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IV.

Der Theaterportier war an diesem Abend in festlich aufgeregter Stimmung. Er ließ seinen lichtblauen Rock à la Rákóczy durch seine Frau mit besonderer Sorgfalt ausbürsten, stellte sich in Stiefeln und in seiner weichselroten Hose vor den Spiegel, strich seinen Schnurrbart mit der Pomade, daß die beiden Enden sich dräuend in die Höhe richteten, und sprach:

»Schepsenes meint, das neue Stück werde durchfallen ...«

Schepsenes war der älteste Dekorateur des Theaters. Woher er den Namen hatte, wußte niemand zu sagen, doch war allgemein bekannt, daß er schon nach der vierten oder fünften Probe sein Urteil über das Stück abzugeben pflegte. Wohl gab der Direktor nichts auf derlei Gewäsch, trotzdem pflegte er den Mann so en passant zu fragen:

»Nun, Schepsenes, wie wird's werden?«

Schepsenes aber runzelte die Augenbrauen, schnitt eine Grimasse und meinte vom Stücke Veszprémys:

»Zu dünn ... schwach ... kein Erfolg ...«

»Na, Schepsenes, diesmal werden Sie mit Ihrer Kritik aufsitzen,« sagte der Direktor; aber insgeheim erschauerte er, denn vor der Premiere ist man abergläubisch, feig und voller Ahnungen.

Das ganze Theater war aufgeregt und gespannt. Auf der Bühne wurde Monte Carlo zusammengestellt; der Sohn des Marquis Trarieux macht nämlich die Bekanntschaft der schönen und steinreichen Gladys Worchester an der Riviera. Alles roch nach Farben; das eine Rasenfläche darstellende Linoleum wurde gerade nach rückwärts gezogen; der Dekorationsmeister formte seine beiden Handteller zu einem Trichter und rief zum Schnürboden hinauf:

»Schepsenes, lassen Sie das Meer und den Park herab!«

Inmitten des durch das Senken von Leinwandmauern verursachten Geräusches hörte man die Verfügung des Beleuchtungsinspektors: »In die dritte Soffitte mehr Grünes ...« Der Regisseur ließ noch einen prüfenden Blick über die Bühne gleiten, der Portier blickte auf die Uhr ... in zwei Minuten war es sieben. Was würde der Abend wohl bringen? Werden die Fauteuils im Parterre, der Logenkranz und die Massen der Galerie einen Erfolg oder einen Durchfall beschließen? Die Logenschließerinnen waren schon auf ihrem Posten, über dem schwarzen Kleide trugen sie heute eine ganz weiße Schürze, im Haare einen frisch gestärkten mächtigen Leinwandschmetterling.

Am Büfett prüfte der Pächter, der alte Onkel Brenneis, die belegten Brötchen, ob die Butterschicht darauf dünn genug sei; peinlich genau wog er den Schinken, der so dünn war, wie ein Blatt Seidenpapier, bevor er ihn mit der Kaisersemmel bedeckte. Oberhalb der Kasse wurde die Tafel angebracht, die besagte, daß für heute alle Karten vergriffen seien. Die Kassiererin folgte die vorgemerkten Karten den Stammgästen aus; auf der Straße wurden Parterresitze und Galerieplätze durch Agioteure insgeheim zu doppelten Preisen feilgeboten. Zuerst kamen Galeriebesucher, das Volk der Vorstädte; von der Ringstraße her drängte eine immer dichter werdende Menschenmenge dem Theater zu. Der Zuschauerraum war glänzend erleuchtet; jetzt traf der erste Einspänner ein, ihm folgte ein Auto, dann eine Reihe von Fiakern. Farbe, Leben und Lebhaftigkeit hielten ihren Einzug in das große Vestibül; auf dem roten Teppich erblühte ein ganzer Garten weißer, grüner, bunter Gestalten. Die Leute suchten noch nicht ihre Plätze auf, sondern veranstalteten gruppenweise kleine Jours, die Herren zumeist im Smoking, nur wenige im Frack; Bekannte wurden laut begrüßt; es herrschte hier eine besonders gute Laune, die nicht frei war von einem gewissen kecken Eigendünkel. Jeder dünkte sich ein Richter, der ein Urteil zu sprechen hatte, jeder hielt sich für eine wichtige Person. In der Menge erblickte man auch die Gegenparteien, die Theaterleute ...

»Na, was hört man ... du weißt ja?«

Die Gefragten antworteten mit verächtlichem Wohlwollen:

»Nun ja ... Erfolg ... Erfolg ... obschon das Stück mir speziell nicht gefällt.«

Der befrackte Direktor eilte von einem Platz zum andern, ein erzwungenes Lächeln auf den Lippen; sein Gesicht war bleich, aber er hörte nicht auf zu beteuern:

»Kolossal, ganz kolossal! ...«

Gleich einem treuen Hunde suchte der Theatersekretär die Kritiker mürbe zu machen:

»Nun, lieber Kende, wie waren Sie mit der Generalprobe zufrieden? Richtig, der Herr Direktor läßt Sie bitten, ihn morgen vormittag zu besuchen. Er will die ›Wäscher Liesl‹ durch Sie übersetzen lassen.«

Im Parterre saß noch kaum einer auf seinem Platze, die Menge der Plastrons füllte den Zwischenkorridor und aller Augen beguckten die sich allmählich füllenden Logen.

In dem großen Bienenkorbe wurde es immer lebhafter; im Orchester ein wüstes Durcheinander der Instrumente, die durch die Musiker gestimmt und ausprobiert wurden; aus der Flöte quollen kleine Pfiffe und Skalenläufe hervor, das Horn stimmte nur hie und da mit einem Akkord in das allgemeine Tongewirr ein, der tiefe Baß des Fagotts schien aus der Tiefe der Erde hervorzudringen, auf dem Timpan erklangen kaum hörbare kleine Schläge. Nun flammte auch der mittlere große Lüster auf, es war halb acht Uhr und das Publikum nunmehr versammelt, eine glänzende, lärmende Menge, die bekannten Typen der Budapester Gesellschaft: die jungen Leute aus dem Casino de Paris, vom Wagenkorso der Stefaniestraße, die Kartenspieler des Kasinos, die Männerwelt der Börse, die Frauenwelt des Donaukorsos und der Waitznergasse, alles in allem achthundert bis tausend Menschen, die bei uns die öffentliche Meinung der Premieren bilden, die aber in Wirklichkeit nichts mit dem wahren großen Publikum zu tun haben. Auf dem Balkon und auf der Galerie ein Schwarm begeisterter Ladenangestellter, verträumte, entzückte Näherinnen, die Verkäuferinnen der Hutgeschäfte, die am Sonntag Pesti Hirlap und Az Ujság kaufen, um die Sonntagsplaudereien Molnárs und Kóbors zu lesen.

Und in dieser wichtigtuenden Menge bemerkte niemand eine schwarzgekleidete alte Frau, die in schmerzlich gespannter Erwartung in der ersten Balkonreihe saß. Es war Thereses Mutter. Ganz betäubt und verwirrt saß sie da inmitten der lärmenden Menge; sie hatte noch nie einer Premiere beigewohnt; ihre Gedanken weilten übrigens ganz bei der Tochter, deren Schicksal heute entschieden werden sollte. Wenn sie Erfolg hatte und engagiert wurde, so wollte sie ihr das spöttische Geflüster der Nachbarn verzeihen, ebenso auch das Klavier und die Schande, daß sie am Ersten des Monats den Mietzins schuldig geblieben war und den Hausmeister um Nachsicht hatte bitten müssen, der ihr darauf erwiderte:

»Wenn Ihre Tochter im Fiaker fährt, so können Sie auch den Mietzins bezahlen.«

Sie wollte der Tochter dann auch die vielen bitteren, schlaflos verbrachten Nächte verzeihen, auch die Scham, mit der sie die teuren Toiletten und Wäschestücke empfing, nur sollte die innere Demütigung und das Seelenleid nicht vergeblich gewesen sein. Sie wußte gar nicht, was das Wort »Erfolg« eigentlich zu bedeuten habe, wie der Erfolg sich äußere, doch empfand sie eine unbewußte Angst vor dem Kommenden.

Therese saß in ihrem Rosatrikot, mit aufgelösten Haaren in ihrem Ankleidekabinett, zwei Kolleginnen leisteten ihr Gesellschaft. Sie zog ein kurzes Peignoir über das Trikot. Die Garderobefrau betrachtete sie mit Kenneraugen und sagte:

»Nicht einmal die Ilka Pálmay hatte schönere Knöchel ...«

Unausgesetzt ging es bei ihr ein und aus. Zuerst kam der Inspektor, um zu sehen, ob das ganze Personal versammelt sei. Dann kam ein kleines Mädchen mit einem riesigen Blumenkorb. Er war für die Erzsi Batist bestimmt; dann trat, sehr geräuschvoll, die Rosa Ligeti ein; sie schien gar nicht wohlgelaunt zu sein und war gar nicht höflich. Ihre Stimme war roh und befehlend:

»Gib acht, daß du nicht entgleisest. Ich soll dich nicht vergeblich gratis unterrichtet haben! Steh auf, entferne den Mantel!«

Therese stand vor ihr in einem dünnen Trikot, das ihre Haut durchschimmern ließ; ihre Füße steckten in goldenen Schuhen, ihre üppigen, aufgelösten Haare bedeckten ihre Schultern.

»Dein Gesicht ist nicht gut geschminkt, du hast zu viel Rot genommen,« sprach sie barsch.

Und während Therese sich umzuschminken bemüht war, trat der Direktor mit einem befreundeten Journalisten ein, der wie eine Leibwache ihn immer begleitete, stets nur Günstiges über ihn schrieb und frei in den Ankleideräumen sich bewegen durfte. Auch der Komponist war im Frack da, bereit, vor den Vorhang gerufen zu werden. Er hatte zwei Rosen in der Hand, die er zwei Damen überreichte, während er Therese nur kalt zunickte. Seit vorgestern hatte er sie nicht gesprochen. Diese Nichtbeachtung tat ihr weh, und doch erblickte sie darin eine gewisse Unterscheidung. Im übrigen hatte sie keine Zeit, sich hierum zu kümmern; sie wandte sich verschämt ab und zeigte den drei Männern den Rücken.

»Nicht schlecht!« lachte der Direktor.

»Wie immer sie sich wendet, hat sie genug zu zeigen,« meinte der Journalist geistreichelnd.

»Keine Ziererei, keine Affektation! Im Theater werden dich tausend Menschen sehen!« rief die Rosa Ligeti schrill dazwischen.

Sie standen da und betrachteten ihren jungen, frischen Leib, wie der Metzger das Vieh auf der Schlachtbrücke. Ein langes, schrilles Läuten, und die ganze Gesellschaft stob auseinander. Die Mädchen gingen auf die Bühne, wo sie noch das Geschimpfe der Primadonna vernahmen, die wütend darüber war, daß die Schneiderin etwas im letzten Augenblick brachte. Dann ertönte, wie aus weiter Ferne, das Spiel des Orchesters. Therese blieb in ihrem Rosatrikot allein im Ankleideraum zurück.

Die Lampen im Zuschauerraum erloschen und der Vorhang ging in die Höhe.

Thereses Mutter hörte die Musik, verstand die Worte, sah das Spiel und den Tanz der Schauspieler und Schauspielerinnen, und dennoch wußte sie nicht, was vorgehe. Sie war zerstreut und konnte das Auftreten ihrer Tochter kaum erwarten. Nach allen Gesangsnummern erscholl lauter Applaus; sie geriet gerade in die Reihen der bezahlten Claque; sie hörte, wie der Claque-Arrangeur seine Weisungen erteilte und von einem Blatte die Stichworte las, wo zu wiederholen und wo zu lachen ist.

Dann senkte sich der Vorhang; der Lärm wurde geradezu unerträglich, und vor dem Vorhang erschien ein Herr, der ihre Tochter öfter nach Hause begleitete. Er führte die Primadonna am Arme; sein Gesicht war fahl und er verneigte sich linkisch. Die Claque arbeitete aus Leibeskräften, die Leute schrien im Chor und mit gedehnter Stimme: »Den Komponisten, den Komponisten!«, während das Parkett und die Logen stumm und kalt diese vereinzelte Demonstration über sich ergehen ließen.

Unten ging der Direktor von Gruppe zu Gruppe:

»Bitte, nicht nach dem ersten Akt urteilen ... der zweite ist phänomenal ... Ein neues Mädchen ... ein so schönes hat Budapest noch nicht gesehen ...«

Der Sekretär hat schon zwölf Operetten den Journalisten zur Übersetzung gegeben, um sie zu gewinnen; die Gegenkomponisten gratulierten freudestrahlend dem Komponisten:

»Dein bestes Werk ...«

Sie waren fröhlich und voll des Lobes, denn der erste Akt war schmählich durchgefallen. Das Interessanteste aber war das Verhalten des Publikums. Schon nach einem Augenblick sprach niemand mehr vom Stück, jeder unterhielt sich über seine Privatangelegenheiten. Die große Spannung, die dem ersten Akte voranging, löste sich und als der Kapellmeister seinen Stab erhob, um das Zeichen zum Beginne des zweiten Aktes zu geben, hatte sich jeder mit müder Gleichgültigkeit gesetzt.

Die Dekoration war eine andere, auch die Schauspieler waren umgekleidet; Frau Witwe Ladány wußte, daß ihre Tochter in diesem Akte auftreten werde. Ungeduldig, zerstreut, hochklopfenden Herzens starrte sie auf die Bühne, als das Orchester mit voller Kraft das zweite Finale anstimmte und die Lakaien die Saaltür weit öffneten. Sechs Diener, die auf den Schultern eine goldene Platte trugen, traten ein, und auf der Platte lag zwischen einigen Blumensträußen ein nacktes Mädchen mit aufgelösten Haaren. Die Platte wurde auf den Tisch gestellt. Das war das erste Gericht: der Fisch. Alle Ferngläser richteten sich auf die Platte, das ganze Premierenpublikum wollte den neuen Leib sehen, der auf den Markt kam, man wollte darüber urteilen ... Und Goldfischlein erhob sich, stand auf und richtete sich auf. Als wäre das kleine Trikot ihr vom Leibe gestreift worden, als sie im grellen Lichte der elektrischen Reflektoren dastand; ein Herr im Parkett rief laut aus:

»Bravo!«

Großes Gelächter und Applaus. Der erste aufrichtige, starke Applaus des Abends. Die Nacktheit, die Jungfräulichkeit wurde beklatscht.

Hinter der Frau Witwe Ladány sprach jemand:

»Eine feine Haut! Schade, daß sie singt.«

Thereses Stimme kämpfte schwach und in kindischer Unsicherheit gegen das Tongewoge des Orchesters an; sie hatte die wenigen Zeilen zu singen, die sie zu Hause am Klavier so oft probierte, so daß ihre Mutter die Worte mit ihren ausgetrockneten Lippen unbewußt nachmurmelte. Dann wurde sie vom Tische gehoben und stand vor dem Souffleurkasten da. Alles Blut war der alten Frau aus dem Gesichte gewichen, als sie ihre Tochter, die Beute von tausend Augen und Gedanken, betrachtete; sie dachte an ihre eigenen Eltern; in einer Sekunde durchfuhr sie der Gedanke, was sie wohl dazu sagen würden, daß ihr Enkelkind den nackten Leib auf den Markt trägt; sie dachte an ihren Mann, den Professor, der die Kinder in der Schule in Zucht und Ehren erzog. Ihre Augen trübten sich, eine furchtbare Scham und Verzagtheit bemächtigte sich ihrer, und ohne selbst zu wissen, was sie tat, war sie schon draußen in der Garderobe; sie setzte ihren kleinen flachen Hut schief auf den Kopf und tränenden Auges schlich sie sich fort, um ihrer Wohnung zuzuwanken ...

Erst gegen Mitternacht kam Therese nach Hause. Sie kam in Begleitung der Frau Tomcsányi zu Fuß und war nachdenklich und zerstreut. Sie wußte gar nicht, was im Theater vorgegangen war. Nach dem Finale sprach niemand ein Wort zu ihr, sie sah weder den Direktor, noch Veszprémy. Als sie nach dem Aktschluß auf den Applaus hin vor den Vorhang gehen wollte, wurde sie von der Primadonna nervös angeschrien:

»Du wirst doch nicht so hinausgehen! ...«

Und sie schob sie zurück.

Weinend lief Therese in ihre Garderobe, wo die Ankleidefrau sie mit den Worten empfing:

»Schade um das Stück ... Das Fräulein war so schön darin. Es lohnt sich hier nicht, schön zu sein.«

Sie kleidete sich an, und Frau Tomcsányi kam ihr gerade in den Wurf. Die schnaubende, dicke Frau stand im Hofe und sprach sie entzückt an:

»Ach, mein Herz, mein Täubchen, wie wunderschön waren Sie doch ... Ich war nämlich auch dabei ... Und erst Ihr Organ! Das reinste Vogelgezwitscher ... Ich gratuliere! ich gratuliere! Wollen Sie nicht mit mir nachtmahlen?«

»Gleich,« erwiderte Therese, »ich will nur mal nachschauen, wo die anderen sind.«

Sie hätte gerne etwas Bestimmtes gehört, was eigentlich vorgegangen war. Auf der Bühne, in den Korridoren, in den Ankleideräumen war niemand zu sehen. Der Direktor ging allein nach Hause. Veszprémy war verschwunden, die Choristinnen gingen mit ihren Freunden fort. Nur den alten Schepsenes sah sie, der ihr die Bemerkung machte:

»Hätte der Direktor auf mich gehört, so würde er viel Geld erspart haben ... Ich habe ihm ja gesagt: Das Ding ist zu dünn ... Das Fräulein war der reine Zucker ...«

Und auch er verschwand in der Nacht. Der Durchfall war ein eklatanter, er trieb die ganze Gesellschaft für heute auseinander.

»Gehen wir!« sprach Therese zur Frau Tomcsányi.

Sie hatte das Bedürfnis, sich mit jemandem auszusprechen, ehe sie nach Hause ging. Sie kehrten in einem Wirtshause der Josefgasse ein. Das Lokal war beinahe leer.

Während sie ihr Nachtmahl verzehrten, frug Frau Tomcsányi leise:

»Nun, mein Kind, hast du darüber nachgedacht?«

»Worüber denn, Tante Tomcsányi?« frug Therese, in Gedanken versunken.

»Daß du dein Talent nicht hier in Ungarn für einen Pappenstiel verkaufst ... Ich habe seither an Amélie schon geschrieben, und der Kontrakt ist auch schon eingetroffen ... Schau her, mein Kind ...«

Sie entnahm ihrem Ridikül ein kleines Blättchen, eine lithographierte Drucksache, die sie auf dem Tisch ausbreitete ... Sie lasen zusammen:

Kontrakt,
kraft dessen ich mich verpflichte, Mitglied der ungarischen Truppe (Vengerski-Chor) des Yard-Theaters in Moskau zu werden. Hierfür empfange ich eine Monatsgage von fünfzig Rubeln nebst vollständiger Verpflegung und Wohnung ...

»Siehst du, mein Kind, das ist der Anfang des Glücks ... Wohnung und Kost ... Überdies fünfzig Rubel in den ersten Monaten ... Was braucht denn ein Mädel sonst noch? ... Und dort gibt es Geld in Hülle und Fülle ... Was kann hier aus dir werden? ... Erringst du einen Erfolg, so wird ja die Primadonna dich erwürgen, sie läßt dich gar nicht vor den Vorhang ... Schau nur, was Amélie im Begleitbriefe schreibt ... Denn ich habe ihr über dich viel geschrieben.«

Sie entnahm ihrem Täschchen einen Brief, bewaffnete sich mit einem Lorgnon und las den Brief so, daß auch Therese mitlesen konnte.

»Liebe mütterliche Freundin! (›sie schätzt mich nämlich sehr hoch!‹) Ich will das Fräulein, über welches du mir schriebst, wenn sie talentiert und geschickt ist, sehr gerne empfangen und ihr auch einen Kontrakt senden, den sie, wenn es ihr zusagt, unterschreiben kann. Es soll mich sehr freuen, wenn sie als Schauspielerin nach Moskau kommt, und sie soll ihren Entschluß nie bereuen. Natürlich muß sie die Schwierigkeiten des Anfanges überwinden und sie darf keine übergroßen Ansprüche oder Hoffnungen haben. (›das schreibt sie nur so, damit du nicht übermütig wirst!‹) Im übrigen können auch diese in Erfüllung gehen! (›Hörst du?!‹) In mir soll sie nicht bloß ihre Direktrice, sondern eine wohlwollende Gönnerin erblicken (›welch feine, edelherzige Dame!‹), die hier in der Fremde ihr den Weg weist und ihr ein Heim bietet (›das steht auch im Kontrakt‹). Der Russe ist der erste Kavalier der Welt; er will von einem Mädchen nichts anderes als Kunst haben, etwas Gemüt und frohe Laune, und dann zahlt er mit der größten Freigebigkeit. Hauptsache ist der Eifer und die Anständigkeit, dann kann die Künstlerin ein Vermögen erwerben.«

»Das übrige interessiert dich nicht, mein Kind, es sind Privatangelegenheiten ... Siehst du, welches Glück draußen in Rußland deiner harrt?«

Sie blickte forschend in die Augen des Mädchens und sprach, jedes Wort betonend, weiter:

»Dort hat es niemand auf deine Tugend abgesehen, will niemand dich für nichts und wieder nichts verführen, wie dieser Veszprémy ...«

Therese fuhr auf:

»Woher wissen Sie das?«

»Ach, eine so erfahrene Frau weiß gar manches.«

In Wirklichkeit wußte sie gar nichts, doch hatte sie auf dieser Laufbahn schon eine so lange Vergangenheit und so reiche Erfahrungen, daß sie gleich einem Arzte mit Leichtigkeit die Diagnose feststellen konnte.

»Hat jemand getratscht?« fragte Therese.

Frau Tomcsányi wollte alles sofort wissen.

»Man sagte, mein Kind, du wärest seine Geliebte geworden.«

»Wer das sagte, hat gelogen!«

Und Therese flüsterte ihrer Freundin die Ereignisse des gestrigen Nachmittags ins Ohr. Dann schwieg sie, sie war müde, erschöpft. Die Erregungen des Abends und die der Premiere folgende öde Stille stimmten sie traurig. Lange sprach sie kein Wort, sie dachte an ihre Mutter und daran, daß es vielleicht doch besser wäre, zur Schreibmaschine zurückzukehren ... Doch dann schüttelte sie den Kopf ... Unsinn! Sie würde eine Künstlerin sein ... Und wenn die Primadonna darob von Neid bersten sollte ... ja doch eine Künstlerin ...

Frau Tomcsányi zahlte, und sie gingen langsam nach Hause. Die Ringstraße war still und leer.

Vor dem Haustor angelangt, fragte Frau Tomcsányi:

»Was soll ich der Amélie antworten?«

»Nichts ... Ich will morgen den Kontrakt im Theater unterschreiben ...«

Ihre Mutter war noch wach, sie hatte bloß den Hut abgelegt und saß noch immer so da, wie sie aus dem Theater nach Hause wankte. Sie saß in ihrem schwarzen Kleide in der Küche, auf einem alten schlechten Stuhl, einem Überbleibsel der guten alten Zeiten. Nach Art trauernder Familienmitglieder saß sie nicht mit dem Gesicht gegen den Tisch, sondern sie stellte den Stuhl zur Seite des Tisches und stützte sich mit den Ellbogen auf ihre schwachen Knie ... Seit zehn Uhr dachte sie fortwährend nach, und ihr Gesichtsausdruck verlor den gewohnten Charakter abgestumpfter Gleichgültigkeit. Der Schmerz, die Bitterkeit machten sie sentimental, zugleich aber entschlossen, ihre Züge klärten sich. Ihre unterdrückten, absichtlich begrabenen Empfindungen gewannen wieder die Oberhand.

»Sie haben sich noch nicht zur Ruhe begeben?« frug Therese bei ihrem Eintreten die Mutter. Fast mechanisch setzte sie fort:

»Nun, wie habe ich Ihnen gefallen?«

Die alte Frau erhob sich von ihrem Sitze; ihre Stimme klang hart, sie verlor den Ton der Resignation, der Therese seit langem bekannt war; der entschlossene Wille war aus dieser Stimme herauszufühlen. Mit würdevoller Miene, wie sie der Witwe eines Staatsbeamten geziemt, sprach sie die Worte:

»Entweder wirst du das Theater sofort verlassen oder du gehst morgen aus meinem Hause. Ich habe dich nicht zu einer Allerweltsdirne erzogen.«

Und sie ging in das dunkle Zimmer hinein ...

Diese Erklärung traf Therese nicht gerade unerwartet. Sie zuckte die Achseln und legte sich nieder. Sie löschte die Lampe aus und starrte unbeweglich ins Finstere. Sie war müde, überdies aber von einer Unruhe und Unzufriedenheit geplagt; sie empfand schon, daß das, was mit ihr vorging, kein Spaß sei. Die Erlebnisse des letzten Abends zogen in verworrenen Bildern an ihrem geistigen Augen vorüber und sie hätte am liebsten weit, weit von hier, in einer neuen Welt, unter unbekannten, fremden Menschen geweilt.

Frau Tomcsányi, Rußland kamen ihr in den Sinn. Wenn die Mutter sie aus dem Hause jagte, so würde sie nach Rußland gehen. Doch ward sie plötzlich von einer nervösen Furcht erfaßt ... Nein ... nein ... sie wollte doch lieber zu Hause bleiben ... Es war ja nichts geschehen ... Der Direktor sagte erst vorgestern, sie solle nach der Premiere den Kontrakt holen, der Komponist werde sich schon versöhnen lassen ... Daß sie nicht in der Wohnung der Mutter bleibt? Tut nichts ... Sie hatte sich ja ohnehin immer schämen müssen, wenn jemand sie dort besuchte ...

Die Witwe des Staatsbeamten aber weinte auf dem aus der Küche in das Zimmer geschobenen kleinen Eisenbette still vor sich hin ...

Therese stand am nächsten Morgen früh auf, eilig zog sie Strümpfe und Schuhe an; noch in Unterröcken stehend, schlüpfte sie in den Mantel, drückte eine Mütze auf den Kopf und lief hinunter, um sich einige Zeitungen zu holen. Was die wohl über sie schreiben? Sie sah ihren Namen mit gesperrten Lettern gedruckt. »Therese Ladány ist eines der gewöhnlichen Pflänzchen der Theaterschule. Solange sie nackt ist, singt sie schön, aber sowie sie den Mund zum Singen öffnet, ist sie sogleich in Pelze gehüllt.« Sie verstand nicht gleich, was das bedeuten soll. Im »Népszava« (Volksstimme) hieß es: »Die Ligetische Theaterschule hat wieder einmal ein nacktes Mädchen geliefert. Dieses Kulturinstitut verwechselt sich mit einer anderen öffentlichen Institution ... Das Fräulein tut uns leid -- und darum wollen wir diesmal keinen Namen nennen -- wir bedauern sie, daß sie ihr Brot auf diese Art verdienen will ...« Dann kam eine dritte Kritik: »Die Theaterschule der Rosa Ligeti warf einen neuen Schatz auf die Operettenbühne. Therese Ladány steht vor einer großen Zukunft, sie besitzt schon jetzt eine wunderbare Gestalt und prächtige Formen, das andere kommt von selbst ...« Dies schrieb der Leibgarde-Journalist des Direktors.

Die Mutter sprach an diesem Morgen kein Wort zu ihr; sie räumte auf und arbeitete im Hause in gewohnter Weise, dann ging sie in die Markthalle. Mittlerweile hatte Therese sich angekleidet, damit sie um halb zwölf Uhr bei dem Direktor erscheinen könne. Vor dem Theater schien die Gasse wie ausgestorben; die Kassiererin mit den gelbgefärbten Haaren saß in ihrer Klause und las einen Roman.

»Wird am Abend Publikum da sein?« frug Therese die Kassiererin.

»O, wir werden ein selten schönes Haus haben!« antwortete das Fräulein, ohne aufzublicken.

»Gott sei Dank,« bemerkte Therese, ohne den ironischen Beigeschmack der Antwort zu erfassen, in welcher der Akzent auf dem Worte »selten« lag. Die Leute werden eben sehr »selten« sein.

Sie eilte flink in den ersten Stock und öffnete mit breiter Geste die Glastür des Sekretärs. Wie ein Kind an den Brüsten der Mutter, so hing der saure, kahlköpfige Sekretär diesen Vormittag an der Telephonmuschel. Er war bestrebt, eine Unzahl Freikarten Schneidern, Hutmachern und anderen anzuhängen, die das Theater beschäftigte und auf diese Art zu bezahlen suchte. Dann mußte er den Journalisten abwinken, denen er die Übersetzung von Operetten zugesagt hatte. Überdies mußte er alle fünfzehn Minuten dem Veszprémy antworten, der fortwährend wissen wollte, wie es um die Kasse stehe.

»Schwach, sehr schwach!« lautete die stereotype Antwort.

Als Therese eintrat, sprach der Sekretär gerade telephonisch mit dem Direktor. Er sagte kurz:

»Schlimm ... ganz schlimm ... gar keine Logen ... Parkett kaum einige Sitze ... Jawohl ... die kleine Mizzi Lenkey wird schon ...

Er legte die Muschel hin und blickte auf Therese. Er stand auf, reckte sich und begann sich mit der linken Hand unter dem Rücken zu kratzen.

»Nun, was gibt's, Fräulein Künstlerin?« frug er nicht ohne Ironie.

»Liebstes Sekretärchen! Ich sprach mit dem Direktor und wir vereinbarten, daß ich heute meinen Kontrakt abholen sollte ...«

» So, den Kontrakt?« sagte der Sekretär gedehnt. »Ja, damit hapert's.«

»Wieso denn?« fragte Therese erschrocken.

Der Abwechslung halber kratzte sich jetzt der Sekretär mit der Rechten tief unter dem Rücken und antwortete mit breitem Lächeln:

»Die Primadonna tritt nicht auf, wenn Fräulein Ladány auftritt ... Darum wird schon heute Abend, wie Sie ja gehört haben, Mizzi Lenkey das Fischlein darstellen.

»Unmöglich ... aber warum denn?«

Der Sekretär streckte seine langen Arme aus:

»Die Primadonna ist eben eine Bestie und wütet, weil man Ihnen gestern applaudiert hat ...«

»Aber meinen Kontrakt kann dies doch nicht berühren?«

»Doch ... Wer weiß denn, wann Sie wieder eine solche Ihnen ›auf den Leib geschriebene‹ Rolle bekommen werden? Es tut mir sehr leid, Fräulein, wir können Sie nicht engagieren.«

Das Telephon klingelte scharf, es war wieder der Komponist.

»Warten Sie, ich will mit ihm sprechen ... sprach Therese aufgeregt; fast hätte sie die Muschel dem Sekretär aus der Hand gerissen.

»Hallo ... Dezsö ... jawohl ... hier Therese! Bitte, tun Sie doch etwas ... man will mich nicht engagieren ... Sie werden sehen, ich will Ihnen dankbar sein ... was Sie nur wollen ...«

Sie legte die Muschel nieder. Dezsö Veszprémy will von ihr nichts wissen, er kann nichts tun. Die Tür ging auf, der Direktor trat ein.

»Herr Direktor« -- bat Therese flehentlich -- »ich bitte, wollen Sie mich doch engagieren ... Was soll ich denn ohne Engagement anfangen? ... Ich muß mich sonst töten ... Kann ich denn dafür, daß man mir applaudiert hat ... Es handelt sich ja nur um monatlich hundert Kronen ...«

»Fräulein,« erwiderte der Direktor streng, in einem so trocken-geschäftlichen Tone, wie ihn Therese von ihm noch nie gehört, »laut den Kritiken sind Sie auf der Bühne in einer anstößigen Toilette erschienen, was in meinem Theater unzulässig ist. Im übrigen sind Sie ja eine Elevin der Theaterschule Ligeti und müssen als solche, falls nötig, gratis auftreten ... Ich empfehle mich ...«

Weinend lief sie die Treppe hinab. Der dicke Schauspieler kam gerade herauf ...

»Na, was gibt's denn, Goldfischlein?«

»Denken Sie sich mal ... man will mich nicht engagieren ...«

»Habe ich's nicht immer gesagt? ... Das Theater ist eine Mördergrube ... aber ein so schönes Mädchen kommt ja doch nicht in Verlegenheit.«

Goldfischlein eilte zur Rosa Ligeti:

»Gnädige Frau ... der Direktor wird Ihnen gewiß Gehör schenken ... Erklären Sie ihm doch, daß dies unmöglich sei ... Wir haben ein Klavier gekauft, ich ließ Toiletten anfertigen, wie soll ich das alles bezahlen? ...«

»Oh, um ein schönes Mädchen ist mir nicht bang!« antwortete die Ligeti. »Sie werden das Geld schon verdienen, mein Kind,« fügte sie mit Nachdruck hinzu.

Plötzlich wurde da auch ihre Stimme eine geschäftsmäßig-kalte:

»Richtig ... die Begünstigung der Befreiung vom Schulgelde hat aufgehört; wenn Sie mein Institut weiter besuchen wollen, müssen Sie monatlich sechzig Kronen zahlen ... Was ist denn das für ein so schönes Mädchen ...«

Und sie ließ Therese stehen. Goldfischlein aber -- von diesem Namen müssen wir uns jetzt für immer verabschieden -- stand mit wüstem Kopfe auf der Straße. All dies hatte sich in anderthalb Stunden ereignet; was sie seit langen Wochen aufzubauen bestrebt war, stürzte plötzlich krachend und polternd zusammen; aus war's mit dem Ruhm, mit den Zukunftsträumen, mit dem erhofften Reichtum, und sie stand vor einem großen Fragezeichen. In die Theaterschule würde sie nicht mehr gehen. Was konnte sie denn von diesen bösen Menschen erwarten, die, wenn ihr Interesse es erforderte, Schmeichler waren und Freundschaft heucheln, dann aber plötzlich, ohne jeden Übergang zu gleichgültigen oder gar feindselig gesinnten Fremden wurden ...

Auch sonst schien ihr die Theaterschule, das Diplom zur Kunst, nicht unbedingt erforderlich zu sein. Sie absolvierte ja sechs Bürgerschulklassen, viel mehr, als die meisten Theaterelevinnen; sie war auch besser ausgebildet als die meisten anderen ... Das beste würde wohl sein, wenn sie am Nachmittag den Artistenklub aufsuchte und sich an ein Kabarett engagieren ließ.

Ihrer Mutter gegenüber erwähnte sie nichts von der erlittenen Schlappe. Die schweigsame Alte hatte ihr Mittagessen schon verzehrt und warf ihrer Tochter nur einen traurigen Blick zu. Therese wich diesem fragenden Blick aus und sah verstohlen zur Seite. Alles daheim kam ihr so fremd vor.

»Was willst du denn?« schien das Klavier zu fragen; die mächtigen Hutschachteln auf dem Kasten schienen höhnisch zu lachen, und der Theaterzettel über die gestrige Premiere spöttelnd zu rascheln.

Zornig zerknitterte sie das Papier, um es dann in den Kehricht zu werfen. Sie wagte es nicht, die Schreine zu öffnen, weil sie die vorwurfsvollen Fragen der teuren Toiletten und Wäschestücke befürchtete.

»Was wird denn werden?« diese Frage schallte ihr aus allen Winkeln der ärmlichen kleinen Wohnung entgegen.

Es war ein stiller, sonniger Oktobertag; auf einen bewölkten, kalten, regnerischen Sommer folgte ein freundlicher, warmer Herbst; doch Therese fröstelte es, sie zog ihr Tuch fester um die Schultern zusammen und fühlte sich von einer unendlichen Müdigkeit und Langweile angeödet. Sie dachte daran, wie ihr ganz anders zumute wäre, wenn sie einen guten Freund oder einen Geliebten hätte, zu dem sie sich jetzt flüchten, der die öde Leere in ihrem Herzen ausfüllen könnte.

Ganz mechanisch kleidete sie sich an, und ohne sich von der Mutter zu verabschieden, ging sie in die Stadt. Der Abend senkte sich herab; die elektrischen Lichter der Geschäftsläden flammten auf, und es näherte sich die Zeit, da sie in das Theater gehen sollte, um sich zu schminken. Sie blieb vor den Theaterzetteln stehen; das orangefarbige Papier kündete noch ihren Namen, wie wenn einer zwar tot ist, die Tafel mit seinem Namen aber weiter auf der Tür draußen bleibt ...

Sie war vor dem Artistenklub angelangt. Drinnen qualmte der Rauch, die Parias und die Parasiten der Kunst bevölkerten in dichten Schwärmen die Tische. In einem Winkel saß der KKK beisammen, das bedeutet den »Klub kluger Knaben«, bestehend aus einigen Journalisten und katilinarischen Existenzen. Mitglieder des Klubs konnten nur solche sein, die von allem wußten, was in den Pester Unterhaltungslokalen und Kneipen geschah. Mit wahrem Feuereifer warfen sich die Mitglieder des KKK auf die Intimitäten der Kneipen, und ihre ganze Lebensenergie erschöpfte sich in diesem Kreise.

Im KKK wußte man schon, daß Therese kein Engagement bekam. Die Nachricht wurde von einem Choristen des Orpheums überbracht, dessen Frau Choristin im Theater war und die Sensation vom Sekretär erfuhr.

»Komm her, Thereschen!« klang es ihr entgegen.

»Mach' dir nichts daraus, dies ist das Schicksal jedes Talents!« tröstete sie Johann Hollós, ein kleines Männchen mit gebogener Nase und vorfallenden Schultern, der eigentlich Samuel Vogelbraun hieß, in die Literatur jedoch unter dem Namen Johann Hollós einzog. Eine gewählte Eleganz erhöhte das Eindrucksreiche seiner äußeren Erscheinung. Er schwärmte für große, üppige Weiber, neben denen er eine komische Mißgeburt zu sein schien. Auch jetzt war er von zwei, drei üppigen, mächtig entwickelten und glutäugigen Frauenzimmern umgeben, auf die er sich, gleichsam wie auf lebende Fauteuils, stützte.

Plötzlich wandte er sich an seine Freunde:

»Kaufen wir Thereschen an, gründen wir auf sie eine Aktiengesellschaft. Wenn sie vom KKK gemanagert wird, muß sie bald die populärste Dame in Budapest werden ... Eine große Dame ... Ich lasse sie für die Herbstausstellung malen, ihr Bild in illustrierten Zeitschriften verbreiten, wir lassen sie im Kabarett Medgyaszay auftreten und dann rennen. Wir soutenieren sie und teilen uns dann in ihren Verdienst. Ich denke, das muß ein gutes Geschäft werden ...«

»Und du kannst am Ende noch den Titel eines Rats dafür bekommen!« meinte der kluge Aurel, einer der Gründer des KKK ...

»Welchen Ratstitel denn?« fragte der KKK im Chor; denn sie wußten, daß jetzt ein Wortspiel im Anzug sei.

»Den Titel eines Mädchenhandelsrats ...«

Doch Therese ließ sich nicht in der lustigen Gesellschaft nieder, auch die Billard oder Domino spielenden Artisten interessierten sie nicht; sie begab sich geradeswegs zum Tisch der Frau Tomcsányi. Auf der Straße, vor dem Orpheum, war der Entschluß in ihr gereift ... Wozu sollte sie auch hier bleiben, was band sie an diese Stadt?

Die unendlichen Möglichkeiten einer verheißungsvollen Zukunft winkten ihr, ein verborgenes, geheimes Riesenorchester, »Rußland«, spielte ihr ins Ohr. Rußland, aus dem die Mädchen mit Geld und Kostbarkeiten beladen zurückkommen. Sie wollte eines schönen Abends gegen Mitte des ersten Aktes in einem weißen hermelinbesetzten Pelz, mit einer teuren Paradiesvogelfeder auf dem Hute, in der linksseitigen Loge Nr. 4 erscheinen, damit der ganze Zuschauerraum nur sie bewundere und die Mädel auf der Bühne neidvoll einander zuflüstern:

»Schau, schau, die Therese Ladány! ...«

Der Direktor und der Komponist sollten ihr in der Loge einen Besuch abstatten, während sie vor Schluß des zweiten Aktes das Theater mit gelangweilter Miene in einem Auto verließ. Nur dem braven Onkel Schepsenes wollte sie hundert Kronen hinunterschicken.

»Guten Abend, mein Liebling!« sagte Frau Tomcsányi mit lächelnder Miene ... »Ich höre gerade, was jene Ruchlosen gegen Sie verbrochen haben ... Freilich, wer der Rosa Ligeti nicht zahlt, kann lange darauf warten, einen Kontrakt zu bekommen ... Wie anders die Amélie! Sie schrieb nochmals und fragt, was wir beschlossen haben. Wann willst du denn die Reise antreten? Ich habe dich über den grünen Klee gelobt, wie schön und talentvoll du seiest ... Zwei meiner Taufkinder, die Tusi und die Blanka, gehen in einigen Tagen hinaus, ein klein wenig Entschlußfähigkeit und du kannst mitfahren ... Du bekommst eine Fahrkarte, zehn Rubel für die Reise und einen Kontrakt ...«

»Ja, ich bin gekommen, um den Kontrakt zu unterfertigen ...«

»Natürlich, mein Täubchen ... das hättest du schon früher tun können ...« sprach Frau Tomcsányi freudig. »Aber freilich, die Mädel sind eigensinnig, verträumt, wollen alles auf einmal haben, und doch ist nur das wahr und aufrichtig, was Mama Tomcsányi sagt ... Und Mütterchen? Weiß sie schon davon? Hat sie zugestimmt?«

»Mama habe ich nicht gefragt, ich tue, was ich will ...«

»Das geht nicht so,« antwortete Frau Tomcsányi in tadelndem Tone. »Bei einem so wichtigen Schritte muß Mütterchen befragt werden und du mußt auch ihre Zustimmung verlangen, du kleine Undankbare!«

Und scherzhaft tippte sie mit der Faust auf die Stirne Thereses.

»Auch ich habe meiner Tochter die väterliche Einwilligung erteilt,« bemerkte Papa Naphegyi.

»Jawohl, am besten gehen wir sogleich zu Mütterchen ...«

Und Frau Tomcsányi erhob sich auch schon, um mit Therese das Lokal zu verlassen. Als sie bei dem Tische des KKK vorbeigingen, sang einer der Jungen leise ein Spottlied ... Frau Tomcsányi warf ihm einen verächtlichen Blick zu und trat auf die Straße hinaus. Sie bestiegen einen elektrischen Wagen.

Unterwegs erzählte Therese, ihre Mutter wisse noch nichts davon, daß sie dem Theater und der Theaterschule schon Adieu gesagt habe ...

»Tut nichts!« erwiderte Frau Tomcsányi. Ich werde die Sache schon erledigen.«

Als sie die Treppe hinaufstiegen, hörten sie eine barsche Männerstimme von oben heruntertönen. Das Treppenhaus widerhallte von dem Gepolter des Hausmeisters und die Nachbarn hörten alle seine Worte:

»Schon seit zwei Monaten halten Sie mich mit den fünfzig Kronen zum Narren ... Die Tochter ist eine Künstlerin, die im Fiaker fährt, Seidentoiletten trägt, und den Zins können Sie nicht zahlen ... Wenn Sie bis zum Ersten nicht zahlen, gibt's keine Wohnung mehr ...«

Frau Witwe Ladány hörte bleich im Gesichte diese Drohungen, und nur dann und wann, wenn der Hausmeister Atem holte, weinte sie dazwischen:

»Am Ersten zahle ich, Herr Hausmeister ...«

»Ein Klavier haben Sie, aber den Zins zahlen Sie nicht! Bettlervolk!« donnerte der Hausmeister.

Inzwischen war Frau Tomcsányi mit Therese oben angelangt.

»Wie unterstehen Sie sich, mit meiner Base so zu sprechen?« schrie sie den Hausmeister an, der sich überrascht umwandte. Wegen lumpiger fünfzig Kronen wollen Sie sie vor diesem lauernden Bettlervolk an den Pranger stellen?«

Plötzlich schlossen sich alle Türen.

»Da haben Sie Ihr Geld ... Fünfzig Kronen für Zins ... Und zwei Kronen Trinkgeld für Sie ... Packen Sie sich!«

»Küß die Hand!« stotterte der Hausmeister, auf den die zwei Kronen ihre Wirkung nicht verfehlten.

»Nichts! Nicht der Rede wert ...« erwiderte sie auf die Dankworte der Ladány ... »An meiner Stelle würden auch Sie so gehandelt haben ... Auch ich bin Witwe eines Staatsbeamten, ich weiß, was die Pension, was das Leben bedeutet. Aber ich bin nicht deswegen hierhergekommen ... Ich habe Ihre Tochter aus dem Theater zurückgebracht.«

»Ach, liebe gnädige Frau, das ist noch mehr, viel mehr, als was Sie vorhin für mich taten. Gestern abend wäre ich vor Scham beinahe versunken, als sie vor tausend Menschen so dastand. Meine Tochter!«

»Es geht auch nicht an, daß ein so talentvolles Mädchen ihren Leib zur Schau stellen soll. Aus Therese wird eine Künstlerin ...«

»Ich aber hätte gewünscht, daß sie in die Maschinenschreibschule zurückgehe und Postbeamtin werde,« sagte leise die Mutter.

Therese schwieg. Sie wußte, daß hier ein ungleicher Kampf zwischen der Frau Tomcsányi und der Mutter ausgefochten werden müßte und daß sie bald für immer die Feuerwehrgasse verlassen würde.

»Niemals, niemals!« rief Frau Tomcsányi heftig. »Therese wird eine Künstlerin; dies Geld, womit ich den Hausmeister auszahlte, war schon ihr Vorschuß; denn woher soll eine arme Pensionistin so viel Geld nehmen? Es kam von Amélie aus Moskau ... Ich kam ja gerade deshalb hierher, um dies mit Ihnen zu besprechen. Im übrigen wäre es ja auch zu spät, da Sie den Vorschuß schon angenommen haben ...«

Frau Witwe Ladány wandte sich an die Tochter:

»Und du ... du willst fort?«

»Ja,« erwiderte Therese einfach.

Der Boden brannte ihr schon unter den Füßen, alles widerte sie zu Hause an ... Fort von hier, fort ...

Die Miene der Mutter verfinsterte sich, die frühere jähe Freude wurde von einer jähen Traurigkeit abgelöst. Sie sprach nichts, sondern sie dachte daran, was für eine gemeine Sache die Armut sei, daß sie wegen fünfzig Kronen gezwungen sei, ihre Tochter nach Rußland ziehen zu lassen. Was sie tröstete, war, daß Frau Tomcsány, diese hochachtbare, edeldenkende Dame, die Lenkung des Schicksals ihrer Tochter in die Hand genommen habe.

»Ängstigen Sie sich nicht, gnädige Frau, mit diesem Kontrakt wird das Glück Ihres Hauses begründet!« sprach Frau Tomcsányi, als Therese und ihre Mutter die kleine lithographierte Drucksache unterschrieben.

Mit tiefer Demut öffnete der Hausmeister vor Frau Tomcsányi das Tor. Diese ging schnurstracks auf die Hauptpost und telegraphierte nach Moskau nur die Worte: Freitag drei ...

Die Woche verging in Eilschritten. Frau Tomcsányi erwies sich während dieser Zeit als wahrhaft uneigennützige Freundin. Sie begleitete die beiden in die Zrinyigasse, wo man sich den Reisepaß holen mußte. Das Geburts- und Zuständigkeitszeugnis Thereses, ihr Wohnungszertifikat waren bei der Hand, und Frau Witwe Dezsö Ladány hatte mit ihrer Tochter das Gesuch um Ausfolgung des Reisepasses vor dem Polizeibeamten mit zitternder Hand unterschrieben. Der gestrenge, bebrillte Polizeioffizier maß das Mädchen vom Scheitel bis zur Sohle und sagte:

»Geben Sie acht auf sich! Wenn Ihnen etwas widerfährt, so melden Sie sich sofort im Konsulat.«

Als Frau Tomcsányi dies hörte, sagte sie lachend:

»Trottel! Eher wird ihm etwas hier widerfahren als dir in Rußland!«

Von Amélie traf mittlerweile noch ein Brief ein:

»An Kleidungsstücken brauchen Sie, mein Kind, nicht viel mitzubringen, noch auch schöne Toiletten zu schleppen; wozu sollten Sie sich zu Hause überflüssigerweise in Kosten stürzen. Mit Gottes gnädiger Hilfe werden Sie sich hier alles verschaffen, dessen Sie bedürfen. Bringen Sie nur Ihr goldenes Ungargemüt und Ihre Fröhlichkeit mit, das andere überlassen Sie dem Russen. Gar viele arme Ungarinnen haben hier schon ihr Glück gemacht, warum sollte dies gerade Ihnen nicht gelingen, über die ich von meiner mütterlichen Freundin, Frau Tomcsányi, so viel des Schönen gehört habe. Folgen Sie nur ihr. Sie bekommen von ihr zehn Kronen Vorschuß außer den bereits gegebenen fünfzig, ferner eine Eisenbahnfahrkarte bis Moskau. Sie besteigen den Zug in Budapest im Ostbahnhofe und fahren über Oderberg, Granitza, Warschau, Smolensk nach Moskau. Wenn Sie eintreffen, müssen Sie mit einem weißen Taschentuch winken, das wird das Erkennungszeichen sein. Außer der Fahrkarte sende ich auch ein Wagenbillett, weil Sie in Warschau in einem Mietwagen von einer Station zur anderen fahren müssen; wenn Sie die Karte vorweisen, mein Herz, sagen Sie: Druguj vagzal, das bedeutet russisch: die andere Station. Wegzehrung nehmen Sie für drei Tage mit, und wenn Sie Salami mitnehmen, so schneiden Sie die Stange in drei bis vier Stücke, sonst müssen Sie Zoll zahlen. Fragt Sie der Zollbeamte, was Sie mitführen, so sagen Sie ihm nur: Kusitz, das bedeutet: Eßware. Bettzeug müssen Sie mitbringen, das kann ich Ihnen nämlich nicht geben, übrigens fahren ja noch zwei Fräulein mit Ihnen und so werden Sie eine angenehme Reise haben. Das Coupé dürfen Sie nicht verlassen und sich mit niemand in ein Gespräch einlassen ...«

»Kann man denn einen klügeren, erschöpfenderen Brief schreiben?« frug Frau Tomcsányi.

Fast jeden Tag besuchte sie die Familie Ladány, und die stumme Mutter mit den verweinten Augen tröstete sie mit den Worten:

»Weinen Sie doch nicht, gnädige Frau, Thereschen begründet ihr Glück, ich aber bleibe als gute Freundin hier.«

Dann aber ging der tröstende Engel mit Therese zum russischen Konsul, wo sie, als alte Bekannte, jeden russisch ansprach, die Reisepässe vidimieren ließ, wofür man fünf Kronen -- von dem Vorschuß von zehn Kronen -- zahlen mußte. Zu Hause wurden die Kleider in Augenschein genommen.

Die Seidenkleider und die Spitzen der Frau Leban, von welchen noch kein einziges Stück bezahlt war, hingen im Kasten. Eines Nachmittags kam eines der Fräulein mit der Botschaft, die Eigentümerin des Geschäftes wolle mit Therese sprechen. Frau Ladány war nicht zu Hause und so empfing Frau Tomcsányi das Fräulein:

»Sagen Sie Ihrer Herrin, daß die Theaterdirektrice aus Veszprism hier war und die Zahlung auf sich genommen hat, weil Fräulein Therese sich durch sie als Soubrette engagieren ließ.«

Sie stellten die Garderobe zusammen und da fand Frau Tomcsányi, daß der Therese ein schöner Schlafrock fehle, den sie schon auf der Eisenbahn nötig hätte.

»Aber es fehlt uns das Geld dafür!« seufzte Frau Ladány. »Alle meine Bezüge des nächsten Monates habe ich schon für Koffer ausgegeben und ich weiß gar nicht, was ich am Ersten anfangen werde. Ich kann mich vor Schulden kaum rühren.«

Prüfenden Auges blickte Frau Tomcsányi in der Wohnung herum. Was könnte man da zu Geld machen? Ihr Blick blieb an dem Klavier haften.

»Da gibt's Geld genug. Wozu das Klavier da? Sie spielen doch nicht Klavier, gnädige Frau?«

»Aber nein.«

Schon am nächsten Morgen erschienen die Leute der Möblierungsunternehmung, um die imponierendste Erinnerung an die Bühnenlaufbahn Thereses zu zerlegen. Das ganze Haus stand wieder draußen vor den Türen, als das Klavier weggeführt wurde. Sie bekamen dafür achtzig Kronen von der Unternehmung.

»Die Raten können Sie am Ersten weiterzahlen,« unterwies Frau Witwe Tomcsányi die Frau Witwe Ladány. Und sobald Sie die achtzig Kronen für Einlagerung nebst dem kleinen Zinsbetrag erlegen, bekommen Sie das Klavier zurück. In einem Monat wird Thereschen das Geld dafür senden. Was bedeuten denn achtzig Kronen in Rußland?«

Therese bekam einen schönen neuen Schlafrock aus einem lilafarbigen rotgetupften Stoff mit einem Revers aus gelber Seide. Alle ihre Habseligkeiten waren in Kisten und Koffern verpackt, und während die Mutter ihre Hemden, Höschen, Nachthemden im Koffer unterbrachte, fielen langsam ihre Tränen auf die Wäsche. Sie war allein zu Hause, es war an einem umwölkten Herbstnachmittage voller Erinnerungen an die Vergangenheit. In der Wäsche knisterte das rosafarbige Papier, das die Witwe nach dem Plätten hineingelegt hatte, und während sie sich so im Koffer zu schaffen machte, dachte sie daran, wie viele Jahre vergangen seien, bis sie das alles zusammenbringen konnte. Während sie an der Wäsche arbeitete, dachte sie, es werde ein braver Mann kommen, vielleicht gar ein Mittelschulprofessor, der Thereschen heiraten würde, und dann würde sie sich nicht zu schämen haben, denn sie nahm eine schöne, ordentliche Wäsche mit. Und die arme Frau schrieb mit zitternder Hand auf einen Streifen Papier die Worte: »Mein Kind, gib acht auf Dich und vergiß nicht, daß Deine Ehre, der ehrliche Name Deines Vaters höher steht als alles ... Gott mit Dir! Deine Mutter.« ... Und sie legte das beschriebene Blatt in den Koffer auf die Nachthemden.

Der Freitag war gekommen. Im Hause Ladány wurde gekocht und gebraten, als gälte es, Hochzeit zu machen. Backhühner in der Pfanne, eine halbe Gans im brodelnden Schmalz, Roggenbrot, Obst, zwei Flaschen Wein, Mineralwasser, Zitronen für den Fall, daß Thereschen sich den Magen verderben könnte, Kaffee in einer Literflasche: alles, woran eine fürsorgliche Mutter denken konnte. Dann kam der Abend und sie legten sich schlafen ... Und ganz so wie ehemals, da Therese noch ein kleines Kind war, legte sie sich auf den Wunsch der Mutter auch heute neben sie, und die zu einer unförmigen Matrone eingeschrumpfte, in Arbeit und in Ehren ergraute Frau umfing den Hals ihres Kindes, sie wollte ihre Nähe fühlen, als könnte sie sie in dieser Weise hier behalten. Therese schlief ein, während die Mutter sich über sie neigte und so ihre kindlich-sanft gewordenen Züge betrachtete.

Früh am Morgen, schon um halb sieben Uhr, eilte sie von dannen, um eine Droschke zu holen. Der Kutscher hatte mit Hilfe des Vizehausmeisters die großen Koffer und Hutschachteln auf den Bock gestellt. Der Gewürzkrämer öffnete gerade seinen Laden und wünschte Therese eine glückliche Reise. Langsam setzte sich der ärmliche Wagen in Bewegung. Auf dem Bahnhofe wartete bereits Frau Tomcsányi mit Tusi und Blanka, kaum hatte Therese Zeit, von der Mutter Abschied zu nehmen, und der Zug trat seine Fahrt nach dem fernen Rußland an.

Auf dem Perron stand in ihrem schwarzen, abgetragenen Kleide eine weinende, abgemagerte Frau; auf ihrem Kopfe saß der Hut noch schiefer als sonst. Am Fenster des Wagens erschien ein halb lächelndes, halb befangenes Gesicht. Frau Tomcsányi rief ihnen nach:

»Ich lasse Amélie küssen ...«

Aus der Ferne winkte noch ein weißes Taschentuch. Die Frau in schwarzem Kleide starrte mit offenem Munde nach dem Linnen, während die Tränen ihr am Lippenrande herabflossen ... Dort in der Ferne ... jenes Taschentuch ... das ist ihre Tochter ...


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