und Dunyasa, die pausbackige, hochbusige Dunyasa sagte in gebrochenem Ungarisch:

»Vizsontlatasra ...« (Auf Wiedersehen!)

»Dos vidany ...« wiederholte Therese lachend.

»Drastinye ...« nickte lachend Dunyasa und verließ das Zimmer.

Diese kleine Szene stimmte Therese ganz heiter. Unwillkürlich wiederholte sie: »Dos vidany, dos vidany ...« Mit Interesse betrachtete sie ihre Sachen, sie zog den blauen Vorhang beiseite, so daß das Licht voll und ganz eindringen konnte. Sie steckte die Hände in die beiden Ärmel der Blusen und drehte diese hin und her ... Wie schön die Kleider waren. Morgen oder übermorgen würde sie sich schön ankleiden und in den Kreml gehen. In Moskau sollte das der schönste Ort sein ... Sie würde Solistin werden. Sie mußte etwas Geld verdienen. Wie mochte es heute abend werden? Würde sie im »Theater« etwas verdienen? Sie mußte lächeln, wenn sie an das Wort »Theater« dachte. Was würde man zu Hause dazu sagen? Die Theaterschule Ligeti bereitete die Mädel für dieses Theater vor!

Sie räumte die Wäsche aus und bemerkte gar nicht, daß sie ein Stück Seidenpapier wegwarf, auf welches ihre Mutter etwas geschrieben hatte ... Hätte sie es bemerkt, so wäre sie nachdenklich geworden, es wäre ihr weich ums Herz geworden. Aber sie merkte es gar nicht, sie zerknitterte das Stückchen Papier und warf es weg.

Aus dem Spielzimmer klang das laute Gelächter der Kartenspieler herein.

Sie räumte alles wieder ein, nur das Notwendige blieb auf dem Bett. Was sollte sie jetzt machen? Etwa einen Brief nach Hause schreiben? Nein. Sie wollte noch warten. Sie konnte ja noch nichts Gutes schreiben.

Draußen wurde wieder laut gelacht. Sie würde auch hineingehen, was sollte sie denn hier allein anfangen?

Sie hängte ihr kleines Ridikül auf den Arm, raffte ihr Negligé vorn zusammen und ging in den Speisesaal.

»Endlich! Bravo ...« rief ihr Amélie entgegen.

Sie saßen um den Tisch des Speisezimmers und spielten Karten: Irene im Hemd, Gabi im Negligé, Manci im Hemd, jedoch mit einem wollenen Tartarentuch um die Schultern. Amélie trug ein dekolletiertes seidenes Hauskleid von weitem, bequemen Zuschnitt. Sie saß selbstzufrieden, mit breitem Behagen da. Lencsi trug ein elegantes Straßenkostüm und einen Federhut. Ihre blonden Haare, die sorgfältig zugerichteten Locken, ihr rosig-weißer Teint, der reiche Federschmuck ihres Hutes, der sich eng an ihre Schenkel anschmiegende Rock verrieten, daß sie mit jenem Gewerbe zu schaffen hat, das Mädchen verkauft, kauft, vermittelt ... Es kann unter Umständen ein Theater sein, aber es kann auch etwas anderes sein. Sie war noch jung genug, um auch selbst Ware sein zu können, aber auch alt genug, um ein Geschäft führen zu können ...

Die Mädel fanden es ganz natürlich, daß auch Virginia erschien.

»Willst du Karten haben?« frug Lencsi.

»Nein, ich will bloß zuschauen, ich kann nicht ...

»Ist denn das eine Kunst?« frug Manci naserümpfend. »Es gibt einen Atout, im übrigen heißt es, Farbe über Farbe ... Zehn Kopeken Einsatz ...«

»Heraus mit dem Fünfrubelstück, das du gestern von Wolkow bekamst!« ermutigte sie Lencsi. »Das ist ein Glücksgeld, mit dem man spielen muß.«

»Es geht nicht, ich will es nach Hause schicken.«

Schallendes Gelächter der Mädchen.

»Fünf Rubel nach Hause schicken! Du Närrin!«

Und Irene lachte unbändig:

»Du wirst doch Rußland nicht kompromittieren wollen! Die Post nimmt ja den Bettel gar nicht an!«

Therese schämte sich. Vielleicht haben die Mädel recht, es lohnt sich nicht ...

»Komm, ich wechsle dir!« sprach Amélie, und sie hatte ihre berühmte Ledertasche auch schon bei der Hand.

Ehe Therese sich dessen versah, war das Fünfrubelstück überreicht und sie hatte die Hand voll mit dem ihr unbekannten russischen Kleingeld, das sie mißtrauisch betrachtete. Auch da ein zweiköpfiger Adler, zwischen den Krallen auf der einen Seite ein Zepter, auf der anderen einen goldenen Reichsapfel mit dem Kreuz haltend. Sie hatte nicht viel Zeit nachzudenken, sie hatte bereits ein Blatt in der Hand. Manci, die ihr Geld bereits verloren hatte, unterwies sie im Spiel. Therese verlor die Partie, und in kaum einer halben Stunde waren zwei Rubel schon verspielt. Ihr Gesicht war rot, sie dachte immerfort an die Raten, an das Klavier ... Es ist unmöglich, die ersten vierzehn Kronen muß sie unbedingt nach Hause senden ... Sie wußte gar nicht, was mit ihr vorgehe. Sie hatte nur mehr anderthalb Rubel ... Sie merkte gar nicht, daß es bereits dämmerte ... Madame Amélie stand auf:

»Kinder, kleidet euch an ...«

»Es ist schon zu Ende?« frug Therese erbleichend.

»Was denn? Glaubst du, wegen deiner fünf Rubel werden wir bis morgen früh spielen? ... Kaufe dir ein Nachtmahl, denn heute bekommst du keines mehr von mir, nichts dauert ewig! ... Ein Lächeln und sonst was dazu, und du hast zehnmal fünf Rubel ...«

»Sonst was dazu, sonst was dazu«, schrien die Mädel und gleich weißen Mäusen liefen sie auseinander, um das Abzeichen ihrer Kunst, das Kostüm, anzuziehen.

Auch Therese legte das himmelblaue Kleid der toten Sophie an und ging mit den anderen ins Lokal.

Die Fremdartigkeit des ersten Augenblicks schwand, die Menge kam ihr nicht mehr so ungeheuer vor wie gestern, der Nebel der Erregung zerstreute sich. Sie blickte um sich und sie sah lauter geschminkte Mädel, ob Zigeunerinnen, ob Kleinrussinnen, ob Ungarinnen. Natürlich kamen alle nur des Geldes halber her, und wer nicht verrückt war, mußte diesen Boden, sobald die Taschen gefüllt waren, verlassen. Die Worte Karolinens fielen ihr ein: entweder Solistin oder gar nichts ... Wo mag sie sein?

Karoline stand auf der zur Bühne führenden Treppe, neben ihr ein dreizehnjähriges Mädchen. Therese eilte zu ihr.

»Guten Abend, Karoline ... welch schönes Kind!«

Karoline reichte ihr stolz und glücklich die Hand.

»Meine Tochter ...«

»Ihre Tochter?« ... Und Therese blickte sie verwundert an.

»Jawohl. Ich habe sie noch aus Ungarn mitgebracht. Ihr Vater war ein Schauspieler, der mich verließ.«

»Wie heißt du?« frug Therese.

Und das Mädchen mit den bis zu den Schultern reichenden Haaren, dem bleichen Gesicht und den großen, glänzenden Augen antwortete leise:

»Lolita ...«

»Ein hübscher Name, aber auch das Mädel ist hübsch«, meinte Therese.

Karoline erzählte stolz:

»Natürlich spricht sie vortrefflich ungarisch, aber sie besucht eine russische Schule und ist eine ausgezeichnete Schülerin. Leider weiß ich am Abend nie, was ich mit ihr anfangen soll. Gestern war sie im Kino, darum haben Sie sie nicht gesehen. Bis elf Uhr pflegt sie hier zu sein. Wir wohnen in der Nachbarschaft. Dann laufe ich mit ihr nach Hause und warte, bis sie zu Bett geht. Wenn ich in den frühen Morgenstunden nach Hause komme, bleibe ich vor ihrem Bette stehen und ergötze mich an ihrem Schlummer. ... Sie soll lernen, ich will sie auf die Universität schicken.«

Und die vielgeplagte, leidende Karoline richtete sich auf; sie war eine glückliche und stolze Mutter. Die Art, wie sie die Worte: »Ich will sie auf die Universität schicken« aussprach, enthielt all die Bitternis, Demütigung, Verhöhnung und Gemeinheit, in der sie ihr Leben verbringen mußte; aber sie tat es willig, sie hatte jemanden, um dessen willen sie gerne kämpfte. Wenn sie des Morgens nach Hause kam und ihr schlafendes Kind betrachtete, fühlte sie sich rein und makellos, und das Geld, das sie verdiente, brachte Segen und sie tat damit ein gutes Werk. Das Mädel sollte es besser haben als sie. Sie soll die Universität besuchen!

Lolita warf ihr liebevolle Blicke zu. Ihr blaues Matrosenkleidchen schien wie auf ihren jugendlich schlanken Leib gegossen, ihre Füße waren mit schwarzen Strümpfen und hohen, fest zugeschnürten Schuhen bekleidet; inmitten dieser verschiedenen Chöre erschien sie als echtes Schulmädchen.

Therese-Virginia wäre beinahe in Weinen ausgebrochen. Sie erinnerte sich der Zeit, da sie noch die Pratergasse zu besuchen pflegte. Wozu hatte sie denn Physik und Poesie gelernt?

Das Geklingel und der langgedehnte Ruf: »Vengerski-Chor, Vengerski-Chor!« bohrte sich ihr beinahe ins Herz.

Sie küßte Lolita und sagte: »Du bleibst hier, ich werde dich abholen ...«

Alle eilten auf die Bühne. Das gestrige glänzend-öde Bild von neuem. Jurakowsky saß auf dem Dirigentensitz und schrieb Noten, ohne aufzublicken. Doch Therese fiel plötzlich aus ihrer sentimentalen Langeweile. Sie wußte selbst nicht warum, der Grieche gefiel ihr. Eigentlich dachte sie gar nicht an ihn und doch ... Ein Glück, daß er sie nicht kannte. Rings herum ertönte der Gesang des Chors, heute war das Lied: »Hullámzó Balaton« an der Reihe, Manci und ihr Tänzer hüpften schon in der Mitte herum ... Da blickte Jurakowsky auf. Wie schön und fein sein Mund war, wie schön seine Augen ... Ob er sie wohl bemerkte? Ob er von ihrer Existenz Kenntnis hatte?

Dann verließen sie die Bühne. Dunyasa hatte am Nachmittage für sie Käse, Schinken, Brot geholt, das war ihr Nachtmahl, das sie, einsam an einem Tische sitzend, verzehrte. Es war erst ihr zweiter Abend, und doch erschien ihr all das so natürlich. Seitdem sie Budapest verlassen, durchlebte sie so vielerlei Fährlichkeiten, daß sie sich rasch an das neue Leben gewöhnen konnte. Karoline trat ein und setzte sich neben sie. Lolita hatte sie nach Hause geführt.

»Mein Goldkind schläft schon!« sagte sie, sich neben Therese niederlassend.

Laut den Gesetzen der nächtlichen Unterhaltungslokale darf vom Beginne der Vorstellung angefangen bis fünf Uhr morgens kein Mädel das Lokal verlassen.

»Das ist ein Theater, ein Varieté, von wo man die Mädel nicht nur so mir nichts, dir nichts wegführen kann!« sagte Sudakow, der Direktor.

Er war ein Vollblutrusse. Seine kleine, gedrungene Gestalt, der dichte, blonde Bart, die dunkelblonden Haare, die blauen Augen, die Stumpfnase waren lauter Verkünder seines Slawentums. Ein wütender, fanatischer Slawe. Den ungarischen Chor liebte er nicht, doch mußte er ihn den Herren zuliebe halten. Denn der Rubel rollte den Ungarmädchen zuliebe in das Lokal hinein, und bei den Rennen begegnete man oft den Pferdenamen Julischka, Marischka, Terka. Die Aristokraten, Besitzer ungezählter Millionen, benannten ihre Lieblingspferde nach ihren Lieblings-Vengerkas. Kurz, die Vengerkas waren populär.

Für die Großmut, mit welcher er den Vengerski-Chor auf dem Repertoire hielt, zahlte ihm Madame Amélie fünfhundert Rubel pro Monat. Ein guter Abend brachte ja dieses Geld herein. Für alles, was den ungarischen Chor betraf, war Amélie verantwortlich. Anfangs ließ sie Karoline Strafe zahlen, weil sie das Lokal für eine halbe Stunde verließ, um Lolita nach Hause zu führen; sie wollte sie sogar ausschließen, aber da kam Onkel Monopol, der sie versöhnte, und so konnte Karoline bleiben.

Onkel Monopol oder, wie er russisch hieß, Gyagya Monopol war ein guter Mensch. Er wohnte in Petersburg, war Generalagent der berühmten Champagner-Firma Monopol und liebte die Ungarmädel, weil sie es verstanden, die Gäste zu unterhalten und den Sektkonsum zu steigern. Der kleingewachsene, magere, ergrauende Mann ging stets in blauem Sakko herum, hielt die Hände in den Hosentaschen und ließ die Silberrubel klirren. Er war ein Wiener Jude, der aber schon seit etwa zwanzig Jahren in Rußland lebte. Er mochte zur Zeit des ersten Vengerski-Chors der Madame Sarolta nach Rußland verschlagen worden sein. Er kannte alle alten Mädel, obwohl er aus dem geschäftlichen Gesichtspunkte die jungen vorzog. Einstens sollte Karoline seine Freundin gewesen sein; so erzählte man sich wenigstens.

»Nun, Virginchen, was gibt's?« frug Karoline.

»Nichts«, erwiderte Therese. »Ein Tag ist vorbei. Sie haben Nachmittag bei dem Sechsundsechzigspiel mein Geld weggewonnen. Das war eine Lektion für mich und wird nicht mehr vorkommen. Ich habe deine gestrigen Worte beherzigt und will Solistin werden. Ich habe Noten mitgebracht, aber wer soll mich im Gesang unterrichten?«

»Jurakowsky! Fünf Rubel pro halbe Stunde. Hast du ein gutes Gehör, so genügen drei halbe Stunden und du hast zwei Nummern einstudiert. Davon lebst du ein halbes Jahr. Das ist doch fünfzehn Rubel wert.«

»Aber wenn ich die nicht habe!«

»So wirst du sie haben. Wie es scheint, gefällst du dem Wolkow, der ein guter Junge ist; nimm von ihm das Glücksgeld an, geh zu Jurakowsky, und sobald du eine Solonummer hast, bist du frei und Moskau, Petersburg, ganz Rußland gehört dir ... Das Geld kannst du von Wolkow annehmen, aber du darfst ihm nichts dafür geben ...«

»Ist das kein Betrug?« fragte Therese leise. »Er gibt es ja nicht, um mit mir zu plaudern ... Alle diese Mädchen hier ... leben ja davon.«

»Weil sie dumm sind. Ich habe es dir ja gestern gesagt: fülle dir die Taschen und verschwinde von hier.«

In diesem Augenblicke traten Sudakow und Gyagya Monopol in den Saal.

Die Vengerkas scharten sich alle um Onkel Monopol.

»Gyagya Monopol! Gyagya Monopol!« gackerten sie, wie die Gänse vor dem Mästen.

Sudakow war eher ernst als heiter, doch Onkel Monopol ließ sein breites Lächeln blicken und die Silbermünzen in den Taschen klirren.

»Dobre vecser, Mädchen!« rief er. »Guten Abend! Na, wie geht's? Gibt's gute Geschäfte?«

»Fürchten Sie sich nicht, Gyagya Monopol, wir geben den Leuten zu trinken,« schrie die kleine schwarze Kornelie.

»So ist's recht!« erwiderte Onkel Monopol, indem er ihren Busen ein wenig betastete; dann griff er in die Tasche und gab ihr einen Rubel.

Glücksgeld! Für den Anfang nicht schlecht.«

»Mir auch! mir auch!« schrien alle.

Onkel Monopol teilte lachend die Rubel aus. Für jede Münze tat er einen Griff und kneipte die Mädel. Als er Karoline erblickte, begann er zu singen:

»Komm Karlinchen, komm Karlinchen, komm! ...« und gab ihr zwei Rubel.

»Und das Fräulein?« frug er, vor Virginia stehen bleibend.

»Ein neues Fräulein,« sagte Amélie, »sie kam gestern von Budapest. Mademoiselle Virginia.«

»Ah! Virginia! Ein seltener Name ... es läßt sich viel Geld damit verdienen.« Und er fügte hinzu:

»Fräulein, eines merken Sie sich: Monopol hat nicht seinesgleichen.«

Er überreichte ihr zwei Rubel:

»Eine Virginia ist so viel wert!«

Die Mädel kicherten, Madame Amélie lachte, Therese aber errötete bis an die Haarwurzeln. Sie schämte sich, plötzlich zum Mittelpunkte der Gesellschaft geworden zu sein, und stand mit den zwei Rubelstücken in der Hand linkisch da. Draußen war gerade Pause, und Jurakowsky trat in den Saal.

Onkel Monopol nahm den Kapellmeister unter den Arm und blieb mit ihm vor Therese stehen.

»Wie gefällt Ihnen Mademoiselle Virginia?«

Jurakowsky nickte mit dem Kopfe. Sudakow blickte ungeduldig auf die Uhr, und eine Minute später saßen die Vengerkas wieder um den Tisch herum -- die hohen Herrschaften waren fort. Die Vorstellung war ja erst in etwa zwei Stunden zu Ende! Bis dahin mußten sie hier herumlungern und auf den Augenblick warten, da sie in den Napoleonsaal hineingehen konnten. In der einen Ecke drückten sich zehn bis zwölf Vengerkas um einen Tisch. Sie schwatzten im Flüstertone, und die immer lachende Manci Szöke-Kovács mit den funkelnden Augen holte aus ihrem Ridikül einen Brief hervor. Therese ging ebenfalls in die Ecke, die den Namen hatte: »Klub der Briefleser.« Um die Zeit angenehmer zu vertreiben, brachte jeden Abend eine andere einen Brief, den sie aus der Heimat empfangen hatte. Ob er jungen oder alten Datums war, danach fragte niemand, der Brief sollte nur schön, sentimental, interessant sein. Gestern war ein Brief des Budapester Poeten an der Reihe, heute war der Tag der Manci Szöke-Kovács.

»Diesen Brief hat mir Tihanyi noch in Budapest geschrieben, der Tihanyi, der in ›Mascotte‹ tanzte. Ich habe ihn zum Andenken mitgebracht. Er ist nicht gerade großartig, aber doch gut,« meinte Manci und übergab den Brief Kornelie, die Vorleserin des Klubs war.

Die Mädel rückten die Stühle zusammen und machten sich's um den Tisch auf einem Diwan aus rotem Peluche bequem. Eine einzelne Flamme leuchtete über ihren Köpfen.

»Es kann losgehen!« sagte die Vorsitzende, die dicke und bequeme Otty.

Kornelie las:

»Motto: die Zeit vergeht ... Geehrte Künstlerin! Liebe Kameradin!«

Die Vorsitzende: »Bestand zwischen dem Briefschreiber und der Adressatin ein Verhältnis?«

Manci: »Er hätte es gerne gesehen, aber ich lehnte dies ab.«

Die Vorsitzende hatte nämlich das Recht, den Brief durch Fragestellungen lebhafter zu gestalten.

Die Vorsitzende: »Gut ... gehen wir weiter.«

Kornelie fuhr fort:

»Gestern, um ein Uhr nach Mitternacht, war ich mit meiner Kollegin, beziehungsweise Braut, im Jardin de Paris. Ich wollte mit Bella die Einzelheiten der schon erwähnten gemeinsamen Auslands-Tournée besprechen. Zu meinem aufrichtigen Bedauern haben wir Sie dort nicht angetroffen, und so konnte die Besprechung einstweilen nicht stattfinden. Bella behauptet, Sie von Ansehen zu kennen. Da die Saison vorüber ist, hat auch das Orpheum seine Pforten für den Sommer geschlossen und so können auch wir uns gottlob ein klein wenig ausruhen. Wir haben nämlich mit der Bella verabredet, nach Schmecks zu fahren. Dank unserem gemeinsamen Vertrag und der heurigen ziemlich guten Theatersaison haben wir einen ziemlichen Betrag erspart, und nun wollen wir der wohlverdienten Ruhe pflegen. Bella dürfte insgeheim den Plan gefaßt haben, in Schmecks, mit Rücksicht auf das vornehme Publikum, einen noch bessern Freund (Pali, d. i. Gimpel) einzufangen.

Gestatten Sie mir, geehrte Künstlerin, noch einige meiner Impressionen Ihnen mitzuteilen.

Gestern meinten Sie nämlich, ich solle mich schämen, weil ich Sie nicht erkannt habe. Diese Ihre Bemerkung verdroß mich, denn ich weiß selbst nicht, wie es kam, daß ich Sie trotz starken Fixierens nicht erkannt habe. Heute, um fünf Uhr, als ich aufstand, zog ich aus meiner Lichtbildersammlung jenes sorgfältig in Papier gewickelte Bild heraus, das die Aufschrift »Mancika Szöke-Kovács« trug, um die Vergangenheit mit der Gegenwart zu vergleichen.

Lange -- nicht zehn Minuten, sondern länger als eine Stunde -- betrachtete ich das Bild und jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, habe ich das etwas zerknitterte Bild noch immer vor mir. Und was zeigte mir dieses Bild, das ich so lange betrachtete? Ich sah unter Palmen eine junge, frische Göttin von engelhafter Erscheinung im Alter von etwa 16-17 Jahren, die verkörperte Muse auf Erden, die mit ihren engelhaft unschuldigen, gleichsam tränenfeuchten Augen in die Ferne blickte, wobei ihre feinen, regelmäßigen, wunderschönen Züge ein klein wenig Trotz aufwiesen, aber ihr ganzes Wesen atmete Anmut. Sie besaß die königliche Gestalt eines jungen, reifen Mädchens, eine Gestalt, die von köstlichen Haaren, von welchen man nur mit Andacht sprechen konnte, gleichsam wie von einer Goldkrone umflossen war. Und jetzt erinnere ich mich der Mancika Szöke, der Fee mit der süßen Stimme, die im »Palaste« allgemeine Bewunderung erregte. Alle ihre Gesten, jedes ihrer Worte wird in meiner Erinnerung lebendig. Und doch bin ich ein Zyniker, der sich um niemanden kümmert, und ich schäme mich, einzugestehen, daß ich bei dem Anblicke dieses Bildes Manci Szöke wahrhaft aufrichtig und mit dem ganzen Schmerze, dessen ein Menschenherz fähig ist, bedauere.«

Die Vorsitzende: »Das scheint ein sehr intelligenter und stimmungsvoller Junge zu sein.«

Manci: »Allerdings, lauter Schlauheit und lauter Herz. Was soll ich's verheimlichen, einmal habe ich ihm angehört.«

Kornelie las pathetisch weiter:

»Aber ich glaube, diesmal ist es mir wirklich weich ums Herz. Für mich existierte Manci Szöke nicht mehr, nie mehr werde ich jenes wunderschöne, junge Mädchen mit der taufrischen Haut sehen. Glauben Sie nicht, geehrte Künstlerin und Kollegin, daß ich in die Manci Szöke verliebt war, oder daß dieser Brief nur ein leerer, affektierter, nichtssagender Schauspielermonolog ist; diese Zeilen schreibt Ihnen, geehrte Künstlerin, nicht der frivole Bohêmien, nicht der verlogene Nachtvogel; nein, bei dem Anblicke dieses Bildes erwacht mein Gewissen. Jetzt schäme ich mich nicht mehr, Künstlerin, mich Ihrer nicht erinnert zu haben, denn vor mir schwebte noch immer die Gestalt der früheren Manci Szöke.

Was mir weh tut, ist nicht gerade der Umstand, daß Manci Szöke unter die Künstlerinnen gegangen ist. Im Gegenteil, ein solches Weib hat den einzigen Beruf, als Stern zu funkeln und jeden zu erobern.

Wenn Sie noch ein Exemplar des Bildes besitzen, das ich jetzt vor mir habe, das Bild, auf dem Sie unter Palmen in die Ferne blicken, nehmen Sie es zur Hand und vergleichen Sie die Vergangenheit mit der Gegenwart, prüfen Sie all dies durch die Seele, wie ein Poet es tun würde, und betrachten Sie die körperlichen Veränderungen der Reihe nach. Und Sie werden mir recht geben.

Sie hätten, verehrte Kollegin, diese Laufbahn anders, ganz anders beginnen sollen, und dann wären nicht allein in Budapest, sondern überall in der Welt, wo es Bühnen und Männer gibt, alle zu Ihren Sklaven geworden. Sie wählten die leichtere, beziehungsweise leichtfertigere Hälfte dieser Laufbahn. Ich möchte Ihnen nur ein Beispiel anführen, das ist meine Braut. Sie war nicht so schön und blendend wie Manci Szöke. Als sie mir erklärte, Artistin werden zu wollen, habe ich ihr alle schönen und häßlichen Seiten dieser Laufbahn vor Augen geführt und als sie trotzdem bei ihrem Vorhaben verblieb und mich bat, sie in meinen Schutz zu nehmen, machte ich den Versuch, sie als Tänzerin zur Geltung zu bringen. Ich kann stolz erklären: der Erfolg ist ein glänzender. Durch einen bekannten Ballettmeister ließ ich ihr nebst den modernen Tänzen die Bühnen- und die Orpheumtänze beibringen, ferner die ungarischen und spanischen Tänze, Tanzparodien; jetzt komponiert sie schon selbst neue Figuren zu ihren Tänzen ... Sie lernt fleißig ... Sie will eine internationale Excentrique Solistin werden ...«

Die Mädel, die armen Vengerkas, deren Monatsgage 30 Rubel betrug, lauschten mit verhaltenem Atem der goldenen Wahrheit, wie jemand Solistin werden konnte. Diese Sehnsucht, dieser Traum lebte in aller Herzen ... Den Chor verlassen, Stern der Varietébühne, Solistin zu werden. Der bloße Gedanke machte ihre Augen funkeln, ihr Gesicht erglühen.

Kornelie las weiter:

»Wenn sie nach Hause kommt, badet sie zweimal in Eau de Cologne, in einem mit Milch vermengten lauen Wasser, sie treibt schwedische Gymnastik, damit ihr Leib schlank und muskulös sei, ihr Körper ist sorgfältig gepflegt und frisch ... Sie spricht deutsch und französisch ... jetzt nimmt sie Lektionen im Russischen und Englischen. Mich, ihren Bräutigam, liebt sie sehr. Sie trinkt nicht oder höchstens hie und da einen Schluck und lebt sehr solide. Und sie ist wirklich eine der hervorragenden und schönen Tänzerinnen, die vor einer schönen Zukunft stehen. Dies kann Ihnen jede bessere Tänzerin aus der Mascotte bezeugen.

Verzeihen Sie meinen Freimut, ich habe diese Dinge der früheren Manci Szöke erzählt. Jetzt haben Sie Gelegenheit, diese Laufbahn ernst zu nehmen. Sie wohnen bei Ihrer Tante, einer Frau, wie ich noch keine bessere, liebere kennen gelernt habe; Sie brauchen bloß ihre Ratschläge zu befolgen. Ich habe von den Mädchen gehört, wie leichtsinnig Sie Ihre Gesundheit vernachlässigen; wenn Sie so fortfahren, so werden Sie, was Gott verhüten möge, nicht sehr lange unter den Sternen der Nacht funkeln. Von Ihrer Gage können Sie ja einstweilen leben, begnügen Sie sich lieber mit einem reichen Freunde und verlegen Sie sich auf das Studium der Tänze. Machen Sie sich in guter Luft Bewegung, damit Sie elastisch und schlank bleiben und -- was sehr wichtig ist -- lernen Sie fremde Sprachen, deutsch, französisch und hauptsächlich russisch. Seien Sie nachts mäßig. Trachten Sie, lieber diplomatisch ans Ziel zu kommen, und ich habe die Zuversicht, daß Sie sich so eine schöne Zukunft sichern werden ... Grollen Sie mir nicht ob dieser bescheidenen Bemerkungen, die ich nur aus dem Grunde gemacht habe, weil anderthalb Jahre Sie, verehrte Kollegin, so sehr verändert haben, daß der Unterschied ein himmelhoher ist. Ich schwöre Ihnen, daß niemandes Schicksal mich in diesem Augenblick so sehr interessiert hat wie das Ihre. Und meine Seele, von dem Banne Ihres Bildes befreit, wird wieder die eines alten Lumpen von der Bohême sein ... Bella erwacht, ich schließe meinen Brief, sie liebt es nicht, daß ich skrible ...«

In diesem Augenblicke flammten die Lampen auf und es ertönte der Ruf:

»Koncsil ... Spektakl koncsil! ...«

Die Vorstellung war zu Ende. Die Gruppe der Vengerkas stob auseinander, all die Träumerei, die ganze Atmosphäre des fernen Budapest, die der Brief in die Yard versetzt zu haben schien, zerfloß im Nu, es galt, dem Leben, dem Gast, dem Rubel nachzujagen ... Sie drängten sich zum Spiegel, brachten die Schminke, die Toilette in Ordnung, und die Zigeuner begannen einen geräuschvollen Tarantellatanz.

»Ich werde eine Solistin! Geld! Geld!« dachte sich Therese, während sie durch den großen Saal ging.

Morgen ist Feiertag, und heute sind alle Lokale überfüllt. An welchem Tische soll sie Platz nehmen? Wer beansprucht weniger und gibt mehr? Schon nach vierundzwanzig Stunden hatte sie die geschäftlichen Grundsätze der Vengerkas erlernt.

»Guten Abend, Fräulein!«

»Please, sit down!«

Sie wurde gleichzeitig von zwei Männern angesprochen. Sie blickte hinüber: es saßen Japaner an dem Tische.

Hinter ihrem Rücken ging die Lencsi vorbei, die ihr rasch die Worte zuflüsterte:

»Setze dich, japanische Offiziere ...«

Ehe sie sich dessen versah, saß sie schon.

»Nye gavori ruski«, stotterte sie, um anzudeuten, daß sie russisch nicht verstehe.

»Deutsch? Deutsch?« frug der eine der Japaner.

»Nye ... Vengri ...«

»Hát akkor üljél ide ... mellettem ...« (Dann setze dich zu mir) erwiderte der andere.

Therese war erstaunt. Unbewußt entfuhr ihr ein kleiner Aufschrei der Freude:

»Ach, Sie können ungarisch?«

»Ein wenig, ein wenig ... Ich war ein Jahr in Budapest, wo ich ungarisch gelernt habe und viele gute Freunde habe.«

»Sie sind Offiziere? Warum tragen Sie nicht Uniform?« fragte Therese neugierig.

Der Japaner, der etwas Ungarisch verstand, neigte den Kopf ein wenig zur Seite.

»He?« frug er, ohne mit einer Wimper zu zucken. »Offiziere? Wer hat denn das gesagt?«

Therese wollte nicht von der Lencsi sprechen und erwiderte mit affektierter Einfalt:

»Niemand ... Ich dachte, wer ein Japaner ist, der muß Seemann sein ...«

Der kleine Japaner lachte still in sich hinein und übersetzte ihre Worte dem anderen, der nun ebenfalls lachte.

»Nein, wir sind Professoren. Mein Freund kommt von Paris, ich von Budapest, aus dem Café Newyork.«

Und der kleine Japaner schaute Therese mit einer eigentümlichen Liebenswürdigkeit an. Er schloß plötzlich Freundschaft mit ihr. Auch der andere lächelte, blieb jedoch gleichgültig. Er verstand kein Ungarisch und ließ seinen Freund gewähren. Er betrachtete den Trubel, die Mädchen, die Champagnerflaschen, das rollende Geld, lauschte der Musik: das zu blutigen Kämpfen, schweren Sorgen verdammte Europa.

Woher wußte Lencsi, daß die beiden Offiziere sind? Sie hörte es bei dem Eingange der »Sala« von dem geschäftig hin- und hereilenden, russisch gekleideten Kellner, welcher der geschickteste Detektiv des »Gradacsalnik«, des Oberstadthauptmanns von Moskau, war. Wenn er es sagte, so waren die Japaner ohne Zweifel Offiziere. In Paris und Budapest galten sie für Professoren, für sympathische, absonderliche Fremdlinge, die überall Zutritt hatten. In Moskau aber wußte man schon, daß sie Offiziere waren. Vor zwei Tagen waren sie noch bei Nikolaj Janskevits, dem Chef des russischen Generalstabes. So werden die unsichtbaren, ganze Völker fesselnden Fäden der Weltgeschichte gesponnen.

Aber was ging das alles Virginia, die Vengerka, an? Wie viele Rubel gibt der kleine Affe? das war hier die wichtigste Frage.

»Willst du nicht etwas trinken?« frug der Asiate lachend.

Zum ersten Male wurde diese Frage an Therese im Lokal gerichtet. Sie trank nicht gerne, aber sie wußte, ohne daß man es ihr erklärt hätte, daß man hier trinken müsse. Der schäumende, perlende Sekt, der funkelnde Wein erhält ja diesen ganzen glänzenden Saal, den Eigentümer, die Kellner, den Detektiv, Madame Amélie und die Vengerkas. Alles andere dient nur als Staffage dem Zwecke, möglichst viel Getränk vertilgen zu lassen. Ein gutes Geschäftsmädel weiß, wozu sie verpflichtet ist. Die Kellner umkreisten schon den Tisch, und kaum winkte ihnen der Japaner, so stand der silberne Eimer mit dem süßen Naß der Champagne auch schon da.

Madame Amélie spazierte auffällig an Therese vorbei, blickte sie zufrieden an und schien sie anzueifern, den Japaner möglichst tief »hineinzulegen«.

Und im nächsten Augenblick tuschelte man im Vengerski-Chor:

»Virginia hat einen japanischen Gast ...«

Wie wird sich das neue Mädchen verhalten? Versteht sie es, zu trinken, zu verlocken, auszubeuten. Ist sie eine Nebenbuhlerin oder die befangene Jungfrau, die sie zu sein scheint?

Therese hatte noch gar nicht getrunken, doch ihr Gesicht glühte, als säße sie schon bei der fünften Flasche. Jetzt legte sie ja ihre Prüfung ab. Sie schämte sich bei dem Gedanken, was aus ihr geworden sei, wo sie sich befinde, doch zu gleicher Zeit stieg der Trotz in ihr empor ... Geld, Geld, Geld ... Alles auszahlen und dann mit vollen Taschen heimwärts!

Sie winkte dem Kellner, einzuschenken ... In drei Gläsern perlte der Champagner auf dem Tische. Therese hob ihr Glas und stieß mit dem Japaner an ... Sie erinnerte sich eines japanischen Wortes aus der Zeit des russisch-japanischen Krieges und sie freute sich ihres Einfalls, als sie dem Gelben mit den Schlitzaugen zuflüsterte:

»Banzaj!«

»Eljen!« erwiderte der Gelbe.

Therese leerte ihr Glas in einem Zuge, während der Japaner kaum daran nippte.

Therese wollte trinken. Es überlief sie von den Haarwurzeln bis zu den Fersen. War es der Champagner oder war es der Gedanke, daß dies die erste Flasche sei, daß ihre Karriere jetzt beginne? Sie wurde plötzlich merkwürdig selbstbewußt, merkwürdig kühn. Der Champagner schmeckte ihr nicht, er war bitter, herb -- die Fachleute sagen, dies sei das Merkmal des guten Schaumweins -- und doch wollte sie trinken, trinken ... Der Kellner schenkte von neuem ein, im Eimer stand bereits eine andere Flasche ... Nunmehr glühte Therese vom Getränk ... Der Saal erschien ihr nebelhaft und in der Ferne, inmitten elektrischer, raucherfüllter Wolken glaubte sie, Jurakowsky zu sehen. Als würde sie eine Seifenblase aufsteigen lassen, sandte sie, kaum merklich, einen schmatzenden Kuß in die Ferne.

Der Japaner glaubte, der Kuß gelte ihm.

»Ungarinnen sind lieb, schön«, sprach er mit seiner dünnen Stimme.

Das Weiße seines Auges wurde etwas gelber, die Farbe seines Gesichtes dunkler -- das ist das Erröten der Orientalen. Das ewige Schmachten des Mannes aus dem Morgenlande nach dem Mädchen des Westens erwachte in ihm, diese unüberwindliche, ewige, krankhafte Sinnlichkeit der Rassen, die schmachtende Sehnsucht nach dem Unbekannten.

Therese dachte gar nicht an ihn. Einen Augenblick kam ihr der Gedanke, was denn dieser häßliche Affe hier suche, aber die Atmosphäre, die Stimmung des Saales riß sie mit sich fort. Nicht mit Berechnung, aber doch nicht ganz unbewußt hob sie den frischen, schönen, jungen Kopf, wobei sie den Mund kaum merklich öffnete. Ihre Augen funkelten freudig. Die dummen Männer -- denn dumm sind sie, ob sie Japaner oder Europäer sind -- glaubten, sie gehöre nun ihnen ...

Der Japaner flüsterte ihr die Worte zu:

»Ich weiß, du darfst bis fünf Uhr früh nicht weggehen ... ich weiß, du mußt jetzt im Vengerski-Chor singen ... Wozu soll ich deiner Herrin fünfundzwanzig Rubel geben ... da hast du ... lieber dir ... Wozu der Alten, die davon lebt, daß du schön und jung bist?«

Er ließ zwei Louisdors in Theresens Hand gleiten und sprach noch leiser:

»Um neun Uhr früh erwarte ich Sie im Hotel Metropole ... Zimmer Nummer 216. Kommst du ...«

Therese antwortete gar nicht und sagte lachend:

»Kommst ...«

Die Japaner wechselten einige Worte und erhoben sich. Im nämlichen Augenblick eilte Karoline zu Therese:

»Komm in das ›Puschkin‹, der Chor soll zum Blasen gebracht werden.«

»Guten Abend,« sprach Therese mit einem Kopfnicken gegen die Japaner.

Diese verabschiedeten sich mit einer untertänigen, beinahe knechtischen Verbeugung ...

Der Freund Virginias flüsterte kaum hörbar:

»Metropole ... 216 ...«

Therese ging heiter, in überfroher Laune an der Seite Karolinens durch den Saal. Wie sie so jung und schön neben der alternden Karoline dahinschritt, blickten ihr viele nach ...

Madame Amélie betrachtete sie und sagte dem geschäftsführenden Vater Respeditl:

»Ein gutes Material, nur noch ein wenig grün.«

Die Vengerkas liefen eilig von allen Seiten herbei. Sie baten um ein klein wenig Glücksgeld, verabschiedeten sich von ihren Gästen und die ganze bunt zusammengewürfelte Gesellschaft wälzte sich schwatzend über den Korridor, der sich zwischen den Kabinetten und der Logenreihe dahinzog. Die Tür des Puschkin-Saales stand offen. Therese war erstaunt: was die russische Holzschnitzerei zu schaffen vermag, war an den Wänden des Saales als Verzierung angebracht. Nirgends eine Tapete oder Mauerwerk, überall das edelste Holz, welches nur aus den Waldungen Litauens stammen kann. In diesem dunkelbraun erglänzenden Rahmen erblickt man Bilder, die Liebesgeschichte Onegins und Tatjanas. Unter jedem Bilde einige Verszeilen und unter einem kunstvollen Baldachin das Denkmal des Alexander Sergejewitsch Puschkin.

Therese war einigermaßen ergriffen. Wie oft hatte sie in der Bürgerschule die Geschichte der verliebten und traurigen Tatjana gelesen. Und jetzt sieht sie in Rußland die Bilder, die ihre Mädchenphantasie daheim gesponnen hatte. Tatjana sitzt vor dem Schreibtische, sie schreibt ihren Brief an Onegin, und die vier Zeilen unter dem Bilde besagen vielleicht:

Ich schreibe dir -- und dieser Schritt,
Kann er noch mehr verkünden?
Trifft deine Ungunst strafend mich
Für alle meine Sünden?

Und erst das mit den herrlichsten musivischen Arbeiten belegte Klavier! Sudakow, der fanatische, hochmütige Russe ließ diesen Saal mit einer Pracht ausstatten, die jeden hier eintretenden Fremden gefangennehmen mußte.

Die Mädchen rückten die Stühle zurecht und Onkel Spiegel, der Pianist, kam an. Nur der Gast, der den Chor zum Blasen bringen sollte, war noch nicht da.

Aber alsbald flüsterte alles nur einen Namen:

»Julchen Rubinvejer!«

Die kleine Julcsa Schwarz. Auch sie kam von Budapest nach Rußland. Sie ist ein schlankes, hochgewachsenes, schwarzes Mädel, ihre Augen lachen immerfort, ihr Gesicht ist länglich und von edlem Zuschnitt und wenn sie die Augen schließt, lagert sich eine rätselhafte Traurigkeit über ihre Mienen. Sie war bald heiter, bald sentimental, ausgelassen und träumerisch; am lautesten konnte sie lachen, aber auch am längsten wortlos dasitzen und in sich gekehrt träumen. Sie war kaum einen Monat lang im Chor. Der bucklige, bleiche, zwerghafte Knyaz Wladimir hatte sich in sie verliebt. Er war Herr unermeßlich großer Besitzungen, der häßlichste und reichste Aristokrat Rußlands. Das ganze Vermögen gehörte zwar seiner Großmutter, doch war Knyaz Wladimir ihr alleiniger Erbe.

Julchen Schwarz besaß ein Palais, ein Auto, ein Gespann, in Moskau kannte sie jeder, alle Welt grüßte sie in der höflichsten Weise. Sie hatte -- im Anfang aus Liebhaberei, später aus Gewohnheit -- einen mit Rubinen besetzten Fächer und so wurde ihr der Spitzname »Julcsa Rubinvejer« beigelegt, d. h. Julchen mit dem rubinbesetzten Fächer. Unter diesem Namen kannte sie der Klub der Aristokraten, der Dvarjanski-Klub und die Kutscher der Likatschen.

Die Moskauer Aussaat schoß sogar in Budapest in die Ähren. Der Vater Julchens, der alte Onkel Schwarz, verließ seine Fleckenputzerei, in der er sich für ein Monatsgehalt von fünfzig Kronen plagte; er wohnte jetzt in einer vierzimmerigen Wohnung, ließ seine drei Töchter die Schule besuchen, denn Julchen gestattete nicht, daß ihre Schwestern nach Rußland kamen. Für jede Schwester erlegte sie eine Mitgift von fünfzigtausend Kronen und die Mädchen heirateten: die eine einen Advokaten, die andere einen Journalisten, die dritte einen Gewerbeschullehrer. Mama Schwarz ging selig vom einen Schwiegersohn zum andern. Papa Schwarz aber las am Vormittag die Zeitung, am Nachmittag spielte er im Café Karten oder er war bei den Pferderennen. Julchen vergaß nicht, für ihre Familie zu sorgen, und selbst ihre Feinde schätzten das Vermögen der Familie Schwarz auf zweihunderttausend Kronen.

Von Julchen Rubinvejer sprach man im Tone der Bewunderung und Schwärmerei.

»Meine Tochter, die Künstlerin!«

Sie war das Ideal der Vengerkas, die höchste Spitze, die schrankenlose Geltung. In Budapest erzählte man sich Legenden über sie, und wenn von Rußland die Rede war, dachte jede daran, daß auch Julchen Schwarz als armes Mädchen nach Rußland gegangen war und es doch so weit gebracht hatte. Sie sollte sogar in Zarskoje Selo vor dem Zaren erschienen sein.

Diesen Abend war sie in die Yard gekommen und saß in der gegenüber der Bühne befindlichen Loge. Natürlich kam sie zu spät, nach der Nummer der Vengerkas. Die Vorstellung beachtete sie kaum; sie zog sich mit ihrem buckligen Millionär in den Hintergrund der Loge zurück, in Rußland hat jede Loge einen anstoßenden Saal. Der Kellner zog die Vorhänge zusammen und die Musik, der Gesang drang durch die schwere Peluche nur abgedämpft zu ihnen herüber. Sudakow eilte herbei, um seine Aufwartung zu machen. Vor der Logentür stand der livrierte Diener Julchens; das Heer der Kellner wimmelte zwischen den Türflügeln hin und her; der Kaviar stammte aus der Wolgagegend, der Fasan aus dem Parke des Großfürsten Nikolaj Nikolajewitsch, der Wein von der Hegyalja.

Der befrackte, bucklige Gnom blickte auf Julchen wie auf eine Göttin. Er war befangen und sentimental. Der große Roman seines Lebens war an einem Wendepunkte angelangt. Er wollte Julchen heiraten und focht den entscheidenden Kampf mit seiner Großmama gerade jetzt aus. Nächste Woche wollte er zu ihr reisen, um sie zu überreden, zu überzeugen. Mit der ganzen kranken Leidenschaftlichkeit der Krüppel hing er an seiner Freundin, es war ihm, als ob ihre prunkvolle Schönheit auch aus ihm einen Mann machen würde, daß seine Häßlichkeit und Krüppelhaftigkeit weniger auffiele, wenn er ein solches Weib besäße.

Julchen wollte einmal schon mit ihm brechen: da trank Fürst Wladimir Gift. Die ersten Ärzte Rußlands eilten an sein Krankenlager und aus Yalta traf die Großmutter ein, die, gleich den vornehmen alten Aristokratinnen Tolstois, nur französisch sprach. Sie versprach dem Mädel alles -- nur sollte sie ihrem armen, unglücklichen Enkelkinde gut sein.

Zu jener Zeit trug Onkel Schwarz viele, viele tausend Kronen in die Sparkasse. Julchen Rubinvejer aber sah ein, daß sie die Millionen und den armen Krüppel nie mehr los werden könne. Aus der Vengerka wurde eine aufopferungsvolle Pflegerin. Die Welt hielt sie für ein herzloses Geschöpf, das nur zu glänzen suchte und dem armen, hilflosen Jungen den Verstand geraubt hatte; in Wirklichkeit war Julchen treu, fürsorglich und hingebungsvoll bis zur Selbstaufopferung.

»Ich möchte den Vengerski-Chor hören,« sagte sie zu Wladimir.

Und schon erging der Befehl, der ungarische Chor solle sofort in den schönsten Saal, in die » Puschkin sala« eilen.

Jeder war schon auf seinem Platze, als Julchen Rubinvejer mit dem Fürsten in den Saal eintrat. Sie trug ein dekolletiertes, mit Spitzen besetztes gelbes Kleid, in den Haaren zwei mächtige Paradiesfedern, auf den Schultern ein lachsfarbenes schweres Entrée, in der Rechten den mit Rubinen besetzten Fächer; zu ihrer Linken stand der bleiche Gnom, in dessen Augen ein krankhaftes Feuer lohte.

»Guten Abend, Mädel!« grüßte sie ihre ehemaligen Kolleginnen.

»Guten Abend!« erwiderten die Mädel im Chor.

Madame Amélie wollte ihr die Hand küssen, doch Julchen zog lachend die Hand weg:

»Mama Amélie, vergessen Sie denn, daß auch ich Ihre Tochter war?«

Therese hatte noch gar nichts über sie gehört. Sie vernahm mit Staunen die ungarischen Worte. Als ob in Moskau an diesem Abende jedermann ungarisch wüßte. Aber die blendende Erscheinung, das kurze Gespräch erklärten ihr die Lage. Das ist eine, der es gelungen ist. Eine aus dem Eldorado der Frau Tomcsányi ...

Sie kehrt nicht eher heim, als bis es auch ihr gelingt. So will sie eines Abends in der Loge erscheinen; den Mädeln wird der Gesang in der Kehle stecken bleiben vor Überraschung.

»Quelles chansons voules-vous?« fragte sie den Fürsten Wladimir.

Er antwortete:

»Lehullott a rezgö nyárfa levele.«

Spiegel erhob sich, verbeugte sich und schlug den ersten Takt an. Der von Neid erfüllte Chor intonierte den Gesang. Die Männer betrachteten nicht das Mädel, sondern den Buckligen. Sie möchten seine Taschen, seine Millionen sehen. Die Mädel prüften Julchens Toilette, ihren Mantel, ihr Armband, die Ringe an ihren Fingern, das Gefunkel ihrer Ohrgehänge. Ist denn Julchen schöner als sie? Freilich sie ist jetzt wohlgepflegt und vornehm; Jahre hindurch lebte sie in Nizza und Monte Carlo, sie hatte eben Glück. Auch sie könnten so sein, oder noch schöner.

»Dank, Kinder!« sagte Julchen, um dem Gesang ein Ende zu machen.

Sie gab der Amélie hundert Rubel und jedem Mitgliede des Chors fünf Rubel. Sie hatte ganz neugeprägte Münzen bei sich, die sie für den Chor mitgebracht hatte. Wladimir hörte der in fremder Sprache geführten Unterhaltung lächelnd und wohlgefällig zu.

»Was macht deine Tochter?« fragte sie Karoline.

»Ich danke dir, Julchen, dafür, daß du ihrer gedenkst ... Sie schläft.«

Karoline war in diesem Augenblicke stolz darauf, von Julchen geduzt zu werden. Diese war kurz nach ihr Mitglied des Chores geworden und am ersten Abend benützte sie Karolinens Schminke. Wie weit lag das jetzt zurück!

»Ich bitte dich, kaufe hierfür etwas der Lolita!« sagte Julchen, indem sie Karoline noch zehn Rubel übergab.

Dann erhob sie sich, nickte mit der Würde einer Königin und ging fort. Die große Fütterung war zu Ende und jeder freute sich: Amélie, die Mädel, Spiegel, der rasch ausrechnete, daß diese Viertelstunde dem Wladimir wenigstens dreihundert Rubel koste ...

»Und doch ist es schrecklich, mit einem so häßlichen Mann leben zu müssen,« meinte Therese.

Irene erwiderte schreiend:

»Und wenn er noch vier Buckel hätte, könnte ich alle seine Zehenspitzen küssen, weil er so viel Geld hat.«

Die Fünfrubelstücke verschwanden eiligst in den Ridiküls und in den Strümpfen. Therese war zufrieden und hoffnungsvoll. Sie summierte. Zwei Rubel hatte sie von Gyagya Monopol erhalten, zwei Goldstücke von den Japanern, fünf Rubel von Julchen. Frau Tomcsányi hatte doch recht. Da gibt's zwar kein Theater und sie wird nicht so bald eine Künstlerin werden, aber da läßt sich Geld machen.

Sie wollten in das Lokal zurückströmen, da kam ihnen der Junge in der kurzen Hose entgegen und gab den Befehl aus:

»Vengerski-Chor, Kabinett vier!«

Amélie quiekte in zufriedenem Tone:

»Der Abend gestaltet sich günstig.«

Im Kabinett vier war Wolkow der Gast. Er saß allein da, die Ellbogen auf den Tisch gestützt.

»Ah, Herr von Wolkow ... Ich habe schon lange nicht die Ehre gehabt ...« begrüßte ihn Amélie. »Wie befinden Sie sich? Jeden Tag trage ich Blumen auf das Grab der Sophie ...« (Sie wußte nicht einmal, wo Sophie begraben war.)

Der Bauer erwiderte nichts. Er zog seine Brieftasche und gab Amélie fünfundzwanzig Rubel.

»Ich mag keinen Gesang,« sagte er.

Er wies mit dem Zeigefinger auf Therese:

»Diese da ...«

»Dobre, panye Wolkow!« lachte Amélie. »Unter guten Freunden wäre der Gesang und sonstiger Firlefanz überflüssig ... Wir sehen uns heute nicht das erstemal ... Mädel, wir gehen ... nur Virginchen bleibt hier ...«

Und indem sie sich an Virginia wandte und ihr Gesicht streichelte, sprach sie:

»Herr Wolkow ist einer unserer besten Freunde. Du darfst ihm gegenüber nicht trotzig sein, mein Kind ...«

Alle entfernten sich und Therese blickte ängstlich um sich, ob der Saal eine Tür habe, die mit einem Schlüssel versperrt werden könnte ... Nein. Es waren lauter freie Flügeltüren und es gab im Zimmer weder einen Diwan, noch sonst etwas; auch gingen die Kellner ein und aus. Es war kein Grund zur Angst vorhanden. Neugierig, ein wenig herausfordernd blickte sie auf Wolkow. Was mochte er von ihr wollen?

Er trug ein russisches Hemd aus feuerschwammfarbenem, etwas grobem Gewebe, um den Leib einen Ledergürtel, und eine dunkelgraue Hose, die in Stiefeln steckte. Sein blonder Bart war wohlgepflegt, am Halse sah man den Saum des feinen Unterhemdes aus Leinwand; das Haupthaar war glatt gescheitelt, etwas lang, so, daß das Gesicht etwas von den byzantinischen Heiligenköpfen hatte. Er sprach nicht laut. Seine blauen Augen blickten tief und eindringlich. Sie waren nicht wässrig oder verträumt; entschlossene Energien blitzten darin auf. Er verzog keine Miene, als er mit Therese allein blieb. Er stützte das Kinn auf die Hände. Therese sah unter dem blonden Barte Brillantringe funkeln.

Sergius Wolkow war entschlossen, heute mit Therese zu sprechen. Das kleine blaue Kleid der Sophie ließ ihn seit gestern nicht zur Ruhe kommen, und mit fatalistischem Eigensinn redete er sich ein, das ungarische Mädchen sei ihm vom Schicksal bestimmt worden.

»Setzen Sie sich, mein Fräulein, ich möchte mit Ihnen sprechen.«

Wortlos, staunend nahm sie neben ihm Platz. Sein tiefer, leiser Bariton brach ihre Gleichgültigkeit. Das ruhige, selbstsichere Verhalten Wolkows hatte etwas Eigentümliches. Auf dem Tische stand auf einer silbernen Platte eine mit granatrotem Weine gefüllte Flasche mit zwei Gläsern.

»Wollen Sie?« frug Wolkow, indem er sie anblickte.

»Nein!« erwiderte sie.

»Ich möchte singen hören,« schien er sich selbst zuzuflüstern und er läutete.

Dem herbeieilenden Tschelowek befahl er, die Zigeuner hereinzurufen. Er sprach kein Wort, lehnte sich im Fauteuil zurück und faßte Therese bei der Hand. In dieser Berührung lag eine innige, warme, tierische Treue. Der Zigeunerchor kam unter dem Geklirr der Kastagnetten herein. Es war eine bunte, zusammengewürfelte Gesellschaft, lumpig, dabei malerisch. Ein Teil von ihnen nahm auf dem Boden Platz, die anderen auf den Stühlen. Mit Rücksicht auf die große Zahl der Anwesenden wollte Therese ihre Hand freimachen, aber der Bauer ließ sie nicht los.

Er sagte dem Chorführer etwas auf Russisch, worauf ein Mädchen und ein Mann aus dem Chor heraustraten. Vor dem Klavier saß niemand; nur ein Saiteninstrument namens Balalajka begleitete den Gesang. Das Mädchen hatte eine samtweiche Altstimme, wie der Herbstwind in den Steppen, der Mann einen Bariton. Therese hörte ihnen schläfrig zu. Der Gesang schien aus einer weiten, weiten Welt zu stammen, aus einer Welt mit großen, weiten Ebenen, tiefen Wäldern, breiten Gewässern und Schiffen, die langsam auf ihnen hingleiten; die brummende, summende, mit zusammengepreßten Lippen gesungene Begleitung bildete eine melancholische Untermalung des Hauptthemas. Es war viel Stimmung in dem Gesang. Wolkow zahlte, die Zigeuner entfernten sich.

»Das war schön!« sagte Therese zu Wolkow.

»Schön.«

Die Züge Wolkows wurden ganz sanft, und eine dünne Schicht von Tränen schien seine Augen zu verschleiern. Therese wurde da mit einem Male gar manches klar. Ohne selbst zu wissen warum, redete sie Wolkow mit »Du« an. Hat es denn einen Sinn, daß die Menschen sich mit »Sie« anreden? Ist das nicht ein Hochmut, eine Lüge von Menschen, die ja alle sterblich sind?

»Höre mal,« begann sie, »du liebst ja die Sophie noch immer.«

»Jawohl,« erwiderte die dumpfe Stimme.

»Und wenn du den Wunsch hast, daß ich hier bleibe, so geschieht das nur, weil ich ihr Kleid trage, weil ich dem Lande entstamme, das auch ihre Heimat war. Du willst sie durch mich, mit meiner Gegenwart feiern.«

Wolkow erwiderte nichts.

»Aber ich will das nicht! Ich lebe, ich lebe für mich und will nicht das Kerzenlicht neben einer Toten sein. Laß mich. Ich gehe fort.«

Sie erhob sich, um wegzugehen, doch Wolkow ließ sie nicht fort.

»Du bleibst hier! flüsterte er. »Warte doch. Laß uns ein wenig plaudern.«

Therese setzte sich wieder.

»Wie heißt du?«

»Virginia.«

»Das ist nicht wahr. Das ist nicht dein Name. Nur Madame Amélie hat ihn dir gegeben. Ich will deinen wahren Namen wissen, mit dem die Mutter dich daheim angesprochen hat.«

»Meine Mutter?«

Es fiel ihr ein, daß ein Tag vergangen war, an dem sie an die Mutter nicht gedacht hat. Sie wollte ihr morgen schreiben und ihr eine Rate für das Klavier senden.

»Wie heißt du also?«

»Therese.«

»Therese ... Therese ... Willst du Therese Wolkow heißen?«

Therese blickte ihn verdutzt an und begann ihn plötzlich per »Sie« anzusprechen.

»Wollen Sie mich heiraten?«

»Nein. Aber die Vengerkas haben die Gewohnheit, die Geliebte eines Mannes bei seinem Namen zu nennen. Sophie hieß unter ihnen Sophie Wolkow. Du wirst Therese Wolkow heißen.«

»Aber warum wollen Sie mich denn zur Geliebten haben? Sie kennen mich ja gar nicht ...«

Sergius Wolkow, der Landbauer, der immer in der Ruhaska herumging und dessen mit Eisen beschlagene Stiefel auf dem Parkett aufschlugen, warf auf das Mädchen einen von fanatischem Aberglauben verklärten Blick.

»Ich fühle, daß du für mich hierher nach Moskau gekommen bist, und das Kleid ist deshalb auf deinem Leibe, weil du für mich bestimmt bist. Ich liebe dich. Meine frühere Liebe hat gar nicht aufgehört, sie ist so, wie ich sie im Herzen barg, auf dich übergegangen. Gestatte, daß ich dich zu meiner Geliebten erwähle.

Er zog aus der Tasche einen kleinen Diamantring und steckte ihn an Theresens Finger.

»Auf dem Kuznatski Most erwartet dich eine bequeme Wohnung mit einer Magd ... du brauchst nur einzuziehen.«

»Auch du wohnst dort?«

»Nein, ich wohne bei Tula, in Zasyeka, aber ich muß allwöchentlich für ein bis zwei Tage nach Moskau kommen.«

»Warum heiratest du denn nicht?«

»Ich bin verheiratet.«

Therese fühlte sich plötzlich von einem unbeschreiblichen Ekel erfaßt. Was hier geschah, empfand sie als etwas Gemeines und Demütigendes. Sie hatte das Gefühl, jemanden betrogen zu haben. Sie riß sich los und war froh, daß von unten das Zvanok, das Läuten, heraufscholl.

»Das Lokal wird gesperrt, ich muß gehen,« sagte sie hastig.

Einen Augenblick dachte sie daran, ihm den Ring zurückzugeben, aber sie besann sich eines andern. Das wäre ja eine Dummheit. Ohne ein Glücksgeld zu verlangen, flog sie, gleich einem aufgescheuchten Vogel, die Treppe hinunter, nahm hastig ihren Überrock und drängte sich durch das Gewirr der Straße.

Sergius Wolkow aber begab sich in das erwachende Moskau.


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