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V.

Es war eine halbe Stunde nach Mitternacht, aber die Mädchen waren noch wach. Tusi saß gähnend in einer Ecke; in der verflossenen Nacht hatte sie sich gar nicht schlafen gelegt, denn ihre Freunde feierten den Abschied von ihr, und noch um fünf Uhr morgens hatte sie mit dem blonden Zuárd Nyiri Boston getanzt. Sie liebte den liebenswürdigen Jungen mit dem mädchenhaften Gesichte, aber der Herr Abgeordnete hatte eben alles Geld verpraßt und verspielt, und einen Bruch wollten die beiden doch nicht; das Vernünftigste schien ihnen daher, daß Tusi nach Rußland ging, um dort ihr Glück zu versuchen. Mittlerweile würde Zuárd eine andere, einträglichere Parteistellung suchen. Er entstammte einer altehrwürdigen Familie der Oppositionspartei, und als er in die Arbeitspartei -- so hieß damals die Regierungspartei -- eintrat, wurde er in den Regierungskreisen mit großer Freude empfangen.

Er war bereits derart verschuldet, daß er manchmal fünf bis zehn Kronen von seiner Tusi ausleihen mußte. Er durfte dies um so mehr tun, als er ja Tausende für sie ausgegeben hatte und sie seine beste Kameradin war, mit der er tagtäglich auf dem Donaukorso zu sehen war. Ganz Budapest kannte sie. Tusi war ein hochgewachsenes, blondes Mädel, nicht schlank, doch von graziöser Fülle; sie hatte etwas von der aufregenden Trägheit des ruhenden Panthers oder Tigers. Sie besaß prächtige Toiletten; ihre Lippen waren etwas gefärbt, und so erschienen ihre wundervollen weißen Zähne noch glänzender. Sie war die Tochter eines Tischlers aus Szent-Endre, ihr Vater war ein blonder, knochiger Slowake, ihre Mutter eine kleine, volle, schwarze Serbin. Manche erinnerten sich noch der Zeit, da Tusi vor dem Westbahnhofe Aprikosen verkaufte; aber das war schon lange her, und jenes zwölfjährige Kind mit dem lachenden Gesichte hatte nichts mit der dreiundzwanzigjährigen Dame zu schaffen, die jetzt nach einem langen Gähnen ihre kleine Handtasche herauskramte und ihre Manikürwerkzeuge zur Hand nahm.

»Der russische Finanzwachmann soll sehen, wie die Hand einer Ungardame aussieht!«

Blanka, die auf dem Coupésitz nachlässig hingestreckt dalag, lachte laut auf und hob ihre Beine bis zum Fenster hinauf, um sich an ihren feinen Knöcheln, die in lilafarbenen Strümpfen steckten, zu ergötzen. Zwei ihrer Schwestern arbeiteten bereits in Rußland, diese wollte sie aufsuchen, und sie verfolgte nur einen Zweck: Geld zu machen. Sie war eine Jüdin und hieß früher Esther Blau, doch ihre Schwestern hatten den Künstlernamen Sisters Bercsényi angenommen und nun auch sie nach Rußland gerufen, um etwas neues Blut einzuführen und aus dem Duo ein Trio zu schaffen.

»Mama Tomcsányi ist bei mir schön aufgesessen!« erzählte sie lachend ihren Freundinnen. »Ich habe ihr vorgemacht, daß ich nicht den Mut habe hinauszufahren. Von den beiden ›Schwestern‹ wußte sie nichts. Ich dachte mir: warum soll Madame Amélie meine Reisekosten nicht bezahlen? Sie verdient Geld genug an den Mädeln. In Smolensk steige ich aus und gehe zu den Mädeln nach Orel. Lili wird mich in der Station erwarten. Mama Tomcsányi wird im Artistenklub in Ohnmacht fallen, wenn Amélie ihr hierüber schreibt.«

Mit banger Furcht hörte Therese der Blanka zu. Der Zweck, der die beiden Mädel nach Rußland führte, war ein so offenkundiger, daß Therese eine Anwandlung von feiger Verzagtheit nicht unterdrücken konnte. Am liebsten hätte sie kehrt gemacht.

»Und der Kontrakt?« frug sie leise die Blanka.

»Affektieren Sie doch nicht eine solche Naivität, meine Teure,« lachte Blanka. »Der Kontrakt der Madame Amélie? ... da haben Sie ihn ...«

Und sie zog das kleine lithographierte Blatt aus ihrem Ridikül, um es in Stücke zu reißen und aus der flachen Hand in die Luft zu blasen.

»Meine Schwestern schrieben mir, was der Kontrakt wert ist. Ein reicher Gimpel -- und dann Saus und Braus.«

Der Zug hielt in Szcsakova, der letzten österreichischen Station. Der Eisenbahnbeamte mit der roten Mütze ging durch alle Waggons, hinter ihm stand der Gendarm im gelben Helm mit dem aufgepflanzten Bajonett. Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Kurz darauf ein mächtiges Gepolter und ein verhundertfachtes Echo: der Zug brauste über das Flüßchen Przemsa; dann ein allmählich leiser werdender Rhythmus, ein Pfiff, und noch bevor der Zug hielt, sprangen die Türen auf und es erschienen mächtige bärtige Gestalten in blauen Kleidern, Mützen und weißen Schürzen; ohne zu fragen, erfaßten sie das Gepäck der Mädchen und schleppten es aus dem Coupé.

Männer mit dem Säbel zur Seite und mit aufgepflanztem Bajonett traten in die Coupés, murmelten unverständliche Worte und winkten mit der Hand.

»Wir müssen aussteigen,« sprach Blanka. »Die Reisepässe nicht vergessen!«

Es war einige Minuten nach ein Uhr, der Regen fiel in Strömen. Die Mädchen zogen den Überrock zusammen und liefen zu der mächtigen Glastür, zu deren beiden Seiten Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett standen.

»Vasa passporta!« brummten sie, indem sie den Mädchen die Pässe abnahmen.

Sie standen in einem mächtigen, durch Bogenlampen beleuchteten Saal. Ein schmales, durch ein Eisenband eingefaßtes, quadratförmiges Pult lief die Mauern entlang, auf welchem Koffer und Körbe standen; in den kleinen Schlössern knirschten die Schlüssel, die Zollbeamten wühlten in den Koffern herum, sie blickten auf die Mädchen und wußten sofort, wer sie seien und woher sie kämen. Sie sprachen bloß das Wort:

»Passiva ...«

Der Saal hatte eine einzige Tür, durch welche sie hereinkamen. Dort drängten sich die Passagiere des Zuges, etwas 50 bis 60 Menschen. Juden im Kaftan, mit Schmachtlocken, in Mützen aus schwarzer Leinwand und mit Lackschirm, Juden, die sich kaum zu rühren wagten und an der Wand auf ihrem Beutel zusammengekauert dasaßen, lachende, laute Studenten, die jetzt aus dem Auslande nach Hause kamen, eine reizende junge Frau mit einer Staffelei, langsam dahinschreitende, langbärtige, dicke Menschen, ein Amerikaner, der ein Pijama und einen überweiten Regenmantel trug, einige geschminkte Damen mit Federhüten, die mit zwei Offizieren konversierten. Die Stimmen der Diener und der Zollbeamten klangen befehlshaberisch, im übrigen herrschte zage Stille. Nur die Russen waren laut und sie lachten viel, weil sie sich daheim fühlten, während die Juden und die Fremden sich still verhielten oder höchstens flüsterten.

»Ich habe Angst, am liebsten möchte ich zurückkehren!« flüsterte Therese.

»Bleiben Sie ruhig, sonst werden Sie nach Sibirien geschleppt!« murmelte die unverschämte Blanka.

Tusi betrachtete die Männer. Sie ging mit solcher Entschiedenheit und Zielbewußtheit dem Reichtum nach, daß sie schon an der Schwelle Rußlands nur mehr für das Geschäft Interesse hatte.

Therese hatte wirklich Angst. Die Fremdartigkeit des Ortes, die unbekannte Sprache, die bewaffneten Soldaten und die vielen Bärte erfüllten sie mit großer Unruhe, und das einzige, was sie einigermaßen beruhigte, war, daß sie in einer Ecke ein Heiligenbild, darunter Kerzen und ein Seelenlicht sah. Hier wohnen ja doch Christen!

Nach Erledigung der Paßformalitäten begaben sich die Mädchen in das Coupé zurück, wo ein Kellner ihnen für zehn Kopeken heißen Tee verabreichte. Die mitgebrachten Gepäckstücke wurden geöffnet, das Backhuhn, die Gansleber der Blanka, Käse und Salami kamen zum Vorschein; die Mädchen lachten und waren glücklich wie Kinder auf einem Ausfluge.

Blanka stopfte sich den Mund voll, so daß man sie kaum verstehen konnte, weil sie jedes zweite Wort verschluckte und über ihre eigenen Einfälle lachte:

»Hast du gehört, Tusi, in Warschau wird der Zug durch einen Arzt untersucht, und wenn er eine Jungfrau findet, die wird per Schub zurückgeführt.«

Tusi verzog die Unterlippe höhnisch und meinte:

»Dann kann er lange suchen.«

Therese antwortete nichts, obschon sie fühlte, daß man sie verspottete. Sie zog sich in eine Ecke zurück, nachdem die Mieder abgelegt und die Zigaretten angeraucht wurden. In der anderen Ecke nickte langsam die Blanka ein, während Tusi es sich in dem frei gebliebenen Halbcoupé bequem machte. Bald schliefen alle drei Mädchen. Von Zeit zu Zeit öffneten die Kontrolleure und die Schaffner die Tür; hinter ihr vermengte sich der Zigarettenrauch mit dem Dufte von Vera Violetta und Kölner Wasser.

Kaum hatten die drei ihre Morgentoilette beendet, so lief der Zug in Warschau ein. Hier mußten sie umsteigen; rings herum wurde nur russisch und polnisch gesprochen; Blanka befolgte die Weisung der Mama Tomcsányi und rief laut:

»Draguj vagsal!«

Die vielen bärtigen Gepäckträger, der riesenhafte Portier, alle blickten lächelnd auf die kleine Gruppe; ein Polizist winkte ihnen mit der Hand, wies ihnen den Weg, und plötzlich standen sie auf der Straße. Vor ihnen wimmelten die Wagen, und die schwarz gekleideten langbärtigen Kutscher in den Rokoko-Zylinderhüten -- sie glichen biblischen Propheten -- knallten unaufhörlich mit ihren Peitschen ...

Die Mädchen standen inmitten der sich aus dem Bahnhofe ergießenden Menge unschlüssig und ratlos da. Plötzlich trat ein hochgewachsener, schwarzbärtiger Herr in blauer Uniform, einen Säbel zur Seite und Goldtressen an der Schulter, an sie heran und fragte sie in gebrochenem Deutsch nach ihrem Begehr. Blanka zeigte ihm die Karten und erwiderte: »Nach dem anderen Bahnhofe.« Der bärtige Herr schaute Therese an und frug sie in freundlichem Tone:

»Vengerka? Vengerka?«

Therese hörte das Wort zum ersten Male, wußte nicht, was es bedeute und blickte errötend auf den Herrn.

»Tak, tak,« erwiderte statt ihrer Blanka.

Tusi gähnte und wartete gelangweilt der kommenden Dinge. Der Wagenordner -- das war der Herr -- ließ den Wagen der Mädchen, auf den die Anweisung lautete, vorfahren, streichelte lächelnd das Gesicht Thereses und ließ eine Banknote in ihre Hand gleiten; und noch ehe sie sich dessen versah, winkte er schon dem Kutscher, der gleich davonfuhr.

Wie viele Mädchen mochte der brave Russe aus Ungarn schon ankommen gesehen haben, wie viele gebrochen nach Ungarn zurückkehren, wenn er ohne besondere Veranlassung, nur weil ihr trauriges Gesichtchen ihm gefiel, fünf Rubel Therese in die Hand steckte!

»Du wirst da großes Glück haben!« bemerkte die neidische Blanka. »Du bist kaum angekommen und verdienst schon Geld.«

Tusi unterbrach sie mit leiser Stimme:

»Dieses Geld haben wir alle drei bekommen.«

»Freilich ... welch liebe Leute das sind!« erwiderte Therese.

Es freute sie sogar, daß die Mädel das Geld auch für sich in Anspruch nahmen, denn es wollte ihr nicht einleuchten, weshalb sie allein, so ohne jeden Grund, fünf Rubel erhalten haben sollte.

»Fünf Rubel, das sind zwölf Kronen fünfzig Heller ... Seht ihr, das ist der Russe!« rief die kleine Blanka ganz begeistert. »Lili hat uns das oft geschrieben. Er gibt das Geld nur so zum Spaß her. Was alles ein Ungar für fünf Gulden haben möchte!«

Es war an einem Sonntag. Die Geschäftsläden waren alle gesperrt; die Juden standen oder saßen in langen schwarzen Kaftans und kleinen schwarzen Mützen vor den Geschäften. Blanka beobachtete sie ganz besonders, denn wiederholt hatte sie in den Zeitungen von Pogroms gelesen und sie war daher überrascht, zu sehen, wie gutgelaunt, zufrieden und dick ihre auf der Gasse hausenden Glaubensgenossen waren. Der Wagen fuhr mit den drei Vengerkas in raschem Trab zum anderen Bahnhofe. Die beiden prächtigen Pferde trabten über eine große Brücke, unter welcher Kasernen zu sehen waren, wo in Röcke gekleidete Kosaken aus dem Kaukasus ihre Pferde zur Untersuchung vorführten. Dann passierten sie das Hotel »Europa« und eine Kirche mit fünf goldenen Kuppeln. Da ertönte ein scharfes Brr! und an einer Straßenkreuzung blieben die Pferde infolge plötzlichen Bremsens mit zitternden Beinen stehen. Zwei mächtige Pferde zogen einen großen grünen Wagen, hinter dem ein Soldat mit aufgepflanztem Bajonett und zwei Berittene mit gezücktem Säbel folgten.

Wer weiß, wer da in den Kerker geschleppt wird? Missetäter oder Revolutionäre ... Die Mädchen freuten sich, als der Weg wieder frei wurde und die Fahrt fortgesetzt werden konnte. Die berittenen Polizisten an den Straßenecken schienen mit ihren Pferden verwachsen zu sein. Auf den Firmentafeln überall unbekannte Schriftzeichen, und Blanka schrie in ihrer Freude beinahe auf, als sie an einer Stelle die Aufschrift las: Apollo Variété ...

»Da könnten wir halten,« meinte sie, »da wachsen die kleinen Brillantohrgehänge ... in Moskau wachsen die großen Boutons ... Jawohl, kleines Jungfräulein!« und sie tätschelte das Gesicht Thereses.

Sie kamen zu der anderen Station. Nach einigem Herumlaufen waren sie bei dem Moskauer Zuge und nahmen wieder alle drei in einem Coupé Platz.

»Das nenne ich einen Zug!« meinte die bequeme Tusi.

Das Geleise war breiter, die Wagen waren größer, die Korridore zweimal so breit als bei uns in Ungarn, und auf den samtenen Sitzen dürfen nur zwei Reisende Platz nehmen. Rasch versorgten sie ihr Reisegepäck und eilten zum Fenster. In der Mitte der mächtigen Halle stand ein langer gedeckter Tisch, neben der Mauer ein anderer voll anlockender Speisen, während in der Ecke, gleich einem Ofen, ein mannshoher Riesen-Samovar stand. Aus einem unversiegbaren Bauche ergoß sich ein unaufhörlicher Strom von Tee, und der Anblick der vielen hungrigen und durstigen Menschen weckte den Appetit der Mädchen.

Drei Glockensignale, ein Pfiff, und der Zug trat langsam seinen langen, anderthalb Tage währenden Weg an. Therese sprach kaum etwas, sie glaubte das Klopfen ihres Herzens zu vernehmen, als der Zug den Warschauer Bahnhof verließ. Jede Wendung der Räder entfernte sie immer mehr von der Heimat, und die Schlagwörter, die sie hieher lockten, schienen ganz zunichte geworden. Sie brauchte nur ihre Gefährtinnen anzublicken, und im Nu ward ihr klar, was die Worte: Bühne, Erfolg, Kunst zu bedeuten hatten; instinktiv begann sie Rußland kennen zu lernen. Doch dann dachte sie daran, daß Frau Tomcsányi kein Interesse daran haben konnte, sie hieher zu senden, und wenn die anderen Mädel von ihrem Leibe durch die Männer leben wollten, mußte sie es nicht mit ihnen halten. Aber mochte was immer geschehen, sie würde nicht so nach Budapest zurückkehren, damit sie sich vor ihren Landsleuten zu schämen brauchte. Sie war froh, so viel Schlechtigkeit und Falschheit hinter sich zu haben; sie wollte der Rosa Ligeti zeigen, daß sie, ohne Lehrgeld zu zahlen, doch eine Künstlerin werden würde, und Veszprémy würde ihr noch Rollen schreiben, ohne daß sie seine Geliebte wäre.

Mit wachsender Schnelligkeit raste der Zug durch das fichtenreiche, melancholische Litauen. Es war Herbst, aber die Sonne glänzte noch, und der sausende Wind schüttelte das bronzerote Laubwerk der Bäume; die Sträucher wiesen alle Abstufungen des Gelb und Rot auf.

Blanka erzählte:

»Er war Gehilfe in einer Spezereihandlung. Ich wurde mit ihm im Sommer bei dem Normabaum bekannt. Wir waren mit mehreren jungen Leuten aus dem Hause dort und spielten im Grase Gesellschaftsspiele. Wir haben uns sehr gut unterhalten; zum Schlusse faßten sich die jungen Leute und die Mädel bei den Händen und rollten so den Hügel hinunter. Er war sehr witzig ... Seither besuchte er uns regelmäßig, und vor zwei Wochen hielt er um meine Hand an. Ich bin aber nicht so verrückt, ihn zu heiraten. Die Mädchen unserer Familie taugen nicht für Ehefrauen, noch dazu für die Frau eines Spezereikommis ... Ich habe einen Ekel vor den armen Frauen. Habe ich nicht recht? In drei Jahren gebäre ich ihm zwei Kinder, trockne wie eine gedörrte Pflaume ein und lebe im Hause wie ein angeketteter Hund. Mit vierzig Jahren sehe ich aus wie eine Sechzigjährige.«

Eine würgende Bitterkeit schnürte Therese die Brust zusammen: sie dachte an ihre Mutter.

Blanka fuhr fort:

»Ich war ja trotzdem nicht schlecht zu ihm. Er hat mich wirklich sehr geliebt. Und so gab ich ihm am letzten Nachmittag, bevor ich zur Eisenbahn ging, nach. Der Gute war wie im Taumel, und ich dachte mir, es sei dies ein Gott dargebrachtes Opfer, wofür Rußland die Kosten zu bezahlen haben würde.«

Tusi lag den ganzen Tag herum und rauchte Zigaretten. Zuárd hatte ihr zweihundert Zigaretten mit auf den Weg gegeben. Die Zwischenstationen hatten sie nicht besonders interessiert, denn sie war mit ihrem Freunde bereits in Nizza und Paris gewesen und kannte daher das Leben und Treiben in fashionablen Städten. Nur des Geldes halber ging sie nach Rußland. Sie sprach nur wenig, von ihren Freunden und von ihrer Vergangenheit überhaupt nichts. Die kleine Jüdin Blanka war das unterhaltende Element im Coupé. Sie ermittelte aus dem Fahrplan, daß sie fast zwei Tage im Eisenbahnzuge verbringen werden, und um vier Uhr nachmittags erklärte sie:

»Ich fahre nach Siófok ...«

»Bist du verrückt geworden?« frugen die Mädchen lachend.

Blanka sprach kein Wort, sie hob einen Koffer aus dem Netz und zog ein Negligé hervor.

»Wozu soll ich mich von diesem Mieder quälen lassen? Höchstens werde ich dem Zaren nicht gefallen.«

Sie warf Rock, Bluse und Mieder fort und stand in Höschen und im Hemd vor den Mädchen. Sie war ein untersetztes, rundliches Mädel, frisch und munter. Da sie stark eingeschnürt gewesen, atmete sie jetzt erleichtert auf.

»Wie angenehm ...« sagte sie, sich reckend und sich an der Hüfte kratzend.

Dann schlüpfte sie in ihr bequemes Negligé und sagte, in gespreizter Haltung auf- und abgehend, selbstzufrieden:

»Ich bin die Frau Blau in Siófok.«

Dann bat sie den Schaffner, ihr Bett herzurichten.

»Die Cili schrieb mir, das Bett könne auch zwei Tage so bleiben,« fügte sie hinzu.

Der Schaffner mit dem großen schwarzen Bart, in Stiefeln steckend, eine Trompete in der Hand und Messingknöpfe auf dem Rock, löste die Seitenwand des Coupés los; dies war das obere Bett für den einen der Passagiere. Blanka kroch hinauf und sah, im Bette kauernd, wie eine sitzende Statue aus ...

»Nun, jetzt kann sich jeder niederlegen.«

Der Zug sauste durch das weite Rußland. Weitgestreckte Wiesen, Tennen, jenseits ferner Pappeln Herrschaftsschlösser, wo dicke Grundbesitzer leben, in großen Fauteuils sitzen und die Pfeife rauchen, manchmal auf die Jagd gehen, von zwölf Uhr mittags bis fünf Uhr nachmittags speisen, während draußen der Gutsverwalter, der Leibjäger die Leibeigenen prügelt, damit der Boden goldgelbe Ähren trage. Der Sohn des arbeitsscheuen Grundbesitzers ist Offizier, sein Onkel Pope; eine Dame der Familie hat einen Grafen in Petersburg geheiratet, die andere ist Studentin in Zürich. Längs des Weges sieht man Landstreicher, auf dem Flußufer schwatzende Greise und in jeder Station Gendarmen und Soldaten. An der Oberfläche ein kettenrasselnder Polizeistaat, die zaristische Macht; das gesellschaftliche Leben aber in seiner Trägheit etwa dem Ungarn der vierziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts ähnlich.

Die reichen und vergnügungssüchtigen Söhne der Schlösser besuchen zwei- bis dreimal wöchentlich die benachbarte Stadt, wo sie im Orpheum oder im Variété das Gold mit voller Hand ausstreuen, mit den Mädchen zechen und die Kellner ohrfeigen, die gerne die Prügel ertragen, weil sie zum Schlusse durch ein reichliches Trinkgeld versöhnt werden.

Der brausende Zug führte die drei Vengerkas nach Moskau ... Es wurde wieder Abend, und der in den Stationen bereitgestellte Tee schmeckte gut zu den aus der Heimat mitgebrachten Nahrungsmitteln. Man sah, daß die Mädchen Fremde waren, denn der Russe reist immer mit dem Samovar und springt in den Stationen aus dem Zuge nur, um sich heißes Wasser zu holen, das in jeder Eisenbahnrestauration für einen Kopeken in unbeschränkter Menge zu haben ist ...

»Hätte ich noch ein Schwesterchen zu Hause, so würde ich ihr schreiben, daß sie, wenn sie nach Rußland kommt, auch einen Samovar mitbringen soll,« meinte Blanka, auf ihrem hohen Sitze den Tee in der Tasse umrührend.

Das Beisammensein, die gemeinsame Unternehmung, der monotone, betäubende Rhythmus des schnaubenden und polternden Zuges, der Zigarettenqualm und der Parfümduft machten auch Tusi mitteilsamer. Die beiden anderen Mädchen schwiegen, während die Aristokratin sprach:

»Ich bin mit mir schon im klaren: er wird Wladimir heißen und Kapitän bei den in Tzarskoje Selo liegenden Leibgardisten sein. Zuárd meint, die seien die elegantesten und reichsten.

»Hast du denn mit deinem Freunde besprochen, welcher Art dein Geliebter sein soll?« frug Blanka.

»Natürlich ... wir sind ja aufgeklärte Menschen. Jedermann weiß, daß Rußland kein Kloster ist.«

»Und wir sind keine Nonnen,« lachte die kleine Jüdin.

»Halt's Maul,« fuhr Tusi fort. »Also, er wird Wladimir heißen. Ich werde ihm den Kopf verdrehen, und er wird eifersüchtig sein; er wird mir in Tsarskoje Selo, nahe zum Park des Zaren, einen kleinen Palast kaufen. Zuárd meinte, das sei sehr elegant ... Ich werde auch Spazierritte machen, mein Vater war Grundbesitzer jenseits der Donau.«

»Ja, in Szent-Endre, in der Tischlerwerkstätte,« dachte sich die andächtig zuhörende Blanka.

»Daheim bin ich viel geritten ... auch in Tsarskoje Selo werde ich das tun; einmal wird der Großfürst Nikolajevics mich bemerken und sich in mich verlieben. Er wird dann Wladimir in den Kaukasus versetzen lassen.«

»Und du wirst dann Hoflieferantin,« schloß Blanka die Träumerei. Plötzlich fügte sie hinzu:

»Laßt uns jetzt Therese hören. Wie wird sich deine Zukunft gestalten? Die meinige ist sehr einfach. Aus den ›two sisters Bercsényi‹ werden eben ›drei sisters Bercsényi‹, dann kommt ein braver Gimpel, der mir Juwelen und Boutons kauft; das Geld schicke ich dem Vater nach Hause. Nach drei Jahren kommen wir zurück, verwandeln uns aus Bercsényi wieder in Blau und eröffnen entweder ein Geschäft in ›Modes Robes‹ oder wir heiraten einen Advokaten ... Und du?«

Therese antwortete:

»Ich weiß noch nicht. Ich habe darüber noch nicht nachgedacht ... Ich möchte eine gute Schauspielerin sein und eine ordentliche Gage bekommen, um anständig leben zu können ...«

»O weh!« seufzte Blanka.

Tusi aber erwiderte leise und gleichgültig:

»Es gibt nichts Unangenehmeres als eine Jungfrau. Sie ist stolz auf etwas, was nur dann einen Wert hat, wenn es nicht mehr da ist.«

Therese nahm sich vor, keinen Augenblick länger in Moskau zu bleiben, als bis sie das Geld beisammen hätte, um nach Budapest zu reisen und ihre Schulden zu bezahlen. Hätte sie so sein wollen wie diese Geschöpfe da, so würde sie ja auch zu Hause Juwelen und teure Toiletten bekommen haben, Rosa Ligeti hätte ihr Extralektionen erteilt und sie wäre der Stolz der Schule gewesen. Gewiß war es nur ein Pech, daß sie gerade mit diesen Mädchen zusammengekommen war; in Moskau würde sie im Theater gewiß mit anderen Leuten Bekanntschaft schließen. Sie blickte auf die an ihrem Handgelenke befestigte kleine Uhr: es war halb elf. Daheim löschte ihre Mutter jetzt die kleine Petroleumlampe aus, aber das kleine eiserne Bett brauchte jetzt nicht zerlegt zu werden, denn es schlief jetzt niemand darin. Gewiß dachte die Mutter jetzt an die Tochter, und so trafen sie sich in Gedanken. Schade, daß der menschliche Gedanke nicht dem Telegramme gleicht, um durch die Luft fliegen zu können.

Am Morgen erwachten die Mädchen gegen sieben Uhr; als erste Therese, die in ihr Negligé aus gelber Seide schlüpfte, die kleine Handtasche hervorsuchte und sich zu waschen gedachte. Der anstoßende Wagen war einer erster Klasse; in der Verbindungstür standen zwei heitere, schneidige Offiziere. Sie waren soeben eingestiegen, und eine benachbarte Station war ihr Reiseziel. Das Frühstück und die Zigarre versetzten sie in gute Stimmung. Der Schaffner machte sie aufmerksam, daß im anstoßenden Coupé ›solche‹ Mädel reisten, die unter Umständen mit sich reden ließen. Für die gute Nachricht erhielt er einen Rubel Trinkgeld. Sie erwarteten die Mädchen, da sie wußten, daß diese das Coupé verlassen müßten, um sich zu waschen. Der eine, der höhere, schlankere, sprach Therese in gebrochenem Französisch an:

»Bon jour, chère Mademoiselle ... bien dormi?«

Sie zog ihr Negligé zusammen, errötete und wollte rasch in den Toiletteraum schlüpfen, der aber besetzt war. Sie wendete sich daher um und ging in das Coupé zurück.

»Laufen Sie nicht, kleine Vengerka,« sprach der andere.

»Denkt euch,« meldete Therese, nachdem sie die Tür erschrocken geschlossen, »vor dem Toiletteraum standen Offiziere, die mich angesprochen haben ...«

»Dann laßt uns rasch Toilette machen,« rief Blanka aufspringend.

Auch Tusi war schon auf den Beinen. Sie kamen beinahe zugleich auf den Korridor und ließen sich mit den Offizieren in ein heiteres Gespräch ein, das halb mit Gesten, halb in gebrochenem Deutsch geführt wurde. Die Offiziere baten die Mädchen, sich zu sputen, weil sie in anderthalb Stunden aussteigen müßten.

Therese mußte sich auf ihre Schlafstelle zurückziehen, weil bloß für zwei Personen Platz war. Blanka gab plötzlich ihre Bequemlichkeit auf, und ihr Busen schwoll stark an, als sie sich mit dem Mieder einschnürte. Tusi legte ganz reine, mit Spitzen besetzte Wäsche an und stand einen Augenblick in ihrer blonden Nacktheit im Coupé da. Die von der Wiese hereindringenden Strahlen der Morgensonne ließen ihr blondes Haar, ihre Schulter in Glanz erschimmern, ihre wohlgepflegte feine Haut vibrierte, und Blanka warf einen neidischen Blick auf die weißen Glieder Tusis. Die Mädchen lachten laut und ließen einen Schrei des Schreckens vernehmen, als die Offiziere die Tür öffnen wollten.

Die närrische Laune steckte auch Therese an; sie verstand nicht ganz, wozu diese großen Toilettevorbereitungen dienen sollten, und es tat ihr beinahe leid, daß sie die Bürde der Anständigkeit mitzuschleppen hatte. Wozu auch? Für ein armes Mädchen ist sie nur ein übertriebener Luxus. Dies war es hauptsächlich, was sie Rußland gegenüber befangen und furchtsam machte. Sie fühlte, daß ihre Lage eine viel ungünstigere sein würde als die der anderen.

Endlich waren sie mit der Toilette fertig und erschienen vor den Courmachern, die die Fersen schneidig aneinanderschlugen ... Der jüngere hieß Graf Alexei Ribanow, ein hochgewachsener, breitschultriger, doch schlanker Junge. Die Nase, entsprechend dem russischen Typus, flach und am Sattel gedrückt, das Gesicht ein wenig mit Sommerflecken bestreut, doch das blaue Auge offen, die schütteren blonden Haare nach aufwärts gekämmt. Eine kindische Heiterkeit durchströmte das ganze Wesen des jungen Riesen, als er in seinen Lackstiefeln, blauer Hose und grauer Bluse sich an die Waggonwand anlehnend, den Mädchen in gebrochenem Französisch und in noch gebrochenerem Deutsch den Hof machte. Auf das Deutsche hatte hauptsächlich die Blanka reagiert, während Tusi mehr das Französische verstand: ist doch Nizza oder Paris nicht gar so weit von Szent-Endre entfernt. In etwa einer halben Stunde trafen sich die Paare: Tusi blieb bei dem Grafen, während alle Aufmerksamkeit des andern der Blanka galt. Der andere war ein Gegensatz zum Grafen: klein, schwarz, aber schon ein wenig kahlköpfig und dick, die Nase männlich gebogen und er hieß, wider alles Erwarten, Deutsch. Er wußte kaum etwas Deutsch; gewiß waren seine Eltern aus Deutschland eingewandert.

Alexei Ribanow war ein rasch entflammbarer Junge. Er verbrachte das Leben in kleinen Garnisonen, und so oft sich ihm die Gelegenheit dazu bot, eilte er in die nächste Stadt, um sich in der Gesellschaft von Mädchen bei einem Champagnergelage für die Öde des Militärdienstes zu entschädigen. Oft schon hatte er beschlossen, sich eine ständige Geliebte auszusuchen, aber im letzten Augenblicke siegte immer sein Freiheitsgefühl. Wozu sich binden? Besser das wilde Herumstreifen, die uneingeschränkte Freiheit der Wahl.

»Aber wenn du ihrer überdrüssig wirst, wirfst du sie ja hinaus!« meinten seine Freunde.

»Das tue ich nicht!« erwiderte der blonde Riese. »Man darf die armen Mädel nicht so demütigen.«

Der Graf war eben eine lyrisch veranlagte Natur. Hatte er sich zwei bis drei Tage mit einem Mädchen amüsiert, so verliebte er sich sterblich in sie, nahm weinend Abschied von ihr, überraschte sie mit Kostbarkeiten und sprach erbittert über die Gemeinheit der Männer. Man müßte die Mädchen heiraten.

Tusi gefielt ihm sofort sehr. Es war vielleicht eine Fügung des Zufalls, daß sie sich so im Eisenbahncoupé trafen, und er machte ihr schon nach fünfundzwanzig Minuten einen Antrag.

»Ich weiß, daß Sie in Moskau ein Engagement haben und dort erwartet werden. Aber ist es nicht viel angenehmer, wenn Sie statt der aufregenden und ungesunden nächtlichen Schwärmereien bei mir bleiben? Ich bin sehr reich, mein Vater ist Herzog und besitzt große Bergwerke im Ural. Sie bekommen von mir tausend Rubel monatlich, Wohnung und Toiletten, ich will Sie mit allem versorgen, wenn Sie mit mir aussteigen und meine Freundin werden ...«

»Aber ich kann das nicht tun. Was fange ich denn mit meinem Moskauer Kontrakt an?«

»Welches Theater hat Sie engagiert?«

»Die Yard, für die ungarische Gesellschaft ...«

»Ich erlaube nicht, ich will nicht, daß Sie dorthin gehen!« klang es heftig und gebieterisch von Ribanovs Lippen, dessen Gesicht plötzlich von einer Blutwelle übergossen wurde, wie man dies nur bei blonden Menschen mit Sommersprossen zu sehen pflegt ... Ich kenne Madame Amélie, wenn sich diese Gelegenheitsmacherin nur zu rühren wagt, schicke ich ihr die Polizei auf den Hals ... So antworten Sie mir doch! ... Ich weiß, mein Antrag ist ein eigentümlicher ... so auf der Eisenbahn ... aber auch das Leben eilt wie die Eisenbahn dahin ...«

Dieser letztere Vergleich gefiel ihm sehr und insgeheim dachte er sich, es sei schade, daß er nicht Schriftsteller geworden ist ...

Ganz anders machte Deutsch den Hof. Er war nicht so idealistisch und schwärmerisch veranlagt wie sein Freund. Er bat die Blanka einfach, in sein Coupé erster Klasse hinüberzukommen, das andere würde er schon besorgen.

»Sehen Sie, ich kann alles tun, nur dies eine nicht!« scherzte das in die Fremde verschlagene Kind des Pester Humors. »Vor meiner Abreise habe ich meiner Mutter versprochen, nie in ein Coupé erster Klasse mit Herren einzutreten ... Aber wissen Sie, was? ...«

Ihre Stimme dämpfte sich zum Flüsterton, als sie zu ihm geneigt sprach:

»Wenn Sie nach Orel kommen, können Sie mich aufsuchen ... Variété Lyra, drei Sisters Bercsényi ...«

Mittlerweile hatte auch Therese sich angekleidet. Sie schob die Coupétür zur Seite; das Flüstern, Plaudern und Lachen lockte sie heraus und sie trat auf den Korridor.

»Ah!« begrüßte sie Alexei, »das kleine flüchtige Reh ...«

»Wie befinden Sie sich, Fräulein?« fragte Deutsch.

Therese lächelte, während die beiden anderen Mädchen ihre Eifersucht zu bemänteln suchten. Ihr Instinkt sagte ihnen, daß Therese ganz anders wirken müsse als sie, da ihre Miene ihre unberührte Reinheit widerspiegelt und ihre leichte mädchenhafte Gestalt die Männer vielleicht besser interessiert.

»Votre nom?« frug sie der Graf.

»Teresia.«

Der Graf drückte seine rechte Hand an das Fenster, schrieb mit seinem mächtigen Brillantring cyrillische Buchstaben auf die Glasscheibe und las dann:

»Teresia ... Sehen Sie, Ihr Name stürmt gleich einem Schnellzuge durch ganz Rußland.«

Und wiederum freute er sich im Innern über seinen schönen literarischen Einfall. Doch mußten die Herren Offiziere leider aussteigen, denn der Zug lief in die Station ein. Ein prächtiges Gespann erwartete den Grafen.

»Sehen Sie, das ist mein Wagen,« sagte er zu Tusi. »Wenn Sie wollen, wird er Sie in zwei Minuten in meine Wohnung führen.«

Tusi dachte einen Augenblick nach. Wohin ging sie eigentlich und zu welchem Zweck? Sie wollte doch Geld verdienen und ihr Glück machen. Vielleicht war das Glück ihr entgegengekommen. Was sollte sie eigentlich nach Moskau ziehen, sie wollte ja auch dort nur von den Männern leben, und da hatte sie wenigstens schon den ersten, der ein reicher, träumerischer Schwärmer war. Sie wollte es versuchen.

Sie verzog den Mund zu einem unbestimmten Lächeln und sagte:

»Meinetwegen ...«

»Also rasch, Ihr Gepäck ...«

In der kleinen Station hielt der Zug nur wenige Minuten. Oberleutnant Deutsch eilte zum Gepäckwagen, um den großen Koffer zu holen, während das Handgepäck Tusis durch das Coupéfenster hinausflog.

»Du warst sehr klug!« rief ihr Blanka aus dem Fenster nach. »Nur diese Dumme da geht hin, um sich zu verkaufen. Schreibe uns! Orel ... Variété Lyra ... Bercsényi.«

»Meine Boa, meine Boa!« schrie Tusi.

Therese warf die Sealskin-Boa aus dem Fenster des schon in Bewegung gesetzten Zuges.

»Ich danke dir, Jungfräulein,« winkte ihr Tusi.

Und man konnte aus dem Fenster des Coupés noch sehen, wie die prächtigen Pferde auf dem sandigen Wege dahintrabten. Das Ganze ging so rasch vor sich wie auf einem Film, und der Schaffner trat lächelnd in das Coupé der Mädchen ein. Mit der Linken zupfte er an seinem Barte und stotterte:

»Gospodina ... f ... f ...«

Und mit seiner Rechten deutete er bei jedem »f« einen immer höher strebenden Flug an. Das Fräulein war davongeflogen.

Blanka fand an der Sache Gefallen und meinte, an Therese gewendet:

»Siehst du, Tusi hat das schneidig gemacht. Wir können von ihr lernen. Eine, die so anfängt, endigt mit Brillanten beladen.«

In der rauchgeschwängerten Luft schwebte noch das Parfüm der Tusi; auf ihrem Ruheplatze blieben einige kleine Drahthaarnadeln zurück, zwischen den Gepäcken ein Papier mit Fettflecken. Ein halbes Huhn hatte sie als Erbe den Mädchen zurückgelassen.

Der Zug fuhr über endlos scheinende Wiesen, die Gehöfte hatten ebensolche Strohdächer wie in Ungarn, die Bauern gingen in Stiefeln herum und lungerten vor den kleinen Stationen. Der Zug brauste an Kirchen vorbei, die aus Brettern gezimmert waren, die der Regen grünschwarz gefärbt hatte, stellenweise waren längs des Geleises Gestüte und Rinderherden zu sehen; die Hunde kläfften der Lokomotive nach und taten hie und da einen Sprung gegen die Maschine, blieben aber dann zurück. Der Zug fuhr polternd über mächtige Flüsse, weite Gebiete waren von Hochwasser überflutet.

Der Schaffner war mittlerweile mit seiner Arbeit im Coupé fertig geworden und sagte den Mädchen:

»Pazsalszta ...«

Therese wäre am liebsten eingeschlafen. Sie war von der Reise und von den Erlebnissen ermüdet und konnte kaum denken. Das ewige, betäubende Gepolter der Räder wirkte auf sie wie ein Rührholz, das in einem großen Tiegel unaufhörlich gedreht wird und ihre unruhigen Gefühle und Gedanken aufrührt. Die Ereignisse der letzten Monate zogen durch ihr Gehirn, sie wußte gar nicht, ob sie träume oder in wachem Zustande den Augenblick in ihr Gedächtnis zurückrief, als die Therese Csillag sie in der Schule belobte; die Bürgerschule, Paula König, Rosa Ligeti und ihre Schülerinnen zogen an ihr vorbei; sie sah und fühlte wiederum die unglückliche Premiere, und dann stand sie im Treppenflur des Wohnhauses in der finsteren Feuerwehrgasse, wo sie um Mitternacht mit dem Türschlüssel im Schlüsselloch herumhantierte.

»Jesus Maria!« rief sie plötzlich zusammenzuckend.

»Was ist denn los?« fragte die erschreckte Blanka.

»Ich vergaß der Mutter zu schreiben ... und ich habe doch Ansichtskarten mitgebracht ...«

»Ich bin viel vorsichtiger,« meinte Blanka. »Ich habe schon in Budapest fünf Karten geschrieben. Auf der einen heißt es: ›Ich bin wohlauf. Unsere Reise sehr angenehm. Ich küsse alle. Serene.‹ Blanka ist nämlich nur mein Künstlername ... Auf der anderen heißt es: ›Unsere Reise sehr angenehm. Ich küsse alle. Ich bin wohlauf. Serene.‹ Auf der dritten: ›Ich küsse alle. Bin wohlauf. Reise sehr angenehm. Serene.‹ Von jeder großen Station sende ich eine Karte an Papa. Wenn du willst, kann ich dir eine leihen. Das heißt, es geht nicht, wegen der Adresse. Da hast du einen Bleistift, schreibe; in Orel will ich die Karte in den Kasten werfen.«

Therese adressierte eine Karte, wobei der dahinbrausende Zug ihre Hand hin und her warf, so daß die Buchstaben in einem wirren Durcheinander herauskamen: Frau Witwe Dezsö Ladány, Budapest, IX, Feuerwehrgasse ... Ob wohl jemals von hier eine Korrespondenzkarte in die Feuerwehrgasse geschrieben worden war? Und was sollte sie schreiben? Daß sie müde sei, sich vor der ungewissen Zukunft fürchtete, ängstlich sei und nicht wisse, was mit ihr geschehen würde? Sollte sie über die Mädchen schreiben, die mit ihr reisten? Sie waren glücklich, weil sie leichtsinnig waren und nicht Schlagwörtern nachliefen, wie Erfolg und Kunst, sondern nur Geld erwerben wollten. Sollte sie die Mutter fragen, wie es ihr ginge und ob sie einen Zimmerherrn genommen hätte?

Sie schrieb einfach: »Ich bin wohlauf. Reise angenehm. Küsse von Therese.«

Sie kamen in Smolensk an, wo Blanka sich von ihr verabschiedete; sie wurde in der Station von Cili und Fanny -- in der Welt der Kunst Leonora und Viola -- mit lautem Jubel empfangen; die Freundinnen umarmten und küßten sie.

»Wie geht's dem Vater? Was macht der kleine Pisti?«

Es stellte sich nämlich heraus, daß Cili ein Söhnchen habe ... Pisti. Sein Vater war Leutnant bei den Don-Kosaken.

Da kommt ein neues Mädchen ...

»Sie geht zur Amélie!« sprach Blanka, die Therese vorstellend.

»Sie soll sehr acht geben, um von der Amélie nicht ausgebeutet zu werden. Vor allem soll sie einen reichen Freund fangen und erst dann als Solistin in das Yard- oder Strelna-Theater eintreten.«

Inzwischen machte sich Fanny um das Gepäck zu schaffen und erteilte russisch ihre Weisungen. Beide hatten in den Ohren große Diamanten, an den Fingern Ringe, an den Handgelenken Armbänder, auf dem Kopfe große Hüte mit Straußfedern. Sie trugen alle ihre Habe auf dem Leibe.

Blanka verabschiedete sich von Therese mit einem langen Kusse, den sie ihr auf die linke Wange drückte.

»Gott mit Ihnen, geben Sie acht auf sich!« Ich denke, Sie sind zu anständig,« rief ihr die Cili nach.

Die drei Sisters Bercsényi fuhren davon. Blanka hatte in ihrem Koffer einen bis zu den Knien reichenden grünseidenen Rock, mit einer rot-weiß-grünen Bordüre, ein kleines rosafarbiges Leibchen und ein dunkelblaues, goldbetreßtes Samtmieder; ferner ein großes Band in den Nationalfarben, das sie unter dem Schopfe festbindet, um dann in Ballettschuhen den Saloncsárdás nach der flotten Melodie des »Ritka buza, ritka árpa, ritka rozs« zu tanzen, während das Band gleich einer ungarischen Trikolore auf der Bühne der Varieté Lyra herumflattert.

Therese bedauerte, daß Blanka sie schon verließ, denn sie war eine gutgelaunte, drollige Person; während der mit ihr verbrachten zwei Tage hatte sie die kleine Jüdin liebgewonnen. Aber sie hatte nicht viel Zeit für Träumereien, denn der Zug setzte sich wieder in Bewegung, und sie fand im Coupé drei fremde Herren. Rauchende, großbärtige Männer, die ebenfalls nach Moskau fuhren und lebhaft, mit knarrender Stimme sprachen. Therese verstand kein Wort davon, und da die Leute ihre Beine mit den großen Stiefeln auf die Sitze legten und den Boden vollspuckten, ging sie lieber auf den Korridor hinaus, wo sie sich auf einen der Seitensitze niederließ und den Brief der Amélie durchlas, um genau zu wissen, was sie, in Moskau angekommen, zu tun habe.

Auf jeder Station stiegen Leute ein; die Passagiere standen schon in den Korridoren; das Geleise hatte mit einem Male Abzweigungen, zwanzig andere Geleise liefen rechts und links nach allen Richtungen, Signallampen und Semaphore schossen aus dem Boden, Lokomotiven pusteten, zischten und dampften ihnen entgegen, Lastzüge von ungeheurer Länge, aus langen, zylinderförmigen und gewölbten, hausförmigen Wagen bestehend, standen auf den Schienen, darunter ein Kirchenwagen mit dem Doppelkreuz, wie er in sibirischen Stationen an Sonntagen zu halten pflegt. Abermals passierte der Zug einen Fluß; mächtige, neue Vorstadthäuser, zur rechten Hand ein kleiner Berg, auf dem musivisch belegte Türme, Kuppeln, phantastische Runen und Halbkreise im Sonnenlichte funkelten, als ob ein genialer Zuckerbäcker das Ganze gebaut hätte, Bronzezwiebeln mit grüner Patina, auf spitzen Türmen der kaiserliche Adler und auf Halbmonden, hoch darüber, riesengroße Doppelkreuze. Es war der Kreml. Dann verschwand der Zug in einem Tunnel, der in eine gedeckte Halle mündet; längs der Schienen stand ein Heer disziplinierter, in Uniformen gekleideter Diener, auf dem Perron eine Menge Leute, die auf den Zug gewartet haben; jenseits der Glaswände aber steht die heilige Stadt der Russija: Moskau.

Doch alles dieses kümmerte Therese nicht. Während die Diener ihr Handgepäck hinabtrugen, trat sie, in der Rechten ein weißes Tuch schwenkend, vom Trittbrett. Sie blickte um sich und stand erwartungsvoll inmitten des sich aus dem Zuge ergießenden Menschenstromes da, als plötzlich eine hochgewachsene, stumpfnasige, rundliche Blondine sie umarmte und sprach:

»Sind sie es, Fräulein? Wie heißen Sie? Nicht wahr, Therese ...«

»Ja, ich bin Therese Ladány ...«

»So kommt doch, kommt doch,« winkte daraufhin die Dame mit dem breitkrämpigen, von Federn umwallten Hute; und einige Sekunden später liefen gleich Hühnern, die sich um die Gluckhenne scharen, drei verschieden gekleidete Mädchen mit verschiedenen Gesichtern und Figuren auf Madame Amélie los. Das war nämlich die Dame im Pepitakostüm, die Therese umarmte. Die Mädchen blickten mit neugierigen Augen auf die neue Kollegin.

»Und wo sind die Fräulein Blanka und Tusi? Sie hätten ja zusammen ankommen sollen?«

»Sie stiegen unterwegs aus,« antwortete Therese befangen. »Tusi begegnete einem Offizier, der sie entführte, während Blanka irgendwo an einer Station ...«

»So? Die Bestien!« ... zischte Amélie. »Ich werde das Geld von der Forderung der Tomcsányi in Abzug bringen.«

Und damit war das Ganze erledigt, wie eine alltägliche Sache.

»Um so mehr freue ich mich über Sie, weil ich sehe, daß Sie ein ordentliches, anständiges Mädchen sind, das eine Zukunft hat ...«

Sie streichelte das Gesicht Thereses und wendete sich an die übrigen Mädchen:

»Das ist Fräulein Therese ... Zu Hause werden wir ihr einen geschäftlichen Namen geben. Denn bei uns ist es Sitte, mein Kind, daß man unter einem Künstlernamen arbeitet. Sie werden sich einen Namen wählen können. Das ist die Gabi, hier die Manci, dies die Irene.«

Sie stellte die Mädel der Reihe nach vor. Alle hatten ein bleiches Gesicht, die Augenlider und die Lippen waren etwas geschminkt. Trotz des sonnigen warmen Wetters trugen sie lange Überröcke und ihr Blick hatte einen müden Ausdruck.

»Es freut uns sehr!« sagten sie, Therese die Hand reichend.

»Ihr drei setzet euch in einen Wagen und fahret nach Hause oder wohin Ihr wollt ... Aber am Abend darf sich keine verspäten ... Die kleine Novize nehme ich mit mir.«

Sie warf noch einen Blick auf das Reisegepäck, ließ alles Mögliche auf den Izvoscsik laden, nahm auf der rechten Seite des Wagens Platz und winkte Therese, einzusteigen. Der kleine Wagen setzte sich windschnell in Bewegung. Über dem Hals des Pferdes klirrten die Ringe auf dem hohen Zaumhalter, der die Form einer Halbellipse hatte, die Glöckchen klingelten. Eine Unmenge von Leuten bevölkerte die Straßen, aber Therese empfand nur das Fremdartige des Ganzen, ohne etwas zu sehen. Sie war befangen, was auch Madame Amélie nicht entging.

»Na, Sie brauchen nichts zu fürchten, wenn Sie auch in der weiten Fremde sind,« tröstete sie das Mädchen. »Auch diese Mädchen und ich selbst, wir kamen einst gerade so als Fremde hierher, wie jetzt Sie, aber wir haben uns rasch an Moskau gewöhnt, denn an das Gute gewöhnt man sich leicht. Sie werden das Russische erlernen, angenehme Bekanntschaften, einige gute Freunde erwerben, wie?«

Und sie streichelte die Hand Thereses ... Frau Tomcsányi hatte sie in alles eingeweiht, so daß Madame Amélie über die Verhältnisse der Neuangekommenen vollkommen unterrichtet war.

»Haben Sie zu Hause einen Freund?« frug sie. »Nicht wahr, Sie haben keinen?«

»Nein,« erwiderte Therese leise.

»Das ist mir auch lieber, eine Künstlerin soll nur ihrer Kunst leben; Sie werden auch so Geld genug verdienen, um Ihrer Mama welches senden zu können.«

Die Angst schmolz förmlich vom Herzen Thereses. Das ist ja eine liebe, brave Frau, und gewiß waren nur die Mädchen schlecht, die sie geschmäht haben. Sie mußte kein schlechtes Herz haben, hatte sie doch kaum gezürnt, als sie erfuhr, daß die Tusi und die Blanka ausgeblieben seien. Nur das eine verstand Therese nicht, warum Frau Amélie die Reisekosten vom Gelde der Frau Tomcsányi kürzen wolle. Am Ende bekam Frau Tomcsányi Geld für die Mädel? ... Dieser Gedanke fuhr eine Sekunde durch ihren Kopf, allein sie befaßte sich nicht weiter damit, denn sie waren vor dem Hause der Madame Amelie in der Malaja Dimitrowka angelangt. Der Izvoscsik war genau unterrichtet und fuhr durch das offene Tor der kleinen, vernachlässigten, einstöckigen Villa in den Hof hinein, wo sie von einem Stubenmädchen und einem Hund empfangen wurden. Der kleine weiße Hund bellte freudig und sprang munter auf Madame Amélie zu.

»Kusch, Jolly!« schrie Amélie, worauf sie dem Stubenmädchen etwas russisch sagte und sich an Therese mit den Worten wandte:

»Das Stubenmädchen heißt Dunyasa ... Das Essen ist fertig. Sie werden sehen, mein Kind, welch gutes ungarisches Mittagmahl Sie bekommen.«

Rechts vom Tor führte eine Tür in das Vorzimmer, weiter rechts eine schmale eiserne Schneckenstiege in das Erdgeschoß und in den ersten Stock. Das Haus mochte schon vor sehr langer Zeit gebaut worden sein und Madame Amélie wohnte hier bloß, weil sie in der Nähe des »Lokals« war, wie die Artisten den Unterhaltungsort unter sich nannten.

»Das Reisegepäck werden Sie erst am Nachmittag auspacken, mein Kind, das erste ist jetzt das Mittagessen.

Madame Amélie führte sie in das Speisezimmer, das sehr einfach eingerichtet war, mit staubigen, roten Samtvorhängen an den Fenstern. Bei Tische saßen drei Mädchen. Irene und Gabi kannte sie bereits von der Bahn her. Manci kam nicht zum Mittagmahl, und so mußte man Therese nur der Nelly vorstellen. Therese hatte schon seit zwei Tagen keine warmen Speisen genossen und verzehrte mit Appetit die Fleischsuppe, das Rindfleisch in Kapernsauce und die Topfenmehlspeise. Während des Mittagmahls zeigte sich auch die Köchin:

»Ich will das neue Fräulein sehen ... Ein nettes Kind ... Nicht wahr, Fräulein, das Essen ist in Rußland geradeso wie daheim ...«

Sie lachte über diesen witzigen Einfall so herzlich, daß ihre vollen Brüste erzitterten.

Therese schwieg und hörte dem Gespräch der anderen Mädchen zu, aber sie verstand nichts davon.

»Denkt euch,« begann Nelly, Boris hat sich vorgestern abends im Puschkin mit Didonne amüsiert, und heute früh um drei Uhr brachte er ihr schon ein goldenes Täschchen mit zweihundert Rubeln. Die Tasche selbst ist ungefähr tausend Rubel wert.«

»Ihr seid eben zu ungeschickt,« sprach Madame Amélie in rügendem Tone. »Ich habe Irene jüngst gesagt, den kleinen Millionär zu bearbeiten, ihn nicht dem russischen Chor zu überlassen. In diesen schweren Zeiten heißt es, sehr umsichtig sein!«

»Wir können uns auch nicht beklagen,« unterbrach sie Irene. »Diese Woche haben fünf Mitglieder unseres Chors elegante Toiletten aus dem Maison de Luxe bekommen. Das soll uns ein anderer Chor nachmachen.«

»Wenn es heißt, umsichtig sein, so bietet sich jetzt die Gelegenheit dazu,« sagte die Gabi augenzwinkernd. »Gestern Abend war Sascha wieder drinnen. Wie es scheint, hat er die Trauer schon überwunden und sucht eine neue Freundin. Wenn Thereschen ihn bearbeiten würde, könnte sie ihn einfangen ...«

Die Mädel und Madame Amélie blickten auf Therese.

»Ich verstehe nicht, wovon die Rede ist,« sagte Therese, indem sie ihre Verlegenheit zu verbergen suchte.

»Nichts, nichts,« erwiderte Frau Amélie, indem sie die Mädchen zur Ruhe ermahnte. »Was wollt Ihr denn? Sie ist ja noch gar nicht warm bei uns geworden, sie hat noch kaum Atem schöpfen können. Sie soll doch erst auf die Bühne kommen, nicht wahr, mein Kind?«

»Ja ...« erwiderte Therese, indem sie einen dankbaren Blick auf die Direktrice warf.

»Denken wir lieber darüber nach,« setzte die Hausfrau fort, »welchen Namen die Kleine bekommen soll. »Wie möchten Sie wohl heißen?«

Therese zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht. Ich habe noch nie darüber nachgedacht.«

»Sind Sie noch Jungfrau?« frug plötzlich Irene.

»Ja ...« erwiderte Therese errötend, indem sie die Augen zu Boden senkte.

Alle Mädchen klatschten ihr Beifall und riefen:

»Eljen! Dann wird ja der Chor Glück haben, dann haben Sie auch schon Ihren Namen: Virginia! Jede Jungfrau nennen wir Virginia ... Seit etwa drei Jahren haben wir keine Virginia gehabt ...«

Therese Ladány wurde somit durch die Vengerkas auf den Namen Virginia getauft ... Die Mädel scherzten und plauderten noch eine Weile, und nach dem Essen nahm Amélie Virginia unter den Arm:

»Kommen Sie, mein Kind, ich will Ihnen Ihr Zimmer zeigen.«

»Auspacken, auspacken!« riefen die Mädel im Chor.

So oft ein neues Mädel eintraf, war das Auspacken stets der Hauptspaß für die Vengerkas. Sie sammelten sich im Zimmer der neuen Kollegin, wo sie die aus den Koffern und Körben hervorgeholten Wäschestücke und Kostüme bekrittelten.

Therese war es etwas unbequem zumute, als sie in ihr neues Heim eintrat. Ein ärmliches Zimmer, an der einen Wand ein abgedecktes Bett, an der anderen ein leeres Eisenbett, nur mit einer Matratze, sonst ganz ohne Bettzeug.

»Das wird Ihr Bett sein ...« sagte Amélie. »Haben Sie Ihr Bettzeug mitgebracht?«

»Ja ...«

Das Zimmer hatte nur ein Fenster mit dunkelblauen Leinwandvorhängen. Irene, die Eigentümerin des offenen Bettes, hatte die Vorhänge gekauft, um in dem also verdunkelten Zimmer auch am Tage schlafen zu können. Im Halbdunkel konnte Therese allmählich wahrnehmen, daß in der Mitte des Zimmers ein großer Tisch stand, auf dem Haarnadeln, Schminken, Manikürwerkzeuge, ein runder Spiegel, eine Brennschere, einige Zigaretten, Zündhölzchen, ein Stück Brot und das Lichtbild des Schauspielers Emerich Szirmai, als Plinchard im zweiten Akte der Operette Lily, in wirrem Durcheinander herumlagen. Vor dem Tische stand ein Stuhl, das war alles. Vom Plafond hing an eisernen Haken, die ineinander gekoppelt waren, eine Petroleumlampe herab.

»Dies ist mein Bett, mein Tisch, mein Stuhl!« sagte Irene mit Betonung.

»Und wo werde ich sitzen?« frug Therese.

Alle brachen in lautes Gelächter aus.

»Wo man eben zu sitzen pflegt ... Auf dem Bette,« erwiderte Gabi. »Für uns ist das Bett das wichtigste Möbelstück, auf dem wir sitzen und speisen, ja sogar schlafen.«

»Und ein Spind? Wo soll ich meine Kleider aufbewahren?« frug Therese.

»Das Spind Irenens steht im Badezimmer,« erwiderte Amélie. »Ich werde auch für Sie eines holen lassen, auf Brokat ...«

»Aber ich habe gar kein Brokatkleid,« bemerkte Therese.

Neuerliches Gelächter.

»Das wird sich schon geben,« beruhigte sie Amélie, die selbst darüber lächeln mußte, daß Therese nicht wußte, das Wort »Brokat« bedeute auf russisch Ratenzahlung.

Das war am ersten Nachmittage die Situation Therese Ladánys in ihrem neuen Moskauer Heim, inmitten der anderen Mädchen. Sie war in eine völlig neue Welt hineingetreten; sie hatte mit der Therese von gestern, ja selbst von heute früh nichts mehr gemein, sie war als Virginia neugeboren. In ihrer neuen Umgebung kam sie sich linkisch und dumm vor und sie fürchtete, jedem im Wege zu stehen und ausgelacht zu werden.

Sie selbst rührte nichts an, die Mädel öffneten ihr Gepäck und riefen bei dem Anblick der Seidenkleider der Frau Lebán:

»Ach, wie fein; ach, wie herrlich! ...«

Der Beifall machte auch auf Therese Eindruck, es freute sie, daß man ihre Sachen bewunderte und ihr vielleicht auch neidete; ihr blaues, vorn nach bulgarischer Art gesticktes Kostüm nahm sie schon selbst in die Hand und hielt das kleine Röckchen an den Ärmeln in der Luft.

»Nun, so fein ausstaffiert sind bisher wenige Mädel hergekommen,« meinte Gabi.

Sie betrachteten der Reihe nach ihre Wäsche, Schuhe und Strümpfe, und man sah ihnen an, daß sie den Nachmittag angenehm verbracht hatten.

Es mochte schon gegen sechs Uhr abends sein. Dunyasa zündete die Petroleumlampe an und Amélie gab das Losungswort aus:

»Na, Mädel, eilt euch, kleidet euch an!«

An Therese richtete sie die Frage:

»Wollen Sie heute abend zu Hause bleiben oder mit uns in das Theater kommen?«

»Gehen alle weg?« frug Therese.

»Alle.«

Sie dachte daran, wie unangenehm es wäre, in einer fremden Stadt, in einem fremden Hause, in einem unfreundlichen, von schwerem Petroleumgeruch mißduftenden Zimmer allein zurückzubleiben; übrigens war sie auch begierig, das Theater kennen zu lernen, in dem sich ihr künftiges Leben gestalten sollte. Sie erklärte daher ohne Zögern:

»Ich will lieber in das Theater gehen ...«

»Das freut mich wirklich,« sagte Amélie, indem sie Thereses Schulter streichelte. »Welches Kostüm wollen Sie anziehen?«

Therese meinte, sie habe ja noch keine Rolle, sie wolle nur der Vorstellung beiwohnen, und es wäre wohl das beste, sich einfach zu kleiden, wie sie es daheim zu tun pflegte.

»Aber nein!« erwiderte Amélie lächelnd ... »Ich werde Ihnen ein kleines Kostüm geben, in dem Sie in den ersten Wochen singen werden, bis Sie in die Lage kommen, ein neues Kostüm anfertigen zu lassen ...«

Und sie eilte hinaus.

»Also ich werde singen?« fragte Virginia Irene (die anderen Mädchen gingen hinaus, um sich anzukleiden). »Wie geht denn das? Ich habe ja nie singen gelernt.«

»Närrchen,« erwiderte Irene, »die erste Nummer ist die des ungarischen Chors! Wir schminken uns hier zu Hause und laufen im Kostüm hinüber ...«

»Treten wir denn nicht in einem Stücke auf?« frug Therese verwundert und befangen.

»Freilich nicht ... Aber frage doch nicht so viel, nimm die Farbe und schminke dich.«

Therese begann auf dem Tische herumzuräumen, um für ihre Toilettegegenstände Platz zu machen, aber Irene fuhr sie streng an:

»Oho, dieser Tisch ist mein Privateigentum, du geh nur schön auf das Bett ... kleide dich dort an ...«

Therese war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Sie wollte ihrer Entrüstung Luft machen und Irene fragen, was es ihr denn schade, wenn sie ihren kleinen Handspiegel auf die Ecke des Tisches stellte, aber das Gefühl der Unbilligkeit und die Bitterkeit ließen sie die Worte hinunterwürgen. Sie schlich zu ihrem Bette, auf dem ihre Kleider und Wäsche noch herumlagen; diese warf sie in den Koffer zurück, setzte sich auf die bloße Matratze, legte den Spiegel darauf und begann bei dem kümmerlichen Lichte ihr Gesicht zu schminken. Sie hat sich die Dinge anders vorgestellt! Wieder fühlte sie sich von feiger Verzagtheit erfaßt; am liebsten hätte sie alles hier im Stich gelassen und wäre, wenn auch mit erbetteltem Gelde, nach Budapest zurückgeeilt, wo sie alles kannte, wo die ganze Stadt ihr gehörte, wo sie mit den Leuten sprechen und alles beginnen konnte, während sie hier nicht einmal die Firmentafeln auf der Straße zu lesen vermochte.

Sie saß im Hemd und Unterrock auf dem Bette, schminkte sich und zog gemäß der Weisung der Madame Amélie himmelblaue Seidenstrümpfe und kleine weiße Halbschuhe an, die zu dem Kostüm paßten, das sie bekommen sollte. Und tatsächlich erschien Amélie mit einem kleinen himmelblauen Seidenkleide auf dem Arme, das sie lächelnd Therese reichte.

»Hier, Virginia, das wird für Sie passen.«

Sie probierte das Kleid an; es stand ihr gut. Wenn es auch schon etwas abgetragen war, ließ es ihre jugendliche Gestalt dennoch vorteilhaft hervortreten. Ihr Haar war ganz mädchenhaft, beinahe kindisch aufgesteckt, und in dem leichten Kleidchen sah sie aus wie ein Backfisch, wenn er zur Firmung geht. Madame Amélie legte ein schwarzes Seidenkleid an. Auch Irene war fertig: ihre Toilette war rosafarbig, ihre Strümpfe und Halbschuhe bordeauxrot. Sie zogen die Überröcke an, denn es war schon Spätherbst; den Kopf bedeckten sie mit einem Tuche und so liefen sie über die Gasse. Unterwegs begegneten sie noch einigen Mädchen; die meisten hatten kleine Pakete in der Hand oder eine in eine Serviette gebundene Kasserolle, in der sie ihr Nachtmahl mitschleppten.

Das Unterhaltungslokal oder, wie Virginia es nannte, das Theater lag gerade gegenüber der Wohnung der Madame Amélie. Über dem Eingange hingen mächtige Bogenlampen, in der Haupttür stand ein Portier von riesenhafter Gestalt in russischer Gala. Man sah livrierte Diener, überall war ein lebhaftes Treiben, und die Iswostschiks schossen flink und hurtig hin und her wie die Schlammbeißer.

Vor einer kleinen Nebentür erklärte ihr Amélie:

»Das ist die Uporna, der Ankleideraum; hier legen Sie den Überrock ab und schminken sich ein wenig nach, dann kämmen Sie sich. Die Mädel werden Ihnen alles zeigen.«

Die kleine Tür hatte nicht einmal eine Klinke, sie mußte einfach aufgestoßen werden. Therese stand in einem großen Saale. Vom Plafond hingen an Drähten schmucklose Glühbirnen herab; in der einen Ecke stand ein Stehspiegel, vor dem -- wie nach einem Fischfang die vielen Fische im Netze -- dreißig bis vierzig Mädchen sich kreischend stritten und herumbalgten. Die nackten Schultern rieben sich aneinander. Jede wollte früher zum Spiegel kommen. Im Saale standen weitere siebzig bis achtzig Mädel herum. Ein Riesenmarkt, den die Mädchenhändler mit Ware überschwemmten. Alle stimmten in den kreischenden und kichernden Chorus ein: der in rote Fetzen gekleidete Zigeunerchor, der ungarische Chor, die Schar der malerischen Russen und der Chor der blonden, blauäugigen Kleinrussen in ihren perlengestickten Kleidern. Jede fluchte und räsonierte in ihrer Sprache; für ein wenig Platz vor dem Spiegel wurden Kämpfe auf Leben und Tod ausgefochten; vor dem Eingang bestürmte man den Garderobier, die Röcke zu übernehmen.

Skaré! ... Skaré ... klang es von hundert Seiten. Minyes sduty ... Eile, eile, man erwartet mich ... Dajtye minye perviraz ... erst nehmen Sie meinen Rock ab ... Pisitye ... laufen Sie!

Ein Lärm wie in einer riesigen Vogelhandlung. Und Vögel mit verschiedenartigstem Gefieder zwitscherten, hüpften überall herum. Therese wurde der Überrock und das Tuch rasch abgenommen, und Irene schleppte sie vor den Spiegel, wo sie ihr Platz machte.

»Sputen Sie sich, bringen Sie sich in Ordnung, denn die erste Nummer ist der ungarische Chor.«

Therese fühlte einen Schwindel. Das ganze Bild kam ihr so unerwartet, daß sie kaum fähig war, ihre Gedanken zu ordnen. Sie ward von der Massenstimmung erfaßt und tat wie die übrigen. Sie trug die Schminke auf ihrem Gesichte gleichmäßig auf und ordnete die Haare. Es war aber auch schon die höchste Zeit. Ein kleiner Knabe in weißen Strümpfen, schwarzen Lackschuhen, weißer Perücke und rotem, goldverziertem Kleide trat in den Saal.

»Der Kehrichtjunge ist da! schrien die Ungarmädchen. Eilen!«

»Vengerski-Chor ... Vengerski-Chor ...«

Irene, Maca und Gabi nahmen Virginia in die Mitte und schoben sie durch eine kleine Seitentür auf eine Treppe, von wo sie sich nach der Bühne drängten. Von der anderen Seite näherten sich ihnen einige Männer. Auf der Bühne gab es eine Walddekoration; unter der Laubhütte ein Klavier, daneben ein kleiner, schwarzer Mann mit rasiertem Gesichte.

»Was werden wir singen?« frug die eine Dame, eine Solistin, in deutscher Sprache.

Der Mann am Klavier flüsterte ihr zu:

»Minek a szöke ... Kerek ez a zsemlye ... Ott tul a rácson ... Schönau-Walzer ...«

Die Mädchen standen alle auf; in der Mitte standen die kleinsten, an den beiden Flügeln die größten; sie bildeten einen Halbkreis; die Männer saßen vor ihnen auf der Erde. Der Kapellmeister schlug auf die Tasten und sie begannen ohne jede Stimmenverteilung, ohne eine Spur von Abgestimmtheit oder Zusammenspiel drauflos zu singen: »Minek a szöke énnekem, mikor én a barnát szeretem.« Einzelne Mädchen gaben keinen einzigen Laut von sich, sondern machten nur Mundbewegungen. Auch Therese tat so, damit man unten nicht glaube, daß sie an der Produktion nicht teilnehme. Die Einzelheiten sah sie noch nicht klar, sie starrte nur in die Flut der elektrischen Lichter, in den mächtigen, mit goldenen Säulen gezierten Saal, in dessen Mitte unter Palmen der vergoldete Gipskopf Napoleons auf die Bühne blickte: der Saal hieß der Napoleonsaal. Eine endlose Reihe von Tischen war in strammer Ordnung aufgestellt und Kellner in russischer Nationaltracht gingen auf und ab; ein befrackter Herr eilte durch den Raum. Publikum war kaum noch zu sehen. Es war gegen halb elf Uhr. An etwa zehn bis fünfzehn Tischen mochten Einzelne verstreut sitzen, während der Halbkreis der bordeauxsamtenen Logen im ersten Stocke noch ganz leer war. Vor der Bühne befand sich ein Orchester, in dem die Musikanten herumlungerten, aber das Podium des Kapellmeisters war noch leer. Und mit gelangweilter Miene und Stimme, gleichgültig, leblos klang es: »Ha kicsiny ajkad csókolom. Magam a mennybe gondolom.« Und ohne jede Pause oder Übergang folgte: »Kerek ez a zsemlye ...«

»Das also ist das Theater, dies die Kunst?« dachte sich Therese, »deswegen bin ich nach Rußland gekommen? Das ist gewiß nur die Einleitung, die Vorstellung folgt später ...« Der Chorgesang war beendet und die Solistin trat in die Mitte. Sie verneigte sich, legte die rechte Hand auf die linke Brust, beschrieb dann mit der Rechten einen weiten Bogen, dann legte sie die linke Hand auf die rechte Brust und begann mit leidender Miene und verträumten Blicken zu singen: »Ott tul a rácson egy más világ van.« Unten kamen und gingen die Leute, Stühle wurden gerückt, ganze Familien ließen sich nieder; niemand beachtete den schmachtenden Gesang, nach dessen Beendigung nur ein bis zwei Kellner applaudierten. Dann stand aus der Reihe der Männer einer auf, der als neapolitanischer Barkenführer verkleidet war, und sang mit seiner gutturalen Tenorstimme zwei italienische Lieder. Der italienische Sänger gehörte programmgemäß zum ungarischen Chor. Während der Italiener sang, richteten die Mädchen ihre Toiletten und betrachteten die Gäste. Gabi kniff Therese und sagte ihr:

»Siehst du, dort unten in der Mitte, das ist der Wolkow, der heute zum ersten Male wieder hier ist. Er ist ein reicher Grundbesitzer aus Tula, er hat auch Kohlenbergwerke. Er geht immer als Muschik gekleidet herum. Wir nennen ihn ›den Bauer‹. Seine Freundin war hier im ungarischen Chor ... die kleine Sophie ... aber sie ist gestorben ... das war ihr Kleid ...«

Und sie zerrte an dem Kleide Thereses. Das arme Mädel erzitterte. Sie wußte gar nicht mehr, was um sie herum geschah; es war ihr, als ob kalte Hände ihren Leib streichelten und sie den schweren Duft von Totenkränzen einatmete. Sie trug das Kleid einer toten Vengerka am Leibe, die gleich ihr von Budapest hergekommen war, hier erkrankte und starb? Es war nicht schön von Madame, daß sie ihr gerade dieses Kleid gegeben hatte. Sie fröstelte. Als sie wieder Herrin ihrer selbst war, tanzte Maca schon mit einem Mann Csárdás in der Mitte der Bühne, während der ganze Chor »Huj, hajrá« schrie. Zum Schluß verbeugten sich alle im Chor, dann wandten sich alle zum Gehen und rissen Therese mit. Kaum waren sie draußen, so erschien am Dirigentenpult ein schlanker, hoher Mann mit schwarzem Bart und erhob seinen Taktstock, worauf das ganze Orchester ein Tonstück anstimmte. Therese blickte durch eine kleine Öffnung in der Kulisse in den Saal und dachte sich, welch ein schöner Mann der Dirigent sei. Doch der Strom riß sie fort, und vor der Uporna wartete Amélie auf sie.

»Nun, Virginchen, wie gefällt's? Haben Sie sich schon eingelebt?«

»Worein?« hätte sie fragen mögen, doch sie besann sich eines andern und antwortete bloß:

»Gewiß, das Ganze ist ja so leicht ...«

»Jetzt gehen die anderen Damen alle nachtmahlen, sie pflegen etwas von Hause mitzubringen. Von morgen angefangen werden Sie es auch so machen ... Heute können Sie mit mir kommen ...«

Sie gingen durch eine Seitentür in einen kleinern, dunklen Saal, der nur von einigen elektrischen Lichtern beleuchtet war; da saßen die Mädel verstreut an sechs bis sieben Tischen. Sie kramten aus Tüchern, Papierstücken kalten Braten oder Schinken heraus; die meisten hatten gar keinen Teller und fielen mit der bloßen Hand über das Essen her.

»Sehen Sie, das ist ein wahrhaftiges Bohême-Leben,« meinte Amélie lächelnd. »Nur nicht Umstände machen ... Das ist ja nur ein kleines Kräftesammeln, eine Vorspeise ... Das feine, teure, warme Nachtmahl, der Champagner, hängt dann von der Geschicklichkeit der Mädel ab.«

Sie setzten sich an einen Tisch, wo Maca mit dem italienischen Sänger saß. Dieser Tisch war ordentlich gedeckt, ein kalter Kapaun und Rotwein mit einigen Stücken Brot standen für Amélie bereit.

»Setzen Sie sich, kleine Virginia, und bedienen Sie sich ... Nur so mit der Hand ... wir geben nicht viel auf Förmlichkeiten ... Aber morgen müssen Sie schon selbst für sich sorgen ...«

Therese ließ sich nicht lange bitten und ließ sich das weiße Fleisch mit dem Brot munden. Maca unterrichtete sie:

»Die Hauptsache ist, mein Kind, den Chor blasen zu lassen. Die Damen dürfen nicht selbstsüchtig sein. Wenn sich ein Kavalier findet, muß man darauflos arbeiten, daß er den Chor im Kabinett blasen lasse ...«

»Was heißt das?« frug Therese neugierig.

»Mit Worten läßt sich das nicht erklären, du wirst es in der Praxis schon erlernen,« meinte Maca mit gelangweilter Miene; damit, was sie sagte, wollte sie nur der Direktrice zu Gefallen sein. Sie reichte das Gabelbein des Kapauns dem Italiener, damit er es zerbreche. Wer die Gabel in der Hand behält, dessen Gedanke wird in Erfüllung gehen ...

Draußen spielte die Musik und man vernahm den Gesang einer Wiener Sängerin; später strömte gleich einer Herde der Zigeunerchor herein. Es mochten ihrer fünfzig gewesen sein. Es waren braune Gestalten aus dem Kaukasus mit blendend weißen Zähnen, junge Mädchen, kaum den Kinderschuhen entwachsen und Frauen, die obschon erst 25-26 Jahre zählend, schon alt waren ... Ihre roten und gelben Seidenfetzen und nach Tartarenart gewobenen Stoffe warfen bei jedem Schritte üppige Falten, die Männer stolz und gebieterisch, wie die Stiere der Herde. Mit großem Lärm fluteten sie in den Saal. Auch sie hatten ihr Abendbrot mitgebracht.

Ihnen folgte ein befrackter Herr, der spähend herumging. Therese hatte ihn schon früher von der Bühne aus bemerkt. Amélie eilte ihm entgegen, führte ihn zu Theresens Tisch und stellte ihn in deutscher Sprache vor:

»Der Herr Proswoditl ... Mein Kind, das ist der Herr Geschäftsführer ... Ihr Hauptbestreben muß sein, seine Zufriedenheit zu erlangen ...«

»Neues Mädchen? ... Hübsch ... hübsch ...«, wiederholte der Proswoditl, indem er Thereses Wange streichelte und weiterging.

Überall folgten ihm ängstliche Blicke. Ein Wort von ihm, ein Wink bloß und der Betroffene muß das Lokal verlassen. Nur einer ist ein noch größerer Herr als er, das ist Sudakow, der Direktor. Den bekam aber Therese heute abend nicht zu sehen. Bald darauf ging auch Amélie weg. Maca ging mit dem Italiener Arm in Arm ebenfalls fort, und die neue Vengerka blieb allein. Vieles kam ihr in den Sinn, was sie über Mädchenhändler und Bordellhäuser gelesen hatte, und sie frug sich entsetzt und angeekelt, ob dies auch ihr Verhängnis werden sollte? Aber nein! Aus dem Innern des Saales dröhnte der Applaus herüber, es wurde eine französische Sängerin gefeiert; das ist ja doch ein Theater, da wird die Kunst gepflegt und das Talent kommt vorwärts ...

»Ausdauer! ... Mit der Zeit werde auch ich meinen Weg machen!« so sprach sie sich Mut zu. »Madame Amélie irrt sich sehr, ich setze mich nicht neben Herren, ich mag kein warmes Nachtmahl, keinen Champagner ...«

Von Zeit zu Zeit kam ein Diener in russischer Nationaltracht herein, ging zu einem der Tische, rief eine Ungarin oder Zigeunerin heraus; dann kamen Herren, die Wein bestellten, und mit einem Male hielt der ganze Zigeunerchor seinen Auszug.

Ein hochgewachsenes, schwarzes Mädchen trat an den Tisch Thereses:

»Guten Abend, Fräulein ... ich sehe, Sie sind ein neues Mädchen ... Wenn Sie gestatten ...«

Und sie setzte sich.

»Es freut mich, wenn ich Gelegenheit habe, mich auszuplaudern,« meinte Therese. »Ich heiße Virginia Halas.«

Plötzlich wurde sie sich instinktiv der Notwendigkeit bewußt, hier einen »Künstlernamen« zu tragen; sie begriff, daß hier alle bestrebt seien, den Namen der Eltern geheimzuhalten. Virginia erhielt diesen Namen von Amélie, zu Hause hieß sie im Theater Goldfischlein, und so wurde aus ihr Virginia Halas (Fischer).

»Ich heiße Karolina,« sagte die andere. »Wir haben hier keinen Familiennamen, wozu auch?«

Sie war nicht mehr jung. Oder doch? Wer konnte es sagen? Große Müdigkeit sprach aus ihren Zügen, stark eingeprägte und doch fast glatte Falten, wie sie nur durch die in langen Krisen gereiften, ruhigen, selbstbewußten Entsagungen geschaffen werden. Sie war sich über ihr Schicksal vollkommen im klaren und gehörte zu jenen Traurigen, für die das Leben keinen Reiz, keine Aufregung birgt, sondern einfach Routine bedeutet. Hier und da erleben sie zwar noch flüchtige Aufwallungen, das Blut flammt manchmal noch auf, aber auch das ist nur mehr eine physiologische Erscheinung, die mit der Fülle des Lebens nichts zu schaffen hat. Es gehört zu den Gewohnheiten solcher Menschen, gleich auf die nackte Wahrheit überzugehen. Auch Karoline sagte Therese ohne jeden Übergang:

»Bleiben Sie hier im Chor, so sind Sie verloren. Geld verdienen und Ihr Glück begründen können Sie hier nur dann, wenn Sie Solistin werden. Der Chor besteht aus lauter Bettlern, die elend sind wie meine Wenigkeit. Sie sind erst heute gekommen und haben noch kein wahres Wort gehört. Das Wichtigste habe ich ihnen soeben gesagt.«

Sie wendete den Kopf ab und wies mit dem Finger nach einer gewissen Richtung, als ob sie von ganz anderen Dingen sprechen würde, und fuhr fort:

»Sie ahnen gar nicht, wie sehr wir jetzt beobachtet werden. Dort rechts, neben dem Eingang, sitzt eine Blondine in blauer Seidentoilette, die beste Freundin der Frau Direktor ... Die holt ihr die meisten Mädchen ... Sie läßt kein Auge von uns ... Bitte, lachen auch Sie! ...«

Sie brach in schallendes Gelächter aus. Unwillkürlich lachte auch Therese, die die Lage sehr drollig fand. Die Späherblicke beruhigten sich, Karoline würde das neue Mädel nicht verderben.

»Koncsil! ... Koncsil! ... schallte es laut von allen Seiten.«

»Was heißt das?« frug Therese.

»Es ist 1 Uhr, die Vorstellung ist zu Ende ... Die Chöre müssen nun in den Saal gehen. Ich kann nicht bei Ihnen bleiben, das wäre verdächtig. Leben Sie wohl!«

»Ich danke Ihnen,« sagte Therese gerührt, denn sie fühlte, daß dieses traurige, müde Mädchen die Wahrheit gesprochen habe.

Sie erhob sich ebenfalls, und der große Exodus nahm seinen Anfang. Sämtliche Chöre stürmten gleich ausgehungerten Bestien in den großen Saal, wo sie bisher nicht eintreten durften. Die Zigeuner klapperten mit ihren Tamburinen, die rotgestiefelten Kleinrussen rannten, ein mehr als 150 Mädchen zählendes Rudel warf sich in wüstem Durcheinander auf das Geschäft: auf die Männer, die sich nach weißen Tischen, elektrischen Lichtern, Mädchen, Liebkosungen, geflüsterten Reden und Handgreiflichkeiten sehnten, mit funkelnden Augen, lächelnd die Erstürmung des Saales betrachteten.

»Die Mädel kommen! Die Vengerkas kommen!«

Dies ist der Augenblick, für den alle russischen Unterhaltungslokale erbaut wurden. Es gibt da keine Eintrittsgebühr, oder man hat bloß eine Kleinigkeit zu zahlen; die Varieténummern sind ersten Ranges, sogenannte hochbezahlte Attraktionen, gleich einem Konzert in Ostende, wo nicht einmal ein Caruso zu teuer gefunden wird, denn dort wird alles von der Spielbank bezahlt, während in Rußland alles durch die Mädel, durch die Chöre bezahlt wird.

Da sitzen die Männer, die russischen Halbbauern mit dem schweren Tritt; ihre Füße stecken in Stiefeln; sie haben ihre Edelhöfe, ihre riesigen Besitzungen verlassen und ihre Brieftaschen mit Rubelnoten gespickt, um nach Moskau zu kommen, wo sie in einem Zuge drei Tage lang trinken. Die Offiziere sitzen da, den an einem langen Riemen hängenden Säbel zwischen die Beine geklemmt. Zumeist sind es vier bis fünf arme Jungen, vor welchen die Mädel sowohl wie die Kellner sich fürchten, weil sie eine schwere Hand haben; indes findet sich gewöhnlich ein Sechster, der Erbe irgendeines geschichtlichen Namens, der für die übrigen bürgt; seiner Brieftasche entströmen die Rubelnoten und um ihn fließt der Champagner in Strömen. An einzelnen Tischen sitzen ganze Familien, Mann, Frau und erwachsene, heiratsfähige Töchter. In Rußland gilt es nicht für unanständig, Frau und Kinder in solche Unterhaltungslokale mitzunehmen, vielmehr ist das eine gewohnte Familienunterhaltung. Der Familienvater geht so weit, Mädchen zu seinem Tische einzuladen, denen er ein Glas Bier zahlt oder von der Bowle zu trinken gibt, wobei die Familie mit ihr artige Gespräche führt. Indes lebt weder das Aquarium, noch die Yard, noch die Strelna oder Mavretania von den Familien. Das ist nur so eine nationale Gewohnheit. Da gibt es Beamte und Studenten, Kaufleute und Ausländer, Diplomaten, die noch gestern im Petersburger Winterpalais zu tun hatten -- die Musik rauscht, der Kapellmeister Jurakowsky mit dem schwarzen Bart und den verträumten Augen läßt gerade einen fashionablen Tango aufspielen. Rings herum haben sich auch die Logen im ersten Stock gefüllt, und in der mittleren sitzt im Halbschlummer der befrackte Boris, ein Millionär, der beliebteste Gast des Lokals. Er ist von unermeßlichem Reichtum, in seinen Waldungen, Bergwerken kann man tagelang herumreisen. Im Vorjahre wurden 140 seiner Arbeiter wegen Meuterei nach Sibirien deportiert, wo sie unter den Augen bewaffneter Wachposten den Damm der neuen Amur-Bahn aufführen.

Doch was kümmert sich der Napoleonsaal um all das? Neben dem kleinen Boris sitzt Oterita, die berühmte spanische Tänzerin. Sie ist mit Edelsteinen über und über beladen und sitzend führt sie nach dem Rhythmus des Tango einen wilden, erregenden Tanz auf. Ihre Augen funkeln noch mehr als die in ihren Ohren hängenden Riesenbrillanten oder als ihr fabelhaftes Halsband. Die unten herumlungernden Chormädel, die sich zur Schau stellen, blicken neidvoll zu ihr auf. Wie leicht erwirbt die ihr Brot im Vergleiche zu ihnen.

Die kleinen Würmer aus dem Chor suchen einen Tisch. Sie gehen im Kreise herum und lächeln den Männern zu, von denen sie eine Einladung erwarten, oder sie setzen sich an einen benachbarten Tisch, von wo sie -- um ihren Ausdruck zu gebrauchen -- den Mann bearbeiten. Dieser große Markt beginnt um 1 Uhr nach Mitternacht.

Therese stand fremd und verlassen in dem großen Saale da; sie wußte nicht, was sie beginnen solle. Oh, sie war viel zu klug, um sich auch nur einen Augenblick länger Illusionen zu machen. Sie sah, wohin sie geraten war, und begriff plötzlich, welche Art von Schauspielerin aus ihr geworden sei. Und das Wort Karolinens klang ihr fortwährend in den Ohren: Nur wenn du Solistin wirst, kannst du deinen Weg machen; wenn du im Chor bleibst, bist du verloren.

Ja, aber bis dahin? Wie sollte sie den Anfang machen? Sie hatte kaum 20 Kopeken im Vermögen. Amélie versprach ihr für morgen zehn Rubel Vorschuß, aber was sollte sie damit in dieser fremden Welt beginnen, wo sie außer den Mitgliedern des Vengerski-Chores mit niemandem ein Wort reden konnte. Und wenn sie nach Ungarn zurückflüchten würde? Diese Frage verfolgte sie unausgesetzt; sie dachte schon daran, das Konsulat aufzusuchen, wo sie die Leute bitten wollte, sie nach Hause zu senden ... Aber das Konsulat ist ein kaltes Amt und man würde sie fragen, ob ihr ein Unrecht zugefügt worden sei. Diese Frage müßte sie verneinen. Sie ließ sich nach Moskau engagieren, war nun hier und basta. Welches Leben harrte ihrer übrigens daheim? Der traurige Blick der Mutter, das schadenfrohe Lachen der Freundinnen, die Rechnungen der Frau Lebán, die Ratenzahlungen für das Klavier! Nein, nein -- sie durfte nur reich, sehr reich heimkehren. In Gedanken versunken, bemerkte sie gar nicht, wie Amélie hinter ihr auftauchte.

»Nun, mein Kind? Warum so allein und so traurig? Ist es denn nicht wunderschön hier? Hat Sie jemand beleidigt?«

»Nein, Madame Amélie,« antwortete Therese mit einem erzwungenen Lächeln. »Aber alles kommt mir hier so fremd vor, und ich weiß nichts anzufangen. Ich kann nicht so, wie die anderen ...«

»Sachte, mein Kindchen,« flüsterte ihr Amélie ins Ohr, »nur Geduld, und alles wird gehen. Wenn Sie die Bekanntschaft eines Herrn machen oder wenn jemand dich anspricht (hier begann sie das Mädchen zu duzen), darfst du nicht trotzig oder abweisend sein. Du mußt vielmehr bestrebt sein, dich recht beliebt bei dem Herrn zu machen, damit er dir zuliebe jeden Abend hierherkommt, dir schöne Juwelen und Geld schenkt und Kleider kauft, kurz, dein Freund sei. Führe ihn an der Nase, ohne dich ihm hinzugeben. Wer das fertig bringt, wird hier bald reich, sehr reich. Hier in der Yard kannst du jungfräulicher bleiben als in einem Kloster. Du mußt acht geben, damit man dich im Kabinett nicht einmal streichle, denn wenn der Kellner dein Feind ist und dich anzeigt, wirst du vor die Tür gesetzt. Das ist ein Ort, so anständig wie eine Kirche.«

Damit ließ Frau Amélie, ein Apostel der Yard, Therese allein, die sich an einen Tisch setzte. Der Kopf brummte ihr noch von den geflüsterten Ratschlägen der Direktrice, als ihr Blick auf Wolkow fiel, auf den Gabi sie von der Bühne aus aufmerksam gemacht hatte. Es war Wolkow, der Bauer. Gewiß kam er auf sie zu, weil er das Kleid der toten Sophie an ihr erkannt hatte. Der bleiche, blonde, bärtige Mann murmelte russisch einige Worte und setzte sich neben Therese. Umsonst sagte sie ihm: »ich verstehe nicht ...« Wolkow blieb neben ihr und betrachtete gerührt das kleine, blaue Kleid.

»Vengerka?« frug er wiederholt.

»Da ... da ...« erwiderte sie, da sie dieses Wort als Virginia schon erlernt hatte.

Wolkow begann jetzt in gebrochenem Deutsch zu sprechen:

»Dieses Kleid ... Gott! ... Früher Sophie ... Haben Sie sie vielleicht gekannt?«

Virginia schüttelte den Kopf. Da eilte Karoline zu ihr:

»Kommen Sie, Fräulein. Wir gehen in das Kabinett.«

»Warten Sie«, sagte Wolkow und ließ ein Fünfrubelstück in ihre Hand gleiten.

»Wundern Sie sich nicht. Danken Sie!« sagte ihr Karoline in ermutigendem Tone, die sich dann lächelnd an den Russen wandte und das Wort sprach: »Passiva ...«

Wolkow nickte.

»Wir können gehen!«

Und Karoline ging mit ihrer Freundin fort, wobei sie ihr Aufklärungen erteilte:

»Er hat Ihnen fünf Rubel gegeben ... Nur so ... für nichts ... Als Glücksgeld ... Heben Sie es gut auf, am besten, Sie stecken es in einen Strumpf. Die Direktrice braucht nichts davon zu wissen, denn wenn es kein Kabinett gibt, ist sie fähig, Ihnen das Geld abzunehmen.

Ein Kellner trat an die beiden heran:

»Vengerski-Chor ... Kabinett pejtyi ...«

»Wir gehen in das Kabinett Nummer fünf ... Jemand läßt den Chor blasen ...«

Auf der Treppe begegneten sie anderen Mitgliedern des ungarischen Chors, die ebenfalls in das Kabinett Nummer fünf eilten. Virginia schloß rasch Bekanntschaft mit ihnen. Es mochten ihrer fünfundzwanzig sein.

»Was gibt's Neues in Budapest? Wie geht's der Mama Tomcsányi? Sind noch viele Mädel daheimgeblieben?«

Bevor sie in das Kabinett eintraten, flüsterte ihr Lencsi, die Freundin der Direktrice, die nicht Mitglied des Chors war und nur so aus Neugierde das Lokal besuchte, in das Ohr:

»Ich gratuliere, Fräulein Virginia, der Anfang ist günstig ... Wolkow gab Ihnen ein Fünfrubelstück ...«

Virginia kam gar nicht dazu, ihr zu antworten, die anderen drängten sie in das Kabinett. Es war ein größeres, doch äußerst einfaches, kaum möbliertes Zimmer. Nahe an der Wand, doch nicht unmittelbar daneben, stand ein breiter Divan, vor diesem ein Tischchen. Auf dem Tische Gläser und Flaschen; auf dem Divan saß ein blauäugiger Mann, dessen langer, blonder Schnurrbart bis unter das Kinn reichte; sein Kleid war neu, doch von der Talmi-Eleganz, die Handwerksleute am Sonntag zu entfalten pflegen. Neben ihm saß seine Frau in tabakbraunem Seidenkleid, die Haare zu einem hohen russischen Schopf gebunden; auf ihrem weißen Gesichte brannten rote, von genossenem Trunk herrührende Flecke; selbstzufrieden streckte sie ihre Füße aus, die in kleinen schwarzen Seidenstiefelchen steckten. Auf dem Kopfkissen des Diwans saß ein vierzehnjähriger Knabe im Matrosenkostüm. Ohne Zweifel Mann, Frau und Sohn, die sich in der Yard unterhalten wollen. Ihnen gegenüber Stühle für den Chor, im Hintergrunde ein großer Stehspiegel, in der Nähe der Stühle ein Klavier, vor dem Onkel Spiegel, der Kapellmeister des Vengerski-Chors, saß.

Lachend und flüsternd setzten sie sich im Kreise nieder. Die Solistin winkte dem Kapellmeister und im nächsten Augenblick sang der ganze Chor den Walzer: »Über Berg und Tal« aus der Operette »Királyfogás«, einen alten Walzer, der nur mehr im Programm der russischen Vengerkas und in der Erinnerung alternder Habitués von Provinzkaffeehäusern sein Dasein fristete. Therese wunderte sich darüber, wie bewegungslos der russische Herr und seine Frau dem Gesang lauschten. Sie waren fast düster und doch sah man ihnen an, daß sie sich dabei wohlfühlten, und als das Lied »Eg a kunyhó, ropog a nád« angestimmt wurde und Maca mit ihrem Tänzer in der Mitte des Saales einen feurigen Tanz aufführte, folgten sie mit sichtlichem Wohlgefallen dem Rhythmus des Liedes und nickten mit dem Kopfe dazu. Auf das italienische Lied waren sie nicht mehr neugierig.

»Danke«, sprach der Herr mit kurzem Kopfnicken.

Da trat Irene an ihn heran und sprach lächelnd:

»Ich bitte um ein klein wenig Glücksgeld für die Direktrice des Chors. ...«

Der Russe gab ihr dreißig Rubel und der Chor entfernte sich. Draußen im Korridor wartete schon Amélie, die das Geld rasch wegnahm, in ihr großes schwarzes, ledernes Ridikül steckte und fortwährend in klagendem Tone wiederholte:

»Welches Malheur, welches Malheur! Der kleine Boris ließ den ungarischen Chor suchen und ihr waret gerade bei diesem Lümmel. Er ließ daraufhin die Zigeuner kommen. Wenigstens hundert Rubel sind dahin. Woher soll ich das viele Geld für die Gagen nehmen? ...«

Offenbar waren alle an diese Raunzereien schon gewöhnt, denn es kümmerte sich niemand darum. Alles eilte in den Saal zurück. Therese war müde und schläfrig. Wolkow war bereits nach Hause gegangen.

»Wann können wir nach Hause gehen?« frug sie Karoline.

»Um fünf Uhr.«

»Und wenn ich früher gehen will?«

»Es ist nicht zulässig, der Direktor gestattet es nicht.«

Der Saal war schon zum größten Teile leer, nur an zehn bis fünfzehn Tischen saßen die Trinker, Offiziere und Mädel. Therese ließ sich mit einigen Kolleginnen an einem entlegenen Tische nieder und holte Malvinchen aus, die im verflossenen Winter in Budapest im Casino de Paris war, wo ein Journalist-Dichter sich in sie verliebt hatte. Seither standen sie in regem Briefwechsel miteinander und gerade heute brachte die Post wieder einen Brief von ihm. Gerührt, stammelnd las Malvinchen die rührseligen, schwärmerischen Zeilen, während die anderen auf die Ellbogen gestützt zuhörten.

Es war fünf Uhr und alle strömten in die Uporna, wo die vielen Mädchen gleich kreischenden Möven über die Garderobe herfielen.

»Dajtye minye suba ... Botyko! ...« klang es im Chor, denn es war schon Spätherbst und die kleinen, nur mit Halbschuhen bekleideten Füßchen mußten in Galoschen gesteckt werden. Die ersten Strahlen der Morgenröte erschienen über Moskau. Der Himmel war bewölkt, vor dem Tor der Yard stand eine Wagenburg. Wer einen Freund hatte, bestieg mit ihm den Wagen und das russische Roß fuhr mit seiner in teures Pelzwerk gehüllten Beute rasch davon. Virginia blieb allein.

»Na, gehen wir nach Hause«, meine Amélie.

Sie gingen über die Gasse. Jolly empfing sie herumhüpfend, mit freudigem Gebell.

»Heute hatten wir einen nicht eben guten Tag,« sagte die Direktrice. »Es freut mich, daß Sie immerhin fünf Rubel verdient haben, mein Kind ... Sehen Sie, nur für einen Blick, für nichts ... Der Russe ist ein wirklicher Kavalier.«

Therese war müde, abgespannt, sie empfahl sich und entkleidete sich in ihrem Zimmer rasch. Sie legte sich in das Bett und bedeckte sich. Noch im Halbschlaf hörte sie die anderen laut redend, lachend eintreten. Das Zimmer war finster, der blaue Vorhang ließ das Licht nicht eindringen ... Ihre Stubengenossin war noch nicht nach Hause gekommen ... Sie schlief ein.


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