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VIII.

Der Schnellzug Lemberg-Lavochne ließ sich pustend in die Täler herab. Die Waggons zweiter Klasse waren überfüllt; irgendein polnischer Gesellschaftsklub fuhr nach Budapest, um die ungarisch-polnische Freundschaft zu befestigen, und der Wind brachte stoßweise einzelne Takte des Gesanges. Dichte Rauchwolken füllten die polnischen Waggons, weshalb die Fenster ein wenig geöffnet waren. In Sátoraljaujhely, wo der Zug hielt, dröhnte es im Chor heraus:

»Jeschtye Polska nye zginyula ...«

Die Polen hatten gar keine Hoffnung, ihr Land von der russisch-deutsch-österreichischen Herrschaft jemals befreit zu sehen, was aber diese Fanatiker mit dem ungezügelten Temperament nicht hinderte, beharrlich daran festzuhalten: »Polen ist noch nicht verloren.« Die Mitreisenden lächelten über sie, und die Passagiere des Schlaf- und Speisewagens interessierten sich viel mehr dafür, wer die schlanke Brünette sei, die mit den Polen reiste. Sie hatte einen besonderen Schlafabteil -- denn sie hatte alle vier Betten belegt -- und wenn sie ihre Tür öffnete, strömte der süße, betäubende Duft von Kölner Wasser und von Chevalier d'Orsay auf den Korridor heraus. Bei dem Frühstück sprach sie mit niemandem und ging gleich in ihr Abteil zurück.

Der Schaffner des Schlafwagens wußte nur so viel zu sagen, daß sie von Moskau nach Budapest reist. Ihr Gepäck trägt die Fürstenkrone. Die Fürstin war: Julchen Rubinvejer. Sie reiste unerwartet nach Hause, um sich für lange Zeit, vielleicht für immer von ihrer Familie zu verabschieden. Ihre Laufbahn war an einem Wendepunkte, an einem endgültigen Ruhepunkte angelangt: der Fürst Wladimir heiratete sie. Der bucklige Gnom, der verliebte Krüppel brach mit unerhörter Energie jeden Widerstand; er erklärte seiner Großmutter, nie eine andere heiraten, sein ganzes Vermögen nur für seine Freundin ausgeben zu wollen und fügte hinzu, das Mädchen sei seine einzige Freude und Glückseligkeit auf dieser Welt. Wohl war sie zur Zeit, als sie nach Rußland kam, eine arme Vengerka gewesen, aber jetzt konnte sie es mit jeder Aristokratin aufnehmen und auch unter Großfürstinnen ihren Platz behaupten. Der arme Junge verzehrte sich vor Leidenschaft, er hüstelte und drohte zu verlöschen.

Was blieb der feinen, sanften, rasch sprechenden Großmama da übrig? Sollte sie Widerstand leisten, »mon cher, unique petit fils« unglücklich machen? Sie zog es vor einzuwilligen.

Aber das, was Fürst Wladimir dann forderte, war eine Unmöglichkeit. Die alte Frau, deren Großvater in gerader Linie mit Nikolaj Pawlowitsch I. verwandt war, mußte sich in ein Auto setzen, um Julchen Schwarz in ihrem Heim aufzusuchen und um deren Hand für ihr Enkelkind anzuhalten, denn Wladimir befürchtete, seine Freundin werde sich weigern, seine Frau zu werden.

Wer könnte die rührende, reizende Szene beschreiben, da die sechzigjährige Fürstin in der Wohnung der Julie Rubinvejer erschien. Das Mädchen empfing sie in ergriffener Stimmung, und die alte Dame zeigte sich sehr gestrenge. Das Gespräch wurde selbstverständlich in französischer Sprache geführt.

»Mein Kind,« begann die Fürstin, die gar nicht wußte, ob es sich für sie gezieme, sich da zu setzen, »ich bin auf den Wunsch, ja auf Befehl des Fürsten Wladimir hierhergekommen.«

»Fürstin, nie werde ich diese große Ehre vergessen.«

»Mein Kind, ich wäre aus freien Stücken natürlich nicht gekommen (dies mußte sie hinzufügen, um Nikolaj Pawlowitsch I. und die Ahnen zu beruhigen, was Julchen Schwarz mit verständnisvollem Lächeln und stumm hinnahm), aber für das Glück meines Enkelkindes will ich alles tun. Er liebt Sie leidenschaftlich und blind. Wie Sie ihn dazu gebracht haben, will ich nicht untersuchen (hierbei verschlang sie das Mädchen mit den Blicken und nickte erstaunt mit dem Kopfe). Einmal sind wir uns am Krankenbette Wladimirs schon begegnet ... Sie wissen ja ... damals ... Ich bat Sie, ihm gut zu sein, ihn zu lieben ... Ich hätte nicht gedacht, daß wir uns noch einmal begegnen werden ...«

»Fürstin« ... stammelte Julie, sich demütig vor der alten Frau verneigend.

»Und jetzt ... und jetzt ... oh, mein Kind ... (und die alte Frau brach in aller Stille in Tränen aus), wenn es sein muß, soll es glatt, ohne Weiterungen geschehen: ich bin zu Ihnen mit der Bitte gekommen, Wladimirs Frau zu werden. Nicht wahr, Sie werden es tun?«

Und sie erfaßte Julchens Hand, wobei eine Träne aus ihren Augen auf die schneeweiße Hand der Vengerka fiel.

Julchen blickte sie an und meinte:

»Und die Gesellschaft? Und der Klub der Adeligen? Unsereine taugt nur als Geliebte, nicht als Frau!«

Die Fürstin schien sie beinahe überreden zu wollen, indem sie fortsetzte:

»Aber mein Kind ... was scheren Sie sich darum: ... Überwinden Sie die Vorurteile ...«

Die Art und Weise, wie sie das sagte, hatte etwas Bezauberndes, grotesk Liebliches ...

Julchen küßte ihr die Hand.

Erst jetzt setzte sich die Fürstin.

»So ... jetzt können wir schon vertraulicher miteinander sprechen.«

Julchen blickte sie an.

»Ich brauche Ihnen wohl nicht näher zu erörtern, was dieser Schritt des Fürsten Wladimir bedeutet ... Mein Kind, Sie kommen mit einem der altehrwürdigsten Geschlechter Rußlands in ein Verwandtschaftsverhältnis und darum erwarte und fordere ich von Ihnen (ihre Stimme wurde da eigentümlich streng), daß Sie den Glauben aller Russen annehmen. Mit Ihrer Familie müssen Sie jede Verbindung lösen ... Sie können Ihre Leute mit Geschenken natürlich unterstützen, doch muß jede persönliche Berührung mit ihnen aufhören ...«

Julchen war stumm und bleich.

»Ich begreife ja,« sprach die Fürstin, Julchens Hand erfassend, »daß ein solcher Bruch nicht plötzlich stattfinden kann, und ich gestatte Ihnen, Ihre Verwandten jetzt zum letzten Male zu besuchen und sich von ihnen zu verabschieden. Dann aber werden Sie sich nur als zu uns gehörig betrachten dürfen ...«

Sie erhob sich, reichte ihr die Hand zum Kusse und ging.

Wladimir überraschte seine Braut mit einem Halsgeschmeide, das reiche Schätze aufwog; er war im Banne eines überströmenden Glücksgefühls, eines nervösen Taumels. Manchmal lehnte er sich ohne jede äußere Veranlassung auf einen Arm Julchens und weinte vor Freude. Er kam sich vor, wie das elendeste Geschöpf auf Erden, das vom herrlichsten Weibe geliebt wird. Und als der kleine Krüppel, die Augen so demütig zu Boden gesenkt, gekrümmt vor ihr stand, konnte die Vengerka nicht umhin, sich selbst zu bedauern. Sollte sie ihr ganzes Leben an der Seite dieses Buckligen mit den krankhaft flackernden Augen und unverhältnismäßig langen Beinen zubringen? Sie, die liederliche, unsittliche Vengerka, das Kind frommer Juden, sollte für immer hier, auf dem Boden der Feinde, der Peiniger, der Andersgläubigen bleiben? War denn das möglich? Wozu denn? Um noch mehr Geld zu haben? Hatte sie doch, wenn sie mit ihren Kleidern, ihrem Geschmeide in die Heimat zurückkehrte, genug, um bis an ihr Lebensende sorglos zu leben. Was sollte aber dann aus dieser Menschenruine werden?

Julchen war empfindsam und ehrlich und eines Betruges unfähig, und sie erinnerte sich ihres der alten Fürstin gegebenen Versprechens.

Gut, sie würde nach Hause fahren, um von ihrer Familie Abschied zu nehmen. Für einen Monat verließ sie Moskau und ganz Rußland. Der Fürst würde inzwischen in der Krim bleiben und sich zur Hochzeit vorbereiten. Jetzt aber begleitete er sie bis Warschau.

Kisten, Koffer, Hutschachteln -- zwei Kraftwagen trugen Julchens Gepäck zur Bahn. Unterwegs fühlte sie den Blick der Leute auf sich geheftet. Sie drehten sich nach ihnen um und tuschelten. Sie verglichen ihre Schönheit mit der Jammergestalt des Buckligen. Als hätte sie gehört, wie die Leute sagten: es sei schade um sie. Was hätten die Leute vollends gesagt, wenn sie die beiden in den Augenblicken der Liebe gesehen haben würden? Wenn die Zerrlinien, der Kleider entledigt, sichtbar werden, wenn das seidene Nachtgewand die Spitze der Vogelbrust hervortreten läßt ...

Der Fürst stand auf dem Perron des Wenski Wagsal und winkte mit dem Linnen; jeder suchte mit den Augen die Person, von der er sich verabschiedete, und als der Zug die Glashalle verließ, atmete Julchen erleichtert auf. Die Welt stand ihr wieder offen, sie erfreute sich wieder der Luft, der Sonne ... Ach, wie wohl wäre ihr, wenn sie nie mehr zurückkommen müßte!

Wie flehentlich hatte Wladimir sie gebeten, ihn mitzunehmen. Er wollte die Frau sehen, die Julchen geboren, die Stadt kennen lernen, in der sie aufwuchs. Sie möge es doch gestatten! Aber Julchen Rubinvejer blieb unbeugsam. Ihren Angehörigen in Ungarn erschien ihr Leben in Rußland wie ein Traum, wie ein blendendes Trugbild. Die Mädchen, die manchmal in die Heimat zurückkehrten, sprechen nur von ihrem Glück, von ihrem großen Vermögen; wenn aber Wladimir neben ihr erschien, würde man sie noch mehr bedauern als ihn, weil sie sich ihm hingeben mußte, weil sie ihm und nur ihm angehörte. Nein, es war besser, wenn ihn niemand daheim sah, er sollte der in der Ferne lebende Fürst mit dem goldenen Palast und der Diamantenkrone bleiben.

Der Zug setzte seine Fahrt fort; es kamen die kleinen, mit Gartenanlagen verzierten Stationen, vor denen die Herbstrosen und Dahlien noch blühten; vor den Zäunen standen mit Ledergamaschen und Pelzrock bekleidete Männer. In Miskolcz kam schon das ungarische Blatt »Az Est« in den Abteil ... Sie war in der Heimat ... Noch ein bis zwei Stunden und sie würde nach so vielen Jahren wieder im Elternhause sein. Ihre Schwäger kannte sie gar nicht, nur nach den Lichtbildern. Die Schwestern hatten schon Kinder, von denen sie nichts wußte. Sie sind anständige, ordentliche Bürgersfrauen ... dank dem Gelde, das Julchen ihnen gesandt ... Sie aber war eine Verigerka ... und wenn sie gleich Fürstin sein würde ... eine Vengerka, die ihr Glück gemacht hat.

Der Abend war da; längs des Geleises wurden die kleinen Signallampen aus Milchglas immer häufiger, die roten oder grünen Augen der Semaphoren blickten in die Abteile, mitunter drangen die starken Lichtgarben einer großen Bogenlampe herein; dann kamen wiederum Äcker, schüttere Wälder und endlich, ohne jeden Übergang, eine sechs Stock hohe Riesenmauer, Mörtelverzierungen, Hunderte kleiner Lämpchen, dort auf einer Brücke ein gelber elektrischer Wagen, das Dröhnen des Zuges wurde immer stärker und schärfer, die Häuser immer dichter, das Geleise voller Lampen, der Schaffner rief: Budapest! Sie hüllte sich in ihren Mantel. Die Leute strömten auf den Korridor, sie standen dicht nebeneinander, die Türen wurden aufgerissen, Träger erschienen in weißen und blauen Leinwandkitteln, Rufe ertönten: Träger! Träger! Julchen stand am Fenster ... Unten lief ein kleiner, untersetzter Mann ihr entgegen, dort wartete eine Frau, umgeben von drei anderen ... auf dem Kopfe trugen sie ganze Federnhandlungen. Schreie, ein Herumstoßen und Drängen ... Jetzt war sie unten. Der kleine Mann warf sich in ihre Arme und drückte nach Tabak duftende, wässerige Küsse auf ihre Wangen. Es war ihr Vater ...

»Julchen! Mein Julchen!« schrie die Mutter deutsch. »Endlich einmal!«

Die Schwestern scharten sich um sie und bewunderten ihr Kleid, ihren Hut. Sie sagten nichts, aber instinktiv fühlten sie, wie sehr die Eleganz der Schwester von der ihrigen abstach. Sie trugen Hüte der Madame Charlotte, Mlle. Marguerite und Mlle. Caroline, »Kreationen« der Budapester Modefirmen, wehende, breite Federn, verbrämtes Pelzwerk, während Julchen einfach und fein, mit gewähltem Geschmack gekleidet war. Von dem Schuhwerk bis zum Hutschleier war alles französisch an ihr, das geschmackvollste Französisch vom reichsten Russen bezahlt.

Die Herren Schwäger waren schon verschwunden. Papa Schwarz entriß der Tochter die Gepäckscheine, und die Schwäger gingen, das Gepäck zu holen. Vom Anblick der vielen Koffer und Schachteln waren sie ganz betäubt.

Julchen nahm mit Papa und Mama in einem Fiaker Platz. Beide bestürmten die Tochter:

»Wirklich, ich habe dich kaum erkannt ...«

»Wie schaut der Kreml aus?«

»Die Kinder sind glücklich ... Unberufen ... Sie haben alles dir zu verdanken!«

»Du mußt einen feinen Kopf haben ...«

Lächelnd hörte Julchen ihnen zu, sie sprach kaum ein Wort. Sie freute sich des Wiedersehens, obwohl ihr alles so fremd schien! ...

— — — — — —

Mein Gott, in der Révay-Gasse hat sich nichts geändert. Der Portier des Nachtlokals »Folies Caprice« ist zwar ein wenig gealtert, aber er sieht doch so aus wie früher. Sie hätte ihn beinahe gefragt, ob er sich ihrer erinnere. Plötzlich lebten in ihrem Gedächtnis alle auf, die sie an dieser Stätte vor acht bis neun Jahren gesehen.

Sie war mit einem ihrer Schwäger, dem Journalisten, der Reporter eines Abendblattes war, in das Tanzlokal »Casino de Paris« gekommen, um zu sehen, was aus Budapest geworden sei. Ihre Schwester Röschen, die Frau des Journalisten, kam natürlich mit. Lantos, der liebenswürdige, stets heitere, aufmerksame Geschäftsführer des Kasinos hatte bereits ihre Anwesenheit in Budapest erfahren und empfing sie mit den einer Fürstin gebührenden Ehren. Er wollte ihr einen Tisch in der ersten Reihe anweisen, doch Julchen ging lieber in eine Seitenloge. Patat, der Kapellmeister, saß vor dem Marterkasten und arbeitete mit gewohntem Phlegma drauf los, der Flötist, der Violinist und der Paukenschläger begleiteten mit gelangweilter Miene, die dicke Blondine, die, auf der Bühne vor dem Souffleurkasten dastehend, mit erkünsteltem Wonnegefühl im Gesicht, einen türkischen Bauchtanz aufführte und dazu den Kehrreim sang:

»Ach, wie leid' ich von den Wanzen,
Mit dem Bauche möcht' ich tanzen.«

Der Saal war überfüllt. Als Julchen nach Rußland ging, war sie in Budapest noch wenig bekannt; sie ging aus der Tanzschule sozusagen direkt zur Madame Amélie. Indes kannte sie einzelne Gäste von früher her. Dort saß der reiche kahlköpfige Produktenhändler Bárdos mit den nämlichen Leopoldastädter Jungen, die schon vor Jahren seine Begleiter waren. Sogar jener Schriftsteller -- wie hieß er nur? -- ja, Tardosy ... ist in ihrer Gesellschaft. Bei dem anderen Tische sitzt der kleine Doktor, der Spaßmacher. Wie der Klavier spielt, wie er die Leute unterhalten kann!

Der Journalist gab ihr die nötigen Erläuterungen:

Der befrackte, schweigsame Herr mit dem rötlichen Gesichte ist der reichste Teppichhändler Ungarns. Sein Geschäft ist Millionen wert. Er ist zum Sterben in das Mädchen verliebt, das neben ihm sitzt, er überhäuft sie mit Diamanten und Perlen. Er hat in der Nähe von Budapest ein kleines Schloß, und sie pflegen Autofahrten dahin zu machen. Sie war ehedem Büfettfräulein und hält sich jetzt für eine Gräfin. Sie heißt denn auch Gräfin Nelly. Mit den anderen Mädchen verkehrt sie nicht mehr, sie hat die schönste Karriere dieser Welt gemacht. Der reiche Hauer -- so heißt ihr Freund -- wird sie auch heiraten.

Julchen erschauerte. Das ist sie; in Moskau heißt sie Julie Rubinvejer, in Budapest Gräfin Nelly. In Moskau heißt der Freund Fürst Wladimir, hier der reiche Hauer. Doch ist Gräfin Nelly viel besser daran als sie, denn der Wladimir der Nelly ist ein stattlicher Mann mit geraden Gliedern, mit dem sie sich zeigen kann, während ihr Wladimir ... Sie schloß die Augen; die zahlreichen winzigen elektrischen Lichter des Saales verwandelten sich hinter ihren geschlossenen Augenlidern zu glitzernden Pünktchen, dann zu rosaroten Flecken, die sich in Ringelchen fortbewegten; aus der Ferne aber starrten zwei flackernde Augen aus einem bleichen Gesichte ihr entgegen. Nein, sie durfte nicht mehr zurückkehren!

Der unermüdliche Schwager fuhr fort:

»Siehst du, die Herren, die jetzt eintraten, sind Schriftsteller und Zeitungsschreiber. Der kleine Mann mit dem geschorenen Schnurrbart im grauen Anzug ist der derzeit angesehenste Redakteur in Budapest. Kommt er in das Casino de Paris, so folgt ihm der ganze Schwarm da, der von ihm lebt. Zu allem gehört nur Glück.«

Er begrüßte den Eintretenden mit gesuchter Höflichkeit:

»Ergebenster Diener, Herr Redakteur!«

Die Journalisten erkannten Julchen sofort. Einige Augenblicke fixierten sie das Mädchen scharf, dann sprachen sie das Urteil:

»Sie ist alt!«

Das ist das höchste Lob. Es bezieht sich nicht auf das Lebensalter, sondern auf die im Leben errungene Position, auf die Erfolge, auf das Geld, auf die äußere Erscheinung. Je älter etwas ist, desto teurer, feiner, wertvoller ist es.

»Ihr Kleid ist echt russisch!« meinte ein kleiner Krummnasiger, der stets eine gelangweilte Miene zur Schau trug. »Das bringt Pest nicht fertig.«

»Sie hat ein feines Steinchen in den Ohren!« bemerkte der kluge Aurel.

Lantos sprang plötzlich, wie auf einen Wink, herbei, begrüßte die Gäste und sicherte ihnen den besten Tisch an der besten Stelle.

Julchen blickte gelangweilt um sich. Auf der Bühne erschien Oterita, ein kleines Judenmädchen. Sie kannte sie gut, das war die Fanny Drucker. Sie hatte einen kleinen Bolero einstudiert und war jetzt spanische Tänzerin. Und die Sängerinnen? Sie trugen abgeleierte Gassenhauer vor und gingen dann unter allgemeiner Teilnahmslosigkeit ab. Lauter Primitivität, Armut, platteste Alltäglichkeit.

Was war das alles im Vergleich zu dem prächtigen Glanze der Yard, zum Orchester Jurakowskys, zum großen russischen Reichtum und zum Rubelstrom? Wie ganz anders war der zechende Russe geartet, als diese paar hundert zusammengewürfelte Menschen. Kaum ein, zwei Tische, wo Leute saßen, die etwas zu bedeuten hatten, die anderen waren lauter Nullen. Schnaubende, dicke Provinzler, einige Offiziere, die einen billigen »gespritzten« Wein trinken und gähnende, blasierte, geckenhafte Judenjungen.

Nun folgt die zweite Hälfte des Programms, die ausländischen Attraktionen.

Endlich wirkliche Spanierinnen: die drei Aquileras. Im nämlichen Augenblick traten einige Aristokraten in den Saal. Welch geschäftiges Treiben da entsteht! Die Kellner treten beinahe einander nieder, jeder will der erste sein, der die Herrschaften bedient. Ein merkwürdiges Lokal das, wo jeder den besten Tisch bekommt.

Ein wilder, sinnlicher Tanz wurde auf der Bühne ausgeführt; die flaue Stimmung war mit einem Male zerstoben, die drei Spanierinnen peitschten das Blut auf, besonders die mittlere. Sie stand in kecker, herausfordernder Haltung auf der Bühne, warf den Kopf hoch, preßte die obere Zahnreihe an die Unterlippe und warf unter dem breitkrämpigen grauen Hute glühende Blicke auf die Zuschauer. Sie stand auf einem Fleck, nur ihre Hüften bewegten sich nach dem Rhythmus der Musik, sie zucken auf und ab gleich den Muskeln der sich dahinwälzenden Schlange, den Kopf dreht sie von rechts nach links und von links nach rechts, langsam, die Aufmerksamkeit bannend. Lantos rieb sich die Hände, als wäre die Wirkung des Tanzes sein Verdienst. Nun blieb der Blick der Spanierin an dem schönen, bleichen Grafen haften, dem sie frech in die Augen schaute.

»Schau nur,« flüsterte der Reporter, »der Graf ist jeden Abend da, er betet sie wahnsinnig an und gibt Hunderttausende für sie aus. Sein Vater will ihn unter Kuratel stellen. Ganz Pest spricht davon ...«

Jetzt stampfte die spanische Pantherin blitzschnell mit beiden Füßen auf die Bühne, schleuderte Hut und Schultertuch weit weg, sauste gleich einem Wirbelwind dahin, streute Blumen herum, drehte und wand sich. Das »Brettl« zitterte unter ihren kleinen Füßen, unter den Röcken blitzten neckisch die vollen Beine hervor; jetzt warf sie gleich einem stolzen, feurigen Rosse das Haupt empor; in ihren Augen, in den Mienen lag ein verblüffender Trotz, ja Schmerz, ihre Augen sprühten Funken, ihre Nasenflügel erweiterten sich, und ihre Beine stampften noch einmal nach dem befeuernden Rhythmus der Musik auf den Boden ... olé!

Der Graf war bleich und erschöpft. Julchen betrachtete ihn, nicht die Tänzerin. Er war ein hochgewachsener, eleganter Junge, das runde Gesicht glatt rasiert, das braune Haar in der Mitte fein säuberlich gescheitelt ... ein prächtiger Mann! Das Publikum applaudierte rasend, es wollte die Spanierinnen von neuem sehen, allein die Bühne verfinsterte sich und ein vom Reflektor geworfener grüner Schein ergoß sich über den Raum: es folgte die Nummer einer fast nackenden indischen Bauchtänzerin ... Die Grafen entfernten sich. Der hochgewachsene, schlanke Junge trug eine brennende, blutige Liebe im Herzen fort.

Auch Julchen erhob sich. Der Parkett-Tanz interessierte sie nicht. Sie beneidete die spanische Tänzerin um ihren Grafen.

Als sie hinausging, wurde sie von den zwischen den Tischen herumlungernden armen, in Seidenfetzen gehüllten Mädchen bewundert. Sie hatte einen weitverbreiteten Ruf, in den Ohren Brillanten, am Halse echte Perlen und hinter sich das Reich der Phantasie: das geheimnisvolle Rußland.

Voll bewundernder Hochachtung reichte ihr der Garderobier ihren Fuchspelz. Unten verabschiedete sie sich von der Schwester und dem Schwager. Sie war schlechter Laune und ganz verzagt; sie wollte allein nach Hause gehen. Sie blieb nicht bei der Mutter, sondern ging noch am Morgen in das Hotel Hungaria, wo sie eine Wohnung mietete. In einem Auto fuhr sie nach dem Hotel.

Zu Hause fand sie ein Telegramm vor; es wurde in Minsk aufgegeben und war gewiß von Wladimir. Sie getraute sich nicht, die Depesche zu öffnen. Enthält sie einen Gefühlserguß, so war sie ihr zuwider; aber es wäre noch ärger, wenn er die Absicht hätte, ihr nachzureisen.

Wie mochte ihm zumute gewesen sein, als der Zug mit seiner teuren Last den Warschauer Bahnhof verließ? Ganz Rußland wurde in dem Augenblick öde und verlassen für ihn; sein zerstörtes, sieches Nervensystem gaukelte ihm Fieberphantasien vor, und der einzige feste Punkt, nach dem sein Leben sich richtete, verschwand vor ihm. Er lungerte in Warschau zwei Tage ziellos herum, ging in den Aristokratenklub, wo er sich unendlich langweilte; er nahm den Eisenbahnkurier zur Hand und betrachtete die schwarze Linie, welche das Geleise andeutete, die Stationen ... Welch sonderbare Namen ... Munkács ... Sátoraljaujhely ... Szolnok ... Aszód ... da krampfte sich in ihm das Herz zusammen und begann wild zu pochen ... Budapest. Sie ist eingetroffen ... Denkt sie an ihn?

Seine Augen füllten sich mit Tränen, und um Ablenkung zu finden, fuhr er mit der Bahn nach Moskau zurück. Die Schaffner leisteten ihm stramm die Ehrenbezeigung; die Stationen flogen vorbei. Bei Bjelostok und Slonim trat er an das Fenster und starrte hinaus; ein wüster Lärm, eine wirbelnde Menge ... er starrte hinaus, sah aber nichts ... Es ist ja unmöglich, einen Monat lang ohne sie zu leben ... Er wollte einen Separatzug haben und ihr nachreisen ... Der Zug traf in Minsk ein, wo er ausstieg und die Depesche aufgab. Er kam in der Station Brest an, von wo er zuerst auf die Post und dann in das Grand Hotel fuhr. Er empfand einen Ekel vor der schmutzigen Stadt, vor den in den Straßen wimmelnden Juden, vor der geräuschvollen und überfüllten Gakharyewskaja mit dem Lärm und Treiben des Ghetto. Dem Portier befahl er, dafür zu sorgen, daß er ungestört bleibe, es wäre denn, daß eine Depesche für ihn einträfe. Er schloß sich in sein Zimmer ein und wartete mit einer Spannung, daß ihm die Stirnadern anschwollen.

Julchen Rubinvejer hatte die Depesche gar nicht geöffnet. Wozu auch? Was immer sie auch enthalten möge, es interessiert sie nicht, ja es widert sie an. Sie stellte sich in dem elektrisch beleuchteten Zimmer vor den Stehspiegel, wie immer, wenn sie nach Hause kam. Mit traurigen Augen maß sie ihre Gestalt. Die Depesche entglitt ihren Händen und fiel zu Boden. ... Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite und ein trauriges Lächeln spielte um ihre Lippen, denn sie liebte ihre schlanke, plastische Gestalt, ihre Füße mit den feinen Knöcheln ... sie war schön.

»Aber für wen bin ich denn schön? warum? ...« und mit diesem Gedanken trat sie an das Fenster.

Ihr kostbarer Pelz, der ein Vermögen wert war, fiel hinter ihr auf den Teppich nieder: ein Seidenfleck von den weiten Schneefeldern Alaskas.

Die Nacht war grau und nebelig. Die Umrisse der beiden Donauufer verloren sich im Nebel; die Ofener Seite erschien als formlose schwarze Masse; die Lampen malten schmutzig-gelbe Strähne in die feuchte Atmosphäre. Tiefe Stille herrschte, die Stille der Nacht und der Einkehr. Die Stille der Tränen, die ungerufen, mit schmerzlicher Linderung aus den Augen tröpfeln, über das Gesicht fließen, während die Hand, die sie trocknen könnte, unbeweglich, schlaff bleibt ... wie das Gehirn, das sie lenken sollte. ...

Fürstin Wladimir!

Seine Geliebte, seine ausgehaltene Freundin konnte sie sein, denn das ist eine Laufbahn, eine Beschäftigung, ein Leben. Dabei konnte sie ihn nach ihrem Belieben verabscheuen. Sie bekam von ihm Geld und leistete ihm dafür Gegendienste, das war nicht demütigend und nicht zur Verzweiflung treibend. Die Geliebte hat keine Pflichten, sie hat keine Lasten zu ertragen, sie lebt für sich, sendet Geld nach Hause, hat niemandem Rechenschaft abzulegen; wenn ihr Eigentümer, ihr Herr weggeht, öffnet sie das Fenster, um die Luft der letzten, in seiner Gesellschaft zugebrachten halben Stunden gegen frische Luft umzutauschen, in der sie dann weiterleben kann ...

Was sollte sie jetzt hier beginnen, was während eines ganzen Monates machen? Sich ihrer Eltern, Schwestern, des Casino de Paris freuen? Nein, das konnte sie nicht. Alles kam ihr hier so kleinlich, so ekelhaft vor. Sollte sie ihre Toiletten, ihr Geschmeide zur Schau tragen? Für wen und wozu denn? War sie denn gekommen, um von allen Abschied zu nehmen? Das lohnte sich wahrlich nicht. Als sie von zu Hause fortging, ließ man sie leichten Herzens ziehen. Gott sei Dank, da haben wir nun ein Mädel weniger zu Hause! dachte sich ihr Vater. Hätte sie ihr Leben so fristen müssen wie die anderen Vengerkas, so würde kein Hahn nach ihr krähen. Papa Schwarz würde weiter bei dem Fleckenputzer gearbeitet haben, und von ihr würde man gar nicht sprechen ... Sie war eben in Rußland verkommen! ... Vielleicht wären auch ihre Schwestern schon draußen. The four sisters Károlyi! Von dieser Sippschaft sollte sie Abschied nehmen? Das verlohnte sich nicht. Mit Geld und mit Diamanten würde sie in den Herzen der Eltern den Raum ausfüllen, wo bei anderen die Gefühle hausen. Ihre Schwestern zankten sich wegen der Pelze, Hüte und Kleider. Sie lächelte. Wie könnten sie denn auf den in die Breite gegangenen Hüften ihre Kleider tragen? Nein, sie mußte je eher je besser wieder fort von hier.

Aber wohin denn? Zurück zu Wladimir? Das auch nicht.

Soll sie seine Frau werden? Für ewig mit ihm eingesperrt sein, eine Sklavin seines Buckels, seiner schiefen Schultern, seiner Vogelbeine? Pfui, welcher Ekel! Das kann sie nicht. Und doch hatte sie es ihm versprochen.

Sie hatte ihr Wort gegeben und auch ein Unterpfand dafür angenommen: eine Perlenreihe, die Hunderttausende wert war.

Julie Rubinvejer wird niemanden betrügen, auch Wladimir nicht, aber sie wird doch nicht seine Frau werden. Sie wird dies irgendwie in vornehm-stiller Weise erledigen. Weder hier im Kreise ihrer Familie, noch bei dem Fürsten Wladimir konnte sie froh werden. Hier war alles so betrübend, dort so gemein. Sie muß irgendwie verschwinden, um mit beiden nichts mehr zu schaffen zu haben.

Sie wandte sich vom Fenster ab, allein im Innern trug sie allen Nebel und die ganze Feuchtigkeit der traurigen Nacht weiter. Sie begann, ihr Reisegepäck zu ordnen, legte alle ihre Juwelen und Kostbarkeiten, ihre kleine, mit Diamanten besetzte Zigarettendose, ihr Sparkassenbuch, ihren »travellers check« in ihre kleine Handtasche, die sie schloß. Den Schlüssel verwahrte sie in einem an ihren Vater adressierten Briefumschlage. Dann läutete sie.

Nach langem Warten klopfte ein schläfriger Zimmerkellner an die Tür.

»Ich werde lange schlafen; diesen Brief stellen Sie morgen um zwölf Uhr mittags dem Adressaten zu.«

Sie gab dem Kellner zwei Kronen. Die vorsorgliche und vorsichtige Julie Schwarz wollte vermeiden, daß das Personal irgend etwas entwende.

Dann begann sie sich auszukleiden. Zu Ehren des letzten, des größten Festes ließ sie alle Lichter im Zimmer brennen: den Armleuchter oberhalb des Waschtisches, den großen Kronleuchter, den Armleuchter über dem Spiegel, das Lämpchen auf dem Schreibtische und die Lampe des Nachtkästchens.

Langsam nestelte sie ihr Kleid auf; das feine, durchscheinende Gewebe ihrer Wäsche kam zum Vorschein, sie entledigte sich der Ärmel und das Kleid fiel knisternd, ihr rosafarbiges Seidenleibchen raschelnd zu Boden. Gerührt, mit liebevoller Zärtlichkeit und heimlichem Ergötzen betrachtete sie sich. Welch feine, weiche Linien! Sie trug keinen Unterrock, sondern ein Seidentrikot und darüber ein Hemdchen. Sie lächelte bei der Erinnerung, wie sie ein Dutzend solcher Hemden bei Berin in der Ulitza Gogolyo bestellt hatte. Sie öffnete auch die Achselbänder, und das Hemdchen fiel gleich einem Blumenkelch auf das Kleid. Wie die Amerikanerinnen und Engländerinnen trug sie ihr Mieder unter dem Hemde, über einem kleinen Seidentrikot. Nun stand sie ganz entblößt da. Sie löste ihre schwarzen Haare, deren Glanz jenem des Stahles ähnelte, und betrachtete ihren schönen, wohlgepflegten Leib, wobei ihre Augenlider zitterten und ihre Lippen zuckten. Wie schön sie war; die Hüften, die Schenkel waren voll, doch nicht dick, die Knöchel dünn und fein. Die Schuhe legte sie nicht ab, ihre Füße waren so viel schöner. Noch einmal prüfte sie sich von den Zehen bis zum Scheitel. Wie jugendlich voll und klein ihre Brüste sind. ...

Adieu, adieu, ma chere amie!« ... flüsterte sie. »Schöner und jünger wirst du nimmer.«

In heiterer Stimmung, federleicht trat sie aus ihrer Seiden- und Spitzenhülle; sodann schlüpfte sie rasch in ein mit Bändern geschmücktes, noch nicht zerknülltes Nachthemd und holte aus ihrem Necessaire ein Fläschchen hervor. Es enthielt Opium, das sie gegen Kopfweh zu benutzen pflegte. Sie stieß einen Seufzer unendlicher Erleichterung aus, setzte das Fläschchen an die Lippen, stieß die Schuhe ab und legte sich, nur mit den Strümpfen und dem Nachthemd angetan, in das Bett.

Die Lampen verbreiteten ein glänzendes Licht, doch sie scherte sich nicht darum.

Julchen Rubinvejer schlief ein. Die nicht geöffnete Depesche blieb für immer unbeantwortet.


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