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VII.

Frau Lebán war nicht danach angetan, ihr Geld fahren zu lassen. Alsbald erfuhr sie, daß Goldfischlein mit allen ihren Toiletten nach Rußland gegangen sei; sie beeilte sich daher, Frau Witwe Dezsö Ladány für die Schuld ihrer Tochter einzuklagen. Briefwechsel, Laufereien, Einschreiten eines Advokaten; schließlich einigten sie sich auf Monatsraten, welche die kleine Pension ganz verschlangen. Frau Witwe Ladány übersiedelte nach Puszta-Szent-Lörincz, wo die Miete viel billiger ist, wo niemand sie kannte, wo sie in ihrem Versteck unter Tränen die Zeit erwarten konnte, da aus ihrer Tochter eine große Künstlerin geworden sein würde. Kaum waren sechs Wochen verflossen, seit sie auf dem Bahnhofe dem aus der Halle fahrenden Zuge mit ihrem Tuch nachwinkte, und schon mußte sie die Feuerwehrgasse für immer verlassen. Ein einspänniger, von einem ausgemergelten Gaul gezogener Streifwagen, darauf einige armselige Möbelstücke, ein Strohsack, einige mit den Füßen himmelwärts gestellte Stühle, zwei wacklige Schreine und hinter dem Bock, in Fetzen gehüllt, das Bild des seligen Dezsö Ladány, unter seinen Schülern sitzend. Dieses Bild war der Stolz der ausgedorrten armen Witwe, ihr Ritterkreuz der Ehrenlegion.

Im Verein mit einer anderen armen Witwe mieteten sie in der Nachbarschaft der Hauptstadt ein Zimmer nebst Küche. Sie schrieb nach dem fernen Moskau einen Brief ...

— — — — — —

Dunyasa brachte mit dem Mittagessen auch einen Brief für Therese. Er lautete folgendermaßen:

Liebe Tochter Therese!

Ich kann es Dir nicht verübeln, daß Du mir bis heute noch nicht geschrieben hast. Ich begreife, daß Du Dich in jener fremden Stadt nicht so leicht zurechtfinden kannst. Ich warte also mit Geduld. Solltest Du Dich aber Deiner Mutter doch erinnern, so schreibe nicht mehr in die Feuerwehrgasse, denn wir wohnen nicht mehr dort. Sende den Brief an meine Adresse nach Puszta-Szent-Lörincz. Betreffs des Geldes, das du der Frau Léban für Kleider schuldig bliebst, habe ich mich mit ihr geeinigt und die größere Hälfte meiner Pension wandert an jedem Ersten in ihre Hände. In 1-2 Jahren werde ich mit den Tilgungen doch fertig werden. Aber mit dem Klavierlieferanten hapert es, für den hatte ich keine Rate mehr übrig und so kamen die Leute, das Klavier abzuholen, fanden es aber nicht mehr vor. Der Pfandverleiher gab es nicht heraus und so wurde ich eingeklagt. Ich will Dich, liebes Kind, nicht drängen, aber es wäre mir eine große Erleichterung, könntest Du dem Klaviermann einige Raten senden. Demnächst kommt es zur Verhandlung in dieser Angelegenheit und ich weiß nicht, was ich beginnen soll.

Gott gebe, daß mein Brief Dich gesund antrifft und Deine Künstlerträume in Erfüllung gehen.

Es küßt Dich Deine Mutter
Frau Deszö Ladány, Gymnasial-Professorswitwe.

Irene kam an jenem Tage nicht nach Hause. Therese zog den blauen Vorhang beiseite und betrachtete wortlos, vor sich hinstarrend, die bekannte Handschrift. Als hätte eine trockene, dürre Hand Länder hindurch unsichtbar ihre Kehle zugeschnürt. Sie hätte weinen, schluchzen mögen bei dem Gedanken, daß die Mutter ihre Wohnung verlassen mußte. Sie sah im Geiste die Nachbarn, wie sie auf dem Korridor gafften, als man die armseligen Möbel fortschleppte. Gewiß sagten sie einander:

»Ja, dahin kam es. Ihre Tochter ist Künstlerin in Rußland ...«

Ihre Miene verzog sich zu einem höhnischen Lächeln.

Künstlerin! Wäre es nicht auch für sie besser gewesen, zu Hause zu bleiben, das Maschinenschreiben, die doppelte Buchführung zu erlernen ... Und Frau Léban? In den nächsten zwei Jahren wird die Mutter nicht einmal ihre Pension für sich zur Verfügung haben. ...

Wie gemein, wie herzlos war es doch von ihr, daß sie der Mutter noch gar nicht geschrieben! ... Sie wollte eben den Brief nur mit Geld beschwert absenden. Und Geld konnte sie bisher nicht senden, immer kam etwas dazwischen.

Nach der Nacht, in der sie die Unterredung mit Wolkow hatte, beschloß sie, das himmelblaue Kostüm nicht mehr anzuziehen. Sie wird nicht mehr in dem Kleide der toten Sophie erscheinen. Sie mußte der Madame Amélie vier Rubel dafür zahlen, daß sie das Kostüm zwei Tage getragen. Sie kaufte ein neues Kostüm, das hundertzwanzig Rubel kostete. Madame Amélie übernahm die Bürgschaft für sie, und sie mußte jetzt ihren Verdienst täglich der Frau Amélie übergeben, bis die Schuld getilgt war.

Aber heute abend würde sie Amélie betrügen und ihr nicht alles eingestehen, sondern morgen früh zur Post laufen und Geld nach Budapest senden. Sofort wollte sie dem Klavierlieferanten schreiben, er möge ihre Mutter in Ruhe lassen, da sie sich verpflichte, alles zu bezahlen.

Und doch wäre es so einfach, wenn sie sich Wolkow anvertraute. Doch der Bauer zeigte sich seither nicht mehr. Madame Amélie hatte sie auch ausgezankt, weil sie die besten Gäste verscheuche.

Woher soll sie das Geld nehmen? Sie würde es heute nacht verstecken. ... Jetzt kleidete sie sich rasch an, um in das Café Metropole zu eilen ... Dort fand sie ordentliches Briefpapier und Tinte.

Sie verließ das Haus. Es war Spieltag, im Speisezimmer ging es lustig zu. Nach dem Essen kam ein Besucher: der Matschalnik, der Bezirks-Polizeioffizier, unter dessen Aufsicht die Vengerkas der Madame Amélie gehörten. Er war ein hochgewachsener, stattlicher Mann und trug eine blaue Hose mit roten Lampas und einen grauen Offiziersrock, in dem er aussah wie ein Kavallerieoffizier. Sein Säbel war glänzend und hatte einen goldenen Korb. Er kam gerne hierher, um Karten zu spielen, wobei er sich mit schönen Mädchen unterhielt und gewann, so viel er nur wollte. Das war keine Bestechung und sehr unterhaltend.

Therese war froh, ins Freie zu kommen. Sie bestieg einen elektrischen Wagen, der über den Boulevard Strasnoj fuhr, und stieg an der Ecke der Bolsaja Dimitrowska ab, von wo sie zu Fuß dem berühmten Theaterplatz zueilte. Die herrlichen und künstlerisch erbauten Theater Moskaus reihen sich unter dem Kreml aneinander: das Neue Theater, das Große Theater, das Kleine Theater, von wo aus die prächtige Regiekunst, die Dekorationen des Bakstok, die Pawlowa und Nijinsky mit ihrer choreographischen Kunst die Reise durch die Welt angetreten haben, um die europäische Bühne zum Teil umzugestalten. Solche Theater können sich nur steinreiche Mäcene, verschwenderische Millionäre gönnen. Und in Rußland schwärmen diese für das Drama, für den Tanz.

Therese hatte hiervon keine Ahnung. Aus der Schule der Ligeti kam sie direkt zur Madame Amélie, aus dem Goldfischlein wurde sie zur Vengerka, die um halb zehn Uhr abends zu singen hatte: »Ritka buza, ritka árpa ...« Von den Theatern wußte sie nur soviel, daß das lebhafteste Café Moskaus, das Hotel Metropole, in ihrer Nachbarschaft liege. Es hatte etwas vom Budapester Café Newyork. Das ganze weibliche Hilfspersonal und Ballettkorps der Theater hatte sein Quartier dort aufgeschlagen, ebenso auch die zweitrangigen Sterne des großen Varieté-Lebens in Moskau. Die Mädel bevölkerten alle Tische, die Kellner sprachen fast alle deutsch, auch Ungarn fanden sich unter ihnen ... Sogar ungarische Blätter waren im Metropole zu finden. Und einen feinen Kaffee mit Schlagsahne bekam man da ... Wiener Kaffee ... Die Vengerkas, die Mädel aus Österreich und Deutschland strömten jeden Nachmittag dem Kaffee zuliebe herbei, als wären sie gar nicht in Moskau gewesen, sondern im Budapester Newyork oder an der Ecke Unter den Linden-Friedrichstraße. Die Mädchen hinwiederum lockten die Männerwelt herbei, und so bot das Café Metropole viele Annehmlichkeiten und Zerstreuungen und niemand nahm es schief auf, wenn er angesprochen wurde.

Die Vengerkas pflegten mit ihren Nachmittags-Freunden das Lokal zu besuchen.

Denn der nächtliche Freund und der nachmittägige sind zwei verschiedene Typen. Der nachmittägige ist ein Kollege, Kamerad, Helfershelfer, mit dem der nächtliche Freund, der geldspendende, Toiletten bezahlende, die Wohnung einrichtende, einen Wagen haltende reiche Gimpel betrogen wird. Dem nachmittägigen Freunde gehört der innige Kuß, das Blut, die Leidenschaft, dem nächtlichen die Laune, die Peinigung, das Geschäft.

An einem Tische saß die Gabi mit dem ungarischen Solosänger der Strelna. In Budapest war er Bonvivant-Sänger, lebte vom Vorschuß und von Schulden, hatte eine alte Frau, hier in Moskau war er der Geliebte der Gabi. An einem anderen Tische saß die dicke Vali aus dem Chor der Zon vengerski. Ihr Nachmittagsseladon war ein Kleinrusse. In einer Ecke saß Jurakowsky, ein Grieche; Gott weiß, woher er den polnischen Namen hatte. Er machte hier Geschäfte. Er unterwies die Mädel in Solonummern und warb hier Schülerinnen. Er war nicht einmal teuer, für fünfzig Rubel gab er fünf Stunden, aber das Geld mußte nach der zweiten Stunde auf einmal bezahlt werden.

Ein Kichern, leises Flüstern, Tuscheln. Viele Wanderschmetterlinge dieser Welt ruhten hier auf den grünlichen Plüschdiwans, um die Marmortische herum.

Therese war schon dreimal hier in Gesellschaft anderer Vengerkas gewesen. Sie eilte an einen leeren Tisch und bat um Kaffee, Tinte und Feder. Der Brief der Mutter hatte sie ganz sentimental gestimmt. Sie hatte das Bedürfnis, etwas zu tun. Vor allem schrieb sie an den Klavierlieferanten rasch, fast ohne nachzudenken, einen Brief:

Sehr geehrte Firma!

Da ich über die mit dem Klavier zusammenhängenden Unannehmlichkeiten unterrichtet wurde, will ich als Tochter der Frau Witwe Ladány diese Sache in die Hand nehmen. Am Samstag und Sonntag war hier Feiertag, die Post war gesperrt und so konnte man rekommandierte Briefe oder Geld nicht aufgeben. Bitte mich postwendend über die Kosten des Pianino zu verständigen, und ich werde sie sofort decken, das Geld postwendend einsenden. Meine arme Mutter kann ja für gar nichts, bitte sie zu verschonen.

Ihre Zeilen erwartend, hochachtungsvoll
Therese Ladány,
Mitglied des Moskauer Theaters.

Meine Adresse: Russia, Moskau,
Steri Basilowka,
Nomero Sudakowa. Petrowsky Park 43.

Sie ließ die Antwort an die Adresse Karolines senden, denn sie wollte sie nicht an die der Amélie gelangen lassen ... Wozu sollten denn die Leute der Amélie um die Klaviergeschichte wissen, was ging die das an. Während sie den Brief schrieb, wurde sie von Rührseligkeit übermannt, und bei der Stelle, wo von ihrer Mutter die Rede war, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie klebte eine Marke auf den Briefumschlag, lief hinaus und warf den Brief in den Kasten.

Sie war mit sich zufrieden, sie hielt es für eine kluge Idee, daß sie sich nach den Kosten des Pianinos erkundigte. Drei Tage braucht der Brief bis Budapest, vier weitere Tage braucht die Antwort. Binnen einer Woche konnte gar manches geschehen. Bis dahin würde sie Geld haben und das lumpige Pianino bezahlen.

Den Brief würde in Budapest der Geschäftsführer des Klaviermenschen öffnen. Bei dem Anblick der Schrift, der russischen Marke würde er den Inhalt mutmaßen. Die Vengerka schrieb wegen des Klaviers, das war ja eine alltägliche Geschichte.

»Monatsraten zu vierzehn Kronen! Was ist denn das?« dachte sie sich.

Und dennoch, der dritte Punkt des Übereinkommens lautet:

»Das gemietete Pianino darf ich aus dem Lokal, in welches es durch Sie transportiert wurde, ohne Ihre Einwilligung nicht wegführen lassen; sollte ich dies dennoch tun, ermächtige ich Sie, das gemietete Piano durch Ihre Organe wegführen zu lassen, ohne mich überhaupt zu befragen. Ihren Schaden aber habe ich dann zu ersetzen.«

Das Pianino wurde ohne Wissen und Zustimmung des Kaufmanns weggeführt, und es wurde Geld darauf aufgenommen. Die Firma, die das Pianino einlagerte, wollte es nicht zurückgeben. Frau Witwe Dezsö Ladány wurde vor das Gericht geladen und verhört. Der Fall war ja ganz klar. Das Gesetz schützt die vertragstreue Partei.

Das ist Veruntreuung. Frau Witwe Dezsö Ladány durfte aus dem Gerichtspalaste nicht nach Hause gehen. Die andere arme Witwe im Puszta-Szent-Lörincz wartete vergeblich auf sie, sie kam nicht. Und die Menschen, die lieben Nachbarn, begannen zu tuscheln: sie hat defraudiert! ... Gott, wer hätte das gedacht!

— — — — — —

Therese glaubte Zeit gewonnen zu haben, und dieser Gedanke beruhigte sie. Sie würde alles schön in Ordnung bringen. Sie ging ins Café zurück und nahm Platz. Sie trug ein Kostüm der Frau Lebán: dunkelblauer Rock, weiße Spitzenbluse, auf dem Kopfe eine kokette Samtmütze; an ihren schöngeformten Füßen Lackstiefelchen mit braunem Einsatz. Ihr Gesicht war noch frisch, Jugend und Jungfräulichkeit atmend, ohne jene Spuren der durchwachten Nächte, die auf den Gesichtern der anderen wahrnehmbar waren.

Jurakowsky winkte ihr lächelnd zu. Der Grieche wußte nicht sogleich, woher er sie kenne, doch war er sicher, sie schon irgendwo gesehen zu haben. Therese war ihm übrigens auch sonst aufgefallen. Als er sah, daß das Mädchen seinen Gruß sehr freundlich erwiderte, zögerte er auch nicht zu ihr hinzugehen. Er sprach sie russisch an, sie antwortete deutsch. Er setzte sich. Sein ganzes Leben hatte er unter Artisten und Vengerkas verbracht, und es gab keine Wendung oder Situation, die ihn unvorbereitet hätte treffen können.

»Nun, schönes Fräulein,« begann er, »wann haben wir zuletzt miteinander gesprochen?«

»Vor etwa zwei Wochen, als Gyagya Monopol hier war.«

Jurakowsky lächelte. Also eine Vengerka aus der Yard.

»Seit wann sind Sie in Moskau?«

»Erst seit einigen Wochen.«

»Wohnen Sie bei Madame Amélie?«

»Ja. Aber nicht mehr lange.«

»Weshalb? Nicht wahr, es ist nicht auszuhalten? Sie quält Sie? Sie verlangt, daß Sie alles Geld ihr geben ... Eine schlaue Frau, die die Mädchen ausbeutet ...«

Therese atmete erleichtert auf, sie sah, sie fühlte, daß sie da ohne Zurückhaltung sprechen könne.

»Wissen Sie,« rief sie außer sich vor Zorn, »sie will allerlei Fetzen mir für teures Geld anhängen. Den ganzen Tag höre ich von ihr die Frage: ›Wie lange muß ich noch die neuen Mädel füttern? Ich bin doch nicht dazu da, um Jungfrauen auszuhalten ...‹ Sie gab mir auf ›Brokat‹ einen Kasten für meine Kleider. Ich wußte nicht, was ›Brokat‹ zu bedeuten hätte. Sie lachte mich auch aus und ich habe dann erfahren, daß es sich um Ratenzahlungen handelt ... Ich mußte wöchentlich zwei Rubel dafür zahlen ... Ihre Speisen sind ungenießbar. Ich kann nicht länger bei ihr bleiben.«

Jurakowsky erwiderte mit überlegener Sicherheit:

»Es wäre aber auch eine Sünde, wenn ein so schönes Mädchen sich bei Madame Amélie zugrunde richtete ... Solistin, ja nur Solistin müssen Sie werden ... Gestern habe ich ein amerikanisches Lied bekommen: ›I'd rather two-step than waltz, Bill‹ ... Wenn Sie das Lied, die Aussprache erlernen, dazu einen kleinen Tanz, so wird das Aquarium in Petersburg Sie sofort engagieren. Nach drei bis vier Lektionen sind Sie eine perfekte Solistin.«

Therese antwortete nicht, denn sie getraute sich nicht, ihm einzugestehen, daß sie kein Geld habe, daß sie zwar gerne lernen würde, jedoch keine Mittel dazu besitze. Erst jetzt blickte sie dem Jurakowsky voll in die Augen. Der Musiker mit dem schwarzen Barte hatte blaue Augen, ganz eigentümliche blaue Augen. Um das Schwarze des Auges ein fast dunkelblauer Kreis, als hätte sich Amethyst mit der Farbe des sommerlichen Himmels vereinigt, und der blaue Kreis war durch einen dünnen schwarzen Ring abgeschlossen. Noch nie hatte Therese solche Augen gesehen, sie war fast rot geworden, als sie in sie hineinblickte. Sein Gesicht war weiß, rosig, sorgfältig gepflegt, der Bart spitz, sorgsam geschoren, die Lippen fein zugeschnitten, und Therese lauerte schon mehr als einmal darauf, wie die weißen Zähne zwischen den Lippen hervorblitzen würden. Sie hörte wohl seine Rede, verstand sie aber nicht. Seine Nähe, sein Atem nahm sie ganz gefangen.

Er fuhr fort:

»Von Ihnen würde ich nach der zweiten Stunde keine Zahlung verlangen. Sie können ja am vierten Tage bezahlen ... Was ist denn das, fünfzig Rubel? Sie werden ja Tausende damit verdienen. Ich will Sie nicht drängen, Sie nicht überreden ... Sie können ja wann immer zu mir heraufkommen ... Ist es nicht schade, wenn ein so schönes Mädchen für einige Rubel die Nächte durchwacht? Sobald Sie Ihre Nummer erledigt haben, gehen Sie in Ihre feine Wohnung, wo Sie Bequemlichkeit, eine Zofe, ein gutes Bad haben. ... Welch schöne Haut müssen Sie haben ...«

Therese lächelte und meinte, nur um etwas zu sagen:

»Aus Ihnen spricht wohl der Geschäftsmann. Sie glauben selbst nicht an das, was Sie sagen ...«

»Aber Fräulein!« schrie Jurakowsky so laut, daß das ganze Kaffeehaus hinblickte.

Mit jener nur den Kindern des südlichen Balkans eigenen Überzeugungskraft drang er nun auf sie ein, indem er ihre Hand erfaßte:

»Ich sage Ihnen auf mein Ehrenwort, daß ich keinen Augenblick an ein Geschäft gedacht habe. Warum wollte ich auch gerade mit Ihnen ein Geschäft machen? Gibt's denn nicht genug Mädel hier? Ich habe ja so viele Lektionen zu geben, daß mir kaum eine halbe Stunde für das Kaffeehaus übrig bleibt. Aber Sie verdienen eine Ausnahme. Ein solches Mädchen darf nicht bei Madame Amélie zugrunde gehen, das kann ich nicht zugeben ... Nächste Woche spreche ich mit Sudakow ... Kommen Sie, Fräulein, gehen wir ein wenig spazieren.

Therese zahlte, was Jurakowsky nicht hinderte, und sie gingen zusammen fort.

Der Abend brach schon früh herein, der russische Winter nahte. Die Straßen waren voll, man konnte sich kaum bewegen. Lautes Reden, das Geschrei der Zeitungsverkäufer, das Peitschenknallen der Iswostschik, dahinsausende Autos und Wagen, man konnte das eigene Wort kaum hören. Sie umgingen den Kreml und kamen auf das Ufer der Moskwa. Auf dem jenseitigen Ufer waren die Häuser kaum mehr zu sehen, die Abenddämmerung verschleierte sie; in der Ferne starrten die Laubkronen der Wäldchen und Wälder gen Himmel, noch weiter rasten beleuchtete Eisenbahnwagen durch die Finsternis ...

— — — — — —

Wolkow hatte zwei Wochen in Kurland verbracht. Nach seiner Rückkehr konnte er in Moskau nicht Halt machen, er mußte eilig nach Hause. Von Moskau nach Koslowka dauerte der Weg sieben Stunden, von dort hatte er bis zu seiner Wohnung etwa drei Werst zu Pferde zurückzulegen. Er wohnte außerhalb des Ortes in einem bequemen, geräumigen Herrschaftshause. Das Gepäck wollte er in der Frühe von der Station abholen lassen. Nach der langen Eisenbahnreise hatte er das Bedürfnis, sich etwas Bewegung zu machen, und darum hatte er seinen Reitknecht zur Station hinausbeordert.

»Was gibt's Neues zu Hause?« frug er ihn.

»Alles in Ordnung,« erwiderte der Reitknecht respektvoll.

Die Art und Weise, wie er diese Worte sprach, wie er vor Wolkow stehen blieb, verriet sofort, daß Wolkow vor ihm in Ansehen stand. Die Bauern begrüßten ihn in der Station, und die beiden Reiter trabten in die mondhelle Nacht hinein.

Die Riesenscheibe des Mondes ward am Horizont sichtbar. Ihr unterer Rand schien noch an den Feldern zu kleben, als stünde sie auf einem endlosen Sockel; in dem silberbestreuten Blau des Himmelsgewölbes funkelte der Abendstern, als wäre er an seiner Stelle durch eine unsichtbare Kraft im Monde festgehalten; die den Weg beiderseits einsäumenden großen Zitterpappeln ließen ein wimmerndes Säuseln und Rauschen vernehmen ... Von der weiten, weiten Ebene kamen die Lüfte, darin die russischen Seufzer, Lieder, Hoffnungen zitterten ...

Die Reiter kamen in der mondhellen Nacht langsam vorwärts. Der Reitknecht blieb etwas zurück; er fühlte, sein Herr wolle ungestört bleiben.

Wolkow ließ die Zügel fast gänzlich fahren, er überließ sich dem kleinen Pferde; dieses kannte den Weg und kannte auch seinen träumerischen Herrn. Es streckte den Kopf nach dem Boden aus, blies die herabgefallenen Blätter weg, als wollte es den Mondschein, der die ganze Gegend übergoß, in sich aufsaugen. Wolkow dachte daran, demnächst wieder nach Moskau zu fahren und mit Therese abermals zu sprechen.

Er hatte niemanden, dem er seine Wirtschaft, seine Reichtümer hätte vererben können. Seine Frau litt an einer Rückenmarkskrankheit, saß den ganzen Tag im Krankenstuhl und sah von dort aus dem Treiben im Hause zu. Infolge der Krankheit war die schöne junge Frau in acht bis zehn Jahren alt geworden, ihr Haar ergraute, ihre Stimme wurde dünn und dumpf, wie die Erinnerung an vergangene Tage. Diesem lebendigen Leichnam im Lehnstuhle tat das Herz weh, zu einem solchen Schattendasein verurteilt zu sein, aber noch mehr schmerzte sie der Gedanke, ihren Gatten derart in Mitleidenschaft gezogen zu sehen. Sie hatten keinen Erben, niemanden, dem sie die Zärtlichkeit ihres Herzens, den Reichtum ihres Vermögens hätten schenken können. Oft sprachen sie darüber und über Existenzen, die keinen Inhalt und keine Zukunft haben.

Bei aller Entschiedenheit hatte Wolkow einen Hang zur Sentimentalität. Er wuchs in der fanatischen Frömmigkeit der bigotten orthodoxen Kirche auf; er verbrachte einige Universitätsjahre in Deutschland, dann kehrte er heim; sein Gut lag in der Nähe der Besitzungen Tolstois und wenn er auch den Weisen von Jasnaja Poljana nicht persönlich kannte, so hatten sich die vielen über ihn vernommenen Geschichten in seinem Denken eingenistet, so daß seine Weltanschauung ein Ergebnis der verschiedenartigsten Einflüsse war.

Er war Russe mit einem Hang zur Träumerei und Philosophie, aber auch zur Unrast; manchmal verließ er ohne jeden Grund Zasyeka und ging nach Moskau zu den Vengerkas. Er suchte ein Mädchen, ein aus fernem Land hierher verschlagenes, armes Kind, um es aus dem Elend, aus dem Schlamm zu heben und es reich zu machen. Er besprach mit seiner Frau, sich ein Mädchen auszusuchen und es zu seiner Geliebten zu machen. Gebar sie ihm einen Sohn, wollte er diesen adoptieren und zum Erben seines Vermögens einsetzen. Er liebte Sophie wirklich innig. Nicht mit leidenschaftlicher Liebe war er ihr zugetan, sondern mehr mit einer wohldurchdachten, ruhigen Empfindung. Doch das Schicksal war ihm nicht hold, das Mädchen starb. Er betrauerte sie aufrichtig und tief, doch seine Einbildungskraft, sein Instinkt trieb ihn in die Yard, er hatte die Idee, alles sei nur ein Traum, eine Vision gewesen, denn es sei unmöglich, daß eine, die vor drei Wochen noch gelacht, gesprochen, seine Hand erfaßt, seine Haare gestreichelt und einen neuen Mantel von ihm verlangt hatte, heute nicht mehr am Leben sei. Vielleicht war das Ganze nur eine Einbildung.

Er ging hin und fand Therese dort.

Er wollte das Leben, welches er mit Sophie geführt, mit Therese fortsetzen. Ihm erschien das so einfach, so natürlich.

In Gedanken versunken, bemerkte er gar nicht, daß sie bereits in Jasnaja Poljana eingetroffen waren. Der Mond beleuchtete das kleine Dorf; zur Linken ein strohbedecktes, weißgetünchtes Haus, das durch Lew Nikolajewitsch zu einer Schule umgestaltet wurde. Dort wollte er Kindern und Erwachsenen die Wahrheit beibringen, doch die Regierung kam und gestattete es nicht. Zur rechten Hand eine hohe Steinmauer, dahinter ein herrschaftlicher Garten, das ehemalige Gut Tolstois, jetzt Staatseigentum. Das breite Tor stand angelweit offen, die verzierten Gittertüren waren vielleicht schon vor Jahrzehnten verschwunden, das Häuschen des Dwornik stand leer, der kleine Teich war mit Teichlinsen bedeckt, und der Pfad, der zu dem zwischen Laubwerk verborgenen, weißen Hause führte, mit Unkraut bewachsen. Was war aus Lew Nikolajewitsch Tolstoi geworden, der an einem finsteren Wintertage, im Schneegestöber, in Gesellschaft seines Sekretärs, seines Arztes, des bleichen Vegetariers Duschan Makowitzky sich auf den Weg gemacht hatte, um in weiter, weiter Ferne das gelobte Land zu finden, von dem er so viel gepredigt, das er aber nie gefunden hatte?

Wolkow machte auf dem Wege vor dem offenen Tore Halt und nahm die Mütze vom Kopfe. Das Pferd hob den Kopf und horchte. Die Nacht war stumm und ließ doch tausend Töne vernehmen; auf dem Stari Zakas genannten Hügel hielten neun Eichen bei den Überresten Tolstois Wache. Der Greis mit den grünen Forscheraugen ruhte hier in seinem Muschikkleide im Sarge. Er reitet nicht mehr auf die Felder hinaus, er hält nicht mehr vor den Eichen still, um im Sattel einige Zeilen niederzuschreiben, die ihm eingefallen sind. Die Bauern der Nachbardörfer kommen nicht mehr zu ihm, damit er ihnen Recht spreche; der Weltenrichter ist zur ewigen Ruhe eingekehrt, und die Menschen blieben, was sie waren: gut, schlecht, klein, groß, verschiedenartig. Was hat es zu bedeuten, daß hier und da auch Weise, Märtyrer, Heilige erstehen?

Fragend blickte Wolkow in den Garten. Die neun Eichen summten traurig ihre Antwort.

Das Haus, in dem er Anna Karenina, das ewige große Epos über Krieg und Frieden schrieb, steht nun leer da. Nach allen Richtungen zerstoben sind die Kinder, die alten ergrauenden Jungen, die ihm alle Ehren erwiesen und sich vor ihm verneigten, während sie ihn hinter seinem Rücken verhöhnten und für einen zanksüchtigen Alten hielten, der von den Leuten erwartete, daß sie zu ihm wie zu einer überirdischen Erscheinung emporblickten. Und wo sind seine Töchter, wo seine Frau? Die stille Dulderin, die Deutsche mit der gestrengen Miene, die Geld benötigte, um die vielen verschwenderischen Jungen zu unterhalten?

Wie war all dies Tolstoi zuwider! Weiß die Welt, die Literaturgeschichte etwas von den häuslichen Zänkereien, von der schweren, kranken Atmosphäre des Hauses in Jasnaja Poljana, aus welcher Tolstoi flüchten wollte? Gewiß nicht, doch es ist auch besser so. Es ist nicht gut, die Dinge aus unmittelbarer Nähe zu betrachten; viel beruhigender als die blendenden Sonnenstrahlen wirkt der Mond, dessen flackernder Silberschein das Strohdach, den verwahrlosten Weg, die Pfütze übergießt und das Grabmal nebst den neun Eichen mit dem Glanze der Ewigkeit überschüttet.

Der nächtliche Gast beschleunigte seinen Ritt, um nicht zu spät daheim einzutreffen. Außer einem Dienstboten schlief schon jeder im Hause. Das Tor war, wie alle Türen, offen; schlechte Menschen, vor denen man Angst haben konnte, gab es für dieses Haus nicht, denn wer Hunger hatte, konnte sich sättigen.

Der Morgennebel wurde durch die Sonnenstrahlen alsbald zerstreut, nur über den Baumwipfeln schwebten dunkelrote Wolken. Hunderte von Raben trieben sich auf den Feldern herum; auf den Ackerböden knarrten die Achsen, pustete die Säemaschine, auf dem Wege klingelten die Schellen einer Trojka.

Anastasia Feodorowna saß in ihrem Krankenstuhle auf der Veranda des Hauses und starrte auf die weiten Felder hinaus. Die Rauchbohne, die im Sommer das Netz der Einfriedigung mit ihren schütteren, rostigen Blättern bedeckt, ließ die Himmelsbläue in noch weiterer Ferne erscheinen; im Garten glänzten die karminroten Früchte der Eberesche; die Natur schien sich noch einmal tausendfach zu zieren, bevor sie die riesige Schneedecke ins Land schickt.

»Lida! Lida!« rief Anastasia Feodorowna etwas ungeduldig zurück, bringe mich hinunter in den Sonnenschein.

Das barfüßige Polenmädchen mit den starken Hüften, das Tag und Nacht der kranken Herrin zu Diensten stand, rollte den Stuhl langsam, vorsichtig von der Veranda herab. An der Treppe zog sie den Stuhl etwas zurück und war bestrebt, ihn ohne Rütteln auf den weichen Boden zu bringen.

Lida sang hinter dem Rücken ihrer Herrin den Walzer aus der Operette »Walzertraum«. Diese Wiener Melodie hatte sie aus Warschau mitgebracht, wo sie früher in Dienst gestanden hatte. Anastasia Feodorowna neigte den Kopf zur Seite und schloß die Augen.

Sie sann nicht nach; sie erwartete nichts mehr vom Leben und überließ sich der einzigen physischen Freude, die ihr verblieb, indem sie sich von der Sonne erwärmen ließ. Ihr Gesicht war gelb wie Pergament, ihr Haar ergraut, schütter, nach rückwärts gekämmt und von einem schwarzen Spitzenhäubchen bedeckt. Ein um ihre Schultern gebreitetes tabakbraunes Tuch verdeckte ihren mageren, eingetrockneten Busen. Ein aus Ebenholz geschnitzter Spazierstock mit Elfenbeingriff und Gummiabsatz war an den Stuhl gelehnt. Sie hatte sich an den Stock in früheren glücklichen Zeiten, als sie noch herumging, gewöhnt und sie wollte ihn um sich haben; vielleicht würde sie sich doch einmal aufraffen können. Dieser Spazierstock verband sie mit der früheren Welt. Sie war noch nicht vierzig Jahre alt. Vor zehn Jahren hatte sie in Moskau eine ganze Ballnacht hindurch getanzt und am Morgen hatten sie den Heimweg auf einem Schlitten angetreten ... Es galt eine Wette mit dem Nachbar ... und sie kam eine Stunde früher nach Hause, aber gänzlich erkältet, zugrunde gerichtet.

Wolkow hatte die Schuld an der Katastrophe sich selbst zugeschrieben und war mit selbstaufopfernder Fürsorge bestrebt, das Schicksal der Kranken zu lindern. Der Trubel einer heißen Ballnacht war die letzte Erinnerung der Anastasia Feodorowna an das Leben.

Vertraute Schritte näherten sich, feste, sichere Schritte. Sie erkannte den Gang Wolkows.

»Drasztinye!« sprach er, seine Frau begrüßend und ihre Stirn küssend.

Es war das Bild einer Mutter, die mit ihrem Sohne spricht.

»Kommen Sie von Moskau?«

»Nein, aus Mitau, wo ich mit einem deutschen Kaufmanne unterhandelt habe.«

»In Moskau waren Sie gar nicht?«

»Doch, auf der Hinreise.«

»Nun, und?« ...

Erst jetzt öffnete sie die Augen. Der Glanz der Augen war noch nicht erloschen, das Feuer des dahinwelkenden Lebens sammelte sich in ihnen. Fragend blickte sie auf ihren Gatten:

»Nun?«

»Vielleicht ...«

»Erzählen Sie, Sergius Wolkow.«

Und er erzählte ihr, wie er das blaue Kleid der Sophie wiedersah, wie er mit Therese bekannt wurde.

»Und glauben Sie, daß sie noch unschuldig ist?«

»Ja ... gewiß ist sie es.«

»Ist sie nicht ebenfalls Jüdin, wie die Sophie eine war?«

»Nein ... ganz sicher nicht.«

»Bitte, bringen Sie sie auf einen Tag hierher, ich will sie sehen, ihre Hand erfassen, sie segnen.«

Die blitzenden schwarzen Augen schlossen sich von neuem. Wolkow dachte daran, wie traurig, wie gut der Mensch zu sein vermag.

Der milde, lauwarme Herbsttag wob eine Aureole um das bleiche Haupt.


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