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III.

Das Haus in der Feuerwehrgasse erdröhnte unter wuchtigen Tritten großer, plumper Stiefel. Vom Erdgeschoß bis zum Dachboden hallte das Haus von den lauten Reden wider, jede Vorzimmer- und Küchentür ging auf, jeder Einwohner und alle Dienstmädchen eilten hinaus, als im Treppenhause der rhythmische, kommandoartige Ruf erscholl: »Ho-ruck! ... Ho-ruck! ...«

»Die Ladánys bekommen ein Klavier!« Diese Neuigkeit wurde vom Hausmeister und dem Vizehausmeister verkündet.

Und in der Tat, zuerst wurden die drei auf Messingräderchen ruhenden Füße hinaufgetragen, dann folgte der Klavierkörper in seinem Lattensarge. Die Lastträger fluchten und schimpften bei jeder Wendung, sie lockerten die breiten, weißblauen Gurten, damit das Klavier auf der Treppe gleich ihnen ausruhe.

»Sie haben ein Zimmer und eine Küche und dabei leisten sie sich ein Klavier!« meinte die alte gallige Schneidermamsell im ersten Stock, in deren »Salon« (einem Hofzimmer) neun Mädchen zusammengepfercht arbeiteten.

»Denn das Fräulein wird eine Schauspielerin!« ließ sich vom zweiten Stock die Gattin des städtischen Steueroffizials vernehmen.

Es dauerte beinahe dreiviertel Stunde, bis das schwere Stück hinauf geschleppt wurde, welches auf Wunsch des bärtigen Kapellmeisters in einem großen Musikinstrumenten-Magazin auf der Rákóczy-Straße auf Ratenzahlungen gekauft wurde. Oberhalb der Tastenreihe erglänzte zu beiden Seiten einer goldenen Lyra die Firma der Klavierfabrik: Koch, Kooselt et Co., Wien.

»Ohne Klavier können Sie nicht bestehen! ...« meinte der Kapellmeister in der Schule. »Das wird in Hinkunft Ihr Brotgeber sein, Ihr tägliches Brathuhn und Ihr Champagner ... Sie haben zwar Stimme, doch müssen Sie sich daheim üben, das ist das Wichtige bei Sängerinnen ... Und es ist wahrhaftig nicht teuer, sechzehn Kronen Monatsrate. Das Klavier kostet neunhundert Kronen, im zweiten Jahre zahlen Sie Raten zu zwanzig Kronen, im dritten werden Sie schon einen Kontrakt haben, dann werden Sie den Rest auch aus einer halben Monatsgage bezahlen können ...«

Und Therese erklärte daheim ihrer Mutter, der pünktlichen, ehrlichen, trockenen Alten, ohne Klavier nicht leben zu können. Sie weinte und berührte anderthalb Tage keine Nahrung, bis schließlich die Mutter im Interesse der Zukunft ihres Kindes nachgab und von ihrer kargen Pension monatlich vierzehn Kronen zur Tilgung des Klaviers beiseite legte. Und doch brauchten sie jetzt das Geld mehr denn je. Der Premierenabend nahte heran, und Therese mußte ein Seidentrikot kaufen.

»Dein Trikot muß fein sein, vom allerfeinsten!« quiekte die Rosa Ligeti, »denn du, mein Täubchen, wirst die Sensation des zweiten Finales sein. Andere würden mir für diese Rolle Hunderte zahlen, doch ich bin eine Gönnerin der Talente ... Aber das Trikot soll fein sein! ...«

Und sie kaufte bei dem Theaterlieferanten für Therese ein Seidentrikot für hundert Kronen, wobei sie zehn Prozent Provision gewann, gerade so wie der Herr Kapellmeister für das Klavier.

Die künstlerische Laufbahn der Therese nahm somit ihren Anfang. Ein Klavier und ein Rosatrikot. Für vier Kronen pro Stunde erteilte der Herr Kapellmeister Extralektionen im Hause, so daß sie in diesem Monate die vierzig Kronen für den Mietzins nicht beiseite legen konnten. Die gewohnte pedantische Ordnung im Hause hatte aufgehört, und während Therese am Vormittag bei der Probe war, brach ihre Mutter während des Plättens mehr als einmal in Tränen aus. Sie wagte es nicht, sich ihrem Kinde entgegenzustellen, denn am Ende konnte das Kind recht haben, und die Mutter durfte ihre Zukunft nicht gefährden; aber im Innern flüsterte ihr eine Stimme zu, daß etwas da nicht in Ordnung sein müsse, und daß sie eigentlich doch nicht zugeben sollte, daß die Tochter des Dezsö Ladány in Trikots auf einer Platte auf die Bühne gebracht werde. Wenn sie dies vor ihrer Tochter andeutete, erwiderte ihr Therese lachend:

»Mama, du bist einfältig und rückständig. Wie oft sahen wir die Emilie Márkus in klassischen Stücken halbnackt, und sie bleibt doch eine große Künstlerin. Was im Theater geschieht, zählt draußen in der Welt überhaupt nicht. Auf der Bühne ist die Kameliendame eine Gefallene, aber ihre Darstellerin ist im Leben eine echte Dame. Etwas anderes ist es freilich, wenn eine auf dem Podium eines Rauchtheaters in Trikots erscheint; die Bühne aber ist eine Stätte der Kunst ...«

Glücklich und in froher Stimmung eilte sie jeden Vormittag zu den Proben, die vorerst noch im Straßenkostüm und ohne Dekorationen, aber schon mit Orchesterbegleitung stattfanden. Die große Platte, auf der sie hereingetragen werden sollte, war noch nicht fertig, weshalb die Choristen sie auf ihren Schultern trugen ...

»Sie hat Talent, da gibt es was zum Greifen! ...« meinte ein alter Statist.

Der Tenorist klopfte vergnügt auf die schwellenden Formen der neuen Künstlerin. Veszprémy brachte ihr sogar Schokolade und Blumen, und der Direktor stellte sie Herrn Pollak, dem gefürchteten Kritiker, vor, der unter dem Pseudonym Michael Perjel selbst Stücke schrieb ...

»Wenn Sie mich in meiner Wohnung besuchen, so werden wir auch für Sie eine kleine Rolle finden,« meinte der gestrenge Pollak.

Wenn sie auf der Bühne nichts zu tun hatte, eilte sie ins Parterre, wo sie auf einem Sperrsitz der Probe beiwohnte. Oft setzte sich ein Schauspieler oder ein befreundeter Kritiker des Theaters neben sie, um sie zu umarmen und ihr ins Ohr zu flüstern. In den Zwischenakten nahm sie manchmal in dem kleinen Gasthause der Theaterschule die Zehnerjause. Sie war in Gesellschaft des Direktors, der Primadonna, des Autors, des Kapellmeisters, die für sie bezahlten, und der »Fisch« war zufrieden und fröhlich, voller Hoffnung und Erwartung. Im Theater nannte man sie den »Goldfisch«.

Wie wurde sie von den Mädchen beneidet, als die Hauptprobe in Trikots in der Wohnung der Rosa stattfand.

»Was heute Nachmittag bei mir zu sehen sein wird, ist etwa noch nicht Dagewesenes!« flüsterte die Ligeti zwei Kasinomitgliedern zu, die sie zur großen Schaustellung ebenfalls eingeladen hatte.

Ihr Ehrgeiz ging dahin, auch die Aristokratie zufriedenzustellen; der Unterrichtsminister müsse sagen: Diese Schule der Rosa Ligeti ist wirklich ein Institut ersten Ranges! Das würde eine sichere Staatshilfe bedeuten.

Sie ließ es sich nicht nehmen, die Therese eigenhändig zu schminken, und das Stubenmädchen steckte sie geschickt in das Rosatrikot, nicht ohne vorher ihren nackten Leib mit Coer de Jeannette besprengt zu haben. Die Meisterin warf, die Augenbrauen runzelnd, einen gestrengen Kennerblick auf das Fischlein, bevor es eingeführt wurde.

Im Salon saß die Gesellschaft bei einem Champagnergelage, und auf Wunsch des Komponisten sang die Primadonna den großen Walzer: »Mein Blut kocht, mein Herz pocht so stürmisch«; die Gesellschaft applaudierte. Da ging die Tür auf, und es erschien das Fischlein mit aufgelösten Haaren ... Ihre feuerroten Pantoffel ließ sie im Nebenzimmer zurück. Ihr Gesicht war gerötet, eine Folge der Erregung und vielleicht auch der Scham darüber, daß sie ihren jungfräulichen Leib zum erstenmal fremden Männern zeigen sollte. Das Trikot war so viel wie nichts, als ob sie splitternackt gewesen wäre, ihre Haut schimmerte und glühte durch die Seide hindurch, an ihren Knien waren die kleinen Grübchen ganz deutlich sichtbar. Sie breitete ihre Arme kreuzweise über ihren Busen und senkte ihre Augen.

»Fischlein, Fischlein!« rief die Rosa Ligeti. »Die Arme müssen Sie wegnehmen. Wer Schauspielerin sein will, darf sich nicht zieren. In der Kunst gibt es keine Jungfrau oder Nichtjungfrau, dort gibt es nur eine Kunst, sonst nichts.«

»Bravo, Meisterin, bravo!« rief ein Kasinomitglied, »das ist ein wahres Wort ...«

Glühende Blicke hefteten sich auf den jungen Leib, und einer faßte seine Kritik in dem Ruf zusammen:

»Sapperlot!«

Therese hatte einen großen Erfolg errungen. Die beiden Kasinomitglieder nahmen sie in Vormerkung und tranken auf ihr Wohl. Goldfischlein streckte sich auf dem Salondivan aus, genau in der Positur, die sie im Theater auf der großen Platte einnehmen sollte. Jeder fand irgend etwas an der Haltung ihrer Hände oder Beine auszusetzen, um sie betasten zu können, und der Komponist betrachtete sie so stolz, als ob er auch ihre Gestalt komponiert hätte.

»Ein Bombenerfolg,« sagte der Dicke zehnmal hintereinander, nur die Primadonna flüsterte dem Bonvivant zu:

»Ich fürchte, daß sie nicht mehr jung genug ist ...«

Die Gesellschaft ging in großer Erregung auseinander, und die Herren vom Kasino erzählten am Abend wichtigtuerisch, es sei ein neuer Stern über der Stadt aufgegangen, und die gefeierte Heldin des Tages nahm im Artistenklub in der Gesellschaft des Bonvivants die Glückwünsche entgegen.

Der Artistenklub befindet sich auf dem Elisabethring, im Erdgeschosse des Royal Orpheum. Rund um die mächtigen Glasscheiben sieht man Reklameplakate, die elektrisch durchleuchteten Riesenlettern der Aufschrift an der Vorderfront projizieren ihre Strahlen in das Lokal; rückwärts führt eine schmale Treppe in den Keller, zu den chambres séparées. An der Wand Abbildungen, den Tanz rosiger Amoretten darstellend, um die Tische sitzt die Bohème Budapests herum: Artisten, Theaterschülerinnen, Polizeireporter und Mädchen, die teils unter polizeilicher Aufsicht stehen, teils Kabarettkünstlerinnen sind.

Dicker Rauch durchzieht die Luft, die Billardkugeln knallen, die Lumpe spielen Domino oder Karten, während die Mädchen kibitzen. Tänzelnd bringt der Kellner Józsi den »Two sistens Eleki«, den Pikkolo; in einer Ecke sitzt der Regisseur mit einem Mädchen, das morgen zum ersten Male im Mitternachtskabarett auftritt; er liest ihr die Nummer vor, die er ihr für zweihundert Kronen und für zwanzig Kronen Tagestantieme geschrieben hat.

Das Mädchen heißt »die kluge Stefi«, bisher war sie Gast des Café Louvre; sie scharrte etwas Geld zusammen und beschloß, Künstlerin zu werden. Das geht so: man läßt durch den Regisseur etwas schreiben, man bezahlt ihn gut, dann kann man auftreten, die Vergangenheit ist vergessen, der goldene Schleier der Kunst verdeckt die polizeiliche Aufsicht.

Als Therese eintrat, wurde sie von den Theaterzöglingen umringt, die den Vortrag des Bonvivants anhörten. Sie war von ihrem jungen Ruhm ganz berauscht. Sie hatte die Empfindung, daß sie bereits einen großen Theatererfolg errungen; war sie doch in Gesellschaft zweier Mitglieder des Nationalkasinos und hatte vom Theater schon fünfzig Kronen Vorschuß empfangen. Von dem Ersten angefangen sollte sie eine Monatsgage von hundert Kronen beziehen und nach der Premiere einen Vertrag bekommen. Wann hätte sie als Maschinenschreibfräulein hundert Kronen Monatsgage bekommen? Und das war bloß der Anfang, nach zwei bis drei Jahren würde sie schon eine Gage von fünf- bis sechstausend Kronen erhalten und ... Sie hätte mit niemandem darüber gesprochen, doch innerlich empfand sie, daß irgendein reicher, großer Herr sich in sie verlieben und sie dessen Geliebte werden würde.

Lachend, die Augen voll Glanz, setzte sie sich, denn sie wußte, daß sie beneidet wurde, und das machte sie stolz und glücklich.

»Ich gratuliere Ihnen, Goldfischlein,« sprach Papa Naphegyi, ihr die Hand schüttelnd.

»Gott, welch schönes Geschöpf,« sagte Frau Tomcsányi kopfschüttelnd. »Hören Sie, mein Herzchen, wie können Sie denn bloß mit einer solchen Figur und Stimme in Budapest bleiben? Ich kenne ein Land, wo man die wahre Kunst zu werten weiß, wo solche Mädchen mit Gold und Juwelen überschüttet werden. Aber die Ungarin ist dumm, sie verkauft sich dem Theaterdirektor für sechzig bis hundert Kronen Monatsgage, während sie in Moskau an einem Abende so viel verdient. Alle Mädchen, die ich durch Amélie nach Rußland engagieren ließ, sind glücklich geworden.«

»Ja, so ist es auch mit meiner Tusi,« unterbrach sie Papa Naphegyi.

Einen Augenblick wurde es still um den Tisch. Therese dachte an Rußland, das geheimnisvolle und reiche Land, wo das Geld und die Juwelen aus dem Boden herauswachsen, von wo die Ungarmädchen in Hermelinmänteln und mit Kostbarkeiten beladen heimkehren.

»Der ungarische Kavalier versteht es ja gar nicht, sich zu amüsieren,« meinte Frau Tomcsányi. »Er läßt sich etwas vom Zigeuner vorspielen, singt dazu und -- verzeiht mir, Kinder -- schneidet rülpsend die Kur.«

Lautes Gelächter belohnte diese Wendung, doch die dicke Frau fuhr fort:

»Und für nichts zahlt er ihr keinen Heller. Anders der Russe: wenn er sich an ihren Tisch setzt und nur ein Glas Wein mit ihr trinkt, gibt er ihr schon zehn bis zwanzig Rubel Glücksgeld. Wenn eine bleiben will, was sie ist, kann sie es in Rußland ruhig bleiben, und doch wird sie reich heimkehren. Darum sage ich euch, nur eine dumme Person kann hier bleiben. In Rußland wird so wenig verlangt: ein klein wenig Tanz und Gesang. Und der Geld-, Gold- und Diamantregen bleibt nicht aus. Ich sage euch das, ich, die Witwe eines Tafelrichters.«

Papa Naphegyi frug hierauf:

»Und jetzt, in letzter Zeit, haben Sie niemanden nach Rußland engagiert, meine Gnädige?«

»Aber wieso denn nicht? Nächste Woche reist mein Patenkind und diese kleine Stumpfnäsige da ...«

Sie wies mit der Hand auf die kleine Betti Várnai, die in ihrer Erbitterung darüber, daß nicht sie der »Fisch« geworden ist, beschloß, nach Rußland zu gehen.

Stolz zog sie aus ihrem Ridikül einen zusammengefalteten, mit der Vignette der Staatspolizei versehenen Paß.

»Seht ihr,« sprach Frau Tomcsányi, »Stand und Beschäftigung der Reisenden: Schauspielerin, Aktrice ... Schauspielerin, Künstlerin, keine Choristin. Das ist das gelobte Land des Reichtums, des Ruhmes. Rußland, Russie! Zweck der Reise: Engagement ...«

Gierig betrachteten die Theaterzöglinge das innere Blatt, welches schon das mit Cyrillischen Lettern versehene Siegel des russischen Konsulats trug. Auch die Religion Bertis -- confession: ev.-ref. -- war da eingetragen.

»Ist jemand Jude, so soll er ebenfalls sich nur als ev.-ref. eintragen lassen,« meinte Papa Naphegyi. »Wohl ist es für ein Mädchen, eine Künstlerin, einerlei, ob sie Jüdin oder Christin ist, weil der Russe in dem Weibe nicht die Religion, sondern nur die Kunst sieht, aber immerhin ist es nicht gut, Jude zu sein.«

»Es ist das ein reiches und galantes Volk, mein Kind, nur muß man mit den Leuten umzugehen wissen. Merke dir, mein Herz: willst du etwas, so beginne immer nur mit: pazsalszta ... das heißt im Russischen: ›ich bitte schön‹. Die wichtigsten Worte will ich dir aufschreiben.«

Es war neun Uhr abends geworden. Der Artistenklub leerte sich allmählich, die Artisten gingen ihrem Geschäfte nach. Die kluge Stefi ging nach Hause, um zu lernen.

»Wo wohnen Sie denn, mein Kind?« frug Frau Tomcsányi die Therese.

»In der Feuerwehrgasse.«

»Wie sich das trifft ... dann können wir zusammengehen.«

Und sie machten sich auf den Weg über den großen Ring. Die Geschäftsläden waren schon alle gesperrt, die Gruppen der Fußgänger lichteten sich, das Geräusch des Werktages ließ nach, die elektrischen Wagen sausten rascher über die Schienen; man sah nur hie und da einen Einspänner schwerfällig dahintrotten; manchmal raste ein Auto vorbei, in welchem ein Herr oder eine in reiches Pelzwerk gehüllte große Dame saß ... Die Kaffeehäuser alle überfüllt: die arme Großstadt lebt in diesen glänzenden, mit Kunstmarmor geschmückten Sälen. Daheim eine unfreundliche, öde Wohnung, es blinzelt dort eine mißduftende Petroleumlampe, während man sich doch im Bureau an Gas und elektrisches Licht gewöhnt hat; eine Dienstmagd kann man sich nicht leisten, das kalte Nachtmahl zwischen unfreundlichen Mauern mag man nicht, die Nachbarn gehen in ärmlichen Kleidern herum -- um wie vieles angenehmer ist es doch im Café! Elektrische Beleuchtung, dienstbereite Kellner, bequeme Stühle, für kleine Gesellschaften nette kleine Eckchen mit Plüsch- oder Samtsofas, alle Blätter Europas bei der Hand oder in der Hand, eine gutgelaunte und sorglos erscheinende Menge, gute Freunde, mit denen man eine Kartenpartie absolviert, kokette Spießbürgersfrauen, bei etwas Klugheit und Geschicklichkeit kann man auch Abenteuer erleben; geht etwas vor, so ist der Camelot zehn Minuten später mit der Extraausgabe schon da, die aus dem Theater Kommenden berichten über das neue Stück, bald da, bald dort taucht ein namhafter Politiker auf, die Schriftsteller und Journalisten kommen und gehen ... Alles, alles in den Kaffeehäusern.

Und dort drüben in den Seitengassen die schweigsamen, dunklen Häuser, mit den finsteren Zimmern; dort wohnen die anderen, die nicht zählen, die nur im Rahmen der Masse für die Statistik etwa als Steuersubjekte in Betracht kommen.

In einer Seitengasse, vor dem Kino, eine wimmelnde Menge. Ein sensationeller, 1200 Meter langer Film wird vorgeführt, die Blätter bringen schon seit mehreren Tagen die darauf bezüglichen Reklameannoncen: »Durch den Sumpf zu den Millionen« ...

»Wollen wir hinein, Goldfischlein?« frug Frau Tomcsányi, als sie vor dem Kino ankamen.

»Nein ... nein ... es ist schon spät und Mama wäre bös ...«

»Ach, mein Täubchen, wie gerne möchte ich Ihre Frau Mama kennen lernen. Wenn es Ihnen recht ist, so will ich Sie jetzt nach Hause begleiten,« sprach die Tafelrichterswitwe. »Eine arme Witfrau sieht es gerne, wenn eine andere sie besucht und wenn sie sich gut ausplaudern können ...«

»Aber ich fürchte, die Wohnung daheim wird schon in Unordnung sein ...«

»Tut nichts ... selbstverständlich muß man sich am Abend schlafen legen und das Bett abdecken. Es ist ja spät und Mama wird es nur recht sein, daß ich Sie begleite.«

Diese Antwort war auch für Therese einleuchtend; die fortwährenden Vorwürfe, die ihre Mutter ihr machte, wenn sie spät nach Hause kam, waren ihr schon lästig. Besonders nervös war sie ob der spähenden, bekümmerten Blicke der Mutter, die immerfort zu forschen schien, ob die Tochter noch unberührt sei, ob sie nicht den ehrbaren bürgerlichen Namen der Eltern mit Schande bedeckt habe ...

Sonst sprach Witwe Dezsö Ladány nie über diesen Gegenstand, nur manchmal kam es in der Nacht vor, daß sie die Tochter, die noch wach war, ansprach. Sie wußte, daß da niemand ihren kummervollen Blick, ihre hervorbrechenden Tränen sah.

»Wenn du einmal aufhören solltest, meine Tochter zu sein,« pflegte die Mutter zu sagen, »dann komme gar nicht mehr nach Hause. Dann brauchst du dich von mir gar nicht zu verabschieden, mir gar nichts zu melden, sondern schicke einfach jemanden um deine Habseligkeiten, die ich ohne ein Wort ausfolgen werde, und damit basta, als ob du für mich gestorben wärest. Mein früheres Kind, das gestorben ist, werde ich weiter lieben, wie eine gute Mutter lieben muß, aber um die lebende werde ich mich nicht weiter kümmern ...«

Therese erwiderte darauf entweder gar nichts oder nur so viel:

»Genug von diesen Dummheiten ...«

Sie hatte daher nichts dagegen, daß die Frau Tomcsányi sie begleite, doch bemerkte sie:

»Wir sind aber leider sehr arme Leute.«

»Mit einem solchen Talent ist man nicht arm, mein Goldfischlein ... Wie hat denn die Amélie begonnen? Ihre Mutter -- aber Sie dürfen das niemandem verraten -- war Tochter eines slowakischen Bahnwächters und doch hat Amélie jetzt ein Palais im Petrowsky-Parke ... Das Talent ist ein Reichtum, nur darf man es nicht Krämern für einen Pappenstiel vermieten ...«

Vor dem Tore wollte Therese die Frau Tomcsányi nochmals zurückhalten:

»Aber für die gnädige Frau werden die drei Stockwerke vielleicht doch zu hoch sein?«

»Für mich? In meiner Jugend war ich Soubrette bei Krecsányis Schmiere ... Dort hat sich mein Gottseliger in mich verliebt. Noch als Tafelrichterin wäre ich gerne aufgetreten, was er aber nicht zuließ, zumal der Justizminister es ihm verübelt hätte. Ich sagte ihm, der Gatte der Frau Blaha, der Baron Splényi, wäre ja auch ein Oberpolizist. Aber ein Tafelrichter ist eben doch etwas anderes.«

Sie erzählte all dies schnaubend und tief Atem holend, in jedem Stockwerk mußte sie Rast halten.

»Mein Täubchen, mein Goldfischlein, Sie werden in einem kleinen Palais, im ersten Stock wohnen und ein Lakai wird die Tür öffnen, wenn die Tafelrichterin Witwe Tomcsányi anläutet ... Denn ich werde Sie in Moskau oder Petersburg aufsuchen.«

»Ich gehe nicht dorthin,« erwiderte Therese lachend. »Mama würde es gar nicht erlauben. Wozu auch? Es wird mir hier bei dem Theater ganz gut gehen. Die Rosa Ligeti, die Herren Autoren werden mich protegieren, mir gute Rollen verschaffen ...«

»Aber, mein Kind, was fällt Ihnen ein? ... Das ist ein undankbares Volk ... Ich weiß es noch von meiner Soubrettenzeit her. Wenn die Operette durchfällt, wird es heißen, Sie seien daran schuld und dann sind alle schönen Versprechungen vergessen.«

Sie waren oben angelangt. Aus einer Wohnung vernahm man den leisen Gesang einer Dienstmagd oder Amme, denn nach neun Uhr abends war das Singen nicht erlaubt. Die Wohnung der Schneiderin war noch beleuchtet; die Mädchen waren mit dem großen Reinemachen beschäftigt und tuschelten leise, lachten jedoch plötzlich laut auf.

»Bitte nur einen Augenblick um Geduld, bis ich Sie der Mama anmelde, damit wir nicht ganz unerwartet kommen.«

Sie klingelte. Die Tür ging auf und Witwe Deszö Ladány blickte mit stummer Neugierde auf den späten Gast, der schnaubend neben dem Gitter stand.

»Guten Abend, Gnädige!« begrüßte sie die Mutter Theresens, die den Gruß mit gezwungener Vornehmheit erwiderte.

»Pardon!« sagte Therese, indem sie dem Gast nochmals winkte; sie hatte die Tür nicht zugemacht, nur angelehnt, so daß ein unverständliches Geflüster, dann aber ein leises Knarren, von dem Zusammenlegen eines Feldbettes herrührend, zu vernehmen war. Dann folgte das Geklirr des Geschirrs -- das armselige Nachtmahl wurde weggestellt -- und die Tür öffnete sich neuerdings.

»Bitte einzutreten,« sagte Frau Dezsö Ladány.

»O, ich danke, wirklich, es ist so spät ... Ich wollte ja nur Thereschen nach Hause begleiten, denn ein so hübsches Mädchen ist am Abend Unzuträglichkeiten ausgesetzt. Und bei uns, Witwen von Staatsbeamten, ist die Anständigkeit die Hauptsache, nicht wahr?«

Mit breiter Geste reichte sie der Mutter Theresens die Hand.

»Frau Witwe Tomcsányi, Witwe eines Tafelrichters.«

»Bitte Platz zu nehmen, gnädige Frau,« sagte Therese.

»Ich habe schon gesagt, mein Täubchen, Sie sollen mich nicht ›gnädige Frau‹ nennen. Von Fremden erwarte ich das zwar, aber für dich, mein Kind, bin ich nur die Tante Tomcsányi.«

Während sie sprach, entging nichts im Zimmer ihren spähenden Falkenblicken; sie betrachtete das Bett, das in aller Hast zugedeckt wurde, auf der Kredenz sah sie das fettige Papier des Krämers, mit welchem ein Teller verdeckt war, auf dem offenen Klavier den mächtigen Blumenstrauß, den heute Nachmittag ein Kasinomitglied dem Goldfischlein zusenden ließ. Auf dem Fenstergesims stand ein kleiner Spiritusapparat für das Kräuseln der Haare, daneben zwei Schachteln mit Bonbons.

Mit einem einzigen Blick überschaute Frau Tomcsányi all dies, wobei sie sich mit Frau Ladány in ein Gespräch einließ.

»Ich bin sonst wirklich keine Schmeichlerin, meine Gnädige, aber zu Ihrer Tochter kann ich Sie beglückwünschen ... Sie ist ein großes Talent und wird es noch weit bringen.«

»Gott gebe es,« seufzte die Mutter Theresens, die an der Frau Tomcsányi Gefallen fand, besonders aus dem Grunde, weil sie sich über die Witwen von Staatsbeamten so nett äußerte.

»Ein -- zwei gute Rollen und wir werden diese Wohnung, ja die ganze Franzstadt links liegen lassen, Mama,« meinte Therese in freudiger Erregung.

»Gott gebe es,« flüsterte Frau Ladány abermals. »Die Hauptsache ist aber, daß alles auf geradem Wege gehe. Die Bühnenlaufbahn eines Mädchens ist ein schlüpfriger Weg, nicht wahr, meine Gnädige?«

Frau Tomcsányi wartete nur auf diese oder auf eine ähnliche Frage, denn plötzlich warf sie sich gierig auf dieses Thema:

»Ja, bei uns, aber auch nur bei uns ist das der Fall ... Obzwar anständige Leute auch hierzulande anständig bleiben. Freilich kommt man dann schwerer vorwärts. Im Auslande liegen die Dinge ganz anders. Dort hat man lediglich die Kunst vor Augen. Ich habe eine kleine Nichte, die in Kiew zwei Jahre Schauspielerin war. Heute ist sie zwanzig Jahre alt, und ich möchte getrost für sie die Hand ins Feuer legen. In zwei Jahren hat sie sechzigtausend Rubel ihrer Mutter nach Hause gesandt, die gleichfalls Witwe eines Professors ist. Das bedeutet hundertundfünfzigtausend Kronen, meine Gnädige ... Die Künstlerlaufbahn ist eine schöne, aber nur dort, wo sie bezahlt wird. Hundertfünfzigtausend Kronen! Welcher Schatz für arme Leute!«

In dem kleinen Zimmer dachten zwei Menschen sehnsüchtig an die erlösende Zukunft voller Schätze und Künstlerehren, das Mädchen zuversichtlich und mit jugendlicher Sorglosigkeit, die Mutter in zaghaft-banger Hoffnung. Die Dritte saß breit auf einem Stuhl da und wiederholte die Worte, die sie schon so oft gesprochen, mit süßlicher, zu Herzen dringender Stimme, aber im Innern kalt und ohne Überzeugung. Sie übte eben ihr Gewerbe aus, alles war ihr nur Mittel zur Erreichung des Zweckes.

»Glauben Sie denn,« sprach Frau Ladány, sich ihren Träumereien entwindend, »daß Therese im Ausland besser ihren Weg machen könnte?«

»Nein, ich bleibe hier,« sagte Therese plötzlich in entschiedenem Tone. »Nun werde ich meinen Vertrag bekommen, da ist mein Klavier, mein Gesangsmeister ... Ins Ausland zu gehen habe ich auch später Zeit.

»Das ist wohl richtig,« nickte Frau Tomcsányi. Aber wozu hier experimentieren und eventuell Schiffbruch leiden? Ich brauche der Amélie nach Moskau nur einen Brief zu schreiben und der Vertrag ist schon da ... Ruhmvolle Zukunft ... Aber wozu jetzt das fortspinnen, ich wollte ja nur Thereschen nach Hause begleiten und ihre Mutter kennen lernen ... Ist man doch so glücklich, eine ehrliche, herzensgute und rechtschaffen denkende Frau zur Freundin zu gewinnen ...«

Sie verabschiedete sich. Dem Pförtner gab sie zwanzig Heller Sperrgeld, obwohl zehn Uhr noch kaum vorüber war. Frau Ladány öffnete neuerdings das Bett, während Therese die Wurst und das Brot herauskramte und der Mutter kaum zuhörte.

»Siehst du, das ist eine brave, offenherzige Frau, der man vertrauen kann. Sie ist eben Witwe eines Staatsbeamten.«

Therese löschte die Lampe aus und sie begaben sich zur Nachtruhe.

Und so vergingen die Tage: am Vormittag im Theater bei den Proben, am Nachmittag in der Schule, dann eine Stunde im Artistenklub, von wo sie nach Hause ging. Goldfischlein ward in der Stadt allmählich bekannt, reiche junge Herren sprachen von ihr und Dr. Bodnár -- der als Doktor Gewürzkrämer wurde und den Schauspielern, sowie der Direktion für den Genuß, das Theater besuchen zu dürfen, die Delikatessen um 50 Proz. billiger berechnete -- sagte ihr einmal nach der Probe:

»Täubchen! Kommen Sie zu mir in das Geschäft und wählen Sie sich etwas nach Herzenslust aus, ich will es Ihnen ins Haus schicken.«

Und Therese ging hinein. Ihr Korb wurde mit Kaviar, Schinken, Kaffee, teurem amerikanischen Kompott und feinen Käsen angefüllt, und alles wurde durch den Ladendiener nach Hause getragen, wo die Beute ein Gegenstand neidvoller Bewunderung der ganzen Nachbarschaft war.

»Ja, wenn man eine Schauspielerin zur Tochter hat! ...« meinten die galligen Neider.

Goldfischlein machte die Bekanntschaft der berühmten Schneiderin Frau Lebán, einer kokett geschminkten Frau, deren negligéartige Kleidung teils an eine Kokotte, teils an eine Gelegenheitsmacherin erinnerte.

»Mein Kind,« sagte ihr Frau Lebán, »bei mir bekommen Sie alles, was Sie brauchen. Zu zahlen brauchen Sie mir jetzt gar nichts, sondern Sie geben mir nur eine Schrift, wonach Sie, sobald Sie Ihren Vertrag bekommen, monatlich fünfzehn Prozent Ihrer Gage mir überlassen.

Therese unterschrieb die Erklärung und erschien bald darauf in Toiletten, die in der Feuerwehrgasse allgemeine Sensation erregten. Wenn sie die Treppen emporstieg, zogen die Nachbarn die Vorhänge weg, um sie zu begaffen; der Advokat im zweiten Stock, der sie bisher gar nicht bemerkte, begrüßte sie nunmehr mit einem lauten »Küß die Hand«, der Pförtner aber blickte mit dem größten Respekt auf sie, weil der hochgewachsene junge Herr, der sie jetzt nach Hause zu begleiten pflegte, ihm nach Torsperre immer eine Krone Sperrgeld gab.

Goldfischlein befürchtete nicht mehr, allein nach Hause kommen zu müssen.

»Ich war im Theater ... Ich habe mit Direktors genachtmahlt ... Es war Nachtprobe ... Ich habe mit einem Direktor aus dem Auslande unterhandelt ...« antwortete sie im Anfang auf die Fragen der Mutter, aber bald unterblieben selbst diese Entschuldigungen, denn sie kam jeden Tag spät nach Hause.

Frau Witwe Ladány kämpfte gegen das Verhängnis an, solange es ging. Allabendlich erwartete sie ihre Tochter vor der zur Bühne führenden kleinen Tür, wo die Requisiteure und die Beleuchtungs-Arbeiter sie halb mitleidig, halb respektvoll anblickten, während die Choristinnen und Choristen lächelnd an ihr vorbeigingen.

»Wozu kommt die Frau täglich her?« sprach die bissige Irma zu ihren Freundinnen; Goldfischlein wird sie ja nicht in Form einer Einladung davon verständigen, wann sie ihre J ... J ... Jacke verliert.«

In ihrem schmucklosen schwarzen Kleid und ihrem einfachen Hute, der schief auf ihrem Kopfe saß, stand die arme Frau verschämt auf der Straße da, als sich der Menschenstrom nach der Vorstellung aus dem Theater ergoß. Sie fühlte, wie ihre Tochter sich ihrethalben schäme, wenn sie gezwungen war, die Mutter dem sie nach Hause begleitenden Autor oder Komponisten vorzustellen. Dies führte oft zu Zank und Streit zwischen ihnen.

»Was willst du denn? Was spielst du immer die Aufpasserin? ... Ich bin doch kein kleines Kind,« schrie sie rot vor Wut. Ich kann mich ja mit niemandem aussprechen, das schadet meiner Laufbahn.

»Gut, gut, so werde ich nicht mehr hingehen, dich nicht mehr erwarten.«

Und das »Ammerl« -- so wurde sie durch die Ballettmädel genannt -- legte weinend ihren alten Kopf auf die Kissen, indem sie aufseufzte:

»Wenn mein armer Mann dies wüßte!«

Von da an kam Therese allein nach Hause. In der Küche brannte ein Öllicht, damit sie nicht lange Zündhölzchen zu suchen brauche, und auf einem einfachen Teller waren Grieben oder Salami mit einem Stück Brot vorbereitet. Goldfischlein aber hatte schon längst ihr Abendbrot in Gesellschaft des Komponisten verzehrt, was sie aber im Anfang zu Hause nicht einzugestehen wagte, und so mußte sie die armseligen Bissen ohne Hunger essen; es kam aber auch vor, daß sie das Zeug in ein Papier wickelte und in den Lichthof warf. Schließlich ward ihr aber auch das zu dumm, und so bat sie ihre Mutter ein- für allemal, kein Nachtmahl mehr für sie bereitzustellen.

Gewöhnlich nahm sie das Abendbrot mit Dezsö Veszprémy in einer kleinen Nische im Gambrinus, im sogenannten »Püppchen-Garten« dieser Restauration, ein. Püppchen heißt im Budapester Jargon jedes Mädchen, das sorglos leben kann, weil ihr Freund nur für sie lebt, ihren Mietzins, ihre Toiletten bezahlt und mit ihr im Gambrinus nachtmahlt. Püppchen ist keine große Kokotte oder prunkvolle Mätresse, sondern ein bescheidenes Mittelding zwischen diesen beiden und der Gattin. Püppchen ist eine dankbare kleine Geliebte mit nicht allzu hohen Ansprüchen, die außer ihrem Freunde höchstens noch eine Liebe hat. Die Püppchen bilden eine eigene Gesellschaftsschicht, eine weiß von der anderen, die Männer kennen sich gegenseitig stillschweigend und die Püppchen konkurrieren in bezug auf Kleider und Juwelen nicht mit anderen Frauen, sondern untereinander. Lauter sorgsam gepflegte Mädchen, die auch den Schein wahren, so daß die meisten unter ihnen sogar eine Beschäftigung oder ein Amt haben. Die eine ist Probiermamsell in einem vornehmen innerstädtischen Hutladen, die andere Maschinenschreiberin, die Dritte Trafikinhaberin, aber das größte Kontingent liefert doch das Theater und die Theaterschule. Ohne sich verabredet zu haben, frequentieren sie einen Seitensaal des Gambrinus; auf ihren Tischen stehen immer Blumenvasen; dies ist der »Püppchengarten«.

Allabendlich erschien hier Therese in der Begleitung Veszprémys. Dieser war ein eigentümlicher, steifer Junge, hoch von Gestalt, schwarz, mit stark gelichteten Haaren, die er sorgsam pflegte und lang wachsen ließ, so daß Fremde seine angehende Glatze kaum bemerkten. Er sprach sehr leise, und in seiner Stimme zitterte etwas wie Unmittelbarkeit, die mit seinem wahren Wesen nichts gemein hatte. Er ging stets langsam, mit gemessenen Schritten, und wenn er sprach, blieb sein ganzer Körper unbeweglich, nur mit seiner Rechten führte er kurze, ausgezirkelte Gesten aus. Sein Großvater war noch Jude, er aber schon ein ausgemachter Gentry, Hilfssekretär im Finanzministerium ... Mittlerweile erlernte er das Notenschreiben. Vom Instrumentieren verstand er nichts, weshalb er seine Operetten durch den zweiten Kapellmeister des Theaters instrumentieren ließ. Dieser äußerlich männlich erscheinende Mensch, eine prächtige Mischung von Judentum und Gentrytum, ersann süßliche, sentimental anmutende Melodien. Kalte Gemessenheit und wütendes Aufbrausen, ritterliche Korrektheit und verschlagene Betrügerei, hochnäsige Überlegenheit und demütige Ratlosigkeit vereinigten sich in ihm zu einem sonderbaren Ganzen. Auch seine Kompositionsweise war eine eigentümliche. Fand er eine Melodie, die er zu einem Walzer oder zu einem Marsche verarbeitete, so verließ er sich nicht auf sein eigenes Urteil, sondern er suchte der Reihe nach alle ihm befreundeten Komponisten auf, um deren Ansicht einzuholen; der eine empfahl nun eine Änderung des Themas, der andere eine Abweichung im Rhythmus. Jeder gab etwas aus Eigenem hinzu; Veszprémy aber verwertete alles und so schuf er unter Mitwirkung aller Komponisten von Budapest eine Operette.

Im Vorjahre hatte er einen Riesenerfolg. Sein Stück erlebte etwa zweihundert Aufführungen, und auch dieses Jahr erwartete das Theater von ihm einen erlösenden Erfolg. Darum hatte das Auftreten Goldfischleins große Bedeutung. Veszprémy hielt sich für den Entdecker Thereses, und da er für die Saison noch keine Freundin hatte, begleitete er sie jeden Tag zum Gambrinus, den Augenblick erwartend, da die reife Frucht ihm in den Schoß fallen würde.

Die Welt glaubte schon lange, Goldfischlein sei die Geliebte des Komponisten, und alle Blicke wendeten sich ihnen zu, als sie in die Restauration eintraten. Bachó, der Kapellmeister der Honvédkapelle, der ungeachtet seiner Dirigententätigkeit den Komponisten bemerkt hatte, ließ es sich nicht nehmen, inmitten der kurzen Bewegungen seines Dirigentenstabes ihm mit einer weitausholenden Geste seinen Gruß zuzuwinken; Therese war stolz und hatte die Empfindung, ihren Weg nunmehr gemacht zu haben. An einem Abend erblickte sie unter den Biertrinkern die Paula König. Mit einem ironischen Lächeln blickte sie über sie hinweg. Jemand, der am Nebentische saß, sprach laut:

»Der neue Star!«

Therese war vornehm; eine elegante Toilette nach der anderen wanderte in die Feuerwehrgasse. Die Kleider fanden im Schrein keinen Platz mehr, und Goldfischlein warf die Frage einer größeren Wohnung auf.

»Aber um Gotteswillen, wovon sollen wir das bestreiten?« frug ihre Mutter in weinerlichem Tone.

Sie war noch trockener, noch trauriger geworden. Sie konnte sich über die schönen Kleider ihrer Tochter nicht freuen. Sie wagte es indes nicht, ihre Tochter zu tadeln, in der Befürchtung, sie könnte die Mutter verlassen und eine eigene Wohnung beziehen ... »Und dann wäre es aus,« dachte sie sich. Sie wußte, Therese sei jetzt noch ein unberührtes Mädchen ... Vielleicht gelang es doch, vielleicht wird aus ihr eine große Künstlerin.

Der Tag der Premiere rückte immer näher. Während der Proben gab es immer Aufregungen und Zänkereien. Im zweiten Finale stürmte der Direktor auf die Bühne und warf seinen funkelnagelneuen Hut wütend zur Erde, weil die Statisten mit einiger Verspätung die mächtige Goldplatte, auf der Goldfischlein lag, auf die Bühne schleppten.

»Der Teufel soll euch holen!« rief der Direktor außer sich vor Zorn. »Zurück mit der Platte!«

»Zurück mit der Platte!« brüllte der Regisseur.

»Zurück mit der Platte!« quiekte aus dem Hintergrunde des Zuschauerraumes die Rosa Ligeti, die bei den letzten Proben auch zugegen war.

»Zurück mit der Platte!« winkte der Kapellmeister, und gleich einem entfesselten Sturm brauste der Chor und das Hilfspersonal:

»Zurück mit der Platte!«

Das Orchester erfuhr erst später, nachdem der Kapellmeister das Spiel einstellen ließ, was vorgegangen war. Ein Instrument nach dem anderen verstummte und nur das Geschrei war noch zu vernehmen.

Und Therese lag, nur mit einem Trikot bedeckt, inmitten dieses neurasthenischen Stimmengewirrs auf der Platte. Sie fühlte sich als Königin des Lebens, als sie hin- und hergetragen und geschaukelt wurde.

»Das zweite Finale wiederholen!« verfügte der Direktor.

Das Ganze wurde wiederholt.

Nach der Probe war Veszprémy müde, erschöpft. Er wandte sich an Therese mit den vertraulich gesprochenen Worten:

»Kommen Sie, speisen Sie heute bei mir ...«

»Nein ... nein, Dezsö ... auch ich bin müde. Ich muß nach Hause gehen.«

Der Junge wurde sentimental:

»Goldfischlein, wollen Sie denn nicht einsehen, daß ich heute Nachmittag das Bedürfnis habe, ein Wesen an meiner Seite zu haben, das ich liebe, von dem ich glaube, daß es mich liebt, daß es mit mir fühlt, wenn ich den Kopf an seine Schulter lege, das wirklich wünscht, daß ich einen Erfolg erringe ... Goldfischlein, ich flehe Sie an, kommen Sie herauf.«

Und Goldfischlein ging hinauf. Die alte Wirtschafterin seufzte:

»Hätte ich gewußt, daß das gnädige Fräulein mitkommt, so würde ich mehr gekocht haben. Aber das gnädige Fräulein pflegt nicht zum Mittagessen zu kommen.«

Bisher war Therese stets nur »auf einen Sprung« heraufgekommen, um Veszprémy abzuholen; und wenn der Komponist noch nicht fertig war, drehte sie sich um und warf lachend die Vorzimmertür zu, indem sie rief:

»Ich erwarte Sie unten, damit es Ihnen nicht einfällt, sich damit zu brüsten, daß ich Sie in Ihrer Wohnung besuche ...«

Heute geschah es zum ersten Male, daß sie für längere Zeit hinaufging.

»Tut nichts, Tante Pepi, meinethalben brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«

Es hatte etwas Burschikos-Anmutiges, wie sie bei Tische saßen und die Tante Pepi sich um sie zu schaffen machte. Aus einem Schrein wurde eine Flasche Rosinenwein geholt, dessen Farbe dem rotbraunen Lack alter Möbelstücke ähnelte. Veszprémy hatte zwanzig Flaschen dieses Weins bei Nicolo Dagnino bestellt, als er mit seiner damaligen Saisongeliebten in Palermo weilte. Das war die letzte Flasche. Sie schenkten den Wein ein und stießen mit den Gläsern an. Die Mehlspeise -- es war Kaiserschmarrn mit Aprikosenmarmelade -- aßen sie von einem Teller, wobei Goldfischlein auf dem Schoße des Komponisten saß, während Frau Pepi es für angezeigt hielt, nicht mehr hereinzukommen.

»So! und jetzt legen wir uns nieder, ruhen wir uns aus,« sprach Veszprémy nach dem Essen.

Therese blickte ihn verwundert an.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich habe einen breiten Divan, Sie setzen sich darauf, ich aber lege den Kopf in Ihren Schoß, schließe die Augen und ruhe mich aus ... Ich atme bloß, aber ich denke gar nicht mehr, sondern ich überlasse mich einer wohltuenden Erschlaffung der Nerven ... Das ist doch harmlos?«

Therese fand die Idee sehr spaßig. Veszprémy reichte ihr scherzhaft den Arm:

»Gräfin?«

»Herr Graf!«

Und sie gingen Arm in Arm in das andere Zimmer. Vor dem Divan zog Therese ihren Rock, um das Kleid zu schonen, ein wenig höher und setzte sich auf ihren taubengrauen Unterrock. Veszprémy legte sich nieder und senkte den Kopf in ihren Schoß. Unter seinem Hinterkopf knisterte die Seide, er fühlte den vollen Schenkel des jungen Mädchens, auch atmete er ihr Parfüm ein, doch sprach er nichts, sondern schloß die Augen, und indem er Müdigkeit heuchelte, bat er sie:

»Goldfischlein, streicheln Sie meinen Kopf ...«

Therese war gerührt, sie fand die Situation allerliebst, es gefiel ihr, daß der reife Mann vor ihr zum Kind geworden; auch dachte sie daran, daß Veszprémys Name im ganzen Lande bekannt sei, und doch sitze sie jetzt in seinem Zimmer und streichle seinen Kopf.

»Küssen Sie mich, Goldfischlein!« flüsterte er ihr ins Ohr.

Goldfischlein neigte sich langsam über ihn; sie fühlte sich von einer frauenhaften Wärme der Empfindung erfaßt, die im liebenden Manne auch ein Kind sieht; sie heftete ihre Lippen langsam, weich an die seinen. Veszprémy ließ sich ermattet küssen und als er fühlte, daß sie nunmehr ihm gehöre, daß sie sich für ihn erwärme, wurde er mit einem Male flink und stürmisch. Er erfaßte sie mit beiden Händen an der Taille, riß sie zu sich herab und ehe sie sich dessen versah, riß er sie an seine Brust und bedeckte, wilde, leidenschaftliche Worte stammelnd, ihr Antlitz mit verzehrenden Küssen.

Vor ihren Augen zerriß es wie ein Vorhang, entsetzt schrie sie auf und begann sich mit aller Kraft gegen seine Umschlingung zu wehren.

»Laß mich los -- auf der Stelle!«

Er lachte brutal auf.

Ihre Wangen brannten, ihr Herz pochte zum Zerspringen. Wütend warf sie den Kopf hin und her, immer stürmischer verlangend, er solle sie freigeben.

Nun erst zeigte sich Veszprémy in seiner ganzen Brutalität. »Bestie, wozu die Komödie -- wußtest du nicht von Anfang an, daß ... du sollst mir bezahlen ... du sollst ...«

»Fort!« schrie sie und fuhr ihm mit den Fingern ins Gesicht, so daß unter ihren Nägeln das Blut hervorquoll.

Er ließ sie los, worauf sie aufsprang, ihm in das Gesicht lachte und mit einem Satze im Vorzimmer war. Sie riß ihren Hut und ihren Überrock vom Rechen und eilte in das Treppenhaus. Zum Glück war niemand dort, und sie konnte ruhig Hut und Mantel anziehen. Sie sah noch, wie bei Veszprémy die Lampe aufflammte, dann holte sie tief Atem, der sich in kurze, abgerissene Seufzer auflöste, und ging auf die Straße. Vielleicht tat er ihr sogar ein wenig leid; auch dachte sie daran, daß es ein Unsinn gewesen sei, sich ihm verweigert zu haben, zumal dies früher oder später doch ihr Schicksal werden müßte, doch frug sie sich dann, warum sie es eigentlich tun sollte? Für so wenig? Das lohnt sich nicht ...

Sie ging weiter ... Veszprémy aber brachte sich vor dem Spiegel in Ordnung, nahm die Zeitung zur Hand, die er auf dem Heimwege auf der Straße gekauft, warf sich auf den Divan, pfiff vor sich hin und dachte sich kalt:

»Heute ist's nicht gelungen ... tut nichts ...«


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